Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

K Konsul Henrici öffnete die Tür zum Zimmer seiner Frau. »Bist du fertig, Vera?«

Vera Henrici stand mitten im Zimmer. Ein Crep de chine-Gewand fiel in weichen Falten von ihren Schultern herab. Es war in mattweißen und lichtgrauen Tönen gehalten und brachte die blühende Schönheit der jungen Frau zur vollsten Geltung, wie eine fremde Wunderblume, von Duft und Liebreiz umwoben, stand Vera in anmutiger Haltung und prüfte ihr Spiegelbild, vor ihr kniete ihre Zofe und befestigte am Zaum des Kleides eine gelöste Ranke von Blütenknospen. Neben ihr stand ihre Gesellschafterin, Fräulein Helma Olfers, und entnahm einem Kästchen von silberbeschlagenem Ebenholz Veras Schmuck.

»Nur einige Minuten noch Geduld, Albert, gleich bin ich bereit,« rief Vera ihrem Gatten zu, ohne den Blick von ihrer eigenen Erscheinung abzuwenden.

Albert Henrici warf einen aus Lust und Schmerz gemischten Blick auf seine schöne Frau, dann trat er zurück und schloß die Tür. Langsam schritt er im Nebenzimmer über den dicken Teppich. In seinem scharfgeschnittenen, ausdrucksvollen Gesicht zuckte es wie verhaltene Erregung. Mit nervösen Fingern strich er über das kurzgehaltene, an den Schläfen schon graumelierte Haar. Dann ließ er sich wie müde in einen Sessel fallen. Die schlanke, sehnige Gestalt sank wie haltlos in sich zusammen, und das Gesicht zeigte in diesem Augenblick des Sichgehenlassens schlaffe Züge.

Wer von seinen Bekannten ihn so gesehen, hätte in ihm kaum den sonst so stattlichen, spannkräftigen Mann erkannt, dessen geistvolle Liebenswürdigkeit und Frische überall bewundert wurde. Obwohl Henrici schon nahe den Fünfzig war, behauptete er sich sonst mit seiner vornehmen Erscheinung selbst an der Seite seiner um fünfundzwanzig Jahre jüngeren Gattin. Der Altersunterschied kam kaum jemand zum Bewußtsein, wenn man diese beiden Menschen zusammen sah.

Jetzt freilich hätte ein scharfer Beobachter in seinen Zügen und den umflort blickenden Augen wohl die Zeichen des nahenden Alters erblickt.

Henrici war in seiner Jugend einer von den Männern gewesen, die das Leben mit vollen Sinnen auskosten. Sonst ein Ehrenmann im strengsten Sinne des Wortes, gab es auch bei ihm, wie bei so vielen seiner Art, eine Stelle, wo er nicht einwandfrei empfand und handelte. In bezug auf die Frauen war sein Gewissen sehr dehnbar. »Des Anderen Ehre« galt ihm nichts, wenn es sich um eine begehrenswerte Frau handelte.

Übersättigt von der Gunst der Frauen, die dem reichen und anziehenden Manne im Übermaß zuteil wurde, reizte ihn ein Erlebnis nur noch, wenn es mit einiger Gefahr verknüpft war, wenn es zu den verbotenen Früchten gehörte. Aber dann kam ein Tag, der ihn emporschreckte aus diesem leichtsinnigen, gewissenlosen Genußleben.

Ein beleidigter Ehemann forderte ihn vor die Pistole. Das Duell sollte wohl ein Gottesgericht sein. Aber wie so oft, entschied es auch in diesem Falle ungerecht. Albert Henrici schoß seinen Gegner durch die Brust. Er hatte es nicht gewollt, in der Erregung des Augenblickes hatte er kaum gezielt; seine Hand war unsicher. Wie durch einen Nebel sah er seinen Gegner wanken und fallen. Erschrocken taumelte er vorwärts. Da traf ihn der letzte Blick seines Opfers mit wilder Anklage. Diesen Blick vergaß Albert Henrici nie. Noch heute verfolgten ihn die brechenden Augen des Sterbenden bis in seine Träume.

Seit jener Stunde war er ein anderer geworden. Während der Festungshaft, die wegen des Duells über ihn verhängt wurde, quälte ihn sein erwachtes Gewissen Tag und Nacht. Er machte sich selbst die bittersten vorwürfe, es so leicht genommen zu haben mit des Andern Ehre.

Nach verbüßter Haft schickte ihn sein Vater, ein mehrfacher Millionär, auf Reisen. Es sollte Gras über die Angelegenheit wachsen, und vor allen Dingen wollte sein Vater verhindern, daß er mit der Frau, um derentwillen das Duell ausgefochten wurde, wieder in Berührung kam.

Albert Henrici wäre ihr indessen auch ohnedies fern geblieben. Sie war ihm nichts mehr als eine Zeugin seiner Schuld. Und als er nach Jahren von ihrer Wiederverheiratung hörte, berührte ihn das kaum.

Überhaupt – seit dem Duell waren ihm die Frauen gleichgültig geworden. Er ging ihnen aus dem Wege, wo er konnte. Seit seiner Weltreise, die sich auf zwei Jahre erstreckte, hatte sich sein Sinn ernsteren Zielen zugewandt. Das Inhaltlose seines Lebens war ihm zum Bewußtsein gekommen.

Als er nach zwei Jahren nach Europa zurückkehrte, nahm er einen mehrjährigen Aufenthalt in Italien, um dort die Geschäfte seines Vaters zu vertreten. Er kam immer nur besuchsweise heim zu seinen Eltern. Bei dieser Gelegenheit versuchten sie, ihn zu einer Heirat zu bewegen – aber er mochte nichts davon hören. Wohl hätte er jetzt, nun er das Leben ernster auffaßte, gern eine eigene Familie gegründet. Aber eine Stimme in seinem Innern sprach ihm unaufhörlich von Vergeltung. Er wagte nicht, eine Frau zur Hüterin seiner Ehre zu machen. An die unbedingte Treue einer Frau glaubte er nicht. Und warum sollte ihm nicht mit demselben Maß gemessen werden, mit dem er gemessen hatte?

So blieb er unverheiratet, zum Schmerze seiner Eltern.

Sie starben ihm kurz nacheinander, als er bereits über vierzig Jahre zählte. Kurz zuvor war er für immer nach L.... zurückgekehrt, um in seiner Vaterstadt das italienische Konsulat zu übernehmen.

Nach dem Tode seiner Eltern wohnte er allein mit der Dienerschaft in der großen, vornehmen Villa am Stadtwald, die sein Vater hatte erbauen und mit allen Bequemlichkeiten versehen lassen.

Natürlich fehlte es nicht an Versuchen, ihn in Hymens fesseln zu schlagen. Freunde und Bekannte wetteiferten mit töchtergesegneten Müttern, ihn unter die Haube zu bringen. Aber umsonst – er blieb ledig.

Aber eines Tages ereilte ihn doch das Geschick. Gelegentlich eines Besuches auf dem Landsitz eines Freundes lernte er eine junge Dame kennen, die mit ihrer Mutter gleichfalls dort zu Besuch war. Er wußte nicht, daß dies Zusammentreffen nicht ganz zufällig war. Die Gattin seines Freundes hatte Vera Böhmer mit ihrer Mutter absichtlich zu gleicher Zeit eingeladen. Veras Mutter war die verarmte Witwe eines hohen Beamten, die nur über eine schmale Pension verfügte. Entfernt verwandt mit der Gastgeberin, hatte sie dieser ihren Wunsch ausgedrückt, Vera mit einem vermögenden Mann zu verheiraten. KonsuI Henrici wurde als glänzende Heirat für die junge Dame in Aussicht genommen. Vera wußte, was man von ihr erwartete, die Mutter hielt ihr einen langen Vortrag über die Notwendigkeit einer reichen Heirat. So stand das junge Mädchen Henrici in einer Befangenheit gegenüber, die den seltsam eigenartigen Reiz ihrer Schönheit noch verstärkte. Wie ein Feuerstrom schoß das Blut zum Herzen des gereiften Mannes, als er das junge, wunderholde Geschöpf vor sich sah. Der mächtige Eindruck, den Vera auf ihn machte, verstärkte sich von Tag zu Tag. Alle Bedenken, alle Erwägungen gingen unter in dem starken Gefühl, das ihn beherrschte. Er fühlte, daß er jetzt zum ersten Male die echte, wirkliche Liebe empfand, weil sie so spät kam und so unerwartet, unterjochte sie alles, was sich ihr in seinem Innern in den Weg stellen wollte.

Kurzum, Albert Henrici kehrte als Vera Böhmers Verlobter nach L .... zurück, um alles vorzubereiten zu seiner baldigen Hochzeit.

Verwöhnt, bewundert und geliebt wie nie in ihrem Leben, zog Vera wenige Monate später in die schöne Villa am Stadtwald ein. Das glänzende Los, welches sie gezogen, täuschte sie hinweg über die Herzensleere, die sie bei dieser Verbindung empfand. Ihr Gatte erschien um Jahre verjüngt, und seine elegante Erscheinung gefiel ihr sehr wohl. Sie bildete sich allen Ernstes ein, etwas wie Liebe für ihn zu empfinden, und lebte die ersten Jahre ihrer Ehe wie in einem Rausch von Glanz und Reichtum.

All ihre Reize entfalteten sich in dem prunkvollen Leben, sie war sinnberückend schön, und wo sie an der Seite ihres Gatten erschien, wurde ihr gehuldigt.

Henrici liebte seine junge Frau grenzenlos, und eine kurze Zeit war er in ihrem Besitz restlos glücklich. Aber als er dann sah, wie die jungen Männer der Gesellschaft sich eifrig um ihre Gunst bemühten, als er merkte, wie gern sie sich diese Bewunderung gefallen ließ, da erwachte die alte Angst vor Vergeltung in seinem Innern. Er hätte mit Vera in einen stillen Erdenwinkel flüchten, sie vor allen Augen verbergen oder wenigstens ganz zurückgezogen mit ihr leben mögen.

Wenn sie ihn dann aber mit ihren herrlichen dunklen Augen ansah und ihm zeigte, wie sie sich auf dieses und jenes Fest freute, dann fand er nicht den Mut, ihr die Freude zu vergällen. Aber so sehr er sich dessen schämte, beobachtete er Vera unausgesetzt mit sorgendem Mißtrauen, wenn sie sich mit den Verehrern ihrer Schönheit unterhielt.

Bisher hatte er noch nichts entdeckt, was ihm ein Recht zu dieser Sorge gab. Aber vor jedem neuen Fest, das er mit Vera besuchte, überfiel ihn diese lähmende Angst. Er wußte, es gab auch heute noch genug Männer, die es leicht nahmen mit des Andern Ehre.

Mitten in eine besonders glänzende Festzeit fiel dann plötzlich eine Trauerbotschaft, die Vera zwang, den geselligen Freuden vorläufig zu entsagen. Ihre Mutter starb. Die Liebe zu dieser war nicht groß genug gewesen, um Vera lange niederzudrücken. Aber daß sie all den schon geplanten Festlichkeiten fernbleiben mußte, war ihr ein großer Kummer. Sie war noch so jung und lebensfreudig und hatte bis zu ihrer Verheiratung wenig vom Leben genossen.

Ihr Mann dagegen schien wie von einem bösen Alp befreit. Er war glückselig, daß er Vera nun eine lange Zeit für sich allein haben konnte.

Und doch sollte gerade diese stille Zeit seinem Glück gefährlich werden. Im geselligen Trubel zwischen Abendfesten, Theater und Bällen hatte Vera keine Zeit gehabt, sich auf sich selbst zu besinnen. Jetzt, ganz auf ihren Mann angewiesen, empfand sie zum ersten Male, daß er ihrem Herzen im Grunde fremd geblieben war. Eine unbestimmte Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem erfüllte ihre Seele. Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie ihren Gatten nicht liebte, daß sie sich verkauft hatte für Glanz und Reichtum. Eine tiefe Traurigkeit wechselte in ihrem Wesen mit nervöser Reizbarkeit. Sie klagte über Langeweile, wenn ihr Mann in Geschäften von Hause abwesend gewesen war. Henrici tat alles, was er ihr an den Augen absehen konnte, um sie zu zerstreuen. Die Veränderung in ihrem Wesen hielt er für den Ausfluß ihrer Trauer.

Um sie nicht allein lassen zu müssen, wenn er seinen Geschäften nachging, warb er eine Gesellschafterin für seine Frau, mit der sie musizieren, plaudern und spazierenfahren konnte. Diese junge Dame, die Tochter einer Majorswitwe, gefiel Vera sehr. Helma Olfers war ein sehr kluges, taktvolles und lebensfrisches Geschöpf. Sie übte einen heilsamen Einfluß aus auf die junge Frau. Henrici bemerkte das sehr wohl und wünschte sich Glück zu dem guten Griff, den er getan hatte.

Helma Olfers wurde, ohne daß es sonderlich auffiel, so etwas wie ein guter Hausgeist. Ihre Anwesenheit allein hatte schon etwas Wohltuendes, Erfrischendes. Mit feinem Takt fühlte sie heraus, wann ihre Anwesenheit erwünscht oder störend war. Vera konnte sich bald ein Leben ohne Helma nicht mehr denken, zumal ihre Anwesenheit die Leere, die sie jetzt empfand, etwas ausfüllte.

Nun war das Trauerjahr zu Ende, und heute sollte Henrici seine junge Frau zum ersten Male wieder zu einem Feste führen. Vera schien wie neubelebt in Erwartung neuer geselliger Freude. Mit besonderer Sorgfalt schmückte sie sich und freute sich ihrer Schönheit.

Sie waren zu einem glänzenden musikalischen Abendfeste im Hause des Kommerzienrats Delbrück geladen. Der Geldadel war in der alten Handelsstadt, die zu den ersten des Reiches gehörte, tonangebend. Die reichen Handelsherren liebten bei ihren Festen gediegenen Glanz, und ihre Frauen gaben ihren Empfängen gern ein schöngeistiges Gepräge.

Die Kommerzienrätin Delbrück tat das mit viel Geschick. Sie förderte hauptsächlich junge musikalische Talente, weil sie mit dem Direktor des Konservatoriums sehr befreundet war. Meist wurde auch wirklich gute Musik in ihrem Hause gepflegt, sie selbst war eine hervorragende Klavierspielerin. Alles, was zur guten Gesellschaft L....s gehörte, traf bei ihr zusammen. Es gehörte zum guten Ton, ihre Abende zu besuchen. Da nach den musikalischen Genüssen auch für die leiblichen an einer gutbesetzten Tafel gesorgt wurde, kamen auch unmusikalische Naturen auf ihre Rechnung. Vera wußte, daß sie all ihre Verehrer dort treffen würde. Sie verlangte im stillen sehnlichst nach Bewunderung und Verehrung, nach schmeichelhaften Artigkeiten und feurigen Blicken aus Männeraugen. Galt ihr auch nicht ein einziger mehr als ihr Mann, so hatte sie doch genug von dem süßen Gift der Bewunderung genossen, um sich danach zu sehnen wie nach einem berauschenden Tranke. Und das Jahr, welches sie in Stille und Zurückgezogenheit hatte verbringen müssen, hatte allerlei Begehren in ihr erweckt, welche die Öde in ihrem Herzen unterdrücken sollten.

Sie ahnte nicht, wie sehr sich ihr Mann fürchtete vor dieser in Aussicht stehenden Festzeit. Er verstand es meisterhaft, sich zu beherrschen. Nie hatte er sie fühlen lassen, was er litt, wenn er sie von Verehrern umlagert sah. Sie wußte nicht, daß er aufatmete, wenn er nach einer Gesellschaft endlich wieder allein mit ihr im Wagen saß, um heimzufahren. Und kein Gedanke beunruhigte sie, wenn er sie scheinbar scherzhaft ausforschte nach allem, was man ihr Schönes gesagt, daß er etwas anderes bei ihren Berichten empfand, als Freude. Sie wußte so drollig kleine Eigenheiten ihrer Bewunderer zu verspotten und freute sich, wenn ihr Mann darüber lachte. Daß dieses Lachen eine Erlösung war von schwerer Pein, ahnte sie nicht. Und doch war es so. Solange Vera über ihre Verehrer witzelte, waren sie ungefährlich, das fühlte Henrici. Und deshalb löste sich seine heimliche Spannung noch immer in ein befreiendes Lachen. –

Nun würde dies Spiel von neuem beginnen. Henrici saß in düstere Gedanken versunken. Er empfand schon im voraus die tausend Qualen, die ihn wieder erwarteten. Wie sie sein schönes junges Weib wieder umschwärmen würden von allen Seiten! – Er mußte es dulden, daß man ihr huldigte, ihr schöne Worte sagte und sie mit kühnen, eroberungssüchtigen Blicken streifte. Ach – er kannte ja all die kleinen Manöver, mit denen man die Gunst der Frauen gewann. Alte Zeiten tauchten auf in seiner Erinnerung, alte Sünden wurden lebendig, und die große Schuld seines Lebens hob grinsend ihr Haupt und drohte ihm mit grauenhafter Gebärde. Ein sterbendes Antlitz – darin die brechenden Augen mit der wilden, vernichtenden Anklage – fort – fort! – Wie abwehrend streckte er die Hände aus. Ein helles Frauenlachen drang aus dem Nebenzimmer an sein Ohr. Mit fahlem Gesicht richtete er sich gewaltsam auf und sah mechanisch nach der Uhr.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Fräulein Olfers trat aus dem Zimmer seiner Frau.

Wie befreit von einem quälenden Traum, sah er lächelnd zu dem schlanken blonden Mädchen hinüber, dessen liebes Gesicht ein reizendes, anmutiges Lächeln zeigte.

»Nur noch einen Augenblick Geduld, Herr Konsul. Die gnädige Frau ist jetzt wirklich in zwei Minuten fertig,« sagte sie mit einer warmklingenden, frischen Stimme.

»Danke, Fräulein Olfers. Sie hätten sich nicht zu bemühen brauchen. Aber nun Sie einmal hier sind, plaudern wir ein wenig, bis meine Frau erscheint. Wie geht es denn zu Hause? Sie haben ja heute Nachricht bekommen!«

»Danke sehr, Herr Konsul. Gottlob ist meine Mutter wieder wohlauf nach ihrem kleinen Influenzaanfall.«

»Das freut mich – auch für Sie. In den letzten Tagen waren Sie mit Ihren Gedanken doch mehr zu Hause als bei uns.«

Helma Olfers sah erschrocken zu ihm auf. »Hab ich meine Pflichten vernachlässigt?«

Er schüttelte mit gütigem Lächeln das Haupt. »Sehen Sie doch nicht gleich so erschrocken aus, kleines Fräulein! Sie und eine Pflicht vernachlässigen, das gibt es doch nicht. Daran merkt man die Soldatentochter. Immer stramm im Dienst – nicht wahr, das war die Losung bei Ihnen daheim?«

Helma nickte lächelnd und rückte sich gerade. »Immer stramm im Dienst, und nicht gemuckst,« sagte sie mit schelmischem Ausdruck im Gesicht in militärischem Tone. Und dann ihre ungezwungene Haltung wieder annehmend, fuhr sie mit einem leichten Seufzer fort: »Ja, Papa verstand in dieser Beziehung keinen Spaß, weder im Dienst noch daheim, obwohl er sehr gut und liebevoll war.«

»Das ist Ihnen jedenfalls eine gute Schule gewesen für Ihren schweren Lebensweg, armes kleines Fräulein!«

Helma schüttelte lächelnd den Kopf. »Ach, jetzt brauchen Sie mich wirklich nicht zu bedauern, Herr Konsul. So gut wie jetzt hab ich's noch nie in meinem Leben gehabt. In meiner ersten Stellung, da war ich manchmal recht verzagt. Ich konnte Frau von Sterneck nicht zufriedenstellen – wie ich's auch anfing. Und man ließ mich dort recht schroff fühlen, daß ich nur eine bezahlte Gesellschafterin war. Aber hier, seit ich hier in Ihrem Hause bin, fühle ich mich wie im Himmel.«

Henrici lachte gutmütig.

»Nun, jeder hat wohl eine besondere Vorstellung von himmlischen Freuden. Was erleben Sie denn hier so Schönes, daß Sie sich wie im Himmel vorkommen?«

Ein warmer Glanz lag in Helmas schönen, dunkelblauen Augen. »Erstens erfahre ich von Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin viel Güte und Nachsicht. Sie lassen mich als Menschen gelten, gewähren mir so viel freie Zeit, daß ich mit meinen Lieben daheim in reger Verbindung bleiben kann. Jede Sorge um das tägliche Leben ist von mir genommen, und von dem reichlichen Gehalt, das Sie mir ausgesetzt haben, kann ich Mama manche Erleichterung verschaffen, damit sie mit meinen vier Geschwistern nicht so viel Sorgen hat. Ist das nicht viel des Guten? Ich wünsche, daß es mir immer so gut gehen möge, dann bin ich zufrieden.«

Henrici nickte gedankenvoll vor sich hin. »Wohl Ihnen, kleines Fräulein, daß Sie nicht anspruchsvoller sind. Nun freuen Sie sich gewiß darauf, heute wieder einen freien Abend zu haben. Da will ich Sie nicht länger aufhalten. Meine Frau wird Ihrer wohl nicht mehr bedürfen.«

»Nein, die gnädige Frau hat mich bereits entlassen. Doch da ist sie schon!«

Vera trat in sieghafter Schönheit in das Zimmer. Während sie sich lächelnd, bewunderungheischend vor ihrem Gatten um sich selbst drehte, erblickte sie Helma. »Da sind Sie ja noch, liebe Helma! Ich denke, Sie wollen einen hundert Seiten langen Brief nach Hause schreiben –?«

»Fräulein Olfers hat mir ein wenig die Langeweile vertrieben,« sagte Henrici, Vera mit entzückten Blicken betrachtend.

Sie sah schelmisch abbittend zu ihm auf. »Hab ich dich lange warten lassen? Bist du böse?«

Helma schlüpfte mit leisem Gruß aus dem Zimmer, und Henrici umfaßte mit heißer Innigkeit seine Frau.

»Böse? Dir? Nein, Vera – das wird nie geschehen.«

Sie streichelte seine Wange und sah ein wenig kokett zu ihm empor. »Wer weiß! Ich will dich lieber nicht auf die Probe stellen.«

Er küßte ihre Hand über dem feinen Gelenk. Es lag eine vornehme Ritterlichkeit in seiner Bewegung. »Ich würde jede Probe bestehen, Vera, auch die schwerste.«

Sie schmiegte sich einen Augenblick an ihn wie ein verwöhntes Kind. Dann richtete sie sich schnell empor. »Nun müssen wir aber gehen, sonst kommen wir wirklich zu spät.«

Er legte ihr den kostbaren Pelzmantel um die schönen Schultern. Dabei drückte er einen Kuß auf ihren Nacken. Sie zuckte leise zusammen und schloß einen Augenblick die Augen. Als sie dieselben wieder öffnete, lag ein sonderbar sehnsüchtiger Ausdruck darin. Aber sie sah ihren Gatten nicht an.

Wer vermag die rätselhaften Empfindungen einer Frauenseele zu ergründen! Vera wußte selbst nicht, nach was sie sich sehnte. Aber sie war in einer jener Stimmungen, in denen die Frauen besonders bezaubernd sind – und am leichtesten fremdem Zauber erliegen. – –

Sie kamen wirklich zu spät. Die musikalischen Vorträge hatten bereits begonnen. Ein junger Sänger mit weicher, voller Baritonstimme sang gerade ein Brahms'sches Lied. Um nicht zu stören, blieb Vera im Vorzimmer zum Musiksaal sitzen und streifte lässig ihre Handschuhe über. Ihr Gatte trat leise durch die offene Tür des Musiksaales und blieb dort lauschend stehen.

»Immer leiser wird mein Schlummer,«

tönte es in schmerzlicher Klage an Veras Ohr. Sie lauschte traumverloren. Das Lied sprach zu ihrem Herzen, als wenn es aus ihrem eigenen Empfinden herausströmte.

»Niemand wacht und öffnet dir,
Ich erwach und weine bitterlich.«

Ein Seufzer entfloh ihren Lippen, ohne daß sie es wollte. Gab es eine Liebe wie diese, aus der das Lied geboren war? Wie mochte das sein, wenn man eine solche Liebe empfand? Mußte sie nicht mehr Schmerz als Freude bringen? Süße Schmerzen! Gab es das? Lebte solch ein Gefühl nicht nur in der Einbildung der Dichter? Und doch – es mußte etwas Wahres daran sein, das sagte ihr die unbestimmte Sehnsucht, die sie beherrschte.

Immer tiefer verstrickte sie sich in solch gefährliche Träume. Ihr im Grunde sehr leidenschaftliches Wesen verlangte heimlich nach etwas anderem, als ihr die kühle Vernunftehe brachte, die sie gedankenlos eingegangen war. Mit großen Augen sah sie weltverloren um sich, und da blieb ihr Blick plötzlich in einem anderen Augenpaar hängen, welches sehr deutlich bewunderndes Entzücken bei ihrem Anblick verriet. Dies Augenpaar gehörte einem schlanken, großen Mann von ungefähr dreißig Jahren an. Er war als gleichfalls verspäteter Gast leise in das Vorzimmer getreten und stand nun, im Anschauen der eigenartig schönen Frau versunken, regungslos neben der Tür. Vera kannte ihn nicht. Seine Erscheinung wirkte aber in diesem Augenblick wie Offenbarung auf sie ein – wie eine Verwirklichung ihrer Träume. Verwirrt sah sie in das frische, gutgeschnittene Männergesicht mit den sonnigen, strahlenden Augen, die eine ungestüme Seele verrieten und wie im jugendlichen Übermut wetterleuchteten. Es lag so etwas Junges, Kraftvolles, Ursprüngliches in der vornehmen Erscheinung, daß es wie ein heimliches Jauchzen durch Veras Seele flog.

Wie gebannt hingen die Augen der beiden ineinander. Es war, als wenn Flammen herüber- und hinüberschlügen. Endlich verneigte sich der junge Mann wortlos vor Vera, ohne den Blick von ihr zu lassen. Sie dankte mit einem verträumten, verwirrten Lächeln und fühlte dabei, wie ihr heiße Glut in das Gesicht stieg.

Schicksal – du wählst die Stunden gut, um die Menschen deiner Macht zu beugen! – Die Stimme drüben im Musiksaal verstummte, und lebhafter Beifall lohnte den Sänger. Vera schrak zusammen, ein Lächeln umspielte ihren Mund. Noch nie hatte sie so schön ausgesehen wie in diesem Augenblick.

Henrici trat in das Vorzimmer, um seine Frau in den Saal zu begleiten. Als er sich eben zu ihr neigte, um ihr seinen Arm anzubieten, erblickte er den jungen Mann, der sofort auf ihn zuschritt.

Lächelnd bot ihm Henrici die Hand. »Auch zu spät gekommen? Guten Abend, mein lieber Herr Althoff!«

Heinz Althoff legte seine Hand in die Henricis. »Guten Abend, Herr Konsul! Endlich sieht man Sie wieder! Sie waren wie verschollen.«

»Ja – wir hatten Trauer. Und vorher waren Sie lange Zeit in Paris. Wir haben uns sehr lange nicht gesehen. Ihren Herrn Vater treffe ich oft. Und er hat mir gesagt, daß Sie sich wohl befinden.«

Vera hatte interessiert dem kurzen Gespräch gelauscht. Jetzt machte Heinz Althoff eine bittende Bewegung nach der jungen Frau. »Wollen Sie mich, bitte, dem gnädigen Fräulein vorstellen?«

Henrici lachte. Keine innere Stimme warnte ihn in diesem Augenblick. »Gestatte, Vera, Herr Heinz Althoff, der Bruder von Robert und Felix Althoff – meine Frau. Ich vergaß, daß Sie sich noch nicht kannten.«

Heinz Althoff konnte seine Überraschung nicht ganz verbergen. Das also war die schöne Konsulin, von der er schon so viel schwärmerische Beschreibungen gehört hatte! Zufällig hatte er sie vor seiner Abreise nach Paris nie gesehen, und als er heimkehrte, ging Vera der Trauer wegen nicht in Gesellschaft. Als er sie vorhin erblickte, hatte er sie für ein junges Mädchen gehalten.

Während er einige höfliche Worte mit ihr wechselte, begegneten sich ihre Blicke wieder. Und da zuckte es auf in seinen Augen, denn er erkannte mit scharfem Blick, daß er Eindruck auf sie gemacht hatte. Heinz Althoff war nicht der Mann, dies zu übersehen. Während Vera ihre Handschuhe vollends anzog, plauderte Heinz mit Henrici. Dabei ließ er Vera kaum aus den Augen. Wie ein heimliches Wetterleuchten zuckte es herüber und hinüber. Vera fühlte mit einer Sicherheit, die sie bis ins Innerste erschütterte, daß Heinz Althoff ihr Schicksal sein würde. Noch nie hatte sie Ähnliches beim Anblick eines Mannes empfunden. Widerstandslos ergab sie sich dem Zauber, den seine lachenden, übermütigen Augen auf sie ausübten. Seine ganze kraftvolle Persönlichkeit strömte etwas Zwingendes aus, dem sie sich mit einer heimlichen Wonne unterwarf.

Zusammen betraten die drei Menschen den Saal. Vera wurde sofort von allen Seiten umringt. Aber ihr Blick flog wieder und wieder zu Heinz Althoff hinüber, der lächelnd am Flügel lehnte und mit einer jungen Dame plauderte. Über deren Kopf hinweg fing er Veras Blicke auf und erwiderte sie kühn. Wie verhaltene Leidenschaft flammte es zuweilen auf zwischen den beiden.

Und Henrici sah nichts von alledem. Er beobachtete nur die Herren, die sich um Vera drängten. – An Heinz Althoff dachte er gar nicht. –

Von diesem Tage an war Vera eine andere geworden. All die zurückgehaltene Heißblütigkeit, die in ihrem Wesen schlummerte, kam jetzt zum Ausbruch. Mit Sturmesgewalt hatte sie die Liebe zu Heinz Althoff erfaßt. Und da sie fast täglich irgendwo in Gesellschaft zusammentrafen, fand ihre Liebe immer neue Nahrung.

Während aber ihr ganzes Sein eine Umwandlung erfahren hatte und die Liebe ihr ganzes Wesen durchdrang, war sie Heinz Althoff nicht mehr als viele andere schöne Frauen, denen er schon gehuldigt hatte. Zuweilen loderte wohl auch in ihm ein Strohfeuer auf, wenn Veras Schönheit wie ein Rausch auf ihn einwirkte. Er zeigte dann ziemlich unbekümmert, wie ihn ihre fremdartig süße Schönheit in Entzücken versetzte, und ließ seine Augen eine kühn bewundernde Sprache reden. War sie aber fern, dann konnte er sich mit gleicher Begeisterung in die Reize einer anderen schönen Frau versenken. Er liebte die Frauen – aber er liebte alle, die sein schönheitsdurstiges Auge befriedigten. Und er ahnte nicht einmal, welches Unheil er damit anrichtete, daß er Vera gegenüber kein Hehl daraus machte, wie bewunderungswürdig sie ihm erschien.

Zu tief und eingreifend war die Veränderung, die mit Vera vor sich gegangen war, als daß sie Henrici nicht bemerkt hätte. Sie war nervös, launenhaft und unberechenbar, und ihr Verhältnis zu ihrem Gatten erschien ihr als eine endlose Marter. Wenn er sie mit sorgender Unruhe betrachtete, ging sie aus dem Zimmer, um dann bald darauf zurückzukehren und ihn um Verzeihung zu bitten. »Du mußt Nachsicht mit mir haben, Albert. Ich weiß, ich bin unausstehlich jetzt. Ich glaube wirklich, ich bin etwas nervös. Sei mir nicht böse.«

Er küßte und streichelte sie dann wie ein krankes Kind. »Du gehst zu viel aus, Vera. Es strengt dich an. Wollen wir nicht lieber einige Festlichkeiten absagen?«

Da schüttelte sie aber heftig den Kopf. »Nein, nein, ich glaube eher, ich bin nervös geworden, weil wir so lange nicht ausgegangen sind. Ich freue mich doch sehr auf alles. Achte nur nicht auf mich, es wird schon vorübergehen.«

Aber es ging nicht vorüber. Wie eine rastlose Unruhe lag es über ihrem Wesen, und nur dann war sie zufrieden und glücklich, wenn sie mit Heinz Althoff zusammen sein konnte.

Henrici befragte endlich besorgt den Arzt wegen seiner Frau. Der verordnete Ruhe und Luftveränderung.

Aber Vera lachte ihn aus und behauptete, ihre Nervosität würde sich auch ohnedies verlieren.

Und wirklich schien es besser mit ihr zu werden, weil sie sich zusammennahm. Aus Furcht, daß ihr Mann darauf bestehen würde, sie zu entfernen, beherrschte sie sich meisterhaft. Aber es lag ein feuchter, sehnsüchtiger Glanz in ihren Augen, der sie nur noch schöner machte.

Ihren Mann erfüllte die Sorge um ihre Gesundheit so ausschließlich, daß er für alles andere blind zu sein schien. Er bemerkte die dunkle Wolke nicht, die sich drohend über seinem Glück zusammenballte.

* * *

Karl Althoff, Heinz Althoffs Vater, war Besitzer einer bedeutenden Hutfabrik. Er hatte vor dreißig Jahren die Fabrik von seinem Vater übernommen. Damals bestand sie nur aus einem schmalen, dreistöckigen Gebäude. Karl Althoff besaß jedoch viel Unternehmungsgeist und einen scharfen kaufmännischen Blick. Seine Frau, die Tochter eines reichen Seifensieders, brachte ihm ein hübsches Vermögen mit in die Ehe. Damit nahm er die erste Vergrößerung seines Unternehmens vor. Neben der Strohhutfabrik errichtete er noch eine für Filz- und Seidenhüte. Mit den Jahren vergrößerte sich sein Geschäft immer mehr. Mit Fleiß und Umsicht brachte er sein Unternehmen immer mehr in Schwung. Heute galt seine Fabrik als die bedeutendste in ganz Deutschland, und seine Fabrikate fanden reißenden Absatz.

Das Fabrikgebäude bestand jetzt aus drei Häusern, die mit dem neuerbauten Wohnhaus ein Viereck bildeten und einen großen Hof umschlossen. In dem einen Hause wurden Strohhüte fabriziert, in dem zweiten Filz- und Seidenhüte und das dritte war für den Versand eingerichtet. In dem großen, hübschen Wohnhaus war nun gar in den letzten zehn Jahren ein Kleingeschäft eingerichtet worden, in dem sich die Damenwelt von L..... all die reizenden Hüte kaufte, die ihre Schönheit krönen sollten.

Karl Althoff war bei der Einrichtung dieser Abteilung seines Unternehmens von folgenden Gedanken geleitet worden. Er besaß drei Söhne, die, nachdem sie genügend gelernt und sich ein wenig in der Welt umgesehen hatten, in des Vaters Geschäft eintraten. Karl Althoff war ein guter und vernünftiger Vater. Er war für reinliche Arbeitsteilung. So ging er von dem Standpunkte aus, daß seine Söhne jeder einen besonderen Wirkungskreis haben sollten, für den sie die Verantwortung übernehmen mußten. Also bestimmte er folgendermaßen: Robert, der Älteste, leitet die Fabrik, Heinz, der zweite, den Versand, und Felix, der Jüngste, der infolge eines Sturzes in der Kindheit lahmte, das Kleingeschäft.

Diese Einrichtung erwies sich als sehr zweckentsprechend. Die drei Brüder, ausgesprochen verschiedene Persönlichkeiten, wetteiferten miteinander, ihre Abteilung auf der Höhe zu erhalten. Statt daß sie bei einem Durcheinander der Arbeitseinteilung in Streit gerieten, wußte sich jeder in seinem Bereich an erster Stelle und für alles verantwortlich.

Das Kleingeschäft nahm Erdgeschoß und ersten Stock des Wohnhauses ein. Im zweiten Stock befand sich die Wohnung der Eltern und im dritten Stock für jeden der drei Brüder ein Wohn- und ein Schlafzimmer, welche, den Wünschen jedes einzelnen entsprechend, sehr gediegen und gemütlich eingerichtet waren. Auch das Schlafzimmer der Eltern befand sich im dritten Stock, da man im zweiten Stock einige große Räume für gelegentliche Festlichkeiten vorbehalten hatte.

Karl Althoff war eine bekannte und beliebte Persönlichkeit in L..... Nicht nur, weil er ein reicher Mann geworden war, sondern weil von seinem ehrlichen, geraden Wesen etwas Belebendes, Erfrischendes ausging. Er trug immer Anzüge aus schwarzem Tuch, und auf seinem dichtgelockten grauen Haar saß stets ein tadelloser Zylinder neuester Mode. Darauf hielt er. Das gehörte für ihn zur Aufrechterhaltung seines geschäftlichen Ansehens.

Seine drei Söhne waren begehrenswerte Eheaussichten, sie hätten in allen töchtergesegneten Familien mit Erfolg anklopfen dürfen, wenn sie nur gewollt hätten. Bis jetzt hatte aber noch keiner von ihnen gewollt.

Robert zählte zweiunddreißig Jahre, Heinz dreißig und Felix achtundzwanzig. Sie lebten in einer sehr innigen Gemeinschaft mit ihren Eltern.

Robert huldigte in seinen Mußestunden dem Sport, Heinz hatte neben dem Geschäft nur eine Neigung – schöne Frauen, und Felix beschäftigte sich in seiner freien Zeit eifrig mit schöngeistiger Literatur. Durch das leichte Lahmen seines linken Fußes infolge einer Sehnenverkürzung war er an mancher freien Bewegung verhindert. Beim Gehen benutzte er meist einen Stock. So mußte er sich von manchem zurückhalten, was anderen jungen Männern Freude machte. Da kam es ganz von selbst, daß er sich viel mit Büchern beschäftigte. Während Robert Tennis spielte, ruderte und andere Leibesübungen vornahm, während Heinz den Spuren schöner Frauen folgte, saß Felix über seinen Büchern.

An Wesensart waren die Brüder sehr verschieden, obwohl sie fest und herzlich aneinander hingen. Robert war ein wenig kühl, gelassen, überlegen, Heinz übermütig, voll sonniger Heiterkeit, immer zu Scherzen aufgelegt, und Felix feinfühlig, tief empfindend und zurückhaltend.

Karl Althoff hatte im Verhalten zu seinen Söhnen eine Richtschnur: »Sei der Freund deiner Kinder.« Es gab keine väterliche Tyrannei in der Familie, kein blindes, sklavenhaftes Unterordnen unter die väterliche Machtfülle. Seine Erziehung bestand aus einer vernünftigen, liebevollen Leitung. Er stärkte die Willensregung seiner Söhne und verwarf sie nicht, wenn sie mit seiner Ansicht nicht übereinstimmte. Gemeinsam mit ihnen überlegte er ruhig, wo der beste Weg hinausführte aus allen Häßlichkeiten des Lebens. So entstand bald zwischen Vater und Söhnen eine echte Kameradschaftlichkeit.

Und zwischen diesen vier eigenartigen, kraftvollen Männern lebte Frau Emilie Althoff ein etwas abhängiges Dasein. Sie war schlechthin nicht anders zu denken, als von irgendwem oder irgendetwas abhängig. Als junges Mädchen war sie von ihren Eltern in dieser Abhängigkeit und Unselbständigkeit erzogen worden. Wie selbstverständlich ordnete sie sich dann ihrem klugen Mann unter und war immer gut dabei gefahren, und ohne daß es ihr so recht zum Bewußtsein kam, war sie nun auch von ihren Söhnen abhängig geworden. Die drei Brüder liebten ihre Mutter herzlich, aber sie standen zu ihr fast in einem umgekehrten Verhältnis. Emilie Althoff war so stolz auf ihre Söhne wie auf ihren Mann. Sie ließ sich willig in allen Sachen von ihnen beraten und fügte sich wie selbstverständlich ihren klügeren Ansichten. Ein großer heimlicher Kummer lag aber doch in ihrem Innern versteckt. Sie hätte so gern ein Töchterchen gehabt. Ihr Zärtlichkeitsbedürfnis verlangte nach einem Wesen, das sie streicheln und liebkosen konnte. Ihre großen Jungen waren ihr so bald unter den Händen weggeglitten, wenn sie zärtlich mit ihnen sein wollte. Nach Jungenart hielten sie es für unmännlich, sich verhätscheln zu lassen. So neckten sie die Mutter bald in übermütiger Weise, zumal Heinz, der immer der unbändigste war. Sie schalt dann halb lachend, halb ärgerlich hinter ihnen her und seufzte: »Wenn ich nur ein Töchterchen hätte!«

Freilich, von ihren Jungen hätte sie auch keinen hergegeben, nicht um die Welt. Und nun sie erwachsen waren, lebte ein stiller Trost in ihrem Herzen. Die Jungen mußten doch eines Tages heiraten, dann brachten sie ihr liebe Töchter ins Haus – und vielleicht konnte sie eines Tages eine kleine Enkelin auf den Knien schaukeln. Das war ihr heimlicher Zukunftstraum.

Daraufhin ließ sie sich von ihren Söhnen gern ein bißchen necken. Und wenn sie auch schalt auf die ›wilden Jungen‹, das Herz lachte ihr doch im Leibe, wenn sie so forsch und frisch vor ihr standen und sie anlachten.

Ein wunder Punkt in ihrer weichen Seele war das kleine Fußleiden ihres Jüngsten. Sie litt fast mehr darunter, als er selbst. Am liebsten hätte sie ihn recht nach Herzenslust verzärtelt und ihn immerfort bedauert. Aber Felix ließ es gar nicht dazu kommen, zumal es ihm selbst peinlich war, daran erinnert zu werden. Es konnte ihn nichts mehr kränken, als wenn man auf ihn in irgendeiner Beziehung seines Fußes wegen Rücksicht nahm. In diesem Punkt war er überempfindlich, vielleicht gerade deshalb, weil er selbst sehr schmerzlich empfand, wie hinderlich ihm sein kleines Leiden oft war. – –

Es war an einem Sonntagabend. Den Sonntagnachmittag hatten Vater und Söhne, wie üblich, der Mutter gewidmet. Da gab es ein ausgedehnteres Kaffeestündchen als in der Woche. Karl Althoff rauchte im Sofaeckchen des gemütlichen, mit gediegener Pracht ausgestatteten Wohnzimmers seine Havanna. Die Söhne trieben allerhand Schnurrpfeifereien, ulkten und lachten, neckten die Mutter und ließen sich willig von ihr mit Kuchen füttern. Nun war es Abend geworden. Karl Althoff hatte sich gegen sechs Uhr zu seinem Dämmerschoppen begeben, und die beiden ältesten Brüder waren hinaufgegangen, um sich umzukleiden. Robert wollte in seinen Klub gehen, und Heinz wurde von Henricis im Theater erwartet. In der letzten Zeit war er sehr oft mit dem Konsul und seiner Frau zusammen gewesen. Auch war er ein häufiger Gast in der Villa am Stadtwald. Karl Althoff und Henrici waren sehr befreundet, und wenn auch die Eltern meist großen Gesellschaften fernblieben, so pflegten doch die Söhne jeden geselligen Verkehr. Und nachdem Henricis wieder empfingen, waren sie oft dort zu treffen.

Felix saß noch bei der Mutter im Wohnzimmer. Sein feingeschnittenes, kluges Gesicht mit den geistvollen, warmblickenden Augen war hell beleuchtet, und seine Mutter bemerkte im stillen eben wieder, daß ihr Felix ein bildhübscher Mensch sei, der seinen Brüdern sonst in äußerlichen Vorzügen nichts nachgab. Wenn nur sein armer Fuß nicht wäre! Sie seufzte heimlich ganz leise in sich hinein.

Da wurde die Tür sehr lebhaft geöffnet, und Robert und Heinz traten ein, um sich von der Mutter zu verabschieden.

»Seid ihr schon fertig, Jungen?« sagte sie erstaunt.

»Na, Milchen, es wird auch Zeit, daß wir gehen, sonst komme ich zu spät ins Theater,« sagte Heinz, die Mutter bei den Schultern fassend.

»Jung, du sollst doch nicht immer ›Milchen‹ zu mir sagen.«

»Aber warum nur nicht? Milchen finde ich so prachtvoll bezeichnend für dich. An diesem Namen ist alles so heiter, voll und weich, wie du selbst bist, mein Muttchen. Und Vater nennt dich doch auch so.«

»Ja, Vater, der hat ein Recht dazu. Es klingt so wenig respektierlich, wenn du ›Milchen‹ zu mir sagst.«

Heinz küßte sie lachend auf die Wange. »Strapazier dich nicht mit einem Vortrag über Respektlosigkeit deiner Söhne. Den hast du schon so oft gehalten, daß du bald selbst daran glaubst.«

»Ja, da fehlt es auch sehr bei euch. Zumal bei dir und Robert.«

»Oha – fängst du auch noch mit mir an, kleine Mama!« wehrte Robert ab.

Heinz zupfte seine Mutter am Ohrläppchen.

»Milchen, soll ich dir jeden Tag eine Postkarte schreiben, auf der ich mich hochachtungsvoll und ergebenst unterzeichne?«

»Untersteh dich, du Ausbund! Auf was für tolle Einfälle wirst du noch kommen. Na, warte nur, deine Frau wird dich schon unter die Fuchtel nehmen!«

Heinz machte ein erstauntes Gesicht. »Meine Frau? Wo ist sie denn, dies holde Wesen?«

»Ich meine natürlich deine zukünftige.«

»Ach so! Und die soll mich unter die Fuchtel nehmen, wie du so schön sagst. Na, Milchen, Herzensmilchen, wenn sie von deiner Art ist, dann hast du nicht viel Glück damit. Mich kriegt keine unter – schon deshalb nicht, weil ich nie heiraten werde.«

»Das hat schon mancher gesagt, Heinz. Im Ernst, es wird wirklich Zeit, daß ihr ans Heiraten denkt. Ihr habt doch alle drei das Alter dazu.«

»Brrr – komm, Robert, jetzt geben wir Fersengeld. Wenn Milchen auf das Heiratsthema kommt, ist sie unerschöpflich. Gute Nacht, Herzensmilchen, schlaf gut und träume von deinen Schwiegertöchtern in spe! Womit ich mich empfehle, hochachtungsvoll und ergebenst dein getreuer Heinz.«

Er preßte seine Lippen so fest auf ihren Mund, daß sie nicht reden konnte, dann klopfte er Felix auf die Schulter und rief: »Servus, Kleiner!« und war mit einem Satz zur Tür hinaus.

Robert verabschiedete sich in ähnlicher, nur etwas gelassenerer Weise.

Die Mutter war in ihren Stuhl zurückgesunken und schüttelte halb lachend, halb ärgerlich den Kopf.

»Solch ausgelassene Stricke! Der Heinz wird alle Tage übermütiger,« sagte sie zu Felix.

Dieser hatte lächelnd die Szene beobachtet. »Laß sie doch, Mutter, freu dich doch an ihrer unbändigen Lebenslust.«

»Ach, sie treiben's oft zu bunt. Du bist ganz anders, mein Felix!«

Ein leiser Schatten flog über sein Gesicht. »Es ist der Überschuß an Kraft in ihnen, der austoben will. Sei doch froh, Mutter, daß du nicht drei solcher Söhne hast wie mich.«

Die Mutter sah ihn erschrocken an. »Aber, Felix.«

Er errötete wie ein junges Mädchen und streichelte ihr lächelnd die Hände. »Siehst du, nun bist du auch mit mir unzufrieden.«

»Nein, nein, Felix. Das bin ich nie. Aber weh tut es mir, wenn ich merke, daß du dich mit deinem armen Fuß deinen Brüdern nicht gleich fühlst. Mein armer, lieber Junge!«

Felix erhob sich jäh mit blassem Gesicht. »Nicht bedauern, Mutter – du weißt, das ertrag ich nicht.« Und sich bezwingend, fuhr er ruhiger fort: »Was willst du auch? Mein Leben ist reich und schön genug, obwohl mir das eine Bein nur halbe Dienste tut.« Es sollte scherzhaft klingen, aber das gelang ihm nicht.

Die Mutter sah ihn voll heimlicher Sorge an. »Ja, ja – aber manchmal kränkt es mich doch um deinetwegen, wenn die beiden so übermütig sind. Ich denke dann, es tut dir weh, daß du nicht so mittollen kannst.«

Felix preßte die Lippen aufeinander. Die Mutter meinte es gut, aber er vertrug nun einmal nicht, daß man an sein Leiden rührte. In dieser Beziehung war er überempfindlich.

»Ich glaube, da kommt der Vater eben von seinem Dämmerschoppen heim,« sagte er ablenkend.

Wirklich trat gleich darauf Karl Althoff ein.

»Holla, ihr beiden! Haben euch die Wildlinge allein gelassen? Ich sah sie grad noch um die Ecke flitzen, als ich in die Straße einbog. Sie hatten's eilig.«

»Heinz wollte nicht zu spät kommen; Henricis erwarten ihn in ihrer Loge.«

»Ja, Milchen, das weiß ich ja. Laß sie sich nur vergnügen. Sie verdienen sich das Recht dazu durch treue Pflichterfüllung. Na – und du, Felix? Dich zieht es schon wieder zu deinen Büchern, nicht? Oder bleibst du noch ein wenig bei uns, bei den Alten?«

»Gern, Vater. Ich habe neue illustrierte Zeitschriften mit heruntergebracht. Willst du sie mit durchsehen?«

Karl Althoff setzte sich behaglich in einen Lehnstuhl.

»Machen wir, Felix. Bist ein lieber Kerl. Sorgst immer ein bißchen für die Unterhaltung und Belehrung deiner Eltern.«

»Nur für die Unterhaltung, Vater.«

Der fuhr sich durch dar graugelockte Haar und nickte Felix lächelnd zu. »Ich hoffe, es bleibt auch ein bißchen Belehrung übrig dabei. Meinst, wir Alten brauchen nicht mehr zu lernen? Oha, mein Sohn, – ich will lernen, so lange ich lebe. Und wenn ich es im Leben zu etwas gebracht habe, danke ich's meinem Lerneifer. Der soll mir treu bleiben bis an mein Ende. Na – nun zeig mal, was du Neues hast. Milchen, laß eine Flasche Wein bringen, und dann setz dich zu uns. Dich verlangt gewiß danach, deine zwanzig Romanfortsetzungen zu lesen.«

Milchen klingelte und bestellte den Wein, dann sagte sie eifrig: »Es sind ja nur vierzehn, Karl.«

»Nur vierzehn? Der Tausend? Na, für bescheidene Ansprüche genügt das auch. Mir ist nur schleierhaft, wie du das alles auseinanderhältst. Daß nicht ein unentwirrbares Durcheinander entsteht, begreife ich einfach nicht.«

Milchen setzte sich neben ihn und tätschelte seine Hand. »Ja, siehst du, Karl, wie du die Tausende von Hutfassons im Kopf behältst und sie nach Nummer und Buchstaben genau erkennst, das begreife ich auch nicht. Mein Kopf ist durch meine Haushaltsorgen nicht so angefüllt wie der deine durch deine Geschäfte. Mich kannst du nachts im Schlafe wecken und mir irgendeine Stelle aus meinen Romanen vorlesen, dann kann ich dir ganz genau sagen, wo sie hingehört.«

Karl Althoff klopfte ihr lachend auf die Schultern und nickte ihr herzlich zu. »Jedem Tierchen sein Pläsierchen, Milchen,« sagte er neckend.

Die alte Dame strich sich das glattgescheitelte Haar zurecht und setzte ihre Brille auf. Wie das verkörperte Wohlbehagen saß sie nun in ihrem schlicht gearbeiteten grauen Hauskleid, das keinen anderen Schmuck zeigte als schöne, gestickte Streifen an Halskragen und Ärmelbändchen, zwischen den beiden Männern.

Felix reichte ihr eine Zeitschrift. »Hier ist ein Schluß drinnen, Mutter. Den liest du doch zuerst,« sagte er lächelnd.

Sie griff erfreut danach.

»Ach, von ›Im Bannkreis der Liebe‹. Das ist fein! Na, ich denke, die Jutta kriegt ihren Herbert noch.« Erwartungsvoll machte sie sich an ihre Lektüre.

»Verzehr's gesund, Milchen,« neckte der Vater wieder.

Sie nickte nur, denn sie war bereits selbst ›Im Bannkreis der Liebe‹.

* * *

Heinz Althoff war nur eine kurze Strecke mit Robert gegangen. Dann verabschiedeten sie sich und gingen nach entgegengesetzten Richtungen auseinander.

Dicht neben dem Theater war noch eine Blumenhalle geöffnet. Einem Antrieb folgend, trat Heinz ein und bestellte einen Strauß. Man sollte es sofort Fräulein Dora Manders, einer kleinen Schauspielerin, in die Garderobe schicken. Er schrieb einige Worte auf eine Besuchskarte – eine Einladung zum Essen nach dem Theater – und legte die Karte zu den Blumen. Nachdem er noch eine Blume für sein Knopfloch erstanden, zahlte er und verließ vergnügt vor sich hinpfeifend die Halle.

Heinz Althoff war nicht beständig in seinen Herzenserlebnissen. Er pflückte jede Blume, die ihm am Wege wuchs und seinen Schönheitssinn reizte – auch wenn sie in einem fremden Garten blühte. Die Liebelei mit Vera Henrici – mehr war ihm das Verhältnis zu ihr nicht – nahm ihn durchaus nicht ausschließlich in Anspruch. Solange er im Banne ihrer schönen Augen stand, solange er sich mit ihr unterhielt, gab es nichts, was ihn von ihr ablenkte. Aber immer war sie eben nicht gegenwärtig – und es gab noch so viel andere schöne Frauen! Heinz hatte keine Ahnung, daß Vera anders für ihn empfand, als er für sie. Er glaubte, auch sie verlangte nichts als leichtes Geschäker. Hätte er gewußt, welch ein heißes und sehnsüchtiges Verlangen er in ihr erweckt hatte, welch tiefes Empfinden Vera für ihn beherrschte, vielleicht wäre er erschrocken, vielleicht hätte er sich von ihr zurückgezogen. Gewiß war das freilich nicht. Er ließ sich immer von seinen Trieben leiten, und wenn er auch nie das Böse wollte – die Liebe einer Frau zu erringen erschien ihm, wie so vielen anderen, nicht als etwas Böses, auch wenn es die Frau eines andern war. Nur schön und liebenswert mußte sie sein. Daß es Menschen gab, in deren Herzen sich die Liebe zu tragischen Konflikten auswuchs, begriff er nicht. Die Liebe war doch da, um die Menschen zu erfreuen! Und wenn man in dem einen oder anderen Falle keine Gegenliebe fand – nun, so gab es noch andere schöne Frauen, bei denen man Trost fand. So war seine Ansicht über die Liebe, und niemals hatte er sich schwere Gedanken darüber gemacht. Bisher war auch in all seinen kleinen Herzensgeschichten alles glatt und friedlich verlaufen.

Es war das Gefährliche in seinem Wesen, daß er stets ganz dem Augenblick lebte. Und wenn ihm eine Frau gefiel, strahlten seine sonnigen Augen so viel bestrickende Zärtlichkeit aus, daß ihm selten eine widerstand. Diese Zärtlichkeit empfand er auch wirklich in dem Augenblick, und deshalb glaubte sie ihm jede, die er so ansah.

Als er in die Loge trat, waren Henricis bereits anwesend. Auch Helma Olfers und noch zwei andere Herren, Geschäftsfreunde Henricis aus Italien, hatten bereits Platz genommen. Er begrüßte die Anwesenden in seiner frischen, belebenden Art, führte Veras Hand an die Lippen mit einem bedeutungsvollen Druck, sprach einige artige Worte mit Helma und ließ sich dann auf seinen Platz schräg hinter Vera nieder.

Da Henrici sich fast ausschließlich mit den beiden Italienern unterhalten mußte, konnte sich Vera viel mit Heinz beschäftigen. Helma unterstützte den Konsul, da sie, wenn auch nur mangelhaft, der italienischen Sprache mächtig war. Heinz und Vera tauschten nur belanglose Reden, aber ihre Augen tauchten tief ineinander. Heinz war wieder ganz im Banne der schönen Frau, deren Augen bei seinem Anblick glückstrahlend aufleuchteten. Sie erzitterte zuweilen unter seinen zärtlichen, bewundernden Blicken. Einmal streifte er leise ihren Arm, als er ihr den Theaterzettel reichte. Da schloß sie einen Augenblick die Augen, wie ein Feuerstrom drang es durch ihren Körper. Niemand bemerkte das stumme Spiel zwischen den beiden.

Die Vorstellung begann, und die kleine Dora Manders liebäugelte ziemlich dreist zu Heinz herauf. Alle merkten es. In der Pause neckte ihn Henrici mit seiner Eroberung, und die Italiener lachten verständnisinnig, als sie das merkten, und sagten Heinz eine Schmeichelei über la bella Signorina. Nur Vera blieb still und sah sehr bleich aus. Ihr Atem ging schwer, und eine heiße, verzehrende Angst stieg in ihr auf. Ein verzehrender Blick streifte das Gesicht des jungen Mannes. Man ging hinaus in die Wandelhalle. Vera schritt voran, Heinz hielt sich an ihrer Seite. Hinter ihnen ging Helma mit dem einen Italiener. Dann folgte der Konsul mit dem andern.

Vera sah zu Heinz empor. In ihren Augen glühte ein düsteres Feuer. Aber mit Macht bezwang sie den Sturm, den die Eifersucht in ihr erweckt hatte. Sogar ein Lächeln umspielte ihren Mund, als sie halblaut sagte: »Die Manders ist ein sehr schönes Mädchen.«

Heinz sah ihr mit einem strahlenden Leuchten in das schöne Gesicht. Er fühlte unwillkürlich, daß sie eifersüchtig war. »Frauen sind immer eifersüchtig,« dachte er.

»Wer denkt an eine Dora Manders, wenn er neben Vera Henrici gehen darf?« antwortete er leise.

Die Spannung in ihren Zügen verlor sich ein wenig.

»Das sind wohlfeile Redensarten. Alle haben bemerkt, daß sie zu Ihnen herauf spielte. Und man glaubt, daß Sie sie lieben.«

Er lächelte und sah sie zärtlich an.

»Es ist besser, man glaubt das, als die Wahrheit.«

Ein flehender Blick traf in seine Augen. »Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Daß Heinz Althoff in diesem Augenblick neben der angebeteten Königin seines Herzens geht,« erwiderte er, von ihrer Schönheit berauscht.

Und er glaubte in diesem Augenblick selbst, was er sagte.

Veras Augen strahlten auf in jubelnder Freude. Kein Gedanke flog jetzt zu ihrem Mann hinüber; sie hatte ihn ganz vergessen und wußte nicht, daß sie ihm unrecht tat. Wie Erlösung von banger Qual berührten sie die Worte Heinz Althoffs. Alles ging unter in der Gewißheit, von ihm geliebt zu werden.

»Nicht wahr, gnädige Frau, es ist gut, daß die Leute glauben, ich liebe die kleine Manders?« sagte Heinz dringlich.

Sie nickte und atmete tief auf. »Ja – alle sollen es glauben – alle, außer mir,« stieß sie dann erregt hervor.

»Nein, Sie nicht, Sie dürfen es nicht glauben. Aber Sie sollten mich ein wenig bemitleiden.«

»Warum?«

»Weil die Frau, die ich anbete, Eigentum eines andern ist – unerreichbar meinem Sehnen.«

Vera sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blick an. »Diese Frau leidet vielleicht nicht weniger als Sie.«

»O, wenn ich das wüßte!«

»Was wäre dann?«

»Dann trügen wir beide leichter an der süßen Qual – meine namenlose Königin und ich. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz.«

»Nun, so nehmen Sie an, sie weiß es.«

»Vera!«

»Still, keinen Namen nennen!«

Die andern kamen heran, und die Unterhaltung wurde allgemein. Heinz widmete sich dann, um keinen Verdacht zu erregen, ein wenig Veras Gesellschafterin.

Er sprach mit ihr über das Stück, welches gegeben wurde, und machte, wie schon oft, die Beobachtung, daß Helma Olfers ein sehr kluges und liebenswürdiges Mädchen war. Hübsch war sie auch, sehr hübsch sogar, zumal, wenn sie angeregt war und sich lebhaft unterhielt. Schon regte sich in ihm ein leises Eroberergefühl, und er war eben dabei, einige Höflichkeiten loszulassen, als ihn Henrici mit Beschlag belegte.

»Wie ist's, lieber Althoff, speisen Sie nachher mit uns bei Stake?«

Heinz wollte schon zusagen. Da erinnerte er sich jedoch, daß er Dora Manders eingeladen hatte, mit ihm zu speisen. Er zuckte bedauernd die Achsel und sagte ab. »Ich bin schon anderweitig verpflichtet.«

Henrici drohte lachend mit dem Finger. »Wenn da nur nicht die Manders dahintersteckt!«

Heinz drückte seinen Arm. »Still – nicht aus der Schule plaudern!«

»Ich schweige wie das Grab.« –

Die Pause war zu Ende. Henrici war heute abend besonders gut aufgelegt. Die beiden Italiener kamen nicht in Betracht, und Heinz Althoff erschien ihm ungefährlich. Warum er gerade von diesem in bezug auf Vera nichts fürchtete, hätte er nicht begründen können. Die Verbindung mit der kleinen Schauspielerin hatte ihn wohl sicher gemacht. Und Vera beherrschte sich jetzt meisterhaft. Eine beseligende Ruhe erfüllte ihr Herz. Sie glaubte sich geliebt, und damit war ihr Empfinden vorläufig in einem wunschlosen Frieden untergetaucht.

Nach dem Theater verabschiedete sich Heinz.

»Sie wollen nicht mit uns speisen?« fragte Vera betrübt.

Er zog ihre Hand an seine Lippen. »Leider war ich schon vorher versagt, gnädige Frau.«

»Ach, wie schade!«

»Speisen Sie dafür morgen abend mit uns, lieber Althoff,« schlug Henrici vor.

»Wenn die gnädige Frau gestattet!«

Veras Gesicht erhellte sich, weil sie ihn am nächsten Abend wiedersehen konnte.

»Sie gestattet,« sagte sie übermütig.

Noch einmal küßte er ihre Hand. »Tausend Dank! Ich komme mit Freuden.«

Sie waren aus dem Portal getreten. Heinz half Vera galant in den Wagen und war dann auch Helma beim Einsteigen behilflich. Dann trat er, noch einmal grüßend, zurück.

Eine halbe Stunde später saß er mit Dora Manders in einem beliebten Weinrestaurant und war so verliebt in die reizende, zierliche Künstlerin, daß er gar nicht mehr an die ›namenlose‹ Königin seines Herzens dachte.

* * *

Henricis hatten Einladungen ausgeschickt zu einer großen Ballfestlichkeit. Natürlich waren auch Althoffs geladen. Die Eltern sagten für sich ab, aber die drei Brüder nahmen an. Heinz benutzte die Gelegenheit, Vera einen Besuch zu machen, und erbot sich, die Zusagen und Absagen selbst zu überbringen.

Es waren wieder einige Wochen seit dem Theaterbesuch vergangen. Dora Manders hatte inzwischen allen Reiz für Heinz verloren. So erging es ihm immer. Nur das Unerreichbare reizte ihn. Deshalb war Vera noch immer Siegerin geblieben in seinem Herzen. Ihre Schönheit bezauberte ihn immer wieder von neuem, weil sie ihm unerreichbar blieb. Es war sogar eine Art Leidenschaft in ihm erwacht für sie in den letzten Wochen. Das war nur zu verständlich. Vera war noch nie so schön und bezaubernd gewesen wie jetzt, da ihr Herz erwacht war. Etwas Verhaltenes, Bestrickendes lag in ihrem ganzen Wesen, zumal, wenn sie mit Heinz zusammentraf. Und sie wollte schön sein für ihn. Wenn das eine Frau ernstlich will, wird die Häßlichste verschönt, wieviel mehr ein Weib wie Vera, die die Natur mit ihren herrlichsten, süßesten Gaben überschüttet hatte! –

Vera war gerade beschäftigt, ein neues Kleid für den kommenden Ballabend anzuproben, als ihr Heinz gemeldet wurde. Sie konnte ihn nicht gleich empfangen, wollte ihn aber auch um keinen Preis abweisen lassen. Deshalb wandte sie sich an Helma, die vor ihr stand, um ein Urteil über das neue Kleid abzugeben.

»Bitte, empfangen Sie einstweilen Herrn Althoff, liebe Helma. Unterhalten Sie ihn, bis ich hier fertig bin. Ich werde mich beeilen, denn ich muß ihn sprechen, da ich mir des Festes wegen einige Ratschläge bei ihm holen will. Er hat immer so hübsche Einfälle.«

Helma ging, um ihrem Wunsche nachzukommen. Sie fand Heinz in dem kleinen Empireraum, in dem die Hausfrau nur vertraute Freunde des Hauses zu empfangen pflegte. Heinz begrüßte Helma Olfers in seiner liebenswürdig lebhaften Weise. Helma entschuldigte Vera und bat ihn, bis zu deren Erscheinen mit ihrer Unterhaltung fürliebnehmen zu wollen.

»Fürliebnehmen? Da muß ich doch sehr bitten, Fräulein Olfers. Mit einer so klugen und liebenswürdigen Dame plaudern zu dürfen, ist immer ein Vorzug.«

Er sah dabei wohlgefällig auf das hübsche, anmutige Mädchen. Sie war wundervoll gewachsen, schlank und doch von jugendkräftigen, runden Formen. Ihr reiches Haar, das sehr einfach und anspruchslos geordnet war, wirkte vielleicht gerade dadurch besonders eigenartig. Die dicken Flechten legten sich anmutig und reizvoll um den feinen Kopf. Die Farbe des Haares war eine Mischung von Goldbraun und Blond, und über der Stirn und den Schläfen stahlen sich leichte Löckchen hervor, die eine Schattierung heller erschienen und wie flüssiges Gold wirkten. Daß ihre Haut klar und jugendfrisch, ihr Mund hübsch geschnitten und die tiefblauen Augen sehr beseelt waren, hatte Heinz schon früher mit Vergnügen bemerkt, wenn er sich einmal vorübergehend mit Helma beschäftigt hatte.

Da Heinz ziemlich lange Zeit mit der hübschen Gesellschafterin Veras allein blieb, hatte er Zeit, sich all ihrer Vorzüge bewußt zu werden. Und er machte gar kein Hehl daraus, daß ihm dies Plauderstündchen recht gut gefiel.

Er machte von seinen gefährlichen Augen den ausgiebigsten Gebrauch, mußte jedoch einigermaßen erstaunt bemerken, daß er hier keinen besonderen Eindruck damit machte.

Helma ging sehr unbefangen auf seine Unterhaltung ein. Über seine deutlichen Schmeicheleien lächelte sie sogar ein wenig belustigt. Aber sie sah ihn doch mit warmen, offenen Blicken an. »Wie eine Schwester ihren unartigen Bruder, dem sie sich im Innern überlegen fühlt,« dachte Heinz einigermaßen erstaunt. Einige Male lachte sie ihn sogar entschieden aus. Aber dies Lachen klang so warm und herzlich, daß er mit einstimmen mußte, und plötzlich sagte er unvermittelt: »Sie sind das erste junge Mädchen, bei dem ich das Gefühl habe: die möchtest du zur Schwester haben.«

Helma wurde bei diesen Worten ganz unbegründet dunkelrot und sah sichtlich verwirrt zur Seite.

»Aber, gnädiges Fräulein – damit kann ich Sie doch wahrhaftig nicht gekränkt haben? Weshalb steigt Ihnen denn dabei die Unmutsröte ins Gesicht? Sind Sie mir böse, daß ich mir eine Schwester wünsche, die Ihnen gleicht?«

Helma hatte die Verwirrung bereits überwunden. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Gewiß nicht böse. Dazu hätte ich doch keinen Grund.«

»Aber weshalb wurden Sie so rot bei meinen Worten?« forschte er angeregt.

»Muß dazu immer ein besonderer Grund vorliegen?«

»Unbedingt.«

»Also nehmen Sie an, mir sei plötzlich eine Versäumnis eingefallen, worüber ich erschrak.«

»Damit muß ich mich wohl zufrieden geben. Aber unter uns, gnädiges Fräulein, ich glaube nicht daran.«

»Glaube läßt sich nicht erzwingen,« sagte sie lächelnd und fuhr dann ablenkend fort: »Frau Konsul wird wohl länger aufgehalten, als ihr erwünscht ist. Es wird ihr unangenehm sein, Sie so lange warten lassen zu müssen.«

Heinz lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück. »O, ich unterhalte mich ausgezeichnet, mir wird die Zeit nicht lang. Aber Ihnen gewiß, nicht wahr?«

Helma sah ihn mit ihren schönen, klaren Augen warm und freundlich an. »Nein, gewiß nicht. Meine Zeit ist auch nicht immer so angenehm ausgefüllt wie eben jetzt.«

»Donnerwetter – die Kleine macht mich noch ganz verwirrt,« dachte Heinz. »Sie sieht mich so herzig und lieb an, sagt mit allerlei nette Sachen, und doch hab ich das Gefühl, als ob ich nie weniger Eindruck auf eine Frau gemacht hätte, als auf sie. Woran liegt das wohl?« – »Sie haben gewiß schwere Pflichten zu erfüllen?« sagte er laut.

»Das wollte ich damit nicht sagen, Herr Althoff. Seit ich hier im Hause bin, sind sie mir sogar sehr leicht.«

»Früher war das anders?«

»Ja, ich habe zwei schwere Jahre hinter mir – gleich nachdem ich von zu Hause fortging, traf ich's sehr schlecht mit meiner Stellung. Aber, bitte, lassen wir das, es ist ohne Belang für Sie.«

»Im Gegenteil, es fesselt mich sehr. Hier gefällt es Ihnen also besser?«

»Ja. Herr und Frau Konsul sind sehr gütig gegen mich. Mein Muttchen ist ganz glücklich, daß ich's jetzt so gut getroffen habe.«

»Ihre Eltern leben noch?«

»Nur meine Mutter. Mein Vater verunglückte vor fünf Jahren im Manöver.«

»Ihr Herr Vater war Offizier?«

»Ja, Major.«

»Und – und Sie konnten nicht zu Hause bleiben – bei den Ihren?« fragte er voll Teilnahme.

Helma lächelte halb schelmisch, halb resigniert. »Ich habe noch zwei Schwestern und zwei Brüder, alle jünger als ich. Und Vermögen besitzen wir nicht. Da mußte ich, als die Älteste, sehen, wie ich der Mutter helfen konnte. Das Leben ist so teuer, und die Geschwister kosten viel. Da bin ich froh, daß ich Mutter von der Tasche kommen konnte. Aber wirklich – sprechen wir nicht mehr von mir.«

Heinz betrachtete das junge Mädchen mit ernsten Augen. Was für ein liebes, tapferes Kerlchen war das. Und der hatte er verliebte Augen gemacht, um ihr den Kopf zu verdrehen! Eigentlich war das eine Schande. Da mußte er sich ein bißchen im Zügel halten. Es wäre ein Verbrechen, die Herzensruhe dieses armen Dinges zu stören. Na – zum Glück hatte sie nicht erwidert. So dachte Heinz, und nun versuchte er sich in einem väterlich wohlwollenden Ton. Das geschah aber so ungeschickt, daß Helma ihn verwundert ansah. Lachend gab er seinen vorbeigelungenen Versuch auf und plauderte nun harmlos vergnügt mit ihr.

»Freuen Sie sich denn auch ein wenig auf das Tanzfest hier im Hause, gnädiges Fräulein?«

»Gewiß. Es wird ein glänzendes Fest werden. Fast alle geladenen Herrschaften haben zugesagt.«

»Ich bin auch hauptsächlich aus dem Grunde gekommen, Frau Konsul für die Einladung zu danken und zugleich mit meiner Zusage auch eine Absage zu überbringen.«

»Ihre Herren Brüder kommen nicht?« entfuhr es wie im Schreck Helmas Lippen. Und dann wurde sie wieder dunkelrot vor Verlegenheit.

Heinz stutzte. »Hm! Was hat denn die Kleine? Weshalb wird sie wieder so rot? Wie vorhin, als ich ihr sagte, daß ich sie mir zur Schwester wünschte. – Und jetzt der Schrecken: ›Ihre Herren Brüder kommen nicht?‹ Hallo! Sollte da einer von meinen Brüdern in aller Stille etwas angebändelt haben? Aber nein – Robert ist dazu viel zu kühl und gelassen – und Felix? Hm – Felix – sollte der –? Untersuchen wir da mal ein bißchen – das ist immerhin eine bedeutsame Entdeckung.«

»Doch, meine Brüder kommen, nur meine Eltern sagen ab. Sie halten sich von großen Festlichkeiten aus Bequemlichkeit zurück. Vielleicht sind sie auch der Ansicht, daß die Familie Althoff genügend von uns Brüdern vertreten wird. Wir treten ja immer im Vierteldutzend auf.«

Helma lachte noch immer etwas verwirrt.

Da in diesem Augenblick Vera eintrat, wurde sie einer Antwort überhoben.

Heinz sprang auf und ging Vera entgegen. Vergessen war in demselben Augenblick alles, was die kleine Gesellschafterin betraf. Selbstvergessen hingen die Blicke der beiden ineinander und flammten einen Augenblick unbeherrscht auf.

Helma Olfers sah diesen Blick, der deutlich genug verriet, was niemand wissen sollte. Ein heißes Erschrecken durchdrang ihre Seele. Was war das? Wie sahen sich diese beiden Menschen an?

Aber ehe sie recht erfaßte, was sich ihr in diesem Augenblick enthüllt hatte, begrüßten sich Vera und Heinz schon wieder gefaßt und scheinbar unbefangen.

Um die Unruhe, die sie bei dieser flüchtigen Entdeckung gemacht hatte, zu verscheuchen, schalt sich Helma selbst aus. Törin, die sie war, vor einem Blick so zu erschrecken! Ihre Einbildung hatte ihr wohl einen schlimmen Streich gespielt. Nein, sie wollte gar nicht mehr daran denken, wollte vergessen, was sie zu sehen gemeint hatte.

Es war ihr lieb, daß sie von Vera mit einem Auftrag fortgeschickt wurde. Aber im Laufe des Tages stahl sich doch immer wieder dieser in unverhüllter Leidenschaft aufflammende Blick in ihre Gedanken. Eine heimliche Unruhe beängstigte sie. Es war ihr, als habe sie einen Blick in die Untiefen des Lebens getan. –

Heinz und Vera sprachen nur Worte, die jeder hätte hören dürfen, als sie allein waren. Aber ihre Blicke redeten eine andere, heimliche Sprache. Und als Heinz endlich aufbrach, ruhten ihre Hände viel länger ineinander, als nötig gewesen wäre. Das kurze ›Auf Wiedersehen!‹ aber, welches Vera Heinz zum Abschied sagte, war in so heiße Zärtlichkeit getaucht, daß Heinz das Blut aufrührerisch zum Herzen stürmte.

Draußen atmete er auf, wie einer Gefahr entronnen. Er stellte sich anerkennend das Zeugnis aus, sehr vernünftig und ruhig geblieben zu sein. Das sollte ihm erst mal einer nachmachen, unter solch heißen Blicken aus den wundervollsten Frauenaugen so beherrscht zu bleiben!

Heinz hatte wirklich nicht die Absicht, Henricis Hausfrieden zu stören. Er ahnte nicht, daß er es im Grunde schon getan, daß Vera sich in ihrem innersten Herzen schon von ihrem Gatten losgelöst hatte. Heinz spielte nur mit dem Feuer, ohne zu ahnen, daß es in Veras Herzen schon arge Verheerungen angerichtet hatte. Zufrieden mit sich und aller Welt, schlenderte er die Tauchnitzstraße entlang, die vom Stadtwald in belebtere Gegenden führte. Unterwegs traf er Henrici, der des schönen Wetters wegen vom Konsulat zu Fuß nach Hause ging.

Die beiden Herren begrüßten sich herzlich. Heinz erzählte unbefangen, daß er der Konsulin seine Zusage gebracht und mit ihr über das Fest geplaudert hatte. Henrici neckte ihn ein wenig mit der kleinen Manders. Heinz ließ es sich lachend gefallen und verriet mit keinem Wort, daß dies Erlebnis längst von ihm überwunden war. Mochte der Konsul ruhig glauben, daß sein Herz durch die Schauspielerin gefesselt war. Um so ungestörter konnte er mit Vera verkehren, ohne Henricis Eifersucht zu wecken. Ehemänner, die so viel älter waren als ihre Frauen, neigten ohnedies zu dieser Untugend.

Mit einem Scherzwort verabschiedeten sich die Herren voneinander, und Heinz ging in voller Seelenruhe weiter. Und doch war er kein schlechter Mensch. Im Gegenteil, von Natur gutherzig, hätte er keiner Fliege mit Absicht etwas zuleide getan. Er war sich einfach nicht bewußt, daß es schlecht und unehrenhaft ist, mit der Ehre des Andern zu spielen. Hundert andere machten das auch, und niemand stempelte das zu einem Verbrechen. Warum das ist, darüber zerbrach er sich so wenig den Kopf wie andere, die es leicht nehmen mit des Andern Ehre. Nicht immer ist eine entschuldbare große Leidenschaft im Spiel, wenn die Ehre eines andern in Trümmer geht. Oft ist es nur ein leichtfertiges Spiel, ein gedankenloses Treiben. Und sonderbar ist es, daß immer nur der Betroffene, dem man seine Ehre gestohlen hat, erkennt, daß ein Verbrechen an ihm begangen wurde.

Es gibt zweierlei Gewissen – eins hat man für sich, eins für die andern. Das erste ist meist weniger scharf und unerbittlich, als das zweite.

Als Heinz den größten Teil seines Weges zurückgelegt hatte, fiel ihm auch Helma Olfers und ihre Verwirrung wieder ein. Mit einem wohligen Behagen ließ er seine Gedanken um ›das liebe, tapfere Kerlchen‹ schweifen. Sollte sie wirklich etwas empfinden für einen von seinen Brüdern? Und ob der Betreffende wohl davon wußte? Nach seiner Meinung war dann Robert allerdings ausgeschlossen, der würde sich äußerst korrekt und gelassen eines Tages mit einem Mädchen verloben, deren Verhältnisse ihm zusagen mußten. Für Liebeleien war er nicht zu haben. Felix allerdings erst recht nicht. Aber der war im Grunde sehr schwärmerisch veranlagt und wohl imstande, sich in eine kleine Gesellschafterin zu verlieben. Dann war es freilich ernst – der heiratete entschieden, was er liebte. Na – die Kleine war ja nicht übel – aus guter Familie – wenn auch arm. Aber schließlich konnte Felix mit seinem lahmen Fuß keine großen Ansprüche machen, wenn er auch innerlich ein ganzer Kerl war.

»Jedenfalls will ich mal ein bißchen auskundschaften, die Sache reizt mich – und schließlich wäre die Kleine eine reizende, liebenswerte Schwägerin für mich. Die könnte mir schon gefallen,« dachte er vergnüglich. –

Zu Hause wurde Heinz schon erwartet. Als er in das Speisezimmer trat, wurde sofort die Suppe aufgetragen.

»Bleibst du aber lange aus, Heinz!« sagte die Mutter vorwurfsvoll.

Heinz sah nach der Uhr. »Zanke nicht, Milchen. Ich komme ja nur zehn Minuten zu spät.«

»In zehn Minuten kann der schönste Braten verbrennen.«

Heinz nahm seinen Platz ein. »Heilige Kümmernis, das wäre ein Unglück bei meinem Hunger! Herzensmilchen, ich bitte dich tausendundeinmal um Verzeihung. Es ging nicht anders.« Er haschte nach ihrer Hand und küßte sie voll schelmischer Ehrerbietung.

Milchen war entwaffnet. Wenn ihre Söhne ihr die Hand küßten, fühlte sich die schlichte, einfache Seele immer besonders gehoben. Diese weltmännische Handlung war ihr etwas Vornehmes, Schmeichelhaftes. Es machte sie heimlich nicht wenig stolz, daß ihre Söhne sich in so ritterlichen Tugenden übten.

»Wo warst du denn, Heinz?« erkundigte sich der Vater.

»Bei Henricis, Vater. Ich habe unsere Zusage überbracht und euch entschuldigt.«

»Und das hat so lange gedauert?«

»Ich habe der Konsulin einige Ratschläge geben müssen wegen des Kotillons.«

»Da warst du wohl in deinem Fahrwasser, Heinz?« erkundigte sich die Mutter stolz. Heinz mußte nun erzählen. Das machte ihm einige Schwierigkeiten, da er kaum selbst wußte, was er mündlich mit Vera besprochen hatte. Die Augensprache war ihm viel wichtiger gewesen. Er zog sich jedoch glanzvoll aus der Sache mit Hilfe seiner Erfindungsgabe.

»Jedenfalls wird es wieder reizend bei Henricis,« sagte die Mutter bewundernd.

»Siehst du, Milchen, nun tut es dir doch leid, daß du abgesagt hast.«

»Nein, nein, mein ruhiger Schlaf ist mir lieber als der glänzendste Ball. Aber noch lieber wäre mir, wenn du das ewige ›Milchen‹ beiseite ließest.«

Heinz streichelte ihre Hand. »Nein, das darfst du mir nicht nehmen. Für mich ist ›Milchen‹ der zärtlichste Kosename, den ich dir geben kann. Darein hülle ich dich wie in einen Mantel voll Liebe. Laß mich gewähren, Herzensmilchen.« Er sah sie dabei so zärtlich bittend an, daß sie ›butterweich‹ wurde, wie ihr Mann neckend sagte. Diesen zärtlichen Augen konnte die Mutter so wenig widerstehen wie andere Frauen. »Meinetwegen denn, wenn es zu deinem Wohlbefinden nötig ist. Laß es nur fremde Leute nie hören, es klingt wirklich wie Mangel an Ehrfurcht.« –

Beim Nachtisch fiel Heinz Helma Olfers wieder ein. Er richtete seine Blicke scharf beobachtend auf seine Brüder und sagte: »Übrigens mußte ich eine Weile auf die Konsulin warten. Währenddem hab ich mich vorzüglich mit ihrer Gesellschafterin unterhalten. Das ist ein ganz reizendes Mädchen.«

Robert sah flüchtig von seinem Teller auf. »So? Ich habe sie mir, offen gestanden, nie genau angesehen. Solche unglückseligen Wesen zwischen Dame und Dienerin sind mir immer ein bißchen peinlich. Man weiß nie, wie man ihnen begegnen soll,« sagte er in ruhig sachlichem Ton.

Heinz schaltete ihn ohne weiteres aus und wandte ausschließlich Felix seine Aufmerksamkeit zu.

Dieser zeigte zwar auch keinerlei Erregung, aber seine Stirn schien etwas gerötet, und seine Stimme klang nicht so ruhig wie sonst, als er Robert erwiderte: »Bei Fräulein Olfers brauchst du da keinen Augenblick im Zweifel zu sein. Sie ist eine junge Dame aus sehr guter Familie und außerdem viel klüger, taktvoller und achtenswerter als manche, der du unbedingt deine Hochachtung zu Füßen legst, weil sie das Glück hat, nicht in Abhängigkeit leben zu müssen.«

Heinz machte ein schlaues Gesicht. Also Felix! Hm – er war zwar so eine Art Weltverbesserer und nahm immer die Partei der Unterdrückten. Aber das tat er sonst in einem viel ruhigeren Tone.

Auch Robert schien die Erregung seines jüngsten Bruders aufzufallen. »Kleiner, ereifere dich doch nicht, sollst ja recht haben, und selbstverständlich würde ich solch armes Ding nie fühlen lassen, daß ich sie nicht als Dame betrachte. Du scheinst übrigens das Fräulein näher zu kennen, als ich. Bist ja des Lobes voll.«

Wieder stieg Felix die Röte in die Stirn.

Gutmütig kam ihm Heinz zu Hilfe. »Und mit Recht, Robert. Die kleine Olfers ist ein vortreffliches Mädel. Allerhand Hochachtung, die weiß, was sie will. Übrigens ist sie die Tochter eines Majors, wie sie mir heute sagte.«

»Was du nicht sagst, Heinz!« wunderte sich die Mutter, »eine Majorstochter und in so abhängiger Stellung? Wie kommt denn das?«

»Sehr einfach, Milchen – der Vater ist tot, Vermögen nicht vorhanden, dafür vier junge Geschwister, die noch alle Geld kosten. Da hat die junge Dame mutig ihr Geschick in die eigenen Hände genommen und sich auf eigene Füße gestellt.«

»Das ist sehr achtenswert von dem jungen Mädchen,« erwiderte seine Mutter.

»Sicher, Milchen. Und was ist sie für ein liebes Ding! Wenn du sie näher kenntest, würdest du sie liebgewinnen.«

Heinz beobachtete Felix noch immer und bemerkte mit heimlichem Vergnügen, wie unruhig dieser bei seinen warmen Worten über Helma wurde. »Er ist eifersüchtig – das merkt ein Blinder,« dachte er, befriedigt von seinen Beobachtungen, und beschloß, Felix gelegentlich noch ein wenig in die Enge zu treiben.

»Ich muß mir die junge Dame daraufhin einmal näher ansehen,« sagte die Mutter interessiert. »Ich habe bisher nur immer wenig Worte mit ihr gewechselt, wenn ich ihr begegnete. Sie ist ja meist in Gesellschaft der Konsulin, und da habe ich immer nur Augen für diese. So eine bildschöne Frau ist mir noch nie im Leben begegnet. Ich muß sie nur immer ansehen.«

»Ja, ja – Henrici hat viel Mut bewiesen, als er sie zu seiner Frau machte,« warf Karl Althoff ein.

»Na, wieso denn?« fragte Milchen harmlos.

»Nun, ich meine nur, weil er doch doppelt so alt ist als seine schone Frau. Und sie ist, soviel ich beurteilen kann, von sehr rassigem Blut.«

»Ach, Unsinn, Karl. Der Konsul ist doch noch ein stattlicher, hübscher Mann. Der nimmt es noch mit manchem Jungen auf. Die beiden machen ganz den Eindruck eines glücklichen Paares.«

Karl Althoff nickte ihr lächelnd zu. »Magst recht haben, Milchen – ich wünsche es beiden. Henrici ist ein Prachtmensch geworden, und ich gönne ihm sein Glück. In seiner Jugend war er ein Tausendsasa, aber guter Wein will ausschäumen.«

Während dieser Unterhaltung war es Heinz, der unruhig auf seinem Stuhl herumrückte. Und die Rolle des Beobachters schien jetzt Felix übernommen zu haben, denn ein ernster, forschender Blick streifte aus seinen Augen zu Heinz hinüber. –

Nach Tisch gingen die Familienmitglieder auseinander. Die Eltern hielten ihr Mittagsschläfchen, Heinz und Robert rauchten auf des ersteren Zimmer eine Zigarette und spielten an einer Schachpartie, und Felix zog sich zurück, um, wie fast jeden Mittag, ein halbes Stündchen zu lesen, ehe er gleich den Brüdern seinen Geschäften wieder nachging.

Aber heute schweifte sein Blick gedankenverloren über das Buch hinweg in die Weite. Ein unruhiges Sehnen lag in seinen Augen, eine leise Schwermut. Den Kopf in die schöngeformte, charakteristische Hand gestützt, saß er in tiefe Gedanken versunken. Er dachte an Helma Olfers. Obwohl er nicht sehr häufig mit ihr zusammengetroffen, war sie seiner Herzruhe gefährlich geworden. Sie verkörperte ihm das Wunschbild, das er sich von der Frau gemacht hatte. Ihre lieben, klaren Augen, der feinsinnige Ernst in ihren Zügen, der doch mit einer lebensfreudigen Frische gepaart war, ihr ruhig taktvolles Benehmen, die tiefe Herzensgüte, die sich in ihrem ganzen Wesen kundgab, und der fröhliche Mut, mit dem sie den Kampf des Lebens auf sich genommen hatte, alles das vereinigte sich zu einem Ganzen, das Felix von Anfang an gefangengenommen hatte. Und er, der sich vor der Liebe fürchtete, weil er ein kleines Gebrechen hatte, weil er glaubte, mit seiner Person nicht genug einsetzen zu können im Tausch gegen ein vollwertiges Weib, er war rettungslos dem Zauber verfallen, den Helmas gewinnendes Wesen auf ihn ausübte.

Scheu und herb verschloß er seine Gefühle in sich selbst. Niemand sollte sein Geheimnis ahnen, auch nicht das Mädchen, welches er liebte. Aber voll heißer Freude hatte er die Einladung zu Henricis Ballfest angenommen. Vielleicht bescherte ihm das Schicksal wieder eine von den goldenen Stunden, die er in seiner Erinnerung wie kostbare Schätze aufbewahrte. Das waren die Stunden, die er mit Helma verplaudert hatte, in denen er sich in den stillen, süßen Reiz ihres Wesens versenken konnte. Bisher war ihm das Glück immer günstig gewesen, wenn er sich mit ihr in der gleichen Gesellschaft befand. Da er nicht tanzen konnte, stand er immer abseits vom Getrieb der Feste, und Helma selbst zog sich überall taktvoll in den Hintergrund zurück, weil sie sich in abhängiger Stellung fühlte. So kamen sie sich näher, als es sonst im Trubel großer Festlichkeiten üblich ist.

Mit heimlicher Spannung hatte er vorhin bei Tisch auf seines Bruders Worte über Helma gelauscht. Und wirklich war etwas wie Eifersucht in ihm emporgestiegen. Er kannte seinen Bruder Heinz sehr genau, wußte, wie leichtsinnig er in bezug auf Frauen war. Und eine heimliche Angst lag nun in seinem Herzen. Wenn Heinz nur um Gottes willen dieses eine Mädchen nicht bezauberte, wie sonst so viele Frauen und Mädchen! Nie hatte er des Bruders Erfolg bei den Frauen neidvoll beobachtet, nie war ihm erstrebenswert gewesen, was Heinz mühelos zufiel. Aber jetzt, in diesem einen Punkte, wünschte er sich die glänzenden Gaben und das bestrickende Äußere seines Bruders. Seufzend strich er über sein verkürztes Bein. Sollte er ausgeschlossen sein von dem höchsten Glück des Lebens, weil er nicht so leichtfüßig wie andere dahinstürmen konnte? Hatte er nicht ein ganzes, volles Herz zu bieten, das sich nicht in allerlei Liebeleien verzettelt hatte? War er nicht sonst gesund an Geist und Körper? Durfte er nicht ruhig vor das Mädchen, das er liebte, hintreten und ihm sagen: »Ich liebe dich – sei mein!« Wie feurige Glut durchdrang es seinen Körper bei diesen letzten Gedanken, als er sich ausmalte, wie das sein müßte, wenn Helma diese Frage mit ›ja‹ beantworten würde. Aber dann schüttelte er, sich selbst verspottend, den Kopf. Ja, vielleicht würde sie seine Hand annehmen, um aus Armut und Dienstbarkeit erlöst zu werden. Aber ihn lieben? Nein – einen Krüppel liebt man nicht. – Diese Worte sagte er leise vor sich hin, als wollte er sie sich recht fest einprägen. Einen Krüppel liebt man nicht! – Und um sich ein leichtes Leben zu schaffen, nahm eine Helma Olfers auch keinen Antrag an. Nein – so war sie nicht, dazu war sie nicht fähig. Also war es besser, sie gar nicht zu belästigen mit einer Werbung. Es würde ihr gewiß weh tun, ihn abweisen zu müssen – sie würde Mitleid mit ihm haben.

Mitleid! Heiß schoß die Röte in sein Gesicht. Nur das nicht, nur von ihren Lippen nicht hören: »Ich bemitleide dich!« Das konnte er schon von andern nicht vertragen, nicht einmal von seiner Mutter. Aber von ihr, von Helma – da wäre es ihm eine unerträgliche Marter gewesen. Sein feines Empfinden sträubte sich gegen eine solche Möglichkeit. Nein – lieber fest in sich verschließen, was er für sie empfand. Er durfte sich nicht verraten, um keinen Preis.

Und eines Tages würde sie dann einem andern angehören! Dieser Gedanke schoß ihm wie ein scharfer Pfeil durch den Kopf. Einem andern, der sie vielleicht weniger liebte als er, der sie vielleicht unglücklich machte ...

Wieder fiel ihm Heinz ein. Wenn er sich einfallen ließ, auch mit Helma sein leichtes Spiel zu treiben, wenn sie sich von seinem sonnigen, zwingenden Wesen gefangennehmen ließ, von seinen äußeren Vorzügen? Und wenn sie dann erfahren mußte, daß es von seiner Seite aus nur ein leichtes Spiel gewesen war, wenn sie unglücklich wurde –?

Sein Atem ging schwer, die Augen glühten in Angst und Schmerz. Nein – nie durfte das geschehen – nie! Aber wie das hindern, wie sie vor solchem Schicksal behüten? Warnen durfte er sie nicht – mit welchem Rechte sollte er das tun? Und vor seinen Bruder hintreten und ihm sagen: »Dieses eine Mädchen laß aus dem Spiele – ich habe es lieber denn alles auf der Welt?« Wenn er das tun wollte, dann würde ihn Heinz lachend bei den Schultern fassen und sagen: »Kleiner – ich beiße mir lieber den kleinen Finger ab, als dir ins Gehege zu kommen. Vor mir bist du sicher – und meinen Segen sollst du obendrein haben.« So oder ähnlich würde Heinz reden und ihn gutmütig necken. Aber Felix wußte, daß er sich schwer dazu würde entschließen können, Heinz seine Liebe zu Helma einzugestehen.

Ob er nicht doch versuchte, Helmas Liebe selbst zu erringen? Hatte er nicht manchen Vorzug vor andern voraus, konnte sie darüber nicht sein Leiden vergessen, das eigentlich gar kein Leiden war – nur ein winziger Fehler? Wenn sie fühlte, wie teuer sie ihm war? Liebe erweckt Gegenliebe, sagt man. Ob seine starke, heiße Liebe nicht fähig war, Gegenliebe zu erwecken?

Nichts würde sonst seiner Verbindung mit Helma entgegenstehen. Wenn auch die Eltern mit Heinz und Robert wählerischer sein würden in bezug auf eine Schwiegertochter, ihm selbst würden sie nichts in den Weg legen, wenn er ein armes Mädchen heiraten wollte. Mutter würde glücklich sein, wenn er so ein liebes, herziges Geschöpf zur Frau bekam. Und der Vater? Der war wohl genug Geschäftsmann, um den Wert des Geldes hoch einzuschätzen. Aber er war zugleich ein Mensch mit warmem Herzen, und – sein jüngster Sohn war nun einmal mit einem körperlichen Fehler behaftet, der durfte keine hohen Ansprüche stellen.

»Einen Krüppel liebt man nicht ...« Felix' Gedanken verloren sich in Bitterkeit. Er stand hastig auf und warf das Buch, welches er vor sich hatte, unmutig auf ein Tischchen.

»Geh an die Arbeit, du Narr, und grüble nicht über Dinge, die sich nicht ungeschehen machen lassen,« sagte er zu sich selbst und ging hinunter in sein Kontor.

* * *

Vera Henrici ging noch einmal prüfend durch die Festräume. In dem großen Saal sollte getanzt werden. Das Parkett war spiegelglatt gebohnt, und die Musiker stimmten bereits auf der hinter Blattpflanzen versteckten Rampe ihre Instrumente. Vera prüfte mit dem Fuß die Glätte des Fußbodens und ging dann durch die Nebenräume, in denen auf verschiedenen Büfetts allerlei Erfrischungen und Delikatessen aufgestellt waren. Tische und Sessel waren zu gemütlichen Gruppen vereinigt. Eine angenehme Luftwärme herrschte in allen Räumen, und wohin das Auge blickte, fand es Spuren vornehmer, gediegener Eleganz und festlichen Glanzes.

Das schönste Bild jedoch, welches sich dem Auge bieten konnte, war die junge Herrin dieses Hauses selbst. Vera trug ein herrliches Gewand aus goldfarbigem, seidenmullartigem Gewebe in eigenartiger Zusammenstellung. Der in reiche Falten geordnete Saum des Kleides zeigte dunklere, goldbraune Töne. Nach oben aber wurde die Farbentönung immer heller und heller und schloß oben am Ausschnitt mit einer ganz lichtgelben Schattierung. Goldfarbiges Weinlaub rankte sich in der abstufenden Schattierung des Kleides um die Schultern, deren klassische Formen herrlich zur Geltung bringend. Und ebensolches Weinlaub rankte sich vom Kleidersaum empor bis zu den schlanken Hüften. Die Schleppe umsäumte ein Streifen von goldfarbigem Samt, über welchen heller getönte, kostbare Spitzen fielen. Eine kleine Ranke von goldigem Weinlaub zierte das üppige schwarze Haar und gab Veras Kopf ein eigenartiges Gepräge. Diese Komposition satter Goldtöne war ein äußerst wirksamer Grund, von dem sich Veras dunkelbraune Schönheit wahrhaft blendend abhob. Ihre Gestalt bewegte sich voll hinreißender Anmut in diesem Gewande.

Und sie war sich ihrer Schönheit mit einer heißen Freude bewußt. Prüfend glitt ihr Blick über ihr Bild, als sie an einem Spiegel vorüberging. Ihr Fuß stockte nicht einmal. Der eine Blick genügte ihr, um sie zufriedenzustellen. Hatte sie doch vorher beim Ankleiden genau geprüft, ob ihre Erscheinung genügend zur Geltung kam. Denn sie wollte schön sein, weil sie wußte, daß Heinz Althoffs schönheitsdurstige Augen an ihr hängen würden. Für ihn – nur für ihn hatte sie sich geschmückt.

In einem der Nebenräume traf Vera auf Helma, die sich noch mit dem Tanzspendenaufbau zu schaffen machte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleidchen ohne jeden Schmuck, sah aber so echt mädchenhaft und lieblich darin aus, daß sie selbst neben Veras strahlender Erscheinung ein hübsches, anmutiges Bild bot. Mit flinken, geschickten Fingern ordnete sie an den niedlichen Sächelchen, die später beim Kotillon Verwendung finden sollten.

Vera sah ihr eine Weile lächelnd zu. »Wie reizend Sie das alles geordnet haben, liebe Helma! Dazu hätte ich weder Geschick noch Geduld.«

»O, es ist gar nicht schwer, Frau Konsul. Es macht mir Freude, daß Sie damit zufrieden sind.«

Vera klopfte ihr gütig ein wenig die Wange.

»Mit Ihnen muß man immer zufrieden sein, Sie liebes kleines Mädchen. Ich denke, wir können nun unsere Gäste mit dem Bewußtsein erwarten, alles getan zu haben, was ihnen Vergnügen und Behagen schafft. Sie haben doch auch gesorgt, daß die Musiker verpflegt werden, wie sich's gehört?«

»Gewiß, Frau Konsul.«

»Gut. Und ja, liebe Helma, was ich Ihnen noch sagen wollte – nicht wahr, Sie kümmern sich wieder ein wenig um Felix Althoff? Er kann doch seines Fußes wegen nicht am Tanze teilnehmen.«

Helma bückte sich schnell über ein Blumenarrangement, um ihr Erröten zu verbergen. Sie vermied auch, Vera anzusehen, als sie sagte: »Das will ich sehr gern tun, gnädige Frau.«

Vera lachte. »Gern? Nun, ich glaube wohl, es wäre Ihnen lieber, sich fleißig am Tanze zu beteiligen. In Ihrem Alter ist das so verständlich. Aber ich kann Ihnen leider nicht helfen. Ich selbst kann mich nicht viel um einen einzelnen Gast kümmern, als Hausfrau muß ich mich mit allen beschäftigen. Da müssen Sie schon für mich einspringen.«

Helma schien das Gespräch sehr peinlich zu werden. Es zuckte leise um ihren Mund, und die Röte wich nicht aus ihrem Gesicht. »Ich verzichte wirklich gern auf das Tanzen, gnädige Frau, und selbstverständlich erfülle ich meine Pflicht sehr gern.«

»Nun, um so besser. Dann ist ja alles in Ordnung.«

In diesem Augenblick trat der Konsul ein, und Helma verschwand taktvoll im Nebenzimmer, froh, nicht mehr über Felix Althoff reden zu müssen.

Mit einem stolz aufleuchtenden Blick umfaßte Henrici seine Frau und zog ihre Hand an seine Lippen. »Wie schön du bist, Vera!«

Sie sah an ihm vorbei, weil sie seinen Blick nicht ertrug. »Bist du zufrieden?« fragte sie zerstreut.

Sein Auge glitt mit heißer Bewunderung über sie hin. Aber dann trübte sich sein Blick. So sahen sie ja die andern alle auch. Mußte sie nicht die Sinne verwirren und auch in der Brust anderer Männer den Wunsch erwecken, sie zu besitzen? Verstohlen glitt sein Blick zu seinem eigenen Spiegelbild hinüber. Er sah sehr fein und vornehm aus in dem gutsitzenden Frack. Seine breitschultrige, noch sehr schlanke Gestalt konnte sich sehr gut neben jüngeren Männern behaupten. Und jetzt, bei Abendbeleuchtung, wirkte er noch frisch und jugendlich. Nur der graue Schein an den Schläfen und die leisen Fältchen um die Augen verrieten, daß er nicht mehr so jung war, als er schien.

Aber Vera sah nichts an ihm, als diese feinen Fältchen und den grauen Haarschimmer. Sie empfand mit peinlicher Schärfe, daß er alt war gegen sie – alt. Und ihre Gedanken flogen erbarmungslos fort von ihm, sie wandten sich voll fieberhafter Sehnsucht Heinz Althoff zu. Der paßte besser zu ihr mit seiner goldenen, frischen Jugend, mit seinem sonnigen Lachen und den strahlenden, zärtlichen Augen. Heiß und brennend stieg der Wunsch in ihr auf, sich frei zu machen von den drückenden Fesseln ihrer Ehe und Heinz Althoff angehören zu dürfen mit Leib und Seele.

Sie schritt ihrem Gatten voran nach dem Empfangsraum hinüber, da die ersten Gäste eben vorfuhren. Henrici folgte ihr mit der alten quälenden Angst im Herzen. Aber niemand merkte ihm etwas an, als er dann neben seiner schönen Frau die Gäste empfing. Er war äußerlich ganz der beherrschte, liebenswürdig-vornehme Weltmann, der für jeden einige verbindliche Worte hatte.

Veras Augen glitten ungeduldig wieder und wieder zur Tür, bis endlich Heinz Althoff mit seinen Brüdern erschien. Sie boten ein hübsches Bild, diese drei schlanken, hübschen Männer. Felix war ein wenig kleiner als seine Brüder. Dafür war sein Gesicht entschieden feiner und schöner geschnitten. Jedenfalls war auch er eine äußerst gewinnende Erscheinung. Freilich, Heinz stellte seine Brüder entschieden etwas in den Schatten. Das Strahlende und Jugendfrische in seinem Wesen nahm alle Herzen im Sturm gefangen. Heinz Althoff war nicht nur bei Frauen sehr beliebt, auch die Männer mochten ihn alle gut leiden.

Vera sah nur ihn, und ihr Herz jubelte auf, als sie bemerkte, wie seine Augen sich bei ihrem Anblick voll Entzücken weiteten. Aber auch Helma Olfers sah, seitwärts stehend, den ersten aufleuchtenden Blick der beiden, und wie neulich schrak sie zusammen, als sie ihn auffing. –

Heinz schritt an Veras Seite durch den lichterfüllten Saal.

»Die goldene Fee aus dem Märchenlande ist lebendig geworden,« sagte er halblaut, sie entzückt betrachtend.

Vera seufzte leise auf. »Ich wollte, ich wäre eine Fee.«

»Warum, meine teure gnädige Frau?«

»Damit ich zuerst mir selber einen Wunsch erfüllen könnte.«

»Darf man diesen Wunsch kennen lernen?«

Sie sah ihm mit einem dunklen, heißen Blick in die Augen. »Warum nicht? – Ich würde mir wünschen, mit meinem Märchenprinzen im goldenen Wunderland weilen zu dürfen.«

»Ganz allein mit ihm?« fragte er kühn.

»Ja, im goldenen Wunderland sind immer nur zwei Menschen zusammen,« sagte sie leise mit so leidenschaftlichem Ausdruck, daß er erschrak und sich vorsichtig umsah.

Sie merkte es und zwang ein leichtes Lächeln in ihr Gesicht. »Sie denken jetzt gewiß, daß ich eine sehr unliebenswürdige Gastgeberin bin.«

»Warum soll ich das denken?« sagte er, froh, daß sie einen leichteren Ton anschlug, denn er merkte, daß Henrici zu ihnen herübersah.

»Weil ich Ihnen eben den Wunsch verriet, mich von meinen Gästen abzusondern.«

»Ich werde es gewiß niemand verraten, gnädige Frau.«

In diesem Augenblick trat Felix Althoff zu den beiden heran. Vera mußte sich eine Weile mit ihm unterhalten, und diese Gelegenheit benutzte sie, Helma durch einen Wink an ihre Seite zu rufen.

Felix begrüßte Helma mit großer Selbstbeherrschung. Kein Zug in seinem Gesicht verriet, wie sehnsüchtig er auf diesen Augenblick gewartet hatte. Veras glänzende Erscheinung hatte ihn völlig kalt gelassen, aber beim Anblick des schlichten, lieblichen Mädchens klopfte sein Herz in stürmischem Takt.

Eine leise Röte lag auf Helmas Zügen, und die tiefblauen Augen leuchteten stark wie bei Menschen, die innerlich erregt sind und es nicht zeigen wollen. Diese Augen hätten Felix verraten müssen, daß sie bei seinem Anblick nicht so ruhig war, als sie scheinen wollte. Wenn er gewußt hätte, was Helma bei seinem Anblick empfand, er wäre der glücklichste Mensch gewesen. Aber er hatte keine Ahnung, daß der leuchtende Glanz in ihren Augen nur ihm galt. –

Helma Olfers, die als junger Backfisch in der Garnison ihres Vaters natürlich von den jungen Leutnanten umschwärmt wurde, hatte nach dessen Tode sehr bald erkannt, wie wenig von all den Schmeicheleien und Artigkeiten ihrer eigenen Person galten. In der sorgenvollen Zeit, die dem Tode ihres Vaters folgte, hatte sie oft schmerzlich empfunden, daß all die jungen Herren sich langsam, aber sicher zurückzogen. Obgleich ihrem Herzen keiner besonders nahestand, kränkte sie sich sehr, als sie erkannte, daß die arme Majorstochter gar nichts mehr galt, seit sie keinen einflußreichen Vater mehr hatte. Sie hatte viel bittere Erfahrung gesammelt in jener Zeit, wie wandelbar die Gunst der Menschen ist und wie abhängig von nichtigen Äußerlichkeiten ... Aber ihr starker Charakter hatte sie vor Verbitterung bewahrt. Mutig und unverzagt war sie dem neuen Leben entgegengetreten und hatte den Kampf mit dem widrigen Schicksal aufgenommen. Viel Liebe und Güte hatte sie nicht erfahren seit des Vaters Tod. Und in ihrer abhängigen Lebensstellung waren ihr vor allen Dingen die jungen Herren in einer Weise entgegengetreten, die ihr feines Empfinden verletzte. Die einen übersahen sie in demütigender Weise und zollten ihr kaum die nötigste Höflichkeit, und die anderen erlaubten sich einen leicht vertraulichen Ton, der ihr noch viel unangenehmer war.

Felix Althoff war der erste junge Mann, der ihr in ihrem neuen Leben begegnete, an dessen Benehmen ihr gegenüber sie nichts auszusetzen fand. Er war ihr mit zarter Ehrerbietung begegnet, so, wie er in seiner feinen, stillen Art jede Dame behandelte.

Durch die Konsulin war sie schon öfter angewiesen worden, sich mit Felix zu beschäftigen. Sie hatten viel gemeinsame Berührungspunkte gefunden und sich gern miteinander unterhalten.

Helma erkannte sehr bald in Felix den feinsinnigen, hochgeistigen Kopf, dessen Bildung weit das Durchschnittsmaß der jungen Männer überragte, mit denen sie bis jetzt zusammengetroffen war. Sein warmherziges Urteil über Welt und Menschen nötigte ihr Hochachtung für ihn ab. Und die leise Schwermut, die wie ein feiner Schleier über seinem Wesen lag, erweckte in ihrem Herzen ein echt weibliches, warmes Mitleid. Sie fühlte, daß er litt, und erkannte, daß ihm sein lahmer Fuß innerlich mehr ein Hemmnis war als äußerlich. Felix würde erstaunt gewesen sein, hätte er geahnt, wie genau ihn Helma kannte, wie gut sie jede Regung seiner Seele verstand. Das war jedoch nicht nur die Folge ihres Mitleids. So restlos versteht eine Frau nur den Mann, den sie liebt. Und Helma liebte Felix Althoff, wenn sie sich das auch nicht eingestand. Sie fand in ihrem Herzen allerlei Begründungen, weshalb sie sich so sehr auf ein Wiedersehen mit ihm freute. Nur den rechten Grund verschwieg sie sich selbst. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, irgendwelche Wünsche für die Zukunft mit Felix in Verbindung zu bringen. Sie hatte in den letzten schweren Jahren einsehen gelernt, daß ein armes Mädchen auf Liebe und Glück wenig Ansprüche haben darf. Und sie sah mit klaren Blicken ins Leben und hütete sich, unklaren Wünschen nachzuhängen. –

Einige Herren traten heran, um Vera zu begrüßen. Ein junger Leutnant klemmte dar Monokel ins Auge und sah sie mit eroberungssüchtigen Blicken an.

»Wundervoll, einfach blendend sehen gnädige Frau aus; – glänzende Idee, diese großartige Fassung in Gold,« näselte er schneidig.

Ein älterer Herr streifte ihn mit spöttischem Lächeln und küßte Vera die Hand. Es war der geistvolle Direktor des Konservatoriums, Professor Reinisch. »Ich sehe Sie schon eine ganze Weile voll Bewunderung an, meine gnädige Frau. Als ich Sie erblickte, schoß es mir wie eine Offenbarung durch den Sinn. Weinlaub im Haar! Sie wären die schönste Hedda Gabler, die sich Ibsen hätte träumen können.«

Vera lächelte schelmisch. »Ich hoffe, sonst nichts mit der Hedda Gabler gemeinsam zu haben, als ihre Vorliebe für Weinlaub. Solche zwiespältigen Naturen sind selten glücklich – und ich – ich möchte glücklich sein.«

Die letzten Worte klangen wie eine inbrünstige Bitte an das Schicksal, und Veras Blick streifte Heinz Althoff.

Felix Althoff zog leise die Stirn zusammen. Unter irgendeinem Vorwand führte er Heinz zur Seite.

* * *

Die Paare drehten sich nach den einschmeichelnden Walzerklängen im Tanze. Währenddessen saß Felix Althoff in einem der Nebenzimmer Helma Olfers gegenüber an einem kleinen Tisch.

Sie plauderten miteinander wie zwei Menschen, die sich viel zu sagen haben. Felix durchdrang ein heißes Glücksgefühl, daß er so ungestört mit Helma zusammen sein konnte. Er vergaß alle Zweifel und Vorsätze und ergab sich ganz dem Zauber dieser goldenen Stunde.

Auch Helma fühlte sich in dem stillen Eckchen glücklich und wohlgeborgen.

Einmal sah sie durch die Tür mit einem Blick in den Saal, den sich Felix nicht erklären konnte. Das war, als Heinz Althoff mit Vera vorübertanzte. Felix unterbrach sich. Er glaubte, Helma sehnte sich danach, zu tanzen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte ihn. Was hätte er darum gegeben, wenn er sie zum Tanze hätte führen können! Aber er bezwang sich und sagte lächelnd: »Ich will Sie nicht länger in meinem stillen Winkel festhalten, gnädiges Fräulein. Sie sehnen sich gewiß danach, zu tanzen.«

Helma schüttelte lächelnd den Kopf. »Sie irren – ich sehne mich ganz gewiß nicht danach. Es wäre mir sogar sehr peinlich, wenn ich tanzen müßte.«

»Warum?«

Sie sah ihn schelmisch an. »Ich habe hier nur Pflichten, keine Rechte. Die tanzenden Herren sind schon alle von den geladenen Damen in Anspruch genommen.«

»Aber wenn das nicht wäre, dann möchten Sie tanzen, nicht wahr?«

»Nein, wirklich nicht. Ich habe Terpsichore in meinem Leben schon sehr reichlich ihren Tribut gezollt. Ich glaube, der Geschmack daran ist mir verlorengegangen. Als Backfisch habe ich einige Winter sehr viel getanzt. Die jungen Offiziere halten es sozusagen für ihre Pflicht, die Töchter ihrer Vorgesetzten aufzufordern. Damals habe ich mich auch herrlich dabei vergnügt. Jetzt betrachte ich das Leben mit ernsteren Augen; es geht auch ohne Tanz.«

»Wirklich? Ist es Ihnen kein Opfer, hier so still neben mir zu sitzen, während sich drüben alles im Tanze dreht?«

Sie lachte schelmisch. »Ganz sicher nicht.«

»So darf ich Ihre Gesellschaft ohne Gewissensbisse länger in Anspruch nehmen? Oder verlangen statt der Rechte Ihre Pflichten, daß Sie mich meinem Schicksal überlassen?«

»Meine einzige Pflicht besteht heute abend darin, Frau Konsul in der Unterhaltung ihrer Gäste zu unterstützen.«

»Dann darf ich Sie nicht egoistisch für mich allein beanspruchen – so gern ich es auch tun würde.«

Helma zeigte lächelnd in den Saal hinüber.

»Mir scheint, da drüben bin ich überflüssig. Die Herrschaften unterhalten sich alle ohne meine Beihilfe. Wenn auch Sie auf meine bescheidene Gesellschaft verzichten würden – wozu wäre ich dann nütze?«

»Freiwillig tue ich das gewiß nicht,« sagte er warm, und einen Augenblick strahlten seine Augen so unbeherrscht in die ihren, daß ihr das Blut jäh zum Herzen schoß.

»Sie hatten sich vorhin unterbrochen, Herr Althoff,« sagte sie hastig ablenkend.

Felix atmete tief auf und strich sich mit der Hand wie besinnend über die Stirn. Hatte er sich verraten? Wollte sie ihn in seine Schranken zurückweisen? Aber nein, so lieb und freundlich wie zuvor blickten ihre schönen, klaren Augen. Beruhigt nahm er die Unterhaltung wieder auf. Er war dabei so in Helmas Anblick vertieft, daß er zusammenschrak, als plötzlich Heinz neben ihm stand und mit einer lächelnden Verbeugung Helma um einen Tanz bat.

Sie errötete und sah verwirrt in sein lachendes Gesicht. Am liebsten hätte sie gedankt, weil es ihr peinlich war, tanzen zu müssen. Aber abweisen durfte sie ihn wiederum nicht. So erhob sie sich zögernd.

Heinz klopfte, ehe er Helma den Arm bot, seinem Bruder neckend auf die Schulter.

»Was gibst du, Kleiner, wenn ich das gnädige Fräulein nach dem Tanz sicher hierher zurückbringe?« fragte er übermütig.

Felix wurde rot. »Es ist doch deine Pflicht, das gnädige Fräulein auf seinen Platz zurückzuführen. Dafür kannst du also keine Belohnung beanspruchen.«

Heinz führte Helma lachend davon.

Felix sah ihnen mit bedrücktem Herzen nach. Wie verwirrt und rot sie ausgesehen hatte, als Heinz sie aufforderte ... Eine heiße Angst stieg wieder in ihm empor, die Angst, daß Heinz im Übermut sein Spiel mit Helmas Herzen treiben konnte. Ihm war sie dann doch nur eine von vielen, denn er nahm dergleichen nicht ernst. Aber Helma – sie hatte nicht den leichten Sinn, ihr würde es mehr sein als ein Spiel, wenn sie ihr Herz verlor. Unruhig stand er auf und trat an die Tür. Eben flog Helma in seines Bruders Armen an ihm vorbei. Der Anblick bereitete ihm namenlose Qual. Alles gönnte er seinem Bruder neidlos – nur dieses Mädchen nicht. Das Blut stieg ihm zu Kopf und hämmerte in den Schläfen. Er biß die Zähne zusammen und ging langsam auf seinen Platz zurück. Es ging über seine Kraft, länger zusehen zu müssen, wie Heinz mit Helma so leicht und beschwingt dahinflog. –

»Sie tanzen wie eine Elfe, gnädiges Fräulein,« sagte Heinz inzwischen zu Helma. »Schade, daß ich so viele andere Verpflichtungen habe, sonst würde ich mir öfter erlauben, Sie um einen Tanz zu bitten.«

Helma dachte, wie gut es sei, daß er Verpflichtungen gegen andere hatte.

»Ich würde ohnedies auf das Vergnügen verzichten müssen, Herr Althoff,« sagte sie laut.

»Warum, gnädiges Fräulein?«

»Weil ich als Tänzerin eigentlich nur einspringen dürfte, wenn es an Damen mangelt, und das ist nicht der Fall.«

»Ei, wer stellt dieses grausame Gebot auf?«

»Es versteht sich von selbst, das braucht niemand zu gebieten.«

»Ach – diese entsagungsvolle Lehre paßt so gar nicht zu Ihrem sonstigen frohmütigen Wesen.«

»Wer sagt Ihnen, daß sie entsagungsvoll ist?«

»Mein kleiner Finger. Junge Damen sind alle leidenschaftliche Tänzerinnen. Jeder Walzertakt löst elektrische Spannungen aus im Gemüt einer jungen Dame.«

»Dann ist die elektrische Spannung bei mir nicht mehr intakt. Ich höre schon den ganzen Abend die schönsten Walzermelodien und sitze doch sehr behaglich und seelenruhig im Nebenzimmer.«

»Dafür gibt es nur zwei Erklärungen,« sagte Heinz, eine Pause machend und Helma eindringlich anblickend.

Sie sah belustigt zu ihm auf. »Wollen Sie mir diese Erklärungen geben?«

»Mit Vergnügen. Also – entweder ist Ihr Herz in diesem Nebenzimmer so stark gefesselt, daß Sie es nicht verlassen mögen, oder –«

Helma war dunkelrot geworden und sah so verwirrt und hilflos aus, daß Heinz nun eigentlich genug wußte. Er wollte sie nicht länger quälen und fuhr, sich selbst unterbrechend, fort: »Nein, das kann eigentlich nicht zutreffen, denn die jungen Herren sind ja alle hier im Saal. Also bleibt nur die andere Erklärung: Frau Konsul hat Sie aufgefordert, sich mit meinem Bruder Felix zu beschäftigen, weil er nicht tanzt.«

Helma sah erschrocken zu ihm auf. »Wer hat Ihnen gesagt, daß Frau Konsul mich dazu aufgefordert hat?«

Er lachte hell auf und sah wohlgefällig in ihr bestürztes Gesicht. »Wieder mein kleiner Finger, gnädiges Fräulein. Sie glauben nicht, was das für ein durchtriebener Schelm ist. Der löst mir alle Rätsel. Nun weiß ich also, woher Ihre Enthaltsamkeit kommt, Sie haben sich selbst verraten. Nun, nun, erschrecken Sie doch nicht, ich – ich verrate es keinem Menschen, daß – daß Sie nur einem Befehl der Frau Konsul gehorchen, wenn Sie auf den Tanz verzichten.«

Helma atmete auf; sie war sich in diesem Augenblick bewußt geworden, was sie für Felix Althoff empfand und fürchtete, Heinz könne sie durchschaut haben. Seine Worte nahmen ihr diese Furcht. Sie ahnte ja nicht, daß Heinz sie klug berechnet hatte, um sie nicht zu beunruhigen.

»Es ist doch nett von mir, daß ich Sie wenigstens für einen Tanz Ihrer Samariterpflicht entführt habe?« fragte er lächelnd.

Helma sah mit großen, ernsten Augen in sein übermütiges Gesicht. »Sie haben es gewiß sehr gut gemeint, Herr Althoff. Aber, ich bitte Sie, führen Sie mich jetzt wieder hinaus. Und, nicht wahr, Sie verraten Ihrem Herrn Bruder nicht, was Sie mir so scharfsinnig abgelauscht haben. Es wäre mir sehr peinlich, wenn er annehmen würde, daß ich mich nur auf Befehl mit ihm unterhalte.«

Heinz stellte sich ungläubig. »Na – Hand aufs Herz, gnädiges Fräulein, – würde diese Annahme falsch sein? Mein Bruder Felix ist ja ein Prachtmensch. Aber doch ein bißchen schwerfällig und gründlich in seiner Unterhaltung. Er ist der Gelehrte in unserer Familie. Ergötzlich ist es wohl nicht gerade, mit ihm zu plaudern.«

»O, da sind Sie sehr im Irrtum,« ereiferte sich Helma unbedacht und nicht ahnend, daß Heinz sich nur verstellte. »Ihr Herr Bruder ist ein sehr geistvoller Mensch, von dem man viel lernen kann. Ich könnte ihm stundenlang zuhören.«

»Sooo –« sagte Heinz gedehnt, mit ungläubigem Ausdruck. »Na, über Geschmack läßt sich nicht streiten, mein gnädiges Fräulein. Sie sehen aber so wahrhaftig aus, daß ich Ihnen glauben muß.« –

In diesem Augenblick tanzte Vera mit einem Offizier vorüber. Sie hatte die beiden schon eine Weile mit etwas eifersüchtigen Blicken beobachtet. Warum mochte Heinz Althoff gerade Helma zum Tanz aufgefordert haben? Wie angeregt sie sich miteinander unterhielten, wie eingehend sich Heinz mit ihr beschäftigte! Er ließ sie keinen Augenblick aus den Augen. Ein heißer Groll stieg im Herzen der leidenschaftlichen Frau gegen Helma auf. Warum blieb sie nicht bei Felix Althoff, wie man ihr gesagt hatte? Warum hatte sie diese Aufforderung nicht vermieden? Die Eifersucht machte sie ungerecht. Sie gönnte keiner andern Heinz Althoffs Aufmerksamkeit.

Helma erschrak über den zornigen Blick, den ihr Vera zuwarf, als sie vorübertanzte. Nicht weit von ihnen hielt auch die Konsulin im Tanzen inne.

»O bitte, führen Sie mich schnell zurück, Herr Althoff. Frau Konsul ist sicher böse, daß ich tanze,« sagte sie hastig.

Heinz wandte sich nach Vera um. Wie zwei Flammen schlugen ihre Blicke ineinander. Helma bemerkte auch diesen Blick, und ein beklemmendes Angstgefühl preßte ihr die Brust zusammen. Heinz bot ihr mit einer Verbeugung den Arm und führte sie in das Nebenzimmer zurück.

»Seien Sie nur nicht ängstlich, gnädiges Fräulein. Ich werde sofort Frau Konsul aufsuchen und mich anklagen, daß ich Sie einen Augenblick Ihrer Samariterpflicht abwendig machte. Mein Wort darauf, Sie soll nicht der kleinste Tadel treffen.«

Helma neigte nur stumm das Haupt.

Heinz nahm sich vor, Veras Eifersucht auf Helma gründlich zu zerstreuen, denn daß die schöne Frau wieder eifersüchtig war, hatte er sofort erkannt. So schön sie war, so leicht neigte sie zu dieser Untugend, das hatte er schon oft erprobt. Und in ihrer Leidenschaftlichkeit war sie fähig, eine Unklugheit zu begehen. Das mußte er verhindern. Es war doch sehr aufregend, von dieser schönen Frau geliebt zu werden. Heinz fing an, die Liebelei mit ihr etwas lästig zu empfinden, weil sie seine Freiheit einengte.

Felix hatte Helma mit unruhigen Augen entgegengesehen.

»Da bring ich Fräulein Olfers schon wieder zurück, Felix. Sie streikt einfach, will den Tanz nicht mit mir zu Ende tanzen, weil sie viel lieber deine anziehende Unterhaltung anhören will, als die meine. Ich ziehe mich also schwer gekränkt zurück, mein gnädiges Fräulein,« neckte er. Ehe die beiden antworten konnten, ging er lachend davon.

Helma nahm etwas beklommen ihren Platz wieder ein.

Felix betrachtete sie forschend. »Sie sehen verstimmt aus, gnädiges Fräulein. Hat mein Bruder Sie in seinem Übermut gekränkt?« fragte er besorgt und voll heimlicher Unruhe.

Helma schüttelte lächelnd den Kopf und kämpfte ihre Verstimmung nieder. »O nein, Ihr Herr Bruder ist mir in keiner Weise zu nahe getreten.«

»Und doch haben Sie den Walzer nicht mit ihm zu Ende getanzt? Er soll doch ein hervorragender Tänzer sein.«

»Ja, er führt sehr gut. Aber es war mir doch peinlich, daß ich tanzen mußte.«

»Auch mit ihm?« entfuhr es Felix hastig.

Sie sah ihn erstaunt an. »Warum sollte ich mit Ihrem Herrn Bruder eine Ausnahme machen?«

»Weil – darf ich offen sein?«

»Ich bitte darum.«

»Weil mein Bruder Heinz sehr beliebt ist bei den jungen Damen. Alle mögen ihn gern und freuen sich, wenn er sie zum Tanze führt. Er ist eine so sonnige, liebenswürdige Natur, so voll Kraft und männlicher Schönheit. Ich kann verstehen, daß ihn alle lieben müssen.«

Helma blickte ihn einigermaßen befremdet an. Das fühlte er, und das Blut stieg ihm zu Kopfe. Er war sich bewußt, daß er Helma ausforschen wollte bis in den geheimsten Winkel ihres Herzens. Er schämte sich dessen und konnte doch nicht widerstehen.

»Sie sehen mich an, als wüßten Sie nicht, was Sie von meinen Worten denken sollen, gnädiges Fräulein,« sagte er etwas unbeholfen.

»Allerdings – ich weiß nicht, warum Sie so zu mir sprechen, Herr Althoff.«

Die Erregung riß ihn fort. Er faßte ihre Hand. »Seien Sie mir nicht böse, teures, gnädiges Fräulein. Es war unzart von mir, Sie ausforschen zu wollen, wieviel Ihnen mein Bruder gilt.«

Helma wurde blaß und zog ihre Hand zurück.

»Ich weiß nicht, wie Sie dazu kommen, Herr Althoff, Ihr Herr Bruder ist mir im Grunde so fremd. Wir haben nur wenig Worte miteinander gewechselt. Die Frage, wieviel er mir gilt, kann ich Ihnen schnell beantworten. Ich habe ihn in meiner Stellung zu achten, wie jeden Gast dieses Hauses. Und wenn ich mir, durch Ihre Frage dazu aufgefordert, eine Meinung über ihn bilden darf, so glaube ich, er ist ein lustiger und gutmütiger Herr. Aus Gutmütigkeit holte er mich zu einem Tanze, Herr Althoff, aus sonst keinem Grunde – und ich nahm seine Aufforderung an, weil ich nicht anders konnte. Ich hoffe, diese Erklärung genügt Ihnen.« Sie hatte sehr erregt gesprochen, und ein schmerzlicher Zug lag um ihren Mund.

Felix war außer sich. Er sah, daß sie gekränkt war. »Teures, gnädiges Fräulein, ich bin untröstlich, bitte, zürnen Sie mir nicht.«

Sie nahm sich zusammen. Ein blasses Lächeln huschte um ihren Mund. »Nein, ich zürne Ihnen gewiß nicht. Ich kann wohl verstehen, was Sie dazu trieb, mich auszuforschen. Es erschien Ihnen vielleicht mehr als harmlose Gutmütigkeit, daß Ihr Herr Bruder mich zum Tanz aufforderte. Vielleicht fürchteten Sie gar, er erwärme sich mehr als nötig für die arme Gesellschafterin. Da können Sie unbesorgt sein – er denkt nicht daran, und ich, – sie verzog den hübschen Mund zum Lächeln – ich weiß sehr gut, daß ich in meiner abhängigen Stellung keine begehrenswerte Aussicht bin. Außerdem versichere ich Ihnen, daß mein Herz nicht einen Schlag schneller klopft, wenn ich Ihrem Herrn Bruder begegne. Sie können ganz ruhig sein.«

Felix hatte sie erschrocken angehört. Auch er war sehr bleich geworden. »Liebes, verehrtes gnädiges Fräulein, da hab ich etwas Schlimmes angerichtet. Nein, nein, Sie haben mich vollständig mißverstanden, mein Ehrenwort darauf. Wie können Sie mir solch niedrige Gesinnung zutrauen? Wissen Sie nicht, wie hoch ich Sie einschätze, – so hoch, – ich kann es Ihnen in Worten nicht ausdrücken. Ja – ganz offen, – ich fürchtete, daß Ihnen mein Bruder gefährlich werden könnte, kenne ich doch den Zauber, den er auf alle Frauen ausübt. Aber um des Himmels willen nicht, weil ich Sie für zu gering einschätzte, meines Bruders Frau zu werden, sondern weil ich weiß, daß er nicht daran denkt, im Ernst um ein Mädchen zu werben. Er ist bei aller Gutmütigkeit in bezug auf die Frauen sehr leichtsinnig. Und ich fürchtete, er könnte Ihnen Herzeleid zufügen. Nun habe ich es so ungeschickt angefangen, Sie zu warnen. Ich bitte Sie inständig, verzeihen Sie mir. Nur die Sorge um Sie ließ mich dazu kommen.«

Er faßte ihre Hand. Sie zitterte in der seinen. Seine Worte klangen so warm, so überzeugend. Sie wußte, er sprach die Wahrheit. Ein leises Glücksgefühl durchdrang ihr Herz. Es war so süß, zu wissen, daß er sich um sie sorgte. Warum tat er das? War es ein Ausfluß seiner Herzensgüte – oder? Nein, nein, wohin verirrte sie sich da! Sie durfte um Gottes willen nicht an etwas anderes denken. Tapfer sein jetzt und niederzwingen, was sich so verlangend und sehnsuchtsvoll in ihr regte. Sie zwang sich zu einem unbefangenen Lächeln und zog ihre Hand zurück.

Aber er hielt sie fest. »Nein, erst müssen Sie mir sagen, daß Sie mir verzeihen,« bat er dringend.

Sie sah ihn lächelnd an. Nur ihre feuchtschimmernden Augen verrieten ihre Erregung. »Ich habe nichts zu verzeihen, vielmehr muß ich um Entschuldigung bitten, daß ich Sie mißverstanden habe. Sie meinten es so gut mit mir, und dafür hab ich Sie gekränkt. Aber um mich können Sie ganz außer Sorge sein. Ihr Herr Bruder steht meinem Herzen so fern wie jeder andere junge Mann. Und nun wollen wir dies Thema fallen lassen, es ist mir peinlich,« sagte sie, so ruhig sie konnte.

Er küßte ihr die Hand. Am liebsten hätte er ihr jetzt gesagt, wie sehr er sie liebte. Aber eine heiße Angst erfaßte ihn, sie könnte dann erschreckt von ihm zurückweichen – einen Krüppel liebt man nicht – nein – er fand nicht den Mut, alles auf eine Karte zu setzen. Er atmete gepreßt auf und gab widerstrebend ihre Hand frei. Aber in seinen schönen, sprechenden Augen lag die ganze Qual seiner Seele, und Helma fühlte einen Schauer durch ihren Körper dringen. Unruhig erhob sie sich. Sie mußte einen Augenblick allein sein, um das Gleichgewicht der Seele wiederzufinden, sonst war es um ihre Fassung geschehen.

»Sie müssen mich ein Weilchen entschuldigen, Herr Althoff. Ich möchte Frau Konsul fragen, ob sie irgendwelche Aufträge für mich hat.«

Felix sah sie betreten an. »Das heißt, Sie wollen meine Gesellschaft nicht länger ertragen. Sagen Sie es nur ehrlich, gnädiges Fräulein, es geschieht mir schon recht, daß Sie mich meinem Schicksal überlassen. Ihre Freundschaft hab ich nun gründlich verscherzt.«

Sie schüttelte mit ihrem alten lieben Lächeln den Kopf, sah aber sehr blaß aus, und ihre Lippen zuckten. »Gewiß nicht, Herr Althoff. Wenn Sie auf meine Freundschaft Wert legen, die ist Ihnen sicher.«

Er erhob sich und sah sie flehend voll heißer Liebe an. Dieser Blick war so beredt, daß ihn Helma kaum mißverstehen konnte. Wieder überflutete sie das heimliche Glücksgefühl. Aber sie wehrte sich dennoch, zu glauben, was sie sah – weil sie sich vor einer Enttäuschung fürchtete.

»Sie kommen wieder hierher zurück,« bat er dringend.

»Ja, ich verspreche es; sobald ich kann, kehre ich zurück und leiste Ihnen Gesellschaft,« sagte sie hastig und ging schnell davon.

Er sah ihr nach mit dunklen Blicken. »Wenn ich doch den Mut hätte, ihr zu sagen, wie es um mich steht! Herrgott im Himmel, warum gabst du mir zu meinem elenden Fuß ein so heißes, verlangendes Herz!« dachte er voll bitteren Schmerzes. – –

Helma fand in einem leeren Nebenzimmer hinter einem Wandschirm ein stilles Fleckchen, wo sie sich hinflüchten konnte, um sich selbst wieder zu finden. Dort saß sie reglos, vor allen Augen verborgen, und ließ Felix' Worte noch einmal durch ihre Seele ziehen. Und als sie sich seinen liebevollen Blick zurückrief, da schlug sie die Hände vor das erglühende Gesicht und gab sich einen Augenblick der Seligkeit hin, die sie dabei empfunden.

Mitten in ihre Gedanken hinein tönten Schritte und das Rauschen seidener Frauenkleider. Sie rührte sich nicht, hoffend, daß die Eingetretenen sich bald wieder entfernten. Nun hörte sie sprechen, ganz in ihrer Nähe, und erkannte erschrocken Veras und Heinz Althoffs Stimme. Sie wollte aufspringen und sich bemerkbar machen, weil eine unklare Furcht sie beherrschte, daß sie etwas hören würde, was keine Lauscher vertrug. Aber schon war es zu spät – wie gelähmt blieb sie sitzen, jetzt konnte und durfte sie ihre Anwesenheit nicht mehr verraten.

»Süßeste, holdseligste Frau – meine schöne Goldfee aus dem Märchenlande, was habe ich getan, um Ihren Groll zu erregen?« fragte Heinz, bestrickende Zärtlichkeit in der Stimme, denn Veras Schönheit berauschte ihn von neuem.

»Warum haben Sie mit Fräulein Olfers getanzt?« fragte Vera heiser vor Erregung.

»Warum? Lieber Gott, weil das arme Ding mir leid tat. Sie ist doch auch jung und tanzlustig. Da sich kein anderer erbarmte, mußte ich es tun.«

»Und vor lauter Mitleid haben Sie das ›arme Ding‹ so zärtlich und entzückt angesehen, daß man sich allerlei dabei denken konnte.«

»Man! Sehr richtig – ›man‹ kann sich allerlei denken. Aber meine süße Zauberin nicht. Die weiß, wen allein ich voll Entzücken und Zärtlichkeit betrachte. Sie müssen es doch wissen, holdeste Gebieterin, wohin mein Herz mich zieht mit stürmischem Verlangen und immer ungestillter Sehnsucht.« Die letzten Worte stieß Heinz voll stürmischer Erregung hervor. Stand doch das schönste Weib vor ihm und sah ihn an mit heißen Blicken. Welcher Mann sollte dabei kalt bleiben? Heinz Althoff sicher nicht. »Sind Sie nun wieder versöhnt?« bettelte er eindringlich.

»Ich muß wohl – ich kann Ihnen keinen Wunsch versagen, Heinz Althoff.«

»An dieses Wort erinnere ich Sie vielleicht eines Tages, süßeste Frau. Aber jetzt dürfen wir uns nicht länger hier allein aufhalten.«

»Nein, wir müssen zurück zu all den gleichgültigen Menschen,« seufzte Vera.

»Und Sie versprechen mir, das arme Fräulein Olfers nicht länger in Ungnade zu lassen? Sie war ganz außer sich, weil ihre Herrin sie zornig angesehen hatte. Und wahrhaftig, sie ist sehr ungern mit mir gegangen. Nicht einmal den einen Walzer hat sie mit mir zu Ende getanzt aus Furcht vor ihrer gestrengen Herrin.«

Vera schämte sich ihrer Eifersucht. Sie glaubte jetzt, daß sie unbegründet war. »Ich will es durch doppelte Güte ausgleichen,« sagte sie schnell.

Dann hörte Helma, wie sich die beiden entfernten. Sie saß zitternd in ihrem Versteck und preßte die Hände gegen das klopfende Herz.

»Gott im Himmel – Gott im Himmel, – halte alles Unheil diesem Hause fern!« betete sie in unklarer Angst. Mehr in dem Ton der beiden Stimmen, als in den Worten hatte etwas gelegen, was sie erschreckt hatte. Wenn sie sich die aufflammenden Blicke dazu dachte, die sie zwischen Vera und Heinz Althoff beobachtet hatte, dann wurde ihr ganz unheimlich zumute. Endlich erhob sie sich leise, und nachdem sie sich überzeugt hatte, daß das Zimmer leer war, huschte sie schnell hinaus.

Mit seltsamen Empfindungen im Herzen suchte sie Vera auf. Diese stand heiter lächelnd neben einigen Damen und plauderte scheinbar unbefangen mit ihnen. Helma sah sie bedrückt an und fragte sich, ob sie die Szene im Nebenzimmer nicht geträumt hatte. Sie wartete, bis sich Vera von den Damen abwandte, und trat zu ihr heran.

»Haben Sie Befehle für mich, gnädige Frau?«

Vera wandte sich ihr mit dem alten, gütigen Lächeln zu. »Da sind Sie ja, Kindchen. Nein – es ist alles in schönster Ordnung. Und Sie halten so liebenswürdig aus bei Felix Althoff. Ich bin Ihnen wirklich zu Danke verpflichtet. Sie langweilen sich doch hoffentlich nicht zu sehr?«

»Nein, gnädige Frau, ich unterhalte mich sehr gut.«

»Das freut mich, liebe Helma. Kindchen, seien Sie klug, die Althoffs sind reiche Leute. Und Felix kann seines kleinen Gebrechens wegen so große Ansprüche nicht stellen. Wenn er sich in Sie verliebt – das wäre eine glänzende Heirat für Sie.«

Helma war dunkelrot geworden. Diese leichthin gesprochenen Worte trafen sie wie ein Schlag. Vera ahnte nicht, welche Pein sie Helma damit verursachte. Sie wollte ihr eigentlich nur recht deutlich zeigen, daß sie ihr wohlwollte, wie immer. Und in diesem Bestreben ging sie zu weit.

»Gnädige Frau – ach, bitte, sagen Sie so etwas nie wieder zu mir,« stammelte Helma mit zuckenden Lippen.

Veras umherschweifender Blick kehrte zu ihr zurück. Sie sah die Pein in ihren Augen und wurde sich bewußt, daß sie taktlos gewesen war. Mit wahrhafter Güte legte sie ihre Hand auf Helmas Arm.

»Nein, liebe Helma – vergessen Sie, was ich Ihnen sagte, es war gedankenlos gesprochen, Sie sollen es gar nicht gehört haben.« Und mit bebender Stimme fuhr sie fort, Helmas Arm fest umspannend und ihr starr in die Augen blickend: »Heiraten Sie nie ohne Liebe, Helma! Wer Ihnen den Rat gibt, sich zu verkaufen, den betrachten Sie als Ihren ärgsten Feind.«

Das junge Mädchen sah schmerzlich berührt in das schöne, düstere Frauengesicht. Zum ersten Male sah sie einen gramvollen Ausdruck darin, und warmes Mitleid erwachte in ihrer Seele. Sie sah das Leid hinter der glänzenden Außenseite.

Vera hatte sich schon wieder gefaßt. Sie richtete sich mit einem erzwungenen Lächeln empor. »Ich ergehe mich in tiefgründigen Betrachtungen und verschwatze mit Ihnen die Zeit. Gehen Sie, liebes Kind – und denken Sie nicht weiter nach über meine gedankenlosen Reden. Nur vergessen Sie nicht, daß ich es sehr gut mit Ihnen meine.« Sie nickte Helma zu und schritt lächelnd davon.

Der goldene Saum ihrer Schleppe streifte Helmas Füße. Diese sah darauf nieder, gedankenverloren. Dann entfernte sie sich. Ihr war zumute, als hingen Bleigewichte an ihren Füßen. Widerstreitende Empfindungen erfüllten ihre Brust. Es war, als hätte sie an diesem Abend unendlich viel erlebt: die Erkenntnis ihrer Liebe zu Felix, das erste, schüchterne Ahnen seiner Gegenliebe; über dies beseligende Gefühl legten sich Veras taktlose Worte wie ein grauer Schleier. Sie fürchtete sich, zu Felix zurückzukehren, ihr war, als müßte er ihr vom Gesicht ablesen, was sich scheu in ihrer Seele verbarg. Aber sie hatte es versprochen und mußte ihr Versprechen halten. Langsam ging sie zu ihm zurück.

Als sie in das Zimmer trat, sah sie den Konsul neben Felix sitzen. Da die Herren in einer Unterhaltung begriffen waren, zog sich Helma unbemerkt zurück. An der Tür blieb sie stehen, um zu warten, bis Henrici sich entfernen würde. Verstohlen sah sie zu dem Konsul hinüber. Er erschien ihr sehr bleich heute abend, und seine Stirn war zusammengezogen wie im Schmerz. Oder irrte sie sich? Sah sie in ihrer unbestimmten Angst Gespenster? Was war denn geschehen, das sie so beunruhigte? Kannte sie nicht genugsam den leichten Ton der Gesellschaft, hatte sie nicht schon manche Liebelei beobachtet zwischen jungen Herren und verheirateten Frauen? Schön hatte sie das nie gefunden, aber schließlich mußte sich doch nicht aus jedem leichtsinnigen Getändel ein Drama entwickeln. Sie war eine Törin, sich damit zu quälen. Das führte zu nichts, als ihr den Sinn zu bedrücken. Also fort mit all den schwerblütigen Grübeleien! Sie hatte wahrlich genug mit ihrem eigenen Herzen zu tun, um sich nicht noch durch die Herzenserlebnisse anderer niederdrücken zu lassen.

In ihrer frischen, tapferen Art zog sie gegen sich selbst zu Felde. Als Henrici an ihr vorüber in den Saal trat, rief er ihr ein Scherzwort zu. Sie gab ihm frohgemut Antwort und schalt sich aus. Er sah weder bleich noch schmerzlich aus, sie hatte sich wohl vorhin getauscht. Gefaßt und ruhig ging sie zu Felix hinüber. Als er sie erblickte, zuckte ein jäher Strahl von Freude in seinen Augen auf. Eine warme Welle durchflutete ihre Seele. War es nicht schon Glücks genug, mit ihm zusammensein zu können? Durch nichts wollte sie sich heute diese stille Freude mehr trüben lassen.

»Wissen Sie, wie mir zumute ist, gnädiges Fräulein?« sagte Felix erregt.

»Nun?«

»Als wär nach langer Regenzeit die Sonne zurückgekehrt.«

Es sollte wie ein Scherz klingen, aber Helma hörte den bewegten Unterton. Sie hielt jedoch den scherzenden Ton fest wie einen Rettungsanker und vermied im ferneren Verlauf des Abends jedes ernste Gespräch.

Felix aber dachte im stillen: »Sie hat sicher eine Ahnung, wie es um mich steht, und will mir ausweichen. Das ist ein schlechtes Zeichen. Wohl mir, daß ich nicht deutlicher wurde – dann hätte ich mir auch noch die stille Freude verscherzt, ihre Gegenwart zu genießen.«

* * *

Das Fest im Hause des Konsuls war so ziemlich das letzte in dieser Winterzeit gewesen. Wohl gab es hie und da noch kleine Nachfeste, und die Damen der Gesellschaft hielten noch regelmäßig ihren Empfangsabend ab. Aber die Hochflut war vorüber mit den letzten Tagen des Februar.

Daß der Frühling sich langsam zum Einzug rüstete, konnte man am besten merken, wenn man der Firma ›Karl Althoff & Söhne‹ einen Besuch abstattete.

Noch vor dem ersten Frühlingsahnen entfaltete sich dort eine rege Tätigkeit. In Roberts Abteilung, der Fabrik, war sogar die Hochflut schon ziemlich vorüber. All die Tausende von neuen Hutformen waren fertiggestellt und wurden nun in Heinz Althoffs Abteilung – dem Versand – in große Kisten verpackt und nach allen Gegenden Deutschlands, ja sogar nach dem Ausland geschickt. Und nun rüstete sich auch die Kleinverkaufsabteilung für die kommende Jahreszeit. In den Räumen, in denen Herrenhüte zum Verkauf kamen, war es noch am stillsten. Da verteilte sich das Geschäft gleichmäßiger. Herren kaufen Hüte, wenn sie welche brauchen, Damen aber sofort, wenn die neueste Mode heraus ist. Und da gibt es einen Ansturm, dem man gewachsen sein muß. Wochenlang vorher bereitete man sich auf diesen Ansturm vor, damit all die eigensinnigen Wünsche zahlreicher Frauenköpfe befriedigt werden konnten.

Sobald die Frühlingssonne die ersten Strahlen sendet, verlangt jede Dame nach einer neuesten – allerneuesten Kopfbedeckung. Nie schmückt sich die Frau mit freudigerem Herzen als im Frühling – und nie soll die Frau schöner sein, als wenn ringsum alles zu neuem, treibendem Leben erwacht. Und die neue Jahreszeit brachte entzückend kleidsame Formen mit breiten, geschwungenen Rändern und mit traumhaft schönen, duftigen Garnierungen! Karl Althoff hatte einen untrüglichen Spürsinn. Er wußte immer im voraus, ob eine Mode gut einschlagen würde oder nicht. Für die kommende sagte er einen riesigen Absatz voraus.

In den Räumlichkeiten des Erdgeschosses wurden neben der Abteilung für Herrenhüte die unausgestatteten Damenhüte zum Verkauf ausgestellt. In dem großen Mittelsaal standen Glaskästen und Gestelle mit Blumen, Federn, Spitzen, Bändern, Schleiern und allerhand anderem Hutschmuck. Aus diesem Mittelsaal führte eine breite, teppichbelegte Treppe nach dem ersten Stock hinauf. Und hier begann das eigentliche Reich für Prunk und Schönheit.

Hier war Mademoiselle Persice, die erste Putzleiterin, mit ihrem Stab beschäftigt, die Pariser Modelle und andere märchenhafte Gebilde in geschmackvoll-wirksamer Weise auszustellen. Eine Reihe stimmungsvoller Räume erwartete hier die zahlungsfähigen Kundinnen.

Je nach der Kostbarkeit und Schönheit der Modelle wurden diese wirkungsvoll in großen und kleinen Schränken untergebracht, die ringsum nur Glaswände hatten und an einer Seite große Schiebetüren aus Glas. Große Spiegel waren überall angebracht. Hinter diesen Räumen, nach dem Fabrikhofe hinaus, lagen die Putzwerkstätten, in denen viele fleißige Hände die kunstvollen Musterstücke nachmachten oder neue herstellten. Ganze Blumenberge und hochaufgetürmte Hutreihen harrten hier der Verarbeitung.

In diesen Räumen war Mademoiselle Persice ebenfalls die treibende Kraft und entscheidende Stelle. Sie pflegte in der Hauptgeschäftszeit hundertmal des Tages mit ihren kurzen raschen Schritten diese Räume zu durchschreiten. Überall, wo man sie brauchte, war sie gegenwärtig. Sie hatte nicht nur die Oberaufsicht zu führen, Muster zu entwerfen und Bestimmungen zu treffen, oft wurde sie auch beim Verkauf in Anspruch genommen. Besonders anspruchsvolle und schwierige Kundinnen wußte sie immer zu befriedigen. Wenn keine der gewandten Verkäuferinnen mit einer solchen Dame zu einem Resultat kam, dann rief ein bittender Blick Mademoiselle herbei.

Sie sah sich die Kunden an, wählte mit raschem, sicherem Griff für diese den kleidsamsten Hut aus, zupfte hier und da mit ihren geschickten Händen an einer Schleife, einer Blume, gab einer Feder einen flotteren Schwung und setzte den Hut mit unnachahmlich sicherer Gebärde auf den rebellischen Kopf der betreffenden Dame. Dabei sprach sie in ihrem deutsch-französischen Kauderwelsch so überzeugend auf sie ein, daß diese, ehe sie sich's versah, glückliche Besitzerin des vorher verschmähten Hutes war.

Mit liebenswürdigem Lächeln versicherte Mademoiselle: »O, gnädige Frau sehen entzückend aus, gnädige Frau werden machen Furore, tout le monde wird sein sehr voll Bewunderung. Fräulein, legen Sie fort diese Hut in ein Karton und senden Sie ihn zu der gnädigen Frau. Mon Dieu – sehen gnädige Frau noch einmal an diese Seitengarnitur, scharmant, ravissant, o, jede Dame wird sagen, daß gnädige Frau – noch andere Wünsche? S'il vous plaît – ich lasse gern gnädige Frau noch mehr ßeigen. Fräulein, legen Sie vor, gnädige Frau will ansehen die neuen Sporthüte. Natürlich Panama – ist sehr schick, gnädige Frau, sehr schick –.«

Und gewöhnlich blieb es dann nicht bei dem einen Hut.

Mademoiselles Augen wanderten aber zwischendurch geschäftig und aufmerksam hin und her, ob auch andere Kundinnen gut bedient wurden. Nichts entging ihren scharfen Blicken.

Auch jetzt befehligte sie ihre Untergebenen in der ihr eigenen, kurz entschlossenen Weise. In den Räumen ordnete sie das Aufstellen der Hüte an, erhöhte oder erniedrigte nach Bedarf ein Gestell, prüfte die Preise noch einmal und erhöhte sie ohne Bedenken bei besonders schönen Stücken. Dann war sie wieder in den Werkstätten, wühlte in Blumen, Bändern und Spitzen, steckte mit flinken Händen eine Ausstattung auf, wie sie ihr gerade durch den Sinn kam. Dann riß sie auch zuweilen erbarmungslos eine Ausstattung ab, die ihr eine Arbeiterin nicht zu Dank gemacht hatte.

»Sie müssen haben mehr Poesie, es muß sein jeder Hut ein Gedicht an den Frühling. Das, was Sie hier haben gemacht, ist eine dumme Salat, es muß sein viel mehr Grazie dabei. Verstanden – so – und so – da – ist das nicht, wie sagt man – sehr leicht? S'il vous plaît, nun machen Sie besser.« Und sie zeigte mit gewandter Leichtigkeit, wie man aus Blumen und Spitzen ›Gedichte‹ machte. Die Arbeiterinnen sahen sehr aufmerksam zu, um ihr etwas abzulauschen. Aber niemand vermochte es ihr nachzutun. Wie ein zarter Hauch von Duft und Zierlichkeit ging alles unter ihren Händen hervor.

Mademoiselle war entschieden die Seele des Einzelgeschäfts. Ihre Geschäftsherren wußten auch ganz genau, was sie an ihr hatten. Ihre Machtbefugnis wurde vollkommen anerkannt. Zweimal reiste sie jedes Jahr nach Paris, um rechtzeitig über die neuesten Modeerscheinungen unterrichtet zu sein. Und in der Hochflut der Jahreszeit war sie rastlos tätig von früh bis spät. Sie kannte keine Ermüdung, ihre Nerven schienen von Stahl zu sein. Wenn am Ende der Geschäftszeit alle Angestellten müde und abgearbeitet waren, dann schien Mademoiselle noch genau so leistungsfähig wie am Anfang.

Aber dann, wenn die stille Zeit kam, dann beanspruchte sie sechs Wochen Ferien – bei vollem Gehalt. Das hatte sie sich vertraglich ausbedungen. Und die Herren gönnten ihr diese Ausspannung. Sie reiste in ein Seebad. Dort erholte sie sich von ihrem aufreibenden Beruf und kam frisch, wie einem Jungbrunnen entstiegen, wieder zurück. –

Jedesmal, wenn die Modellhutausstellung fertig war, ehe sie dem Publikum eröffnet wurde, schickte Mademoiselle Persice einen Boten hinauf zu Frau Emilie Althoff, damit diese als erste die ausgestellten Herrlichkeiten bewundern sollte. Das war so Brauch seit Bestehen des Kleingeschäftes. Frau Emilie Althoff unterwarf sich auch mit der nötigen Feierlichkeit diesem Brauch. Obwohl ihrem einfach gebliebenen Sinn das Verständnis für die neuen Moden fehlte, sie war doch eng genug mit dem Geschäft ihres Mannes und ihrer Söhne verwachsen, um Aufmerksamkeit für alles zu haben, was damit zusammenhing.

Auch heute rauschte Frau Emilie, feierlich in schwarze Seide gekleidet, neben ihrem Manne, gefolgt von ihren Söhnen, über die dicken Teppiche, welche die Fußböden der Räumlichkeiten bedeckten.

Mademoiselle empfing sie, wie stets, indem sie ihr einen Blumenstrauß überreichte. Das ging sehr feierlich zu. Im Hintergrund standen die Verkäuferinnen, alle in knappen schwarzen Kleidern.

›Milchen‹ kam sich in diesen Augenblicken immer ein bißchen fehl am Ort vor. Ihrem einfachen Sinn widerstrebte es, hier als Mittelpunkt zu gelten. Aber sie behauptete ihre Fassung.

Nun führte sie Mademoiselle von einem Hut zum andern und pries deren Schönheit in lebhafter Weise.

Milchen schüttelte mit dem Kopf: »Nein, nein – das kann ich aber nun wirklich nicht schön finden, mein liebes Fräulein Persice, das sind ja Ungetüme von Hüten. Herr du meines Lebens, dieser hier – das reine Wagenrad! Die kauft ja kein Mensch,« sagte sie ganz erschrocken.

Mademoiselle lächelte. »O, sie werden gekauft werden wie rasend, man wird sein davon entzückt. O, diese Hüte sein so schön, so kleidsam, so schick, die Damen werden sich reißen um diese Hüte. Herr Althoff meint auch – und er weiß immer gut vorher. Sehen Sie nur – diese Hut, gnädige Frau – geben Sie acht – Fräulein Seidel, kommen Sie, setzen Sie auf.« Sie hob den Hut auf den wohlfrisierten Kopf einer hübschen jungen Verkäuferin und sah die alte Dame triumphierend an. »Was sagen gnädige Frau jetzt? Ist das nicht un poème – eine Gedicht wollt sagen – o – admirablement beau – o – sagen Sie nicht, daß diese Hut scharmant?«

Die Herren stimmten Mademoiselle bei und sprachen gleichfalls auf die alte Dame ein.

Diese war aber nicht zu bekehren. »Ja, doch, auf so einem hübschen jungen Kopf sieht auch solch ein Monstrum von einem Hut noch schön aus. Aber es gibt auch häßliche Frauen.«

»O, werden alle schön, wenn sie tragen Hüte von Althoff & Söhne,« erklärte Mademoiselle überzeugt.

»Dann versuchen Sie das mal bei mir, Fräulein Persice,« erwiderte Frau Emilie mit gutmütigem Spott.

Sie pflegte bei diesen Besuchen stets ihren eigenen Bedarf an Hüten zu decken. Damit ging es aber immer sehr komisch zu. Pflichtschuldigst und geduldig probierte sie eine ganze Anzahl moderner Hüte auf, zum Schluß blieb sie jedoch immer wieder bei ihrer alten Form, einem bequem sitzenden schlichten Kapotthut. Dagegen half selbst Mademoiselles glänzende Überredungskunst nichts.

Auch heute ging es wie jedesmal. Mademoiselle führte die entzückendsten Modelle ins Treffen und suchte Frau Emilie zu bestimmen, sich für eines davon zu entscheiden. »Hier, diese französische Toque mit dieser entzückenden Reiheraigrette, das müssen gnädige Frau tragen – unbedingt. O, bitte, Herr Althoff, sagen Sie Ihrer Frau Gemahlin, daß es kleidet wundervoll.« Sie setzte den angepriesenen Hut leicht und behutsam auf den glatten grauen Scheitel der alten Dame und betrachtete sie mit schiefgehaltenem Kopf.

Karl Althoff schmunzelte. »Nun, mach doch Mademoiselle den Spaß, mal einen modernen Hut zu tragen, Milchen, siehst wirklich ganz leidlich darin aus,« sagte er, mehr Mademoiselle zu Gefallen, als aus Überzeugung.

Seine Frau sah ihn lachend von der Seite an. »Karl, du willst mich wohl auf meine alten Tage noch zum Gespött herumlaufen lassen. Weißt du, wie ich mir vorkomme? Wie die Droschkengäule in ihren neuen Schutzhüten. Nein, nein – laßt mich zufrieden und gebt mir meinen alten Kapotthut, meinetwegen in der vornehmsten Aufmachung, da fühle ich mich am behaglichsten.«

Mademoiselle war zerknirscht. »O – gnädige Frau dürfen wirklich nicht mehr tragen diese alte Fasson. Mon Dieu, was sollen sagen daßu die Leute, wenn die gnädige Frau tragen immer wieder so unmoderne Hut.«

»Mademoiselle hat recht, Mutter,« versuchte nun Robert sein Heil. »Du müßtest schon zur Empfehlung für uns immer das Neueste tragen, was die Mode bringt.«

Seine Mutter klopfte ihm gemütlich auf die Schulter, wobei sie sich ein bißchen recken mußte.

»Gib dich zufrieden, mein Sohn. Ihr habt bis jetzt auch ohne meine Empfehlung eure Geschäfte gemacht. Schaff dir eine hübsche junge Frau an, du und deine Brüder, dann könnt ihr denen die schönsten und neuesten Hüte aufsetzen. Das wird mehr Eindruck machen.«

»Nun hört mal endlich auf, Milchen zu quälen,« sagte Heinz gutmütig.

»Jung, du sollst doch nicht ›Milchen‹ sagen,« wehrte sie erschrocken, auf Mademoiselle zeigend.

»Ach – Mademoiselle versteht diesen Kosenamen gar nicht, sei ganz ruhig – ich helfe dir auch aus aller Drangsal. Mademoiselle – holen Sie nur ruhig Mutters alte Form aus der hintersten Ecke des Schrankes hervor. Da hilft alles nichts, Sie können sie noch sinnreicher verstecken, Mutter nimmt keine andere. Und ich möchte sie auch in keinem anderen Hut sehen. Der gehört zu Mutter, und mir gefällt sie darin. Machen Sie nur einen recht weichen Samtbügel hinein, daß er nicht drückt.«

Seufzend stellte Mademoiselle die Toquefasson fort und holte den für alle Fälle bereitgehaltenen Kapotthut hervor. Milchen atmete erlöst auf und drückte Heinz dankbar die Hand. Mademoiselle zeigte der alten Dame noch dies und das. Neue Schleier, Hutnadeln und Agraffen, herrliche große Straußenfedern in allen Schattierungen und dergleichen. Dann war diese Besichtigung, die Heinz je nach der Jahreszeit ›Milchens Herbst- oder Frühlingsparade‹ nannte, zu Ende.

Wie üblich, waren an diesem Tage Mademoiselle und die ersten Beamten aus der Fabrik und dem Versandgeschäft zu Tisch geladen. Das gehörte zur Saisoneröffnung der Firma Althoff & Söhne.

Milchen verabschiedete sich also mit einigen anerkennenden Worten von Mademoiselle, um noch letzte Vorbereitungen für die Tafel zu treffen. Denn sie sorgte selbst dafür, daß den Angestellten ein gediegenes Mittagessen vorgesetzt wurde.

Es ging dann bei der Tafel immer ganz vergnügt zu. Der Unterschied zwischen Geschäftsinhaber und Angestellten wurde vollständig überbrückt. Karl Althoff sah in diesen erprobten Leuten nur seine verdienstvollen Mitarbeiter und wünschte, daß sie als solche geachtet wurden.

* * *

Albert Henrici war soeben nach dem Konsulat gefahren. Seine Frau saß mit Helma in dem kleinen Empirezimmer und blätterte in einigen, durch die Post gesandten Preislisten. Dabei kam ihr auch eine geschmackvolle Karte in die Hände, die zwischen den Warenlisten lag.

»Ach, sehen Sie hier, liebe Helma, die Firma Althoff ladet zur Besichtigung der Muster ein. Da müssen wir schleunigst Folge leisten. Wie ist es heute vormittag? Haben wir etwas vor?«

»Nein, gnädige Frau. Sie wollten nur bei dem Goldschmied vorfahren, um das Schloß an der Perlenschnur ändern zu lassen.«

»Richtig. Das können wir gut zusammen erledigen. Wir werden also gleich aufbrechen. Bestellen Sie, bitte, daß angespannt bleibt, wenn der Wagen vom Konsulat zurückkommt. Und halten Sie sich bereit, mich zu begleiten.«

Helma erhob sich und legte die Stickerei, an der sie gearbeitet hatte, zusammen. Ihre Hände waren dabei ein wenig unsicher. Stand ihr doch wahrscheinlich ein Wiedersehen mit Felix bevor. Seit dem Ballfest war sie ihm noch nicht wieder begegnet.

Vera ging schnell in ihr Ankleidezimmer und machte sich für die beabsichtigte Ausfahrt fertig. Eine Stunde später fuhren die beiden Damen nach dem Thomasplatz, wo sich die Althoffsche Fabrik befand.

Es war ein sonnenheller Vormittag. Jede Spur von Schnee und Eis war schon verschwunden. Der Frühling hatte zeitig seinen Einzug gehalten. An den Straßenecken standen Blumenverkäuferinnen mit Schneeglöckchen und Nizzaveilchen, und überall herrschte geschäftiges Treiben, als wenn die Menschen aus dem Winterschlaf erwacht wären.

Als Veras Wagen vor dem breiten Mittelportal des Detailgeschäftes hielt, kam Felix Althoff gerade die Treppe herab, um sein im Erdgeschoß gelegenes Privatkontor aufzusuchen. Er stutzte und sah scharf hinaus. Da erblickte er auch schon die Konsulin und hinter ihr Helma Olfers. Mit aufleuchtenden Blicken ging er den Damen entgegen und begrüßte sie artig.

Vera gab ihre Absicht kund, die Musterhüte anzusehen, und Felix erbot sich, die Damen selbst hinaufzuführen. Oben angelangt, ließ er sofort Mademoiselle herbeirufen. Diese nahm sich mit Feuereifer der hochgeschätzten Kundin an.

Das Schönste und Eigenartigste bekam Vera vorgeführt, und sie hatte ein besseres Verständnis für all die Herrlichkeiten als Emilie Althoff. Wohlgefällig versuchte sie vor dem großen Spiegel einige besonders geschmackvolle Hüte. Mademoiselle war ehrlich begeistert. Diese Kundin entschädigte sie vollkommen für die Niederlage, die sie bei Frau Emilie erlitten hatte. Es war freilich nicht schwer, für Vera kleidsame Hüte herauszufinden. Für eine so schöne Frau war die etwas übertreibende Mode wie geschaffen. Auf einem solchen Kopf kamen die Muster erst recht zur Geltung. Die kleine Französin wußte sich vor Entzücken kaum zu fassen, und Vera mußte lachen über ihr aufgeregtes Kauderwelsch. Dabei blickte sie aber immer wieder verstohlen und unruhig nach der Tür, die, wie sie von früheren Besuchen wußte, in das Nebengebäude führte, wo sich das Versandgeschäft befand. Sie schien nicht ganz bei der Sache zu sein, denn einige Male gab sie Felix ganz zerstreute Antworten.

Endlich vermochte sie sich nicht länger zu beherrschen.

»Wie geht es Ihren Eltern und Ihren Herren Brüdern, Herr Althoff?«

Felix gab Auskunft.

»Ich werde nachher gleich Ihrer Frau Mutter einen Besuch machen. Den bin ich schon lange schuldig. Sie ist doch zu Hause?«

»Ich glaube wohl, gnädige Frau. Jedenfalls kann ich vorher nachfragen lassen, damit Sie sich nicht umsonst bemühen.«

»Danke sehr, Ihr Vater und Ihre Herren Brüder befinden sich wohl? Wenn sie nicht zu sehr beschäftigt sind, möchte ich ihnen auch guten Tag sagen.«

»Mein Bruder Robert ist in Geschäften nach Berlin gereist, und mein Vater befindet sich auf der Börse. Sie werden bedauern, gnädige Frau, Sie verfehlt zu haben.«

Vera gab eine höflich liebenswürdige Antwort. »Dann bleibt nur Ihr zweiter Bruder, der muß mich dann für den Ausfall entschädigen,« schloß sie scherzend.

Felix mußte diesem Winke wohl Folge leisten, aber er tat es zögernd und scheinbar wenig erfreut. Durch das Haustelephon benachrichtigte er Heinz von Veras Anwesenheit und teilte ihr dann mit, daß sein Bruder sofort erscheinen werde.

Vera vermochte nicht die Röte der Erregung zu unterdrücken bei seiner Auskunft. Etwas sehr wortreich bedauerte sie nochmals, Karl Althoff und Robert nicht begrüßen zu können.

Wenige Minuten später erschien Heinz und begrüßte die Damen sehr erfreut. Zwischen ihm und Vera entspann sich sofort eine lebhafte Unterhaltung. Während die schöne Frau dabei einen Hut nach dem andern versuchte, begegneten ihre Augen in dem Spiegel sehr oft denen von Heinz Althoff. Er stand wieder ganz im Banne ihrer berückenden Schönheit und gab ihre Blicke mit gleichem Feuer zurück.

Felix benutzte inzwischen die Zeit, um sich mit Helma zu unterhalten. Aber obwohl er sich mit vollen Sinnen dieser Unterhaltung widmete, warf er doch zuweilen einen besorgten Blick auf Heinz und die Konsulin.

Mademoiselle hatte mit großer Befriedigung einige Hüte für Vera zurückstellen lassen.

»Wollen Sie nicht auch einige Hüte aufprobieren, gnädiges Fräulein?« fragte Felix das junge Mädchen.

Helma schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nein, ich will gar nicht erst unerfüllbare Wünsche in mir wachrufen.«

»Warum unerfüllbar?«

»Weil auch der billigste von all diesen kostbaren Hüten ein ganzes Monatsgehalt von mir verschlingen würde. Ich beschaffe mir meine notwendigen Kopfbedeckungen bedeutend billiger, indem ich mir meine Hüte selbst aufmache. Wenn Sie mich Mademoiselle nicht verraten, will ich Ihnen eingestehen, daß ich mir bereits diese reizende Schleifenausstattung eingeprägt habe, um sie für mich nachzumachen. Sie sind mir doch nicht böse, daß meine Augen hier auf Raub ausgingen?«

Felix hätte am liebsten gesagt: »Suche dir hier das Schönste und Kostbarste aus, nichts ist mir gut genug, dich zu schmücken.« Aber er hütete sich wohl, diese Gedanken laut werden zu lassen. »Ich sende Ihnen den Hut sehr gern zu, damit Sie ihn nachmachen können, gnädiges Fräulein,« sagte er höflich.

Sie wehrte bescheiden ab. »Danke sehr – das kann ich wirklich nicht annehmen. Aber wenn Sie mir erlauben wollen, den Hut in einigen Tagen noch einmal zu betrachten, wenn ich unten im Erdgeschoß meinen bescheidenen Einkauf mache, dann mache ich von dieser Erlaubnis gern Gebrauch. Selbstverständlich, wenn er nicht vorher verkauft ist.«

Felix freute sich sehr auf die Aussicht, Helma in einigen Tagen wiederzusehen, und beschloß, den bewußten Hut sofort zurückstellen zu lassen, sobald sich die Damen entfernt hatten, damit er ja nicht verkauft würde.

»Das erlaube ich mit großem Vergnügen, mein gnädiges Fräulein. Hoffentlich habe ich dann das Vergnügen, Sie wiederzusehen. Die Winterfestzeit ist ohnedies zu Ende – und ich werde jetzt leider selten genug die Ehre haben, mit Ihnen zusammenzutreffen.«

»Warum besuchen Sie nie den Empfangstag der Frau Konsul?« entfuhr es hastig Helmas Lippen, und errötend setzte sie hinzu: »Ihr Herr Bruder ist doch auch oft zugegen.«

Felix warf einen Blick zu Heinz hinüber, der in eine sehr angelegentliche Unterhaltung mit Vera vertieft war.

»Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen, gnädiges Fräulein. Ich bin Ihnen für den Hinweis sehr verbunden. Mittwochs empfängt die gnädige Frau, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dann darf ich wohl zuweilen auf ein kurzes Plauderstündchen mit Ihnen hoffen?«

Helma nickte erregt. »Ich bin immer anwesend, wenn Gäste da sind. Frau Konsul wird sich sehr freuen, Sie bei sich zu sehen.«

»Nur Frau Konsul?« fragte er halblaut, wie im Scherz. Aber in seinen Augen lag eine brennende Frage.

»Herr Konsul natürlich auch,« neckte sie.

»Und Sie, gnädiges Fräulein?« fragte er dringend.

»O – ich – ich komme doch gar nicht in Frage.«

Er sah sie an mit einem heißen, unbeherrschten Blick, und sie zuckte zusammen in einem süßen Erschrecken.

»Für mich sehr,« sagte er leise, unsicher; und ihre Verwirrung bemerkend, fuhr er leichter fort: »Sie wissen doch, wie gern ich mich mit Ihnen unterhalte. Wir haben so viel gemeinsame Gedankenbereiche und – und wir sind doch gute Freunde, nicht wahr?«

Sie nickte nur und hielt die Augen gesenkt. Er sah, wie ihr Mund leise zuckte. Eine scheue Hoffnung regte sich in seiner Seele und die Sehnsucht quoll in ihm empor, ihr jetzt sagen zu dürfen, was er empfand. Jetzt hätte er vielleicht den Mut gehabt. Aber Zeit und Ort waren nicht geeignet, es war unmöglich, jetzt eine Werbung anzubringen. Ob er ein anderes Mal den Mut wiederfinden würde?

Schweigend standen sie sich eine Weile gegenüber. Das, was sie in diesem Augenblick empfanden, schloß ihnen die Lippen. Die Pause in ihrem Gespräch wirkte auf beide verwirrend, und Helma atmete wie erlöst auf, als Mademoiselle eine geschäftliche Frage an Felix stellte.

Heinz hatte von Vera gehört, daß sie seiner Mutter einen Besuch abstatten wollte, und erklärte, die Damen hinaufbegleiten zu wollen. Felix hatte bereits anfragen lassen, ob seine Mutter zu Hause war. Da dies der Fall und Vera mit ihren Einkäufen zu Ende war, gingen die Brüder mit den Damen hinauf.

Milchen empfing die beiden Damen in ihrer einfachen, natürlichen Art ehrlich erfreut. Sie tätschelte der Konsulin, deren Schönheit ihr altes Herz immer erfreute, die feine weiße Hand und fragte nach dem Befinden des Mannes.

Vera saß ihr in einem traumhaften Zustand gegenüber. Wie traulich und heimisch erschien ihr das gemütliche Zimmer. Warm und weh zugleich wurde ihr ums Herz, als sie in die guten, liebevollen Augen der alten Frau sah. Wenn sie eine solche Mutter gehabt hätte! Ob sie dann auch so viel Wert auf äußeren Glanz gelegt hätte?

Ihre eigene Mutter war eine kühle, berechnende Natur gewesen, die ihr nur immer die Notwendigkeit vorhielt, ihre Schönheit zu einer Gewinnquelle zu machen. Wenn sie jetzt hier sitzen könnte als Heinz Althoffs Frau, wie glücklich würde sie sein, selbst wenn er nicht der Sohn reicher Eltern wäre!

Ihr Blick schweifte mit einem dunklen, sehnsüchtigen Ausdruck zu ihm hinüber. Er lehnte neben dem Sessel seiner Mutter und neckte sie ein wenig. Sie hätte in aufwallender Lust in seine Arme fliegen mögen und ihm sagen: »Laß mich hierbleiben bei dir, nur an deinem Herzen kann ich glücklich sein.« Und währenddem mußte sie liebenswürdig in herkömmlicher Weise plaudern.

Milchen beschäftigte sich heute auch eingehender als sonst mit Helma Olfers. Was ihre Söhne neulich bei Tisch über sie gesprochen, hatte sie sehr eingenommen. Nun war es nicht schwer, Milchens Zuneigung zu erringen. Der in ihrem Herzen aufgespeicherte Liebesschatz mußte sich zuweilen Luft machen. Wer nun vollends die Fürsprache ihrer Söhne besaß, war in ihren Augen schon unbedingt liebenswert. Da nun Helma ein ›liebes, süßes Mädchen‹ war, wie Milchen feststellte, und ihre schönen blauen Augen so innig in die der alten Frau strahlten, war es ihr leicht, deren Zuneigung zu gewinnen.

»Lieber Gott, wenn ich mal so ein liebes, reizendes Dingelchen zur Schwiegertochter bekäme, das wäre eine nach meinem Herzen – wenn sie auch blutarm wäre,« dachte Milchen sehnsüchtig.

Länger, als sie beabsichtigt hatte, hielt sich Vera bei Frau Althoff auf. Es fiel ihr schwer, sich zu verabschieden, so, als wenn sie eine Stätte des Friedens verlassen müßte. – –

Auf der Heimfahrt saß Vera still und in sich gekehrt im Wagen. Ihre schönen dunklen Augen sahen starr geradeaus, und einmal sah Helma eine schwere Träne über ihre Wange herabgleiten.

Das Herz wurde ihr schwer. Vera war immer gütig zu ihr gewesen, und auch sonst hatte sie bei vielen ihrer Handlungen Beweise einer edlen Denkungsart erhalten. Im Anfang, als Helma in das Haus des Konsuls gekommen war, hatte Vera wohl zuweilen nervöse Mißstimmungen gehabt. Aber die waren immer schnell verschwunden, wenn sie abgelenkt wurde. Jetzt hatte Vera jedoch kaum noch eine rechte fröhliche Stunde. Meist saß sie still und verträumt, wenn der Konsul nicht zu Hause war. In seiner Gegenwart verfiel sie dann zuweilen in eine erzwungene Lustigkeit, oder sie zeigte sich verstimmt und gereizt.

Auch heute hatte Helma wieder manchen Blick zwischen Heinz und Vera aufgefangen, der ihr zu denken gab und sie mit Besorgnis erfüllte. Sie versuchte immer wieder an ein harmloses Getändel zu glauben, wenn sie kleine Vorgänge und bedeutsame Blicke zwischen den beiden beobachtete. Aber es ging von den beiden aus wie ein schwüler Hauch, etwas, das Helma beängstigte und beunruhigte.

Das junge Mädchen fühlte sich durch alles dies sehr niedergedrückt.

Helma war zumute, als schwebe ein drohendes Unheil über dem Hause, das ihr eine Heimat geworden war. Auch der Konsul erschien ihr seltsam still und gedrückt, und manchmal ruhte sein Blick verstohlen und voll verzehrender Angst auf seiner jungen Frau.

Am liebsten hätte Helma Auge und Ohr vor all den beunruhigenden Dingen verschlossen, aber sie hatte ein so feines Empfinden für die Seelenstimmung anderer.

Und neben der Sorge um die Menschen, deren Güte sie ihr jetziges sorgloses Dasein dankte, beunruhigte sie auch der Gedanke an sich selbst. Wenn ihre Stellung hier im Hause unhaltbar wurde durch ein unliebsames Vorkommnis, wie schwer würde sie dadurch getroffen werden, – dann hieß es wieder hinaus zu fremden Menschen, eine neue Stellung suchen mit allen Demütigungen und Enttäuschungen, die niemand erspart bleiben, der sich sein Brot verdienen muß. Und im geheimsten Winkel ihres Herzens regte sich eine andere Stimme: »Fort von Felix Althoff – ihn nie mehr sehen – ganz verschwinden aus seiner Welt, vergessen werden von ihm – das wäre die schlimmste Folge, die ihr ein Stellungswechsel bringen würde ...«

Die beiden Damen schraken empor aus ihren Grübeleien. Der Wagen hielt vor der Tür des Goldschmieds, zu dem Vera ihre Perlenschnur bringen wollte. Schnell war diese Angelegenheit geordnet, und die Damen fuhren nach Hause.

Sie hatten sich kaum umgekleidet für die Mittagstafel, als auch der Konsul wieder nach Hause kam.

Helma sah im Speisezimmer noch einmal nach dem Rechten. Inzwischen begrüßte Henrici seine Frau. Er bemerkte sofort, daß sie, wie oft jetzt, in niedergedrückter Stimmung war. Ein verstohlener Seufzer entfloh seinen Lippen, und seine Stirn zog sich düster zusammen. Trotzdem suchte er Vera aufzuheitern. Sie gab sich Mühe, auf seinen leichten Plauderton einzugehen, aber es gelang ihr nicht, ihn zu täuschen. Bei Tisch blickte er immer wieder in ihr schönes, trauriges Gesicht, und schließlich verstummte auch er. Helma suchte mit ihm noch ein Gespräch fortzusetzen, aber es gelang ihr nicht. Wie ein lähmender Bann legte es sich auf die drei Menschen.

Und plötzlich, gleich nachdem der Braten aufgetragen war und der Diener das Zimmer verlassen hatte, brach es wie ein krampfhaftes Schluchzen über Veras Lippen. Schwere Tränen rannen über ihre Wangen. Sie konnte sich nicht länger zurückhalten; es hätte ihr die Brust zersprengt, sich länger fassen zu müssen. Sie sprang auf, und zu gleicher Zeit mit ihr Henrici. Er wollte auf sie zueilen, sie in seine Arme nehmen und nach dem Grund ihres Schmerzes fragen, aber sie machte eine leidenschaftlich abwehrende Bewegung und verließ hastig das Zimmer. Er blieb stehen wie festgewachsen, starr blickte er nach der Tür.

Helma quoll vor Angst der Bissen im Munde. Sie glaubte noch nie in eines Menschen Antlitz einen ähnlichen Ausdruck versteinerten Schmerzes gesehen zu haben, als in dem des Konsuls. Ein tiefes Mitleid für den gütigen Mann erfüllte ihre Seele. Und zugleich tat ihr Vera herzlich leid. Sie wagte sich nicht zu rühren und senkte die Augen. Wenn sie doch hätte unbemerkt hinausgehen können, damit er nicht ahnte, daß sie seinen Seelenschmerz belauscht hatte!

Endlich schien sich Henrici auf sich selbst zu besinnen. Er fuhr mit der Hand wie fortwischend über seine Stirn und wandte sich, wie aus einem bedrückenden Traum erwachend, zu Helma. »Meine Frau hat heute einen besonders bösen nervösen Anfall,« sagte er wie ein Mensch, der sich gewaltsam zum Reden zwingt. »War sie schon den ganzen Vormittag so verstimmt?«

Helma wagte ihn nicht anzusehen. »Nein, Herr Konsul – ich – ich habe nichts bemerkt.«

Er rückte sich mit bestimmtem Ausdruck zurecht und fragte mit klarer Stimme weiter: »Sind Sie ausgefahren mit meiner Frau?«

»Ja, wir waren beim Goldschmied und – und vorher hat sich Frau Konsul Hüte ausgesucht.«

Henrici trat einen Schritt näher. »Bei Althoff & Söhne natürlich?« fragte er scheinbar gleichgültig.

Helma fühlte herzklopfend, daß eine heimliche Spannung in seinen Worten lag. »Lieber Himmel – lieber Himmel – was soll das werden!« dachte sie angstvoll.

»Ja, bei Althoff & Söhne.«

»Hm. Nun, sie wird sich dabei ein wenig überanstrengt haben. Die Hutfrage ist ja allen Damen sehr wichtig,« versuchte er zu scherzen.

Helma ging schnell und tapfer darauf ein. »Ja, Frau Konsul hat sehr viel versucht und ausgesucht. Wahrscheinlich hat sie davon ihren nervösen Kopfschmerz bekommen.«

»So wird es sein. Nun, wir wollen ruhig weiteressen, Fräulein Olfers. Nach Tisch sehe ich selbst noch einmal nach meiner Frau. Inzwischen wird sie sich beruhigt haben. Ich glaube doch, die Winterzeit war zu anstrengend für sie.«

Er ließ sich wieder am Tisch nieder und gab sich den Anschein, als ob er ruhig seine Mahlzeit weiter einnehme. Auch Helma nahm sich pflichtschuldigst von jeder Speise – aber weder sie noch der Konsul dachten ernsthaft daran, zu essen.

Endlich nahm auch diese Mahlzeit ein Ende. Und nun verneigte sich der Konsul hastig vor Helma und ging hinaus. Er suchte das Zimmer seiner Frau auf, aber als er eintreten wollte, fand er es verschlossen. Mit bleichem, verfallenem Gesicht lehnte er sich wie haltlos gegen die Tür. Es war ihm, als höre er unterdrücktes Schluchzen herausdringen.

Da ging er langsam in sein eigenes Zimmer und fiel kraftlos in einen Sessel. »Jetzt kommt die Vergeltung – ich fühl's,« sagte er heiser vor sich hin und verbarg das Gesicht aufstöhnend in die Hände ... Er hatte es kommen sehen, langsam und unerbittlich, seit er bemerkte, daß Vera Heinz Althoff auszuzeichnen begann. Zuerst war es nur ein unbestimmtes Angstgefühl, was er empfand, wie bei jedem jungen Mann, der sich seiner Frau näherte. Seit er wußte, daß Heinz mit Dora Manders gebrochen, seit er bemerkte, daß Vera sich viel mit ihm absonderte, hatte es angefangen. Und nun glaubte er sicher zu sein, daß sie Heinz Althoff liebte.

Ihr Verhalten zu ihm selbst war nie besonders zärtlich gewesen, aber jetzt merkte er oft, daß sie zurückschauderte, wenn er ihr eine Liebkosung zuteil werden ließ. Sie vermied ängstlich jedes Alleinsein mit ihm und wurde unruhig, sobald sich ein solches nicht vermeiden ließ.

Daß Heinz Althoff fast stets schon anwesend war, wenn Vera empfing und er nach Hause kam, fiel ihm auch auf. Zwar fand er die beiden meist in Helmas Gesellschaft, aber es beunruhigte ihn doch. Wenn er nun gar erst gewußt hätte, daß Helma meistens erst zu den beiden ins Zimmer zurückkehrte, sobald sie den Konsul vorfahren hörte, so wäre er noch unruhiger gewesen.

Wohl kamen inzwischen wieder Stunden, in denen er sich einen Schwarzseher schalt und sich seines Mißtrauens schämte. Wenn Vera wieder frohe Stunden hatte, verschwanden seine Besorgnisse und er sah in Heinz Althoffs häufigen Besuchen nichts, was ihm zu Besorgnissen hätte Anlaß geben können.

Aber heute war er grenzenlos niedergeschlagen und bedrückt. Zeigte Veras ganzes Verhalten nicht deutlich, daß sie sich unglücklich fühlte? Und welche andere Veranlassung konnte sie dazu haben, als eine unglückliche Liebe? War nicht ihr ganzes Wesen in der letzten Zeit dazu angetan, ihn in diesem Glauben zu bestärken?

»Jetzt ist es an dir, die Schuld zu begleichen, die du im Leichtsinn deiner Jugend auf dich geladen hast. Du hast gefrevelt an des Andern Ehre und diesen Andern niedergeschossen, – nun wirst du der Andere sein – alle Schuld rächt sich auf Erden.« So dachte Albert Henrici während der qualvollen Stunde, die er durchlebte ...

Als er jedoch am Abend von einer geschäftlichen Ausfahrt nach Hause zurückkehrte, kam ihm Vera lächelnd und frisch entgegen.

»Schilt mich nur aus für mein unartiges Benehmen heute mittag, Albert. Du bist im Rechte, wenn du es tust. Ich hätte mich beherrschen sollen, aber mein dummes Kopfweh war zu arg. Bist du böse?«

Er nahm sie wie schützend in seine Arme. »Böse? Liebling – nie kann ich dir böse sein, dazu liebe ich dich zu sehr. Aber es quält mich namenlos, wenn ich dich leiden sehe.«

Das Herz tat ihr weh bei seinen liebevollen Worten. Sie kam sich schlecht und verworfen vor, daß sie seine Liebe nicht erwidern konnte, sondern sehnsüchtig nach dem andern verlangte. »Ach, du mußt dem dummen Kopfweh gar nicht so viel Bedeutung zumessen. Es ist ja auch vorüber. Heute abend wollen wir recht vergnügt sein. Ich muß dich doch für das einsame Mittagessen entschädigen!«

Sie war auch wirklich sehr lustig, fast ausgelassen, neckte Helma, zog ihren Mann am Bart und sang ein paar übermütige Lieder.

Der Konsul war glücklich und schalt sich selbst, daß er Gespenster gesehen hatte. Vera verwischte durch ihr Benehmen den Eindruck vom Mittag vollständig. Wenn er gewußt hätte, was sie diese Fröhlichkeit kostete ...

* * *

Felix und Heinz Althoff hatten eine Weile stumm dem Wagen der Konsulin nachgesehen, als dieser sich mit den beiden Damen entfernte. Heinz wandte sich endlich dem Bruder zu und fing noch einen heißen, sehnsuchtsvollen Blick auf, mit dem er Helma nachsah.

Er pfiff ein wenig vor sich hin. »Donnerwetter – den Kleinen hat es, scheint mir, ordentlich gepackt. Das hätte ich nicht gedacht, daß dieser Eiszapfen eines Tages auftauen würde. Habe ihn immer für eine Art Weiberfeind gehalten,« dachte er.

Gemütlich schob er seinen Arm in den des Bruders. »Komm, Kleiner, starrst ja dem Wagen nach wie einer verschwundenen Fata Morgana. Hast du zu tief in die schönen Augen der Konsulin gesehen oder in die nicht minder schönen ihrer reizenden Gesellschafterin?«

Felix bekam einen roten Kopf. »Laß doch solche Scherze, Heinz; du weißt, daß mir derartiges peinlich ist.«

Die beiden Brüder traten in Felix' Privatkontor. »Sei kein Frosch, Kleiner, was ist denn dabei, wenn ich dich ein bißchen necke? Wirst ja auch ein Herz im Leibe haben. Oder bist du wirklich ein Weiberfeind?«

»Nein, im Gegenteil, ich denke höher von den Frauen, als du. Aber ein Krüppel soll sich hüten, zu tief in schöne Frauenaugen zu sehen – er erntet doch nur Enttäuschungen.«

Heinz drückte in aufwallender brüderlicher Liebe Felix' Schultern heftig zusammen. »Du, sag dies greuliche Wort nicht noch einmal, schäme dich!«

Felix lächelte schwach, »Warum? Weil ich der Wahrheit Worte gebe?«

»Nein, weil du dich in diese Wahnvorstellung verrennst. Weil so ein dummer Sehnenstrang ein bißchen kürzer geworden ist als der andere, bist du noch lange kein – nein – ich mag das Wort gar nicht aussprechen. Wenn du es nochmal sagst, verhaue ich dich, verstanden? Bist doch ein ganzer Kerl mit deinem hübschen, gescheiten Kopf, steckst Robert und mich noch in die Tasche, wenn du ernstlich willst. Verlaß dich darauf, so ein kleines Leiden macht dich höchstens noch anziehender bei den Frauen.«

Felix lächelte über seinen Eifer. »Bist ein guter Kerl, Heinz. Laß nur gut sein, ich hab mich ja damit abgefunden. Aber manchmal – weißt du – da packt es einen. Wenn man so ein liebes süßes Ding vor sich sieht und man kann nicht wie jeder andere mit seinen zwei gesunden Beinen vor sie hintreten und sagen: da – hier steht einer auf festen Füßen, der dich durchs Leben tragen will!«

Heinz sah mit eigentümlichen Blicken in sein erregtes Gesicht. »So tief sitzt es, Felix!«

Der nickte nur stumm und sah zum Fenster hinaus.

»So ernst ist es dir mit der kleinen Helma Olfers, daß du sie heiraten möchtest?«

Felix wandte sich ihm schnell wieder zu. »Das ist dir unverständlich, nicht wahr?«

»Ich bin ja nicht für die Ehe geschaffen, Kleiner, dazu ist mir meine Freiheit zu lieb.«

»Aber ich gäbe sie mit tausend Freuden auf, diese Freiheit, wenn Helma meine Frau werden wollte,« sagte Felix leise, mit bebender Stimme.

Heinz rüttelte ihn lachend am Arm. »Na, also – dann sage es ihr, und alles ist in schönster Ordnung. Himmel – Milchen wird närrisch vor Vergnügen, wenn sie einen von uns unter die Haube bringen kann! Und nun gar den Jüngsten zuerst. Also 'ran an die Kreide, mein Junge – meinen Segen hast du! Die kleine Helma ist eine Schwägerin nach meinem Herzen.«

Felix machte ein gequältes Gesicht. »Ich bitte dich, Heinz, laß dieses Thema fallen. Ich habe dir von meinem Seelenzustand mehr verraten, als ich wollte. Nun sei nicht unvorsichtig. Wohl habe ich zuweilen daran gedacht, mich um Fräulein Olfers zu bewerben – aber schließlich fehlt mir immer der Mut. Ich trüge schwerer an einem Korbe als jeder andere.«

»Aber die Kleine denkt ja nicht daran, dir einen Korb zu geben.«

»Ach so, du meinst, weil ich eine sogenannte gute Partie bin? Nein – eins Helma Olfers verkauft sich nicht.«

»Unsinn, wer spricht denn davon! Ich sage dir, du bist ihr durchaus nicht gleichgültig. Man hat doch Augen im Kopfe. Sie sucht deine Gesellschaft geradezu. Hast du neulich nicht bemerkt, wie eilig sie zu dir zurückverlangte, als ich sie zum Tanze holte? Mitten im schönsten Walzer dankte sie mich ab – na, das ist doch nicht üblich bei einem jungen Mädchen.«

Felix strich sich über die Stirn. »Das hatte einen andern Grund, Heinz. Aber nun nichts mehr davon. Vielleicht fasse ich mir doch einmal ein Herz – aber erst muß ich selbst daran glauben, daß ich nicht vergeblich frage.«

»Soll ich sie mal ein bißchen ausforschen?«

Felix richtete sich straff auf. »Um keinen Preis, Heinz! Ich denke doch, ich bin Manns genug, mein Schicksal in meine eigenen Hände zu nehmen. Du meinst es gut – aber ich will es nicht.«

Heinz zuckte die Achseln. »Auch du, Kleiner. Hast schon recht. Schließlich kommst du schon selbst noch dahinter. Die Weiber verraten sich alle selbst, wenn das Herz meutert, das weiß ich aus Erfahrung.«

Felix trat dicht zu dem Bruder heran und legte die Hand auf seinen Arm. »Heinz, ich habe dir heute ein Zeichen meines unbedingten Vertrauens gegeben, kein Mensch außer dir weiß, wie es um mich steht. Und wir zwei haben uns immer gut verstanden trotz unserer verschiedenen Wesensart. Bisher habe ich mich nie in deine Angelegenheiten gemischt – aber heute gestatte mir einmal ein ernstes, dringendes Wort.«

Heinz wurde es unter seinem Blick unbehaglich zumute. Er richtete den Kopf steif empor und sah ihn scharf an. »Du bist ja so feierlich – was willst du denn?«

»Heinz – sei vorsichtig mit der Konsulin,« sagte Felix halblaut, aber mit schwerem Ausdruck.

Heinz wurde dunkelrot und trat zurück. »Was soll das – was willst du mit ihr?«

»Dich warnen, Heinz. Ich fürchte, du verstehst mich nur zu gut. Die Konsulin hat jedenfalls gründlich ihr seelisches Gleichgewicht verloren – sie vermag sich kaum noch zu beherrschen. Ihre Augen hängen an dir mit einem Ausdruck, der mir Angst macht. Ich bitte dich in treuer, brüderlicher Liebe, ziehe dich da zurück, ehe es zu spät ist. Diese Frau ist zu leidenschaftlich für eine kleine, leichtsinnige Liebelei, wie sie deine Gewohnheit sind. Ich beobachte euch schon lange – und ich fürchte, auch andere könnten mehr sehen, als gut ist. Der Konsul läßt nicht mit sich spaßen, du weißt, Vater hat uns erzählt, daß er in seiner Jugend schon einen Gegner im Duell erschossen hat. Wenn du in fremdes Glück hineinstörst, mußt du alle Folgen auf dich nehmen.«

Heinz wollte ihn erst barsch zurückweisen, aber ein Blick in des Bruders ernste, bittende Augen hielt die raschen Worte zurück. »Mache doch nicht so viel Aufhebens von einer harmlosen Liebäugelei, Felix. Das nimmt man doch nicht so ernst,« sagte er unbehaglich.

»Du vielleicht nicht, Heinz – aber die Konsulin. Hüte dich vor einem Drama.«

Heinz lief unbehaglich auf und ab. »Wie kommst du nur darauf?« fragte er unruhig.

»Ich habe sie heute wieder beobachtet. Sie hat etwas im Auge, was mir Besorgnis einflößt. In ihrem Blick liegt eine unverhüllte, leidenschaftliche Liebe, wenn sie dich ansieht. Vergiß nicht, daß sie einen Mann hat, der doppelt so alt ist als sie. Ich kann dich nur wieder und wieder bitten, sei vorsichtig – ziehe dich zurück – es ist die höchste Zeit. Bedenke, was für ein Geklatsche das gäbe, wenn nicht noch Schlimmeres! Denke an unsere Eltern; sie haben's nicht verdient, daß wir ihnen Kummer machen.«

Seine Worte blieben nicht ohne Eindruck. Heinz stand abgewandt am Fenster, und in seinem sonst so sorglosen Gesicht lag ein ernster Ausdruck.

»Ich hatte ja keine Ahnung, daß man etwas merken könnte,« sagte er endlich kleinlaut.

»Hoffentlich bin ich der einzige Mensch, der etwas gemerkt hat. Meine besorgten Blicke haben euch scharf beobachtet. Aber ein Zufall kann auch anderen enthüllen, was ich sah. Die Konsulin kann sich immer weniger beherrschen!«

»Gott – ich habe ja längst eingesehen, daß es eine Torheit war, mit ihr anzubändeln. Oft habe ich mir schon vorgenommen, mich von ihr zurückzuziehen. Ich merke ja auch, daß sie es zu schwer nimmt. Weiß Gott, ich hatte keine andere Absicht, als ihrer Schönheit meine Bewunderung zu zollen. Aber du hast recht, es muß schnell ein Ende gemacht werden. Mein Leichtsinn hat mich da in eine sehr heikle Lage gebracht. Leicht wird es nicht sein, die Konsulin zur Vernunft zu bringen, ich fühle es selbst zuweilen mit Erschrecken, wie ernst sie die Sache nimmt. Aber ich muß vernünftig mit ihr reden. Weiß Gott, es wäre mir um Henrici leid, wenn er etwas merken würde. Ich habe mich in seiner Gegenwart immer doppelt beherrscht.«

»Du, ja – aber sie nicht.«

»Du meinst, auch der Konsul könnte etwas beobachtet haben?« fragte Heinz erschrocken.

»Das wollen wir nicht hoffen. Aber es kann jeden Tag geschehen, wenn du nicht ein Ende machst.«

»Das soll geschehen, Felix, mein Wort darauf. Und habe Dank für die Standpauke, die du mir gehalten hast. Ich würde dir ja gern versprechen, in Zukunft nicht mehr so leichtsinnig zu sein – aber ich kenne mich leider zu gut – über die guten Vorsätze komme ich nicht hinaus.«

Felix mußte lächeln über die zerknirschte Miene des sonst so übermütigen Bruders. Er legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Ein Leichtfuß bist du, Heinz – aber ein schlechter Mensch nicht – und das sollst du auch nicht werden. Wäre ja schade um dich.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Alles, war wir hier gesprochen, bleibt unter uns, Felix.«

»Selbstverständlich.«

* * *

Es war wieder Mittwoch. Helma stand am Teetisch und ordnete das Gerät. Sie schien etwas zerstreut und erregt. Am Tage vorher hatte sie ihre bescheidenen Einkäufe bei Althoffs besorgt und natürlich Felix getroffen, der schon längst auf ihr Erscheinen gewartet hatte. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen, waren beide etwas verlegen gewesen, und ihre Unterhaltung hatte sich fast nur um Helmas Hut gedreht. Aber bei dem Abschied hatte Felix Helmas Hand viel länger als üblich in der seinen behalten und mit einem bedeutsamen Blick gesagt: »Morgen auf Wiedersehen – hoffentlich ist uns ein ungestörtes Plauderstündchen beschert.« Diese Worte klangen Helma immer wieder in den Ohren und füllten ihr Herz mit einer bangfreudigen Erwartung. Es hatte ein so seltsamer Ton diesen Worten besondere Geltung gegeben.

Die Konsulin trat ein in den großen Raum, wo sie ihre Teegäste zu empfangen pflegte. Dieser Raum war im Stil Louis XIV. gehalten und wie alle Räume im Hause des Konsuls mit feinem Geschmack und Kunstsinn ausgestattet.

Vera trug ein sehr vornehmes, langschleppendes Gewand aus weicher, cremefarbiger Seide mit darüberfallendem Spitzenstoff in gleicher Farbe.

Helma sah verstohlen zu ihr hinüber. In den letzten Tagen hatte sich die Konsulin wenigstens in Gegenwart ihres Mannes meisterhaft beherrscht. Nur wenn sie mit Helma allein war, ließ sie sich gehen und versank meist in tatenlose Träumerei, oder sie lief rastlos durch alle Zimmer, wie auf der Flucht vor sich selbst.

Sie sprach auch jetzt nur einige hastige Worte mit Helma und sah dann ungeduldig nach der Uhr. Seufzend ließ sie sich dann in einen Sessel fallen.

»Es ist noch so zeitig, liebe Helma. Bitte, spielen Sie mir noch einmal das Notturno von Chopin, das Sie gestern abend zum besten gaben, ja?«

»Sehr gern, gnädige Frau.«

Helma trat an den Flügel. Vera sah versonnen auf die schlanke, jugendfrische Mädchengestalt, deren schlichtes, hellgraues Voilekleidchen sich scharf von dem dunklen Hintergrund des Flügels abhob. Sie seufzte tief auf. Wie gut es dieses Mädchen hatte! Sie war frei – frei – konnte lieben, wen sie wollte, brauchte nicht scheu ihre Gefühle zu verstecken.

Helma spielte das Notturno mit feinem Verständnis. Sie war eine sehr gute Spielerin und hatte einen geschmackvollen Vortrag. Vera lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und lauschte den Tönen, aber mehr wie jemand, der sich eine Wartezeit abkürzen will. Sie wußte, daß Heinz Althoff vor einer halben Stunde nicht kommen würde, und da sie nur noch in den Augenblicken seiner Gegenwart lebte, wurde ihr das Warten schwer.

Während Helmas Spiel öffnete der Diener die Tür und ließ Heinz Althoff eintreten, der heute mit Absicht noch früher als sonst gekommen war, weil er mit Vera reden wollte. Sie hatte ebenso wie Helma seinen Eintritt überhört und schrak auf, als er plötzlich vor ihr stand und sie anredete. Ein strahlendes Leuchten erhellte ihr Gesicht, und doch lag zugleich etwas Leidvolles in ihrem Blick.

Er küßte ihr wortlos die Hand und sagte dann leise: »Ich möchte Sie um eine Unterredung unter vier Augen bitten, gnädige Frau. Darum kam ich früher.«

Vera nickte zum Zeichen des Einverständnisses und lud ihn mit einer Handbewegung ein, neben ihr Platz zu nehmen.

Inzwischen war Helma zu Ende mit ihrem Spiel, und als sie sich nach Vera umwandle, um zu fragen, ob sie weitermusizieren solle, erblickte sie Heinz. Sie erhob sich, um ihn zu begrüßen.

Heinz kam ihr entgegen. »Ich war Zaungast Ihrer Kunst, Fräulein Olfers. Meinen besten Dank für den bereiteten Genuß!«

Helma antwortete einige höfliche Worte, aber in ihrem Herzen regte sich sofort das Unbehagen, das sie jetzt immer empfand, wenn Heinz und Vera zusammen waren.

»Jetzt werde ich gleich hinausgeschickt werden,« dachte sie voll Unruhe und beschloß, wie immer, auf die Heimkehr des Konsuls zu achten, damit sie vorher zurückkehren konnte. Denn sie fühlte unklar, daß der Konsul sich wegen Heinz Althoff beunruhigte.

Sie war wieder an den Teetisch getreten.

»Haben Sie schon von der neuen Sendung kandierter Früchte herausgegeben, liebe Helma? Frau Kommerzienrat Delbrück nimmt gern welche zum Tee.«

Helma errötete. Das war der Vorwand, sie wußte es, und wurde verlegen, daß sie ihn herausmerkte. »Nein, Frau Konsul. Die Kartons sind noch nicht ausgepackt. Sie wollten es selbst tun.«

»Richtig. Nun habe ich's doch vergessen. Da müssen Sie schon gehen und mein Versäumnis gutmachen. Ordnen Sie, bitte, von allen Sorten etwas auf einer Kistallschale.«

Helma neigte das Haupt und ging hinaus. Eine grenzenlose Unruhe erfüllte sie, eine Ahnung, als müßte ein Unheil vor der Tür lauern. Mit fieberhafter Eile legte sie die Früchte auf die Schale und stellte sich dann in einem dunklen Nebenzimmer an das Fenster, um die Heimkehr des Konsuls zu erwarten.

Heinz hatte Helma stumm nachgesehen. Als sie rot und verlegen, mit gesenkten Augen an ihm vorübergegangen war, hatte ihn plötzlich der Gedanke durchzuckt: »Auch sie hat etwas gesehen, was sie nicht sehen sollte.« Dieser Gedanke hatte seinen Entschluß noch befestigt.

Sobald sich die Tür hinter Helma geschlossen hatte, wandte sich Heinz mit ernstem Gesicht zu Vera.

Sie sah ihn mit einem Blick unverhüllter Liebe an. »Was haben Sie mir zu sagen, Heinz Althoff?«

Er atmete tief auf. »Gnädige Frau, ich muß Ihnen unbedingt heute sagen, was mir schon lange auf der Seele liegt.«

Sie richtete sich auf und faßte seine Hände. »Sprechen Sie, sprechen Sie!« flüsterte sie wie eine Verdurstende. Sie hoffte jetzt endlich ein volles Geständnis seiner Liebe zu vernehmen. Gewiß, er wollte ihr sagen: »So trage ich's nicht mehr, meine Liebe zu dir verlangt nach Vereinigung. Mache dich frei – gehöre mir – wir wollen uns vor aller Welt zu unserer Liebe bekennen.« So würde er sprechen, und jubelnd würde sie ihm sagen: »Ich bin dein – nichts soll uns trennen als der Tod.« An ihren Gatten dachte sie nicht einen Augenblick jetzt. Alles in ihr fieberte danach, die erlösenden Worte zu hören.

Heinz zögerte noch. Eine Ahnung überkam ihn, daß sie etwas ganz anderes von ihm hören wollte, als er ihr zu sagen hatte.

»Sprechen Sie doch!« bat sie noch einmal, fast vergehend vor Sehnsucht.

Da ermannte er sich und verschloß seine Sinne ihren Reizen. Sie war ihm noch nie so schön erschienen als jetzt.

»Gnädige Frau – ich wollte Ihnen sagen, daß ich in Zukunft nur noch selten das Vergnügen haben kann, Sie zu sehen. So leid es mir tut, ich muß mich zurückziehen – aus Rücksicht für Sie, für Ihren Ruf.«

Vera erblaßte bis in die Lippen und sah ihn entgeistert an. »Warum, warum –?« stieß sie hervor.

»Warum? Vera, sehen Sie nicht ein, daß es so nicht weitergehen kann? Mein Bruder Felix hat uns beiden angemerkt, daß – daß wir Beziehungen zueinander haben, die wir nicht haben dürfen. Er hat mich gewarnt. Was er sah, können andere Menschen auch entdecken. Ich glaube fast, Fräulein Olfers ist auch nicht mehr unbefangen. Und ich selbst, Vera, ich selbst fühle, es geht so nicht weiter, wir verstricken uns immer tiefer in eine verbotene Leidenschaft. Was soll daraus werden? Ich bin auch nur ein Mensch – und Sie sind so schön, so bezaubernd – ich muß mich zurückziehen, muß mich aus Ihrer Nähe verbannen ...«

Vera hatte zitternd vor Erregung zugehört. Jetzt neigte sie sich dicht zu ihm heran. »Heinz – liebst du mich?« fragte sie, ihn voll verzehrender Sehnsucht mit flammenden Augen betrachtend.

Er fühlte von neuem, wie ihre Schönheit einen gefährlichen Rausch in ihm erweckte. Er küßte heftig ihre Hand.

»Vera – sehen Sie mich nicht so an – ich darf nicht wieder schwach werden, ich muß für uns beide vernünftig sein.«

Da entfuhr ihren Lippen ein schluchzender Laut, und plötzlich warf sie die Arme um seinen Hals. »Heinz – ich frage nichts nach den Menschen! Du darfst nicht von mir gehen, ich liebe dich so tief und stark, daß ich alles über dieser Liebe vergesse. Warum sollen wir nicht kämpfen um unser Glück? Ich liebe meinen Mann nicht, habe ihn nie geliebt. In törichter Verblendung wurde ich seine Frau und wußte nicht, was ich tat. Ich will mich von ihm lösen, er muß mich freigeben – und er wird es tun – er ist gut – ich will ihn bitten darum. Und dann – ach, Heinz – dann will ich dir gehören – dir allein – dein Weib will ich mich stolz vor allen Menschen nennen dürfen. Habe nur Mut – wir kämpfen für unsere Liebe.«

Heinz erschrak bis ins innerste Herz über diesen leidenschaftlichen Ausbruch. Mit einem Male war er ernüchtert und sah voll Entsetzen, wohin sich Veras Leidenschaft verirrte. Sie hatte die Absicht, sich von Henrici scheiden zu lassen, um ihn selbst heiraten zu können – das war ihm klar. Aber ebenso klar wurde ihm in diesem Augenblick, daß vor dieser Aussicht sein Rausch in nichts zerstob. Die Leidenschaft für Vera glich trotz allem nur einer schillernden Seifenblase. Sie wurde durch die Furcht vor einem Skandal, durch die Angst, seine Freiheit aufgeben zu müssen, zerstört. Nichts blieb davon übrig, als ein kühler Hauch, der ihn zur Besinnung brachte. Aber ehe er das klar durchdenken und fassen konnte, schmiegte sich Vera in seine Arme und küßte ihn wie eine Verdurstende. Sie sah und hörte nichts als ihn und ahnte nicht, was in ihm vorging. Er faßte sie endlich bei den Schultern und wollte sie fast zurückdrängen.

Aber als er etwas erwidern wollte, schloß sie seinen Mund mit erneuten Küssen. In demselben Augenblick wurde schnell die Tür geöffnet, und Helma trat ein. Sie wurde dunkelrot bei dem Anblick des Bildes, welches sich ihr bot. Die beiden Menschen sprangen erschrocken auf. Heinz wußte: den entsetzten, jammervollen Blick, der ihn aus Helmas Augen traf, würde er so bald nicht vergessen. Mit einer unendlich rührenden, hilflosen Gebärde schlug das junge Mädchen die Hände vor das schamhaft errötete Gesicht. »Der Herr Konsul – er folgt mir auf dem Fuße,« stammelte Helma fassungslos.

Heinz zuckte zusammen und erbleichte. »Fassung – um Gottes willen!« rief er beschwörend und fuhr leise fort: »Gehen Sie hinaus, Vera, hier in das Nebenzimmer, suchen Sie sich zu fassen. So darf uns Ihr Gatte nicht finden, Ihr Zustand verrät alles. Ein Duell ist dann unausbleiblich. Gehen Sie – morgen um fünf Uhr treffen wir uns an der Kettenbrücke im Stadtwald. Dann sprechen wir weiter.«

Sie nickte stumm mit dem Kopf. Am liebsten wäre sie geblieben und hätte sich frei zu ihrer Liebe bekannt. Aber die Angst vor einem Duell machte sie gefügig. Eilig schlüpfte sie an Helma vorüber in das Nebenzimmer und warf sich drüben erschöpft in einen Sessel, angstvoll hinüberlauschend.

Heinz wandte sich schnell an Helma. »Wollen Sie mir helfen?«

Sie nickte hastig, ohne ihn anzusehen. Er war der Bruder Felix Althoffs – um ihn zu retten, hätte sie alles getan. Schweigend und zitternd rang sie nach Fassung. Da trat der Konsul schnell herein und blickte sich mit unruhigem Forschen im Zimmer um. Er sah Helma blaß und zitternd neben der Tür stehen, kaum imstande, sich zu beherrschen, und die Tränen zurückzudrängen. Vor ihr stand Heinz Althoff, ebenfalls mit allen Anzeichen der Aufregung in dem blassen Gesicht.

»Was geht hier vor?« stieß Henrici heraus. »Hier ist etwas geschehen – Sie scheinen mir beide seltsam verstört. – Wo ist meine Frau?«

Helma faßte sich mühsam. »Gnädige Frau wird gleich hier sein,« antwortete sie mit zitternder Stimme. Heinz hatte einen schnellen Entschluß gefaßt. Helmas Verschwiegenheit glaubte er sicher zu sein. Er wollte die Sachlage retten um jeden Preis. Vera durfte nicht bloßgestellt werden.

»Verzeihen Sie, Herr Konsul – Sie haben recht gesehen – wir sind etwas erregt, Fräulein Olfers und ich,« sagte er laut, damit Vera ihn im Nebenzimmer hören konnte. »Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen eine Erklärung gebe?«

Der Konsul sah ihn scharf und mißtrauisch an. »Ich bitte darum.«

Heinz wandte sich an Helma. »Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein – aber ich muß – muß diese Erklärung geben. Herr Konsul – ich habe soeben um Fräulein Olfers' Hand angehalten und bin abgewiesen worden. Das gnädige Fräulein ist also durch meine Schuld in eine peinliche Lage gekommen, und daß ich sehr niedergedrückt bin, werden Sie verstehen.«

Über Henricis Gesicht war es wie ein Leuchten geglitten bei Heinz Althoffs Erklärung. Das also war die Veranlassung zu dessen häufigen Besuchen! Er hatte sich in Helma Olfers verliebt. Und er selbst hatte sich töricht mit allerlei Befürchtungen gequält, hatte sich in eine sinnlose Eifersucht hineingesteigert, so daß es ihn heute zeitiger als sonst nach Hause getrieben hatte!

Ein befreiender Atemzug hob seine Brust. Er schüttelte Heinz heftig die Hand. »Verzeihen Sie, daß ich so störend in Ihre Unterredung hineingefallen bin. Das hab ich nicht gewußt. Ich ziehe mich sofort zurück und suche inzwischen meine Frau auf. Vielleicht hat Fräulein Olfers doch noch nicht das letzte Wort gesprochen.«

Ehe die beiden jungen Leute etwas erwidern konnten, war er hinaus.

Vera hatte seine Worte ebensogut vernommen, wie die von Heinz. Aufatmend schlüpfte sie aus dem Zimmer und trat nach einer Weile etwas bleich, aber scheinbar unbefangen ihrem Mann auf der Treppe entgegen, als ob sie gerade von oben herunterkäme.

Heinz und Helma standen sich eine Weile stumm gegenüber.

»Verzeihen Sie mir, gnädiges –«

Aber ehe Heinz zu Ende gesprochen hatte, kam plötzlich Leben in Helmas Gestalt. Sie hob stumm abwehrend die Hände und ging schnell hinaus.

Als der Konsul eine Weile später mit Vera wieder in den Salon trat, war nur Heinz noch anwesend. Er stand am Fenster und wandte dem Ehepaar sein blasses Gesicht zu, als es eintrat.

»Nun – Sie sind allein?« fragte der Konsul teilnehmend.

»Ja – Fräulein Olfers bleibt bei ihrem Nein. Ich habe nur auf Sie gewartet, um mich Ihnen zu empfehlen. Sie begreifen, daß ich heute nicht in der Stimmung bin ...«

Henrici klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Tut mir leid, aber ich verstehe. Na – Kopf hoch, Heinz Althoff!«

Heinz küßte Vera die Hand. »Gnädige Frau – ich bitte um Verzeihung wegen der Störung.«

»Wir sehen uns wieder,« sagte sie scheinbar in höflicher Ruhe und drückte ihm bedeutungsvoll die Hand.

Er gab den Druck schwach, aber verständlich zurück und entfernte sich schnell.

»Was sagst du dazu, Vera?« fragte Henrici, ohne seine erlöste und gehobene Stimmung zu verbergen.

Sie zuckte die Achseln und sah mit unruhigen Augen hinaus in den dunklen Garten. »Was soll man dazu sagen?«

»Die kleine Olfers hätte sich bedenken sollen. Eine solche Heirat weist man nicht so von sich.«

»Sie muß ja selbst wissen, was sie tut,« antwortete Vera, mit ihren Gedanken völlig abwesend.

Gleich darauf wurde Kommerzienrat Delbrück mit seiner Gattin eingelassen, und dicht hinter ihnen trat Helma wieder in den Salon, um am Teetisch ihren Platz einzunehmen.

»Immer stramm im Dienst und nicht gemuckst,« hatte sie sich gesagt, als sie oben in ihrem Zimmer eine Weile wie betäubt auf dem Diwan gelegen hatte. Die Ereignisse der letzten Stunde waren wie ein Sturmwind über sie dahingebraust. Sie hatte in dem dunklen Zimmer am Fenster gestanden und plötzlich den Konsul durch den Garten kommen sehen. Er mußte zu Fuß gekommen sein, denn ein Wagen hatte nicht am Tor gehalten. Wie ein Blitz durchfuhr es ihre Gedanken: »Jetzt naht das Unheil!« Und ohne sich zu besinnen, war sie in den Salon geeilt. Was dann geschah – es war wie ein wüster Traum an ihr vorübergezogen. Sie wußte nur, es galt ein großes Unglück zu verhüten, und willenlos hatte sie die Verstellung mitgespielt.

Was nun werden sollte – sie fand jetzt keine Antwort darauf.

Das Pflichtgefühl trieb sie empor und hinab in den Empfangsraum hinter den Teetisch.

Henrici trat zu ihr heran.

»Kleines Fräulein – da haben Sie sich eine glänzende Zukunft verscherzt,« sagte er leise in gütigem Tone. »War das nicht ein bißchen voreilig?«

Helma wagte nicht, ihn anzusehen. Sie schämte sich und schüttelte nur stumm den Kopf.

Er sah, daß sie noch ganz fassungslos war, und ließ sie jetzt in Ruhe.

Vorläufig kamen keine weiteren Gäste. Helma saß allein und tatenlos auf ihrem Platz und starrte in das Flämmchen der Teemaschine.

Jetzt erst wurde ihr nach und nach die Bedeutung der letzten Stunde klar. Nun kam es ihr erst zum Bewußtsein, daß dies alles auch auf ihr eigenes Leben Einfluß haben würde. Sie war Zeugin eines Treubruches geworden, hatte deutlich gesehen, daß Vera Heinz geküßt hatte. Sie wußte nun gewiß, daß der Mann, in dessen Hause sie eine Heimat gefunden hatte, von seinem Weibe betrogen wurde. Wenn sie die beiden Schuldigen nicht verraten wollte, mußte sie an diesem Betrug teilnehmen – oder das Haus verlassen, in dem sie sich so glücklich gefühlt, in dem sie nie demütigend ihre Abhängigkeit empfunden hatte.

Ein anderer Ausweg blieb ihr nicht. Also hieß es wieder hinausziehen aus dem sicheren Hafen auf das unsichere, stürmische Lebensmeer. Hinaus und fort von ihm, von Felix Althoff, den sie dann vielleicht nie wiedersah. Ein tiefes, brennendes Weh erfüllte ihre Seele. Mit trüben Augen schaute sie hinüber zu Vera.

Wie ihr wohl zumute sein mußte in diesem Augenblick? Was sie ihr wohl sagen würde morgen, wenn sie allein waren, wenn der Konsul das Haus verlassen hatte –?

Auch Vera konnte nur mit Aufbietung all ihrer Kräfte ihrem Manne und ihren Gästen ein ruhiges Gesicht zeigen. Ihre Gedanken weilten bei Heinz Althoff. Wie ein Taumel hatte sie die Leidenschaft erfaßt und fortgerissen; es war ihr nicht einmal zum Bewußtsein gekommen, daß sie zuerst die Schranken der Selbstzucht durchbrochen, daß sie zuerst Heinz Althoffs Lippen geküßt hatte.

Daß Helma Zeugin dieser Szene geworden war, bekümmerte sie zunächst wenig. Mochte doch alle Welt um ihre Liebe wissen! Mutig wäre sie auch ihrem Manne gegenüber für diese Liebe eingetreten; nur die Angst vor einem Duell hatte sie jetzt gefügig gemacht. Was nun kommen würde, erschien ihr zweifellos. Sie glaubte fest daran, daß morgen die Aussprache mit Heinz alles klarstellen würde. Keinen Augenblick zweifelte sie, daß es ihn beglücken würde, wenn sie ihre Ehe löste, um ihm angehören zu können. Keine Ahnung kam ihr, daß Heinz aufatmend vorhin aus ihrem Hause geflohen war mit der festen Absicht, morgen endgültig mit ihr zu brechen und sie zur Vernunft zu bringen. Glaubte sie sich doch von ihm ebenso schrankenlos geliebt, als sie ihn liebte. Nun das entscheidende Wort zwischen ihnen gefallen war, konnte es ihrer Meinung nach nur noch ein gemeinsames Streben nach Vereinigung geben. Eine neue, beglückende Zukunft winkte ihr an der Seite des heißgeliebten Mannes. Nur heute noch ruhig sein und gefaßt – nur heute noch mußte sie ihre Liebe wie eine Sünde verbergen – morgen, wenn sie mit Heinz gesprochen hatte, dann wollte sie ihren Mann um ihre Freiheit bitten. Wie dieser ihre Eröffnung aufnehmen würde, berührte sie nur wenig. Alles ging unter in der Selbstsucht ihrer Liebe, die wie ein Fieber in ihr brannte und alles unterjochte, was sich ihr in den Weg stellen wollte. – –

Henrici war ahnungslos, welches Unheil über ihm schwebte. Er war heute in einer glücklichen, befreiten Stimmung. Eine schwere Last hatte sich von seiner Seele gewälzt. Er fühlte sich wieder einmal glücklich im unbestrittenen Besitz seines geliebten Weibes. Sein heiter-lebhaftes Wesen machte sich heute geltend. Die nach und nach eintreffenden Gäste fanden eine sehr angeregte Unterhaltung.

Der Konsul kam auch noch einmal zu Helma heran. »Nun, mein liebes Fräulein Olfers, Sie sehen so blaß und niedergeschlagen aus. Es tut Ihnen nun doch wohl leid, den armen Heinz abgewiesen zu haben?«

Sie wurde sehr rot. »Nein – das heißt – ja – es ist – man tut einem Menschen so ungern weh – ich – ich – ach, bitte, Herr Konsul – nicht mehr davon reden, es ist mir peinlich.«

»Gut, gut – ich verstehe wohl. Aber, Kind – denken Sie, ich stehe an Stelle Ihres Vaters vor Ihnen. Ich weiß doch, Sie sind in sehr schwierigen Verhältnissen – und die Firma Althoff hat goldenen Hintergrund. Ich bitte Sie, bedenken Sie das – weiter will ich nichts von Ihnen. Ich meine es gut. Das Leben faßt Sie vielleicht noch härter an als jetzt – da sorgen Sie, daß Sie sich keine Vorwürfe zu machen brauchen.«

Helma empfand seine Güte wie einen Vorwurf. Ganz schlecht kam sie sich vor, daß sie ihn auch jetzt noch betrügen mußte. Es wurde ihr zur Gewißheit in diesem Augenblick, daß sie außerstande sein würde, mit dieser Last auf dem Herzen länger in seinem Hause zu bleiben. Sie sah mit feuchtschimmernden Augen zu ihm auf.

»Ich danke Ihnen – tausendmal. Nie werde ich vergessen, wie gut Sie zu mir gewesen sind.«

Er nickte ihr lächelnd zu. »Das ist wahrlich nicht schwer, kleines Fräulein,« sagte er warm.

Dann ging er einigen neu angekommenen Gästen entgegen. Unter diesen befand sich auch Felix Althoff, den Henrici besonders erfreut begrüßte. »So einen seltenen Gast muß man doppelt ehren,« sagte er erfreut.

Helma hatte Felix sofort erblickt. Es war so viel heute auf sie eingestürmt, daß ihre Nerven einen Augenblick den Dienst versagten. Wie durch einen Schleier sah sie, daß Felix Vera und die anderen Herrschaften begrüßte und dann mit leuchtenden Augen auf sie zukam. Ihr Herzschlag stockte. Sie fühlte, daß sie sich heute nicht lange mehr würde beherrschen können.

Beklommen erwiderte sie seinen Gruß. Es fiel ihr auf, daß er einen entschlossenen Ausdruck in den Augen hatte.

»Darf ich Ihnen ein Weilchen Gesellschaft leisten, gnädiges Fräulein?«

Sie neigte nur stumm das Haupt. Die Tränen saßen ihr im Hals, daß sie nicht sprechen konnte. Felix merkte sofort, daß sie anders war als sonst. Aber trotzdem war er fest entschlossen, heute die entscheidende Frage an sie zu richten. Er ertrug die Ungewißheit nicht länger.

»Was ist Ihnen, gnädiges Fräulein? Sie sehen so bleich und betrübt aus, sind Sie nicht wohl?«

Helmas Blick flog gequält an ihm vorbei ins Leere. »Doch – ich bin ganz wohl.«

»Aber traurig?«

»O nein.«

»Doch, gnädiges Fräulein – ich kenne Sie besser, als Sie glauben. Ihre Augen blicken sonst viel froher und frischer ins Leben. Zürnen Sie mir nicht, daß ich Sie danach frage. Aber Sie wissen, wieviel Sie mir gelten. Und gerade heute – heute liegt mir so viel daran, Sie heiter zu sehen. Helma, liebe Helma – ich habe all meinen Mut nötig, um Ihnen eine Frage vorzulegen, die ich nicht länger hinausschieben kann und will, eine Frage, die ich Ihnen im Herzen schon tausendmal vorgelegt habe. Darf ich es jetzt tun?«

Helma erhob sich zitternd. Ihr Herz wollte aufjubeln, denn sie konnte ihn nun nicht mehr mißverstehen. Aber wie eine graue Wolke legte sich auf ihr Empfinden, was sie vorhin erlebt hatte. Wie eine heiße Angst kam es über sie. Nein – jetzt durfte er die entscheidende Frage nicht an sie richten, heute nicht, da sie ihre Seele mit einem Betrug befleckt hatte, da ein anderer – sein Bruder – im frevlen Spiel gesagt, daß er sie zur Frau begehrt habe. Nein – wie eine Entweihung wäre es ihr erschienen, es konnte ihr kein Glück bringen, wenn sie an diesem Unglückstag über ihr Leben entschied.

Voll hilfloser Angst sah sie ihn an. »Verzeihen Sie, Herr Althoff – ich – ich fühle mich doch nicht wohl – mein Kopf – bitte – bitte – heute nicht – fragen Sie nicht – ich könnte nicht – nicht antworten. Entschuldigen Sie – ich habe Kopfweh – ich will mich zurückziehen – ich fühle mich wirklich nicht wohl.«

Ehe er etwas erwidern konnte, schritt sie hastig durch den Salon zu Vera hinüber, die eben einen Augenblick allein mitten im Zimmer stand.

»Gnädige Frau, gestatten Sie, daß ich mich zurückziehe, ich bin unwohl.«

Vera sah in das blasse, abgespannte Mädchengesicht. Eine düstere Frage lag in ihren Augen. Aber sie sagte nur kurz: »Gehen Sie – morgen sprechen wir miteinander.«

Stolz hielt sie das Haupt erhoben. Nichts von Schuldbewußtsein lag in ihrem Blick. Sie wollte sich nicht vor Helma demütigen. Was sie getan, war sie willens, vor aller Welt zu vertreten. Das Recht ihrer Liebe wollte sie sich nicht schmälern lassen.

Helma neigte nur stumm das Haupt und ging schnell hinaus, ohne noch einmal zu Felix hinüberzusehen. Hätte sie es getan – vielleicht hätte doch ihr Fuß gestockt.

Felix saß bleich und erschüttert noch auf demselben Platz und sah der entschwindenden Gestalt nach wie ein Mensch, dessen Wünschen und Hoffen den Todesstoß erhalten hat. Und so war es auch. Helmas angstvolles, gedrücktes Wesen, ihre hastige, nur zu deutliche Abwehr ließ ihm nur eine einzige Deutung zu. Sie mußte verstanden haben, was er sie fragen wollte, das war gewiß. Und sie hatte ihn hindern wollen, diese Frage auszusprechen, damit sie ihn nicht mit klaren Worten abzuweisen brauchte. O – feinfühlig, wie sie war, hatte sie ihm auf diese Weise zu verstehen gegeben, daß er alle Hoffnung aufgeben mußte. Sie wollte ihn nicht gedemütigt sehen – deshalb floh sie vor seiner Werbung. Einen Krüppel liebt man nicht. – Die Bitterkeit stieg in ihm empor, und tiefe Mutlosigkeit ergriff ihn. Wie Gift fraß sich der Gedanke in seiner Seele fest, daß nur sein krankes Bein ihn ausschloß von den Freuden des Lebens. Vielleicht hätte sie ihn doch lieben können, wenn er, wie seine Brüder, gesunde Gliedmaßen hatte.

Er ahnte nicht, welche Gefühle Helma beseelten. Wie konnte er auch? Wußte er doch nicht, was geschehen war, um das Gleichgewicht dieser sonst so mutigen Mädchenseele zu erschüttern! Aber eins wußte er gewiß: daß er nie mehr den Mut finden würde, ihr seine Liebe zu gestehen, sie um ihre Hand zu bitten. Er faßte ihr Benehmen für eine sehr deutliche Abweisung auf, und er war viel zu feinfühlend, noch einmal darauf zurückzukommen. – –

Helma saß oben in ihrem Zimmer im Dunkeln am Fenster und sah hinaus in die mondhelle Nacht. Schwer lasteten die Ereignisse des Abends auf ihrer Seele und unterdrückten das scheue Glücksempfinden, das immer wieder emporsteigen wollte. Sie hatte Felix Althoffs Worte nicht mißverstanden. Deutlich hatte sie empfunden: du wirst geliebt. Aber sie fühlte sich heute unwert, dieses beseligende Geständnis von ihm zu hören – erst mußte sie dies Haus verlassen haben und so den Betrug sühnen, an dem sie, gleichviel aus welchem Grunde, teilgenommen hatte.

Und dann – dann – sie fuhr plötzlich wie im jähen Schreck empor – was dann – wenn sie hier fortging – wie sollte er sie dann noch fragen können – wie und wo sollte sie ihn wiedersehen? Daran hatte sie gar nicht gedacht ... Sie drückte die Hände auf das Herz. Aber dann lächelte sie wie verträumt. Wenn er sie liebte, wie sie ihn – dann fand er schon den Weg zu ihr. Dieser Gedanke erfüllte sie mit Zuversicht.

Sie wußte ja nicht, daß Felix ihre Entfernung für eine abweisende Antwort gehalten hatte. Aber trotzdem mischte sich, je länger sie saß und grübelte, eine leise Unruhe in ihre Zuversicht. Sie mußte an ein Dichterwort denken: »Was du vom Augenblicke ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit dir je zurück.« In ihrer Bangigkeit drückte sie die gefalteten Hände an die Brust. »Hilf du – Vater im Himmel!«

Am nächsten Morgen, als sich der Konsul in besonders froher Stimmung von seiner Frau verabschiedet hatte, um seinen Geschäften nachzugehen, rief Vera Helma in ihr Zimmer.

Das junge Mädchen sah blaß aus, und in ihrer Haltung lag etwas Unfreies, Befangenes. Vera dagegen bewahrte ihre freie, stolze Haltung. Als sich die beiden Frauen gegenüberstanden, hatte es vielmehr den Anschein, als sei Helma die Schuldige und Vera ihre Richterin.

»Ich habe mit Ihnen zu reden, Helma. Bitte, nehmen Sie Platz – wir brauchen unsere Angelegenheit nicht stehend zu erörtern,« sagte die Konsulin ruhig und bestimmt.

Beide ließen sich nieder. Eine kleine Pause entstand. Endlich sagte Vera, nun doch leicht errötend: »Sie sind gestern Zeugin einer Szene geworden, die nicht für Ihre Augen bestimmt war.«

Helma schlug die Augen nieder. »Ich muß noch nachträglich um Entschuldigung bitten, daß ich so schnell in den Raum trat, aber – ich sah den Herrn Konsul durch den Garten kommen und – und da dachte ich –«

»Nun – was dachten Sie?«

»Eigentlich weiß ich das selbst nicht. Es war nur eine unklare Furcht in mir – ich fürchtete, der Herr Konsul käme Ihnen nicht gelegen.«

Vera stützte den Kopf in die Hand, und ein düsterer, forschender Ausdruck lag in ihren Augen. »Wie kommen Sie dazu, das zu fürchten? Hatten Sie – gelauscht?«

Helma richtete sich hastig auf. Sie blickte fest und ruhig in Veras Gesicht. »Gegen diesen Verdacht verteidige ich mich nicht, gnädige Frau.«

Die Konsulin fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Nein – verzeihen Sie mir – das sollen Sie auch nicht. Aber wie kommen Sie zu Ihrer Befürchtung?«

Helmas Lippen zuckten nervös. »Ich – ach, bitte – erlassen Sie mir die Erklärung, gnädige Frau.«

»Gut – lassen wir das – darauf kommt es auch jetzt wenig an. Ich bitte Sie jetzt, mir zu sagen, was Sie nun mit Ihrer Mitwissenschaft beginnen werden?«

Helma sah sie erstaunt an. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Mein Gott, aus irgendeinem Grunde haben Sie doch schließlich die Rolle des Schutzengels übernommen.«

Helma sah ihr offen und klar in die Augen. »Aus welchem Grunde? Ach, gnädige Frau, ich handelte ganz unmittelbar getrieben und ohne Überlegung. Schon längere Zeit fürchtete ich, daß ein Unheil über diesem Hause schwebe. Und ich habe hier von Ihnen und dem Herrn Konsul so viel Güte erfahren – mir war, als könnte ich Sie beide bewahren vor etwas Schrecklichem, was nicht wieder gutzumachen sei. Aus diesem Grunde habe ich auch dann in Gegenwart des Herrn Konsuls die mir aufgenötigte Verstellung weitergespielt. Ich wußte doch, daß ein Zweikampf unausbleiblich war, wenn der Herr Konsul die Wahrheit ahnte. Daß wir, Herr Althoff und ich, in grenzenloser Verwirrung waren, konnte ihm nicht entgehen. Und wenn er nicht eine ausreichende Erklärung dafür bekam, hätte er weitergeforscht und vielleicht alles erraten.«

Vera sah beschämt aus und streckte Helma hastig die Hand entgegen. »Verzeihen Sie mir – und nehmen Sie meinen Dank. Oder verurteilen Sie mich so hart und erbarmungslos, daß Sie mir die Hand nicht reichen wollen?«

Helma faßte schnell nach ihrer Hand und sah mit feuchtschimmernden Augen zu ihr hinüber.

»Ich weiß, daß Sie sehr unglücklich sind, gnädige Frau.«

Vera seufzte tief auf. »Ja, Kind, wenn man schuldig wird, ist man viel mehr unglücklich als schlecht. Es tut mir sehr leid, daß Sie etwas sehen mußten, was Ihren reinen Sinn verletzte. Aber Sie sollen nicht schlechter von mir denken, als ich bin. Gedankenlos habe ich eine Ehe geschlossen, ohne mein Herz zu fragen. Das hat sich nun gerächt. Es ist etwas über mich gekommen, was mächtiger war als mein Wille. Erst gestern ist es zu einer offenen Aussprache zwischen Heinz Althoff und mir gekommen. Und wir wollen nicht in Lug und Trug weiterleben. Sobald ich mir über die nötigen Schritte klar geworden bin, werde ich mich von meinem Manne trennen. So lange bitte ich Sie, zu schweigen über das, was Sie gesehen.«

»Das bedarf keiner Bitte, gnädige Frau. Ich werde selbstverständlich schweigen, und aus diesem Grunde bitte ich Sie um meine Entlassung.«

Vera sah erschrocken auf. »Sie wollen fort?«

»Das darf Sie nicht wundernehmen, Frau Konsul. Sie können sich denken, daß ich mich durch mein Schweigen eines dauernden Betruges gegen den Herrn Konsul schuldig mache. Und es wäre mir unmöglich, länger zu bleiben und seine Güte zu mißbrauchen. Bitte, gestatten Sie mir, daß ich möglichst bald abreisen darf. Ich bleibe dann bei meiner Mutter, bis ich eine andere Stellung gefunden habe.«

Vera preßte erregt die Handflächen zusammen.

»Das ist hart – das ist hart. Ich vertreibe Sie also sozusagen aus Ihrer Stellung. Das soll der Lohn sein für Ihre Aufopferung? Nein, nein – lassen Sie mich nachdenken – vielleicht findet sich ein Ausweg.«

Helma schüttelte traurig den Kopf. »Das glaube ich kaum, gnädige Frau. Und ich kann dem Herrn Konsul nicht mehr unter die Augen treten, das habe ich gestern abend und heute morgen nur zu deutlich empfunden.«

Vera seufzte tief auf. »Ich kann Sie ja verstehen; es ist schrecklich, wenn man einen Menschen betrügen muß. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, daß Sie das nicht auf sich nehmen wollen. Auch mich verlangt danach, diese Last abzuschütteln. Aber eine kurze Zeit muß ich sie noch tragen. Denn, würde ich jetzt beichten, wäre noch immer ein Zweikampf unausbleiblich. Heinz Althoff muß vorläufig ganz aus dem Spiele bleiben. Und deshalb, wenn Sie wirklich gehen wollen – und lange würde ich Ihrer Dienste ohnedies nicht mehr bedürfen, es wird sich bald alles hier ändern – also wenn Sie jetzt fort wollen, was geben wir meinem Manne für einen Grund an? Verdacht darf er nicht schöpfen.«

Helma sann eine Weile nach, dann sagte sie plötzlich: »Wenn ich sofort nach Hause schreibe, kann morgen von meiner Mutter eine Drahtung eintreffen, daß ich sofort nach Hause kommen soll.«

Vera nickte erleichtert. »Ja, so geht es. Liebe Helma, ich stehe nun mit einem Male in tiefer Schuld bei Ihnen. Wenn ich Ihnen doch meine Dankbarkeit beweisen könnte!«

»O – Sie haben mir so viel Gutes getan. Ich glaube, wir sind quitt,« entgegnete Helma.

Vera erhob sich. »Kind, ich wünsche Ihnen, daß es Ihnen erspart bleiben möge, so vor einem Menschen stehen zu müssen, als ich jetzt vor Ihnen,« sagte sie gepreßt und trat an das Fenster, starr hinausblickend.

Eine Weile herrschte tiefes Schweigen. Helma sah voll Mitleid zu der schönen Frau hinüber. Wie hatte sie dieselbe oft beneidet um allen Glanz, der sie umgab – heute hätte sie nicht mit ihr tauschen mögen, um keinen Preis. Langsam erhob sie sich und trat neben Vera: »Darf ich mich jetzt entfernen, Frau Konsul? Ich möchte sofort nach Hause schreiben.«

Vera wandte sich nach ihr um. »Eilt es Ihnen so sehr, aus meiner Nähe zu kommen?« fragte sie bitter.

»Nicht aus Ihrer Nähe – aber ich möchte nicht länger als unbedingt nötig mit dem Herrn Konsul zusammen sein. Und wenn ich nicht sofort schreibe, kann das Telegramm morgen nicht mehr eintreffen.«

Vera winkte ihr zu. »So gehen Sie, liebe Helma. Und noch einmal – herzlichen Dank! Vielleicht kann ich etwas für Sie tun, damit Sie bald eine gute Anstellung bekommen. An meiner Fürsprache soll es nicht fehlen.«

Helma verneigte sich dankend und ging schnell hinaus. Trotz ihres Mitleides mit Vera war ihr in deren Gegenwart sehr beklommen zumute. Das war nicht Pharisäertum, sondern die angeborene Scheu der Unschuld vor der Schuld. Und schuldig war Vera in ihren Augen, wenn sie ihr auch ihre Teilnahme nicht versagen konnte.

Nachdem sich Helma entfernt hatte, ging Vera unruhig im Zimmer auf und ab. Wieder und wieder sah sie nach der Uhr. Die Zeit schien stillzustehen. Endlos lange Stunden mußten noch vergehen, bis sie Heinz wiedersah. »Um fünf Uhr an der Kettenbrücke im Stadtwald,« hatte er gesagt. Ob er auch so ungeduldig diese Stunde herbeisehnte?

Wie sprachlos er gewesen war, als sie ihm sagte, daß sie sich von ihrem Manne trennen wollte, um ihm angehören zu dürfen. Stumm hatte ihn die Erkenntnis gemacht, wie groß und stark ihre Liebe war. Ach – wie hatte er nur einen Augenblick zweifeln können, wie nur den Gedanken fassen, daß sie voneinander lassen konnten? Lieber wollte sie alles andere erdulden, als verbannt sein aus seiner Nähe. Nicht mehr in seine zärtlichen, sonnigen Augen sehen, nicht mehr die geliebte, warme Stimme hören, das frische, übermütige Lachen – nein, das wäre der Tod für sie, schlimmer als der Tod ...

Leicht würde es nicht sein für sie, sich ihr Glück zu erkämpfen. Das Schlimmste war, sich von ihrem Manne zu lösen. Es würde ihr wehe tun, ihm Schmerz zu bereiten. Sie hatte nichts als Liebe – immer nur Liebe und Güte von ihm erfahren. Jeden Wunsch hatte er ihr von den Augen abgelesen, immer nur das getan, was ihr Freude machte. Es würde bitter sein, ihm sagen zu müssen: »Gib mich frei, ich kann nicht mehr an deiner Seite leben, ich liebe dich nicht und kann dir nicht länger angehören!« Er würde sehr unglücklich sein, würde versuchen, sie umzustimmen. Sie durfte nicht sagen, daß ihr Herz einem andern gehörte – sonst schöpfte er schließlich doch Verdacht, und es kam noch zu einem Zusammenstoß zwischen ihm und Heinz. Das durfte nicht sein – um keinen Preis.

Wenn sie dann frei war, nach langer, ach, viel zu langer Zeit, – solch eine Scheidung währte eine kleine Ewigkeit – dann war er schon ruhiger geworden, und dann konnte er Heinz nichts mehr anhaben. Nur erst innerlich frei sein, nur erst seine Einwilligung zur Scheidung haben, – er mußte sie geben, – sie würde inständig darum bitten, und er würde sich erweichen lassen. Und wenn nicht, dann verließ sie ihn dennoch – sie konnte nicht bei ihm bleiben. Zu mächtig zog sie ihr Herz zu dem Geliebten, der ihre Seele erweckt hatte aus einem stumpfen, gleichgültigen Dasein.

Wenn doch erst die Stunde des Wiedersehens geschlagen hätte! Wie er ihr danken würde für ihre Liebe, wie er glücklich sein würde, daß sie ihm angehören, vereint mit ihm um ihre Liebe kämpfen wollte. Welch ein großes Glück war es gewesen, daß Helma durch ihr Eintreten eine schlimme Wendung verhütet hatte! Sonst, – o mein Gott! – sonst ständen sich wohl heute schon die beiden Männer mit der Waffe gegenüber, und wer auch fiel – es wäre vorbei gewesen mit Glück und Liebe. Sie wollte es Helma danken mit jedem Atemzug, wollte alles tun, was in ihrer Macht lag, um sie schadlos zu halten für alles, was ihr verloren ging. Irgendein Weg würde sich finden, etwas für sie zu tun, ohne daß sie erfuhr, warum es geschah. Wenn nur erst diese furchtbaren Stunden der Erwartung vorübergehen wollten, wenn sie nur erst mit Heinz alles besprochen haben würde, was ihr noch auf dem Herzen lag ...

Wenige Minuten vor fünf Uhr schritt Vera in einer schlichten Straßentoilette mit schnellen Schritten durch den Stadtwald. Sie hatte nicht weit zu gehen bis zu dem Fluß, der den Wald quer durchschnitt. Die Kettenbrücke verband die beiden Flußufer und wurde nur von Fußgängern benutzt.

Vera begegnete niemand. Nur einige Arbeiter waren beschäftigt, Bäume und Sträucher zu beschneiden.

Die frisch aufgeworfene Erde strömte einen herben, würzigen Duft aus. Schüchterne Blattspitzen lugten aus den schützenden Knospenhüllen hervor. Wie ein Hauch des Werdens, wie ein geheimnisvolles Treiben und Drängen lag es in der Luft. Die Sonne schien nicht an diesem Tage; es war kühl und feucht, als wenn der vertriebene Winter noch einen kalten Abschiedsgruß zurückgeschickt hätte.

All das beachtete Vera nicht. Sie bemerkte nur befriedigt, daß das kühle Wetter alle Spaziergänger nach Hause getrieben hatte. Nachdem sie an der Gruppe der Arbeiter vorüber war, begegnete ihr kein Mensch mehr. Immer schneller schritt sie aus und war schon eine Minute vor fünf Uhr am Platze. Heinz Althoff war schon zur Stelle. Veras Herz schlug ihm jubelnd entgegen. Alles vergaß sie über seinem Anblick. »Die Ungeduld hat ihn vor der Zeit hergetrieben,« dachte sie glücklich. Aber sie wußte nicht, daß diese Ungeduld einen ganz anderen Grund hatte, als sie glaubte. Nicht die Liebe hatte Heinz hierhergetrieben, sondern die Angst und der Wunsch, Vera von einem unbesonnenen Schritt zurückzuhalten.

Mit beflügelten Schritten eilte Vera an seine Seite und sah ihn mit flammenden Augen an. Sie faßte mit jähem Druck die Hand, die er ihr entgegenstreckte, und zog sie an ihr wildklopfendes Herz.

»Endlich – ach endlich – bin ich bei dir, hab dich wieder,« stammelte sie, außer sich vor Erregung, und lehnte sich zitternd an seinen Arm.

Er sah sehr blaß und ernst aus und blickte unsicher an ihr vorbei. »Vorsicht, Vera – ich bitte dich,« bat er unruhig.

Sie schüttelte ungestüm den Kopf. »Sprich nicht von Vorsicht in diesem Augenblick, ich kann jetzt nichts denken, als daß ich bei dir bin! Es ist ja auch kein Mensch hier im Walde. Nur ein paar Arbeiter, die uns hier nicht sehen können.«

»Wird dir niemand folgen von Hause?«

»Nein, nein, es weiß niemand, daß ich fort bin.«

»Auch Fräulein Olfers nicht?«

»Vor ihr brauchen wir keine Angst zu haben, selbst wenn sie es wüßte. Ihres Schweigens bin ich sicher – ich habe mit ihr gesprochen.«

Er biß auf seiner Lippe herum und sah noch immer forschend umher.

»Heinz, sieh mich doch an – wir sind wirklich ganz allein. Ach – wie hab ich mich nach diesem Augenblick gesehnt! Nun sag mir doch noch einmal, daß du mich liebst, daß wir gemeinsam um unser Glück kämpfen wollen,« bat sie leise. Sie drängte sich dicht an ihn heran.

Er trat hastig zurück. »Vera, ich bitte dich, sei vernünftig; du bist erregt, weißt nicht, was du tust. Es kann dein Ernst nicht sein, dich von Henrici zu trennen. Bedenke, was du auf dich nehmen willst; es kann ja nicht sein!«

Sie umklammerte seinen Arm und sah ihn mit liebevollem Lächeln an. »Du zweifelst an der Größe meiner Liebe. Ach, Heinz – es gibt keine Bedenken mehr bei mir. Alles hab ich bedacht – so oft. Nun bin ich entschlossen. Hab keine Angst, daß ich wieder wankelmütig werde. Ich kann und will Henrici nicht mehr angehören, frei will ich mich machen und deine Frau werden. Ist dies nicht ein Glück, jeden Einsatzes wert?«

Er sah besorgt in ihr glühendes Gesicht und fühlte, wie sie vor Aufregung an allen Gliedern zitterte.

»Vera – über die Liebe geht die Pflicht,« sagte er unsicher, selbst wissend, wie nichtssagend jetzt diese Worte waren. Sie sah ihn erschrocken an.

»Die Pflicht – du sprichst von Pflicht, jetzt, in diesem Augenblick, da meine Seele dir befreit entgegenjauchzt! Heinz – Heinz – laß doch alle Bedenken fallen.«

Er blickte stumm und bedrückt über den dunkel dahingleitenden Fluß, an dessen Uferböschung sie standen.

»Heinz,« bat sie noch einmal mit jäh erwachter Angst und preßte seinen Arm wild und fest an sich. Er hätte in diesem Augenblick etwas darum gegeben, wenn er Vera Henrici nie gesehen hätte. Sie tat ihm leid. Mit Erschrecken erkannte er schon gestern die Größe ihrer Leidenschaft. Das hatte er nicht gewollt. Das leichtfertige Getändel mit ihr nahm eine Wendung, die er nicht geahnt hatte, sonst wäre er ihr sicher ferngeblieben. Voll Bangigkeit sah er, wie es in ihr tobte und stürmte. Bedrückt stand er vor ihr und gestand sich beschämt ein, daß er eines so großen Gefühls gar nicht wert sei. Stets hatte er seine eigenen Gefühle in kleiner Münze ausgegeben und kleine Münze dafür eingetauscht. Jetzt wollte sich ein Weib ihm schenken mit all der ungeteilten Leidenschaft ihres Wesens, und er fühlte sich unfähig, dieses Geschenk anzunehmen oder gar zu erwidern. Das Mitleid mit ihr marterte ihn, er kam sich klein und erbärmlich vor, aber keinen Augenblick dachte er daran, auf ihre Wünsche einzugehen. Alles, was er für sie empfunden hatte, war Strohfeuer gewesen, welches gestern abend jäh erloschen war, als sie davon sprach, sich von ihrem Manne trennen zu wollen, um ihm angehören zu können.

Vorher war ihm nicht zum Bewußtsein gekommen, daß es ehrlos war, den Frieden einer Ehe zu stören. Wie vielen jungen Männern seiner Art, galt es ihm für schneidig und reizvoll, den Frauen anderer Männer den Hof zu machen. Jetzt plötzlich sah er sein Verhalten in einem anderen Licht. Ernüchtert erkannte er, welch gefährliches Spiel er getrieben. Die Lage, in der er sich befand, war nicht beneidenswert. Er mußte die erregte Frau beruhigen und sie um jeden Preis davon überzeugen, daß sie an seiner Seite das gehoffte Glück nicht finden würde, dann würde sie sich hoffentlich bestimmen lassen, ruhig in das Haus ihres Gatten zurückzukehren.

Glücklicherweise hatte die kleine Olfers durch ihren Eintritt ein Unglück verhindert. Das würde er ihr nie vergessen. Und keinesfalls wollte er sich nun noch zu einer neuen Torheit verleiten lassen.

Er sah in Veras angstvoll bittende Augen. »Jetzt muß ich fest und hart sein – das ist der einzige Weg, sie zu heilen,« dachte er. Dann sagte er laut: »Vera, wir haben uns verrannt in eine Leidenschaft, die wir unbedingt bekämpfen müssen. Was Sie von mir fordern, kann ich unmöglich tun. Sie haben die Tiefe meiner Liebe überschätzt – ich bin es gar nicht wert, daß Sie so viel Liebe an mich verschwenden. Entschuldigen will ich mich nicht – ich gestehe ganz offen, daß ich nichts gewollt habe als eine harmlose Liebelei. Ich habe Ihrer Schönheit meine Bewunderung gezollt, sonst nichts. Einer solchen Liebe, wie Sie sie von mir fordern, bin ich gar nicht fähig. Es wäre schlecht von mir, wollte ich Sie von der Seite eines Mannes reißen, der Sie liebt. Ich könnte Ihnen keinen Ersatz dafür bieten. Glauben Sie mir, es wird mir schwer, so zu Ihnen zu sprechen. Aber nur rückhaltlose Wahrheit kann Sie überzeugen. Vergessen Sie mich, und wenn der Rausch verflogen ist, wenn Sie wieder klar sehen, werden Sie erkennen, daß Ihre Liebe einem Trugbild gehörte, nicht dem leichtsinnigen, oberflächlichen Heinz Althoff, der eine tiefe Frauenliebe gar nicht verdient, weil er eines großen Gefühls nicht fähig ist.«

Er schwieg bestürzt. Veras Gesicht hatte sich mit leichenhafter Blässe bedeckt. Ihre Hände glitten kraftlos von seinem Arm herab. Ein irres Leuchten zuckte in ihren Augen auf. Sie taumelte zurück und streckte die Hände abwehrend aus.

»Ein Rausch – verflogen – ein Trugbild,« lallte sie kaum verständlich. Und dann weiteten sich ihre Augen plötzlich. Wie wahnsinnig blickte sie um sich. Auf dem ruhig dahingleitenden Fluß blieb ihr Blick haften. Sie riß sich von diesem Anblick los und sah ihn noch einmal an. »Du liebst mich nicht, Heinz Althoff?« fragte sie plötzlich starr, ausdruckslos, mit erloschener Stimme.

Er hoffte schon, daß sie ruhiger würde. »Wahrheit ist Medizin für sie,« dachte er und antwortete laut und klar: »Nein.«

Da lachte sie schrill und schneidend auf, und ehe er nur ahnte, was sie vorhatte, war sie mit einigen wilden Sätzen über die Böschung in den Fluß gesprungen. Das tiefe, dunkle Wasser schlug über ihr zusammen, als wollte es seine Beute nie mehr an das Licht emporlassen.

Heinz taumelte zurück wie vom Schlage getroffen. Schnell riß er seinen Rock herunter, warf den Hut in weitem Bogen von sich und rief, so laut er konnte, nach den Arbeitern, daß sie ihm zu Hilfe kommen sollten. Dann stürzte er sich Vera nach in die Fluten. Als er wieder emportauchte, um nach ihr Umschau zu halten, sah er, daß der Fluß sie abwärts getrieben hatte. Schnell schwamm er ihr nach, aber ehe er sie erreichte, war sie wieder im Wasser verschwunden. Wieder tauchte er unter, um sie zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Angstvoll, mit Anwendung aller Kraft schoß er vorwärts. Dabei lauschte er, ob Hilfe nahte. Noch einmal rief er laut nach dem Wald hinüber, um die Arbeiter aufmerksam zu machen. Eine namenlose Furcht befiel ihn, daß er das Rettungswerk nicht allein vollbringen könnte.

Wieder sah er Vera eine Strecke weiter auftauchen. Mit wilder Kräfteanspannung schoß er auf die Stelle zu, und im letzten Augenblick, als sie von neuem versinken wollte, faßte er ihr Kleid. Zum Glück war sie bewußtlos geworden und konnte sich nicht zur Wehr setzen. Langsam kam er mit ihr vorwärts. Die Strömung hinderte ihn, und ihr Körper war schwer.

Glücklicherweise hatten die Arbeiter seine Hilferufe gehört. Sie kamen im Laufschritt herbei, als Heinz sie nochmals anrief. Es war gut, daß sie ihm helfen konnten; Veras leblose Gestalt an der steilen Uferböschung emporzuziehen, war nicht leicht. Allein hätte er das Rettungswerk kaum vollenden können. Endlich war Vera geborgen, und nun schwang auch er sich aus dem Wasser. Ohne auf seine nassen Kleider zu achten, kniete er neben Vera nieder und horchte auf ihren Herzschlag.

»Gottlob – sie lebt,« sagte er inbrünstig vor sich hin. Dann wandte er sich hastig an die Leute.

»Die Dame ist verunglückt – ich sah, wie sie ausglitt und in den Fluß fiel. Kennt sie einer von euch, ihr Leute?«

Ein alter Mann schob nickend die Mütze zurück. »Wohl, wohl – ist die Frau vom italienischen Konsul, der drüben in der Tauchnitzstraße die schöne Villa hat. Ich sah sie vorhin durch den Wald gehen.«

Heinz atmete auf. Der Schein, als ob er Vera fremd wäre, konnte gewahrt bleiben.

»Kennt ihr mich, Leute?«

»Nein, Herr.«

»Wer von euch weiß einen Arzt in der Nähe?«

»Ich, Herr!«

»Dann lauft, Mann, bestellt den Arzt nach der Villa der Dame. Und dann faßt an, ihr andern, tragt die Verunglückte nach Hause, ist ja nicht weit, nicht wahr?«

»Fünf Minuten, Herr.«

»Gut. Hier ist Geld – teilt es euch. Aber nur schnell – so schnell ihr könnt. Und vermeidet alles Aufsehen.« Er schüttete den Inhalt seines Geldbeutels in die schwieligen Arbeiterhände.

Die Leute gingen eifrig ans Werk. Der reichliche klingende Lohn hatte sie angefeuert. Der eine rannte nach dem Arzt, die anderen hoben Veras Körper empor und trugen ihn, so schnell es ging, davon.

Heinz hatte hastig seinen Überrock angezogen und schritt hinter ihnen her, Veras Kopf sorglich stützend. Erst am Waldrand blieb er zurück. Hinter einem Busch verborgen, überzeugte er sich, daß Vera sofort von der erschreckten Dienerschaft in Empfang genommen wurde. Gleich darauf sah er den anderen Arbeiter mit dem Arzt ankommen. Aufatmend wandte er sich nun zum Gehen.

Nach einer Weile blieb er jedoch stehen und nahm eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche. Darauf schrieb er mit Bleistift schnell ein paar Worte: »Verehrtes gnädiges Fräulein! Ich bitte Sie inständig um sofortige Nachricht, wenn Frau Konsul das Bewußtsein zurückerlangt hat. Ich kann mich an niemand sonst wenden und vertraue Ihrer Verschwiegenheit. Ihr ewig dankbarer Heinz Althoff.«

Diese Karte wickelte er in ein Blatt seines Notizbuches, klebte es mit Briefmarken zu und schickte einen Dienstmann, der an der Ecke der Tauchnitzstraße stand, mit diesem Briefchen an Fräulein Helma Olfers. Dann erst warf er sich an der nächsten Droschkenhaltestelle in einen Wagen und fuhr nach Hause. –

Helma kam eben die Treppe herab und wollte durch die Vorhalle nach dem Speisezimmer gehen, wo sie zu tun hatte, als sie bemerkte, daß die breite Tür nach dem Garten offenstand. Das war sonst nie der Fall. Befremdet blickte sie hinaus und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein seltsamer Zug bewegte sich in tiefem Schweigen auf dem breiten Hauptweg vom Gartentor auf das Haus zu. Sie erkannte einige Leute von der Dienerschaft und fremde Arbeiter, die eine schwere Last zu tragen schienen.

Helma blieb wie gelähmt stehen – jetzt kamen die Leute die breite Sandsteintreppe herauf, – und nun sah sie mit einem Male, was da so schweigsam herbeigetragen wurde. Sie flog erschreckt den Leuten entgegen.

»Was ist geschehen?« stammelte sie, blaß bis in die Lippen, und sah entsetzt in Veras stilles Gesicht, das von dem nassen Haar umrahmt war.

Die Arbeiter berichteten, wie sie Heinz und Vera gefunden und was ihnen der fremde Herr gesagt hatte.

Helma faßte sich schnell. Hier galt es zu handeln, da war sie die tapfere, zielbewußte Soldatentochter.

»Schnell einen Arzt!« gebot sie dem zunächststehenden Diener.

»Der wird gleich hier sein, Fräulein,« sagte der alte Arbeiter, welcher vorhin die Konsulin erkannt hatte. »Der junge Herr, der die Dame aus dem Wasser geholt hat, schickte gleich einen von unseren Kameraden zu einem Arzt.«

Helma gebot den Arbeitern, Vera auf den Teppich niederzulegen, und wies dann die Dienerschaft an, ihre Herrin behutsam in ihr Schlafzimmer zu tragen. Dann trat sie noch einmal dicht an die Arbeiter heran.

»Wer war der Herr, der die gnädige Frau rettete?«

»Das wissen wir nicht.«

»Wie sah er aus?«

»Nun, es war ein großer und hübscher Herr mit braunem Schnurrbart. Trug einen sehr feinen Paletot mit seidenem Futter. Er hat uns sehr viel Geld –«

Ein anderer fiel ihm dann in die Rede. »Was denn, Meier, was willste denn? Natürlich hat er uns eine gute Belohnung versprochen, wenn wir die Verunglückte hierhertragen.« Er blinzelte seinen Kameraden schlau an.

Helma durchschaute zwar das Manöver, aber sie lohnte trotzdem die Leute reichlich ab. »Wo ist denn der Herr geblieben?« fragte sie noch.

»Er ist bis an den Waldrand mitgegangen – dann blieb er stehen und schaute uns nach, so naß wie er war.«

Helma war eine Ahnung gekommen, die der Wahrheit sehr nahe lag. Sie hütete sich jedoch, ihre Vermutung laut werden zu lassen. Sie gebot den Leuten, sich zu entfernen. In dem gleichen Augenblick traf der Arzt ein. Helma führte ihn hinauf in Veras Schlafzimmer, wo die Leute eben die Bewußtlose auf den Diwan legten. Mit Hilfe von Veras Zofe entkleidete Helma die Konsulin. Tränen tiefen Mitleides rannen ihr über die Wangen, als sie den tiefen Schmerzenszug in deren blassem Gesicht sah.

Auf Befehl des Arztes, der sofort Wiederbelebungsversuche anstellte, mußten sie den erstarrten Körper mit warmen Tüchern reiben und ihn dann in wollene Decken hüllen.

Emsig und lautlos schafften die drei Menschen, bis der Arzt Einhalt gebot und lange auf den schwachen Herzschlag lauschte. Dann flößte er Vera etwas starken Wein ein und half sie in das erwärmte Bett legen. Helma rieb sanft und lind das lange nasse Haar, aus dem noch immer die Feuchtigkeit troff.

Die Zofe räumte die nassen Kleider hinaus, und als sie wieder hereinkam, brachte sie das seltsame Briefchen mit, welches ein Dienstmann für Helma abgegeben hatte. Als diese die Karte gelesen hatte, wußte sie, daß es Heinz Althoff war, der die Konsulin gerettet hatte. Ihre Ahnung hatte sie nicht betrogen. Und nun wußte sie auch, daß Vera freiwillig in den Tod hatte gehen wollen, wenn sie auch nicht verstand, was sie dazu getrieben hatte. Sicher hing es jedoch mit Heinz Althoff zusammen. Sie verbarg das Schreiben mit dem festen Vorsatz, nichts von ihrer Vermutung zu verraten und Heinz Althoff heimlich Nachricht zu senden, sobald Vera außer Gefahr war. Da sie nun ohnehin in allerlei Heimlichkeit verstrickt war, kam es auf etwas mehr oder weniger auch nicht an.

Wenige Minuten später traf der Konsul ein. Helma hatte ihn sofort telephonisch von einem Unfall seiner Frau in Kenntnis setzen lassen. Wie gejagt von Angst war er nach Hause geeilt und trat nun erschüttert, mit bleichem Gesicht an Veras Lager.

»Was ist geschehen?«

Helma gab ihm Auskunft. Sie sagte etwas von einem Spaziergang der gnädigen Frau und daß sie wohl an dem feuchten Ufer ausgeglitten und in das Wasser gestürzt sei. Ein fremder Herr habe sie gerettet. So hätten die Leute berichtet, die sie gebracht.

Henrici sah Helma mit einem durchdringenden Blick an, als ob er sie fragen wollte: »Glaubst du das?« Sie sah errötend zur Seite. Da fiel er wie gebrochen in den Stuhl, der neben Veras Lager stand, und starrte in düsterer Frage auf das bleiche Gesicht seiner Frau.

Der Arzt sprach beruhigende Worte. Lebensgefahr sei unmittelbar nicht mehr vorhanden. Die tiefe Ohnmacht sei nicht weiter besorgniserregend. Natürlich sei eine Erkältung nicht ausgeschlossen bei dem kühlen Wetter.

Der Konsul nickte nur stumm mit dem Kopfe. Er konnte nicht an einen Unfall glauben und sträubte sich doch, etwas anderes anzunehmen. Unfähig, klar zu denken, sah er nur immer in das stille, schmerzliche Gesicht.

»Warum? Warum?« Diese Frage ließ ihn nicht los und erfüllte ihn so ganz, daß für etwas anderes nicht Raum war in seiner Seele.

* * *

Kurze Zeit darauf, als sich Heinz Althoff von Hause entfernt hatte, um mit Vera an der Kettenbrücke zusammenzutreffen, kehrte Robert Althoff von seiner Reise nach Berlin zurück. Er suchte sofort seine Eltern auf, die zufällig zusammen im Wohnzimmer weilten. Nachdem er sie in seiner etwas gemessenen Weise begrüßt hatte, teilte er ihnen mit, daß er sich in Berlin mit der Tochter eines Geschäftsfreundes seines Vaters verlobt habe.

Milchen war vor Überraschung ganz außer sich. Zunächst weinte und lachte sie in einem Atem und umarmte ihren Ältesten wieder und wieder. Auch Karl Althoff war hocherfreut, denn abgesehen von allem andern wußte er, daß Robert eine glänzende Heirat machte. Die junge Dame war die einzige Tochter reicher Eltern. Er klopfte seinem Sohn wohlgefällig auf die Schultern und schüttelte ihm fest die Hand: »Das muß ich sagen, Robert, du hast auch in dieser Frage eine gute Hand gehabt. Fräulein Weitzner ist nicht nur ein sehr schönes und kluges Mädchen, sondern es stimmt auch sonst alles. Na, Milchen, nun beruhige dich doch erst einmal, bist ja ganz aus Rand und Band.«

»Lieber Himmel – lieber Himmel – Karl, das ist doch auch – denk doch nur – eine Schwiegertochter ins Haus! Nun erzähle doch nur, Robert – ach Gott, ach Gott, daß ich sie so gar nicht kenne, deine Braut – und so gar nichts hast du mir gesagt! Liebst du sie denn schon lange? Deshalb hattest du fortwährend in Berlin zu tun! Nein, daß du mir nicht eher etwas verraten hast! So erzähle doch nur, Junge, du mußt mir doch alles ausführlich berichten!«

Robert drückte die erregte Frau lachend in einen Sessel. »Läßt mich ja nicht zu Worte kommen, Mutter. Da – hier hast du erst mal ihr Bildnis – das hat mir Trudi für dich mitgegeben.«

»Trudi heißt sie – ach, lieber Gott – wo ist denn meine Brille – ich hatte sie doch eben noch.«

Robert reichte ihr dieselbe, die auf einem Stoß Zeitungen lag. Mit zitternden Händen rückte sich Milchen die Brille zurecht und hielt das Bild vor die Augen. Stolz blickte sie auf die vornehme und sehr hübsche junge Dame.

»Sieh nur, Karl – ach so – du kennst sie ja schon – ein schönes, stattliches Mädchen – ihr werdet ein prächtiges Paar abgeben. Und so vornehm sieht sie aus – ach, lieber Gott, Robert, – wenn sie nur nicht zu vornehm für uns ist.«

»Aber, Mutter!«

Karl Althoff lachte. »Milchen, der Vater unserer künftigen Schwiegertochter hat sich, gleich mir, aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet. Und die Mutter ist eine schlichte Bürgersfrau wie du. Also hab keine Bange. Roberts Braut selbst hat freilich eine sogenannte feine Erziehung genossen mit französischer Pension und allem Tralla. Aber unser Robert ist ja auch ein gutes Teil vornehmer als wir selbst. Ich glaube, die beiden jungen Leute passen sehr gut zueinander, und das ist doch die Hauptsache, nicht wahr?«

»Ja, ja, das ist die Hauptsache,« gab Milchen zu, aber sie sah ein bißchen verzagt auf das Bild herab. Ohne daß sie es sich eingestand, war sie ein wenig enttäuscht. Diese schöne, vornehme junge Dame würde sich schwerlich von ihr hätscheln und liebkosen lassen, so, wie sie sich das immer wünschte. So ein liebes, anschmiegendes, zärtliches Töchterchen würde diese stolze junge Dame gewiß nicht sein.

»Aber die Hauptsache ist doch, daß sie meinen Robert liebt und glücklich macht,« dachte sie, sich selbst beschwichtigend.

Aufmerksam hörte sie zu, wie die beiden Herren nun über die Verlobung und die beiderseitigen Verhältnisse sprachen. Dabei sah sie immer wieder auf das Bild, das sie krampfhaft in der Hand behielt. Robert hatte gewählt, wie es seinem Charakter entsprach. Reiflich hatte er erst Für und Wider erwogen, ehe er das entscheidende Wort sprach.

Nachdem er zu Milchens Zufriedenheit alles so ausführlich wie möglich geschildert hatte, fragte diese plötzlich: »Wissen denn deine Brüder darum?«

»Nein, Mutter, ihr solltet natürlich die ersten sein, denen ich meine Verlobung verkündete.«

»Dann müssen wir doch die Jungens heraufrufen.«

Das geschah auch. Aber nur Felix folgte dem Rufe, da Heinz ausgegangen war. Er beglückwünschte den Bruder herzlich und bekämpfte männlich das wehmütige Gefühl in seiner Brust. Wie glücklich hätte auch er sein können, wenn Helma ihm gestern abend nicht so deutlich gezeigt hätte, daß sie seiner Werbung auszuweichen wünschte! Er war nun ganz fest überzeugt, daß sie ihn nicht liebte und ihm nicht angehören wollte. Er wußte nun auch, daß er nie mehr den Mut haben würde, einem Mädchen die Frage vorzulegen, ob sie ihn liebe. Das war vorbei.

Eine Weile blieb er bei Robert und den Eltern. Dann verabschiedete er sich, um wieder seinen Geschäften nachzugehen.

»Felix, wo steckt denn Heinz?« fragte Frau Althoff.

»Hat wohl einen Geschäftsgang gemacht, Mutter.«

»Schick ihn nur gleich herauf, wenn er kommt, hörst du? Robert muß uns noch ein bißchen erzählen, bis er da ist.«

»Ja, Mutter, ich sage es ihm sofort.« Langsam ging Felix hinaus. Als er durch die Korridortür in das Treppenhaus trat, sah er Heinz schnell an sich vorübergehen.

»Heda, warte ein Weilchen, ich hab dir etwas zu sagen, Heinz!«

Dieser wandte sich hastig nach Felix um und hielt die Finger auf den Mund. »Still, es soll mich niemand sehen!«

Felix erschrak. Erst jetzt sah er, daß Heinz sehr bleich und verstört aussah. Und nun bemerkte er auch seine durchnäßten Kleider. »Heinz, was ist geschehen? Wie siehst du aus? Die Zähne klappern dir ja vor Frost. Wie kommst du zu den nassen Kleidern?«

»Frag jetzt nicht so viel, Kleiner. Komm mit herauf in mein Zimmer. Erst muß ich die nassen Sachen vom Leibe haben. Ist ein verwünscht ungemütlicher Zustand. – Und leise, daß Milchen uns nicht hört. Sie hat den Tod davon, wenn sie mich so sieht.«

Leise stiegen sie die Treppen empor und verschwanden in Heinz' Zimmer. Felix half ihm schweigend beim Umkleiden.

»Willst du nicht lieber zu Bett gehen, Heinz?« fragte er.

»Nein, nein – es darf auch kein Mensch erfahren, daß ich in diesem nassen Zustand nach Hause kam, hörst du? Die Sachen müssen wir verbergen, Milchen darf sie nicht sehen. Dort drüben im Schrank steht eine Flasche Bordeaux – schenk mir mal ein Glas voll – aber gleich ein Wasserglas – ich muß von innen einheizen. Verwünscht, diese Kälte!« Er schauerte zusammen.

Felix sah ihn besorgt an und erfüllte schnell seinen Wunsch.

Heinz trank das Glas in einem Zuge leer.

»Noch einmal!« bat er, Felix das geleerte Glas hinhaltend.

Der füllte es von neuem, und Heinz trank es wieder leer.

Dann warf er sich erschöpft auf den Diwan und zog eine Decke über sich.

Schweigend legte Felix noch ein Plaid darüber und setzte sich neben seinen Bruder. Wie eine gute Mutter strich er ihm über das feuchte Haar.

Heinz sah mit großen, starren Augen zu ihm auf. »Nun kannst du fragen, Kleiner.«

»Werde nur erst warm. Die Zähne schlagen dir immer noch im Frost zusammen.«

»Gib mir noch ein Glas Wein!«

Felix füllte den Rest der Flasche in das Glas und reichte es ihm. Als es Heinz geleert hatte, stützte er sich auf den Ellenbogen und atmete tief auf.

»Jetzt wird mir etwas menschlicher zumute. Und nun will ich beichten, Kleiner. Einem Menschen muß ich anvertrauen, was über mich hereingebrochen ist. Deine Warnung kam zu spät – jetzt ist es doch zu einem Unglück gekommen.«

Felix erschrak. »Mit der Konsulin?«

Heinz nickte. »Ja, mit ihr. Nun höre mich an – aber zuvor dein Wort – kein Mensch darf davon erfahren.«

»Ich schweige,« sagte Felix einfach.

Nun erzählte Heinz in fliegender Eile alles, was sich seit gestern abend zugetragen hatte. Felix unterbrach ihn mit keinem Wort, nur als Heinz von dem Sprung Veras in den Fluß berichtete, zuckte er zusammen. Helmas Eingreifen in die Szene am vergangenen Abend hatte Heinz nur flüchtig geschildert. Davon, daß er dem Konsul eine Werbung um Helma vorgetäuscht hatte, schwieg er ganz. Es erschien ihm jetzt so unwesentlich. So erfuhr Felix nur, daß Helma durch ihren Eintritt gestern abend einer Entdeckung vorgebeugt hatte und daß Heinz sich heute mit der Konsulin hatte treffen wollen, um dem Getändel ein Ende zu machen. Wie diese Zusammenkunft verlaufen war, erzählte er genau. Auch daß er Helma ein Briefchen gesandt und um Nachricht gebeten hatte, verschwieg er nicht.

»Nun weißt du alles, Kleiner. Es bleibt mir nur noch übrig, dir zu sagen, daß mir in meinem ganzen Leben nicht so elend zumute war wie jetzt. Aber wenn du willst, kannst du mir immerhin noch eine Tugendpauke halten – ich hab's verdient.«

Felix richtete sich seufzend auf. »Das hätte jetzt wenig Zweck, Heinz. Du wirst ja ohnedies durch dieses Vorkommnis hart genug gestraft werden. Beneidenswert ist deine Lage nicht.«

»Nein, das weiß Gott. Wenn ich nur erst wüßte, daß die Konsulin außer Gefahr ist. Das lastet am schwersten auf mir.«

»Das will ich dir glauben. Außerdem mußt du aber auch damit rechnen, daß Henrici nun doch die Wahrheit erfährt, trotz deiner Vorsichtsmaßregeln.«

Heinz winkte hastig mit der Hand. »Diese Vorsichtsmaßregeln habe ich in der Hauptsache nur angewandt, um den Ruf der Konsulin zu schützen. Daß Henrici jetzt alles erfährt, ist sehr wahrscheinlich.«

»Und was dann?«

Heinz richtete sich hastig auf. »Was dann? Ist nicht schwer vorauszusagen. Natürlich fordert er mich. Ist ja sein gutes Recht. Aber nur erst einmal Gewißheit, ob Vera lebt.«

Felix sah ihn ernst an. »Du liebst sie doch, Heinz?«

Heinz fuhr sich durchs Haar. »Nein, nein – es ist mir nie klarer gewesen als jetzt. Wenn ich überhaupt einer rechten Liebe fähig wäre – jetzt müßte sie erwacht sein. Du glaubst nicht, wie leid sie mir tat, das Herz hat sich mir umgedreht, und fast hätte ich mich aus Mitleid verleiten lassen, auf ihre Wünsche einzugehen. Aber Liebe empfand ich nicht für sie. Das Strohfeuer, das ihre Schönheit in meiner Brust entflammt hatte, ist ganz zerstört. Und gerade deshalb bin ich der allein Schuldige. Sie ist entschuldigt durch das große Gefühl, welches sie zu allem trieb. Ich habe nur ein leichtsinniges Spiel mit Gefühlen getrieben. Ich konnte freilich nicht ahnen, was daraus entstehen würde. Aber das entlastet mich nicht. Ich will durchaus nichts beschönigen. Wenn ich auch nicht aus bösem Willen frevelte – mein Leichtsinn ist ebenso strafbar. Nun – ich werde ja auch hart genug bestraft werden. Selbst wenn das Schlimmste abgewendet wird, wenn Vera gerettet ist – ein Vertuschen der Angelegenheit Henrici gegenüber ist fast ausgeschlossen. Und dann kann ich meinen Leichtsinn mit einem Sprung ins dunkle Nichts bezahlen. Denn mich wehren und auf Henrici schießen – das bringe ich nicht fertig.«

Felix sah bleich und sorgenvoll aus. »Vielleicht läßt sich die Sache doch beilegen. Schließlich ist ja nichts zwischen dir und der Konsulin geschehen, was nicht gutzumachen wäre, wenn sie am Leben bleibt. Wenn ich zu ihm ginge, Heinz?«

Der schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das sähe aus, als ob ich kneifen, als ob ich mich aus Feigheit hinter dich verkriechen wollte. Nein, Kleiner, hier heißt es: Abwarten und stillhalten. Wenn ich nur nicht an die Eltern denken müßte. Der Mutter geht es ans Leben!« stieß er hervor.

Felix stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Ein tiefes Schweigen entstand. Endlich blieb Felix vor Heinz stehen.

»Und in dieser Stimmung sollen wir heute abend Verlobung feiern. Robert hat sich mit Fräulein Weitzner aus Berlin verlobt.«

Heinz fuhr sich über die Stirn. »Der ist klug – der bringt sein Lebensschiff nicht zwischen Klippen, daß es kläglich stranden muß. Immer hübsch auf glattem, ruhigem Fahrwasser, das ist gescheit.« Dann sprang er hastig auf. »Zum Henker mit den wehleidigen Betrachtungen! Hab ich gefehlt durch meinen Leichtsinn, so muß ich's büßen, wenn ich mir auch gar nicht bewußt geworden bin, daß ich schuldig wurde. Man sieht tausend andere ungestraft dasselbe tun. Aber trotzdem – Schuld und Sühne sind untrennbare Begriffe. Nun geh hinunter, Kleiner, und mach nicht so ein betrübtes Gesicht. Da merkt Mutter gleich, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ich will mich nur noch ein wenig verschnaufen, dann gehe ich – zur Gratulationscour.«

»Soll ich nicht lieber bei dir bleiben, Heinz?«

»Nein, nein, geh nur: Und hab Dank, Kleiner! War mir eine Wohltat, daß ich dir beichten konnte – ich wäre daran erstickt.«

Sie schüttelten sich die Hände, und es zuckte wunderlich in ihren Gesichtern. Diese Stunde hatte ihnen gezeigt, wieviel sie sich waren trotz der Verschiedenheit ihrer Anschauungen.

Langsam ging Felix hinunter. Die Sorge um den Bruder ließ sein eigenes Herzeleid zurücktreten. –

Einige Stunden später erhielt Heinz von Helma eine kurze Botschaft. In einem Kuvert befand sich ein schmaler Zettel, auf dem mit Bleistift einige flüchtige Worte gekritzelt waren. Man sah, das Briefchen war in großer Eile geschrieben. Es lautete: »Kranke bei Bewußtsein. Fieber! Geheimnis kaum zu bewahren, deshalb vorbereitet sein. Weitere Nachricht unmöglich. H. O.«

Das war alles. Aber es sagte Heinz genug. Stumm verbrannte er den Zettel in seinem Zimmer an einer Kerze und sah mit starren Augen auf die zuckende Flamme. Dann richtete er sich straff auf und ging wieder hinab.

Drunten im Wohnzimmer saßen seine Angehörigen beim Sekt und tranken auf das Wohl des Brautpaares.

Heinz beugte sich über Felix' Stuhl. »Sie lebt,« flüsterte er ihm zu.

Felix atmete erleichtert auf.

* * *

Henrici saß noch immer am Bett seiner Frau. Ein Jammer ohnegleichen schnürte ihm die Brust zusammen. Alles ging unter in dieser Qual. Er vermochte nichts weiter zu denken als: »Warum hat sie das getan?« An einen Unfall hatte er nicht einen Augenblick geglaubt. Wie ein vernichtender Blitz hatte es sein Hirn durchzuckt: »Sie hat es selbst getan.« Aber warum – warum? Stand er denn seinem jungen Weibe so fern, daß er nicht wußte, was in ihr vorging? Hatte er doch recht gesehen, wenn er ihr verändertes Wesen für etwas anderes hielt als Nervosität? War sie unglücklich an seiner Seite gewesen, daß sie ihr Leben von sich werfen wollte? Und er war gerade heute so froh gewesen – so befreit, weil seine Angst, Heinz Althoff könnte Vera etwas sein, unbegründet gewesen war. Unbegründet? – Er sah mit einem bangen, forschenden Blick zu Helma hinüber, die blaß und stumm am Fußende des Bettes stand. Sie fing seinen Blick auf und wurde wieder dunkelrot, wie auf einer Schuld ertappt.

Ein dumpfer Druck preßte ihm die Brust zusammen. Was war das für ein undurchdringliches Gewebe, das seinen klaren Blick trübte? War er am Ende doch betrogen worden? Stand die Vergangenheit auf und hob anklagend das Haupt gegen ihn? Vergeltung! War es Zeit, die Schuld zu bezahlen? Das blasse Mädchen da drüben – wußte es mehr, als es verraten wollte? Hielt es die Lösung der Frage, die ihn so quälte, in den Händen?

Er schrak empor. Der Arzt hatte sich wieder über Vera geneigt.

»Sie kommt zu sich. Bitte, nicht aufregen! Ich will drüben im Nebenzimmer ein Rezept schreiben,« sagte dieser.

Er entfernte sich schnell. Vielleicht sagte ihm sein Feingefühl, daß er jetzt hier überflüssig war.

Henrici beugte sich über Vera. Es zuckte in ihrem Gesicht. Die Lider bewegten sich unruhig über den geschlossenen Augen. Ein heißes, zärtliches Mitleid nahm seine Seele gefangen. Fast väterlich empfand er in diesem Augenblick für sein junges Weib. Er streichelte mit zitternder Hand über ihre unruhig zuckenden Finger.

»Vera!«

Sie vernahm den leisen, schmerzlichen Ruf und blickte auf. Wirr und fremd war ihr Blick und glitt im Zimmer umher. Dann blieb er auf Henricis blassem Gesicht haften. Und nun war es, als lausche sie in sich hinein.

»Vera, kennst du mich nicht?« fragte er erschüttert.

Wieder lauschte sie in sich hinein. Und plötzlich durchzuckte sie die Erkenntnis ihrer Lage, mit einem Male stand alles wieder greifbar vor ihr, was sie am Fluß erlebt hatte. Mit einem wehen Laut zog sie hastig die Hand aus der seinen. »Laß mich – sei nicht gut zu mir. – Ach, warum habt ihr mich nicht sterben lassen!« stöhnte sie auf.

»Vera, mein armes, liebes Kind!« sagte er, tief ergriffen von der Qual, die in ihren Worten lag.

Sie zog die Stirn zusammen. Fieberhafte Röte trat in ihr Gesicht. »Nein – nicht gut sein, Albert! Ich hab dich betrogen – weißt du es noch nicht? Da – frag die da – Helma – sie weiß alles – alles – nur daß er mich zurückgewiesen hat – das weiß sie nicht. Nicht gut sein, Albert – laß mich nur – in den Fluß – ein Trugbild – Rausch – Rausch! Heinz – Heinz! O, mein Herz – brich – brich! Nicht gut sein!«

Sie zog sich zusammen wie im Frost. Ihre Sinne verwirrten sich mehr und mehr. Die Augen brannten im Fieber und blickten wirr um sich. Und plötzlich schrie sie auf und umklammerte ihres Mannes Arm. »Heinz – Heinz – halte mich – ich versinke – ich – ach –!« Ihre Worte wurden unverständlich. Sie überstürzten sich in jäher Hast, und die Hände tasteten auf der Bettdecke umher.

Henrici warf einen Blick voll Jammer zu Helma hinüber. »Sie wußten darum?« fragte er mit zitternder Stimme.

Große Tränen rollten über Helmas Wangen. Sie vermochte in diesem Augenblick nicht zu lügen und neigte stumm bejahend das Haupt.

Er strich sich hastig über die Stirn. »Holen Sie den Arzt herüber! Wir zwei sprechen später miteinander,« sagte er mit erzwungener Ruhe.

Starr blickte er dann in Veras fiebergerötetes Gesicht. »Das Leben macht alles glatt. Da stehen sie auf, die Sünden meiner Jugend – jetzt bin ich an der Reihe – nun muß ich stillhalten,« dachte er gramvoll.

Der Arzt trat an das Bett und untersuchte die Kranke von neuem. Starkes Fieber hatte sich eingestellt. Was es im Gefolge haben würde, ließ sich vorläufig nicht feststellen. Ein Nervenschock war erklärlich. Ob es damit sein Bewenden hatte, ließ sich jetzt noch nicht feststellen. Möglicherweise kam durch die Erkältung noch eine Krankheit zum Ausbruch. –

Helma trat wieder ein. Sie hatte die Zeit benutzt, um die wenigen Worte für Heinz aufzuschreiben. Obwohl er schweres Unheil über das Haus gebracht hatte – er war Felix Althoffs Bruder, und gewiß war er in großer Sorge. Was auch zwischen ihm und Vera vorgefallen sein mochte, jedenfalls sollte er nicht ungewarnt bleiben.

Der Diener, dem sie mit der Bitte um Stillschweigen das Billett für Heinz zur Besorgung übergab, machte ein unverschämt vertrauliches Gesicht. Er glaubte, es sei eine zärtliche Botschaft, die er besorgen sollte. Helma bemerkte das sehr wohl. Aber sie übersah es vollständig. Mochte der Mensch denken, was er wollte – sie hatte jetzt Schwereres durchzufechten. Sie befahl ihm nur kurz, das Briefchen nicht selbst zu Heinz zu tragen, sondern einen Dienstmann zu schicken. Es war besser, wenn der Diener nicht bei Althoff gesehen wurde. Die Dienertracht hätte ihn verraten.

Schnell begab sie sich dann wieder an Veras Lager, wie selbstverständlich deren Pflege übernehmend.

Als der Arzt sich entfernt hatte, nachdem er Helma die nötigen Anweisungen gegeben, saß Henrici noch lange stumm an Veras Lager und lauschte vergrämt ihren Fieberreden. Meist waren sie verworren, unverständlich, aber aus einzelnen Worten und abgerissenen Sätzen, die er verstehen konnte, wurde ihm alles klar, was er noch nicht wußte.

Helma waltete lautlos ihres Amtes. Ein tiefes, inniges Mitleid erfüllte ihr Herz für die beiden unglücklichen Menschen. Wenn Vera im Fieberwahn verriet, was sie durchkämpft hatte, sah sie scheu in Henricis düsteres Gesicht. Sie wußte, daß ihm die Wahrheit nun enthüllt war. Er würde auch sie fragen um das, was sie wußte. Und da es nichts mehr zu verheimlichen gab, wollte sie ihm alles sagen, was er zu wissen verlangte. Gottlob, daß sie diese Last von ihrer Seele wälzen konnte! Ein Vertrauensbruch würde es nicht sein, und Unheil konnte sie durch ihr Schweigen auch nicht mehr abwenden.

So verging mehr denn eine Stunde. Vera beruhigte sich endlich ein wenig und verfiel in einen Halbschlummer. Da erhob sich der Konsul und bat Helma durch eine Handbewegung, ihm ins Nebenzimmer zu folgen.

Dort blieb er mit ernster Miene vor ihr stehen. »Bitte, sagen Sie mir alles, was Sie wissen, Fräulein Olfers. Sie werden begreifen, daß ich ganz klar sehen muß, nachdem ich so viel erfahren habe. Zu verraten gibt es nichts mehr. Ich weiß, daß meine Frau Beziehungen hat zu Heinz Althoff, daß sie seinetwegen in den Tod gehen wollte. Anscheinend ist auch er es gewesen, der sie gerettet hat. Meine Frau selbst hat mich an Sie gewiesen. Also, bitte, verschweigen Sie mir nichts. Nur volle Klarheit kann mir helfen, noch Schlimmeres, als schon geschehen ist, zu verhüten.«

Helma sah ihn ehrlich an. »Ich will Ihnen alles sagen, Herr Konsul. Glauben Sie mir, nur wider Willen habe ich Heimlichkeiten vor Ihnen gehabt. Ich wollte ein Unheil abwenden. Nun ist es dennoch hereingebrochen.«

Sie berichtete nun erst stockend, dann immer ruhiger werdend die Ereignisse des gestrigen Abends und dann die Unterredung mit Vera am heutigen Vormittag. Auch davon sprach sie, daß Heinz sie um Nachricht gebeten habe und daß sie ihm vorhin ein paar Zeilen gesandt hatte. Sie verhehlte ihm auch nicht, daß sie Vera um ihre Entlassung gebeten und deshalb an ihre Mutter geschrieben hatte, damit sie telegraphisch abgerufen würde.

Als sie mit ihrer Beichte zu Ende war, seufzte Henrici tief auf. »Und nun wollen Sie fort? Jetzt, da wir Sie nötiger brauchen als je!« sagte er nur.

Sie sah ihn freudig überrascht an. »Darf ich denn bleiben? Ach, Herr Konsul, jetzt treibt mich nichts mehr fort, als Ihr Wille.«

»Mein Wille? Meinen Sie, ich zürne Ihnen, weil Sie es so gut gemeint haben?«

»Ich habe Sie trotz alledem betrogen.«

Er lächelte wehmütig. »Gutes Kind, wer von uns betrügt nicht einmal! Wohl dem, der nicht von schlimmeren Gründen dazu verleitet wird, als es bei Ihnen der Fall war.«

»Wenn ich bleiben darf – ich will gutmachen! Doppelt ergeben werde ich sein, Herr Konsul! Alle Kräfte will ich einsetzen, Ihre Frau Gemahlin gesundzupflegen.«

»Sie haben nichts gutzumachen. Ganz unschuldig sind Sie in diese Angelegenheit verstrickt worden ... Wenn Sie bleiben wollen, erweisen Sie mir einen großen Dienst. Sie begreifen wohl, daß ich mein Elend nicht vor die Öffentlichkeit gezerrt sehen möchte. Ihrer Verschwiegenheit bin ich ja sicher. Die Dienerschaft weiß nur von einem Unfall. Daran müssen wir festhalten. Solange meine Frau im Fieberwahn verrät, was in ihr vorgeht, wollen wir beide uns in ihrer Pflege ablösen. Nicht wahr, Sie helfen mir?«

»Von Herzen gern, Herr Konsul. Ich glaube, Sie können ganz beruhigt sein; niemand ahnt, daß etwas anderes, als ein Unfall im Spiele war. Herr Althoff hat jedenfalls sehr umsichtig gehandelt und alles Auffallende vermieden.«

Henrici winkte hastig ab, als könne er diesen Namen nicht hören. »Gehen Sie jetzt zu meiner Frau zurück. Ich habe einiges zu erledigen. Später löse ich Sie ab, damit Sie ein paar Stunden schlafen können. Sollte es nötig sein, rufen Sie mich sofort, ich bin in meinem Arbeitszimmer.« Er nickte ihr gütig zu und ging.

Helma kehrte an Veras Bett zurück.

Der Arzt stellte einige Tage später bei Vera eine Lungenentzündung fest. Die seelische Erregung der Kranken machte sie wehrloser gegen die Krankheit, als bei ihrer vorzüglichen körperlichen Anlage anzunehmen war. Das Fieber stieg bis zur bedenklichsten Höhe und wurde dann plötzlich am achten Tage von einer schlimmen Herzkrise abgelöst. Zwei Tage schwebte die Kranke in höchster Lebensgefahr. Weder ihr Gatte noch Helma wichen in dieser gefährlichen Zeit von ihrem Lager. Nur stundenweise ruhten sie abwechselnd in einem Lehnstuhl.

Veras Jugend siegte schließlich doch. Das Herz nahm allmählich seine geregelte Tätigkeit wieder auf, und die Kranke schlief sehr viel.

Eines Vormittags erwachte sie aus einem langen, tiefen Schlummer. Sie sah ihren Mann an ihrem Lager sitzen. Mit großen Augen blickte sie in sein Gesicht. Es erschien ihr sehr bleich und verfallen. Sein Haar hatte einen graueren Schimmer bekommen, und in seinen Augen brannte leidvoller Schmerz. Ein Zittern ging durch ihre Gestalt. »Er hat namenlos gelitten – um dich – durch dich,« dachte sie ergriffen.

Helma war aufgestanden und ging hinaus.

Henrici beugte sich zu Vera herab. »Wie geht es dir, wie fühlst du dich?« fragte er voll Güte.

Es zuckte in ihrem Gesicht wie verhaltene Bewegung. »Gut – ich danke dir – nur noch ein wenig matt,« sagte sie leise.

»Hast du irgendwelche Wünsche? Willst du etwas genießen?«

Vera schüttelte stumm den Kopf und schloß die Augen.

Er sah Tränen zwischen den geschlossenen Lidern hervordringen.

»Vera, weine nicht – ich kann dich nicht weinen sehen,« bat er mit heiserer, gepreßter Stimme.

Sie sah ihn wieder an. Dann sagte sie hastig: »Albert – deine Güte martert mich. Hast du kein Wort der Anklage, des Vorwurfs für mich? Du weißt doch nun, was ich dir angetan habe – und was ich dir noch antun wollte. Oder weißt du es noch nicht?«

»Doch, Vera, ich weiß alles.«

»Du kannst mir nicht verzeihen, es ist unmöglich.«

»Mein armes, liebes Kind, warum hattest du kein Vertrauen zu mir? Eins ist mir noch nicht klar – warum tatest du den letzten, verzweifelten Schritt? Zweifeltest du, daß ich dich freigeben würde? Wußtest du nicht, daß dein Glück mir mehr gilt als das meine?«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Die Erinnerung an die Vorgänge am Fluß überfiel sie mit jäher Qual. Verworfen, zurückgewiesen war sie worden mit all ihrer unverhüllt dargebotenen Liebe. An Heinz Althoffs tiefe, starke Liebe hatte sie blindlings geglaubt, und war ihm doch nichts gewesen, als ein leichtes Spiel, eine kurzweilige Liebelei – höchstens ein schnell vergehender Rausch. Und sie hatte es so ernst genommen – so ernst, daß sie daran sterben wollte. Hatte sie denn gar nicht an das Leid gedacht, das sie mit diesem Schritt über den ernsten, gütigen Mann brachte, der ihr ein ganzes Herz voll Liebe geschenkt hatte? Wie selbstisch macht der Schmerz – viel selbstsüchtiger noch als die Liebe!

Gramvoll sah sie endlich wieder zu ihm auf. Sie richtete sich ein wenig auf und stützte den Kopf in die Hand.

»Mein Glück? Das liegt im Fluß begraben, Albert. Warum ich hineinsprang, willst du wissen? Auch das sollst du erfahren. Du hast ein Recht, alles zu wissen. Ich glaubte mich von Heinz Althoff geliebt – obwohl er es mir nie mit Worten sagte. O nein – das tat er nicht. Er hat nur mit mir getändelt – eine Liebelei – eine harmlose Liebelei – sonst nichts. Aber ich Törin hielt das für Ernst, ich glaubte, er liebe mich so tief und stark, wie ich ihn liebte. Und – und da warf ich mich ihm an den Hals.« Die letzten Worte preßte sie wie widerwillig zwischen den Zähnen hervor. Dann faßte sie sich gewaltsam und fuhr fort: »Ja, ich küßte ihn, als er mir, wahrscheinlich geängstigt durch meine Leidenschaft, von Trennung sprach. Durch Helma und dich wurden wir gestört, er konnte mir nicht einmal antworten. So wiegte ich mich noch in rosigen Hoffnungen auf ein Glück an seiner Seite – und dachte nicht einmal daran, wie weh ich dir tun wollte. Aber die Strafe dafür kam schnell genug. Wir trafen uns am Fluß – und als ich ihm wieder mein ganzes Sein und Leben bot – da wies er mich zurück, sprach von Vernunft, von einem vorübergehenden Rausch. Er bedauerte sehr, daß ich die Liebelei so ernst nahm, und als ich ihn entsetzt fragte, ob er mich denn nicht liebte, da hatte er zur Antwort nur ein kurzes Nein. Was dann geschah – das weiß ich nur unklar. Ich fühlte nur, daß alles um mich zusammenbrach, daß das Leben mir wertlos geworden war. Und da sprang ich in den Fluß.«

Sie sank müde in ihr Kissen zurück.

Er streichelte ihr sanft und lind die Hände, und zugleich erwachte in seiner Seele ein leises, schüchternes Hoffen, daß nun doch nicht alles verloren war, daß sich aus den Trümmern seines Glückes ein neues zimmern lassen würde. Er übersah jetzt alles. Heinz Althoff hatte seiner schönen jungen Frau gehuldigt. Ihre Schönheit hatte ihn zuweilen vielleicht weiter fortgerissen, als er hatte gehen wollen. Wußte er doch selbst aus seiner Jugendzeit, wie leichtsinnig so ein Getändel begonnen wird. Und als er sah, wie ernst Vera die Sache nahm, da versuchte er, sich zurückzuziehen. Konnte er ihn verdammen? Hatte er nicht selbst mehr als einmal dasselbe getan, hatte er nicht viel mehr Schuld auf sich geladen? Durfte er sich zum Richter aufwerfen?

Er sah voll Liebe und Mitleid auf Vera herab. »Mein armes, liebes Kind, wenn ich dir doch helfen könnte!« sagte er leise.

Tränen verdunkelten ihren Blick. »Deine Güte verdoppelt meine Schuld,« schluchzte sie wie außer sich.

Er seufzte tief auf. »Kind, wenn ich in meinem Leben nicht schuldiger geworden wäre als du, dann wäre mir vielleicht diese Vergeltung erspart geblieben. Ich verzeihe dir von ganzem Herzen, und auf mein Wort, ich hätte mich nicht hinderlich zwischen dich und dein Glück gestellt. Du bist so jung und hast noch ein Anrecht auf Glück. Aber da dir die Hoffnung auf eine Vereinigung mit dem Mann, den du liebst, zerstört ist, so bitte ich dich, bleibe bei mir. Versuche, das Leben an meiner Seite weiter zu ertragen. Zeigt es sich, daß dir das unmöglich ist, so hast du mein Wort: du bist frei, sobald du es sein willst. Ich will dir mit aller Zartheit begegnen, und alles vermeiden, was deine Seelenruhe stört. Sobald du reisen kannst, gehen wir nach dem Süden. Und wenn du nicht hierher zurückkehren willst, lege ich meine Geschäfte nieder. Wo es dir gefällt, wollen wir bleiben. Ich liebe dich so sehr, daß ich nur den Wunsch habe, du sollst mich für dich sorgen lassen, sollst dich von mir hegen und pflegen lassen wie ein liebes, krankes Kind. Vielleicht heilt die Zeit die Wunden, die dir geschlagen worden sind. Das soll dann mein Lohn sein für alles.«

Sie sah ihn ungläubig an. Unaufhaltsam rannen die Tränen über ihre Wangen. »Das hab ich nicht verdient, Albert. Ich hätte verdient, daß du mich fortjagtest aus deinem Hause.«

Er schüttelte den Kopf.

»Wenn wir Menschen alle nach Verdienst behandelt würden – wie sollte es dann aussehen in der Welt? Nicht einer ginge straffrei aus. Ich sagte dir schon – auch ich habe im Leben manches getan, was ich ungeschehen machen möchte. Viel schlimmere Schuld habe ich auf mich geladen. An dir will ich gutzumachen versuchen, was ich in meiner Jugend gesündigt habe. Aber nun mußt du Ruhe haben, zu viel hast du dich aufgeregt. Ich lasse dich jetzt mit Helma allein. Sie hat dich so treu gepflegt und wird dir jetzt eine kräftige Suppe bringen. Zuerst mußt du jetzt wieder gesund werden.«

Vera faßte seine Hand.

»Sag mir noch eins, was wirst du mit Heinz Althoff beginnen?«

»Damit quäle dich nicht. Ich werde mit ihm abrechnen. Erst wollte ich dich außer Gefahr wissen.«

Sie umklammerte seine Hand in jähem Schreck. »Du willst ihn fordern?«

Er schüttelte den Kopf. »Sorgst du um sein Leben?«

»Um das seine und um das deine. Albert, ich ertrüg es nicht, wenn meinetwegen Blut fließen würde. Glaub mir – er hat dir nicht zu nahe treten wollen, ich allein bin schuldig.«

Er streichelte ihr Haar. Ein wehmütiger Zug lag in seinem blassen Gesicht. »Sei ruhig, Vera! Mein Wort darauf – es soll kein Blut fließen, weder das seine noch das meine. Aber nun genug. Jetzt versprich mir, artig deine Suppe zu essen, und dann versuchst du zu schlafen, ja?«

Sie hielt ihn fest und legte ihre Wange an seinen Arm wie ein hilfesuchendes Kind. »Albert – wenn ich doch diese unselige Liebe aus meinem Herzen reißen könnte!«

Seine Hand zitterte in der ihren. »Das Leben verschont keinen, Vera. Wir alle müssen leiden und kämpfen. Nur durch Schuld und Leid können wir reifen. Aber beides darf uns nicht unterkriegen. Wir müssen uns wehren mit aller Kraft.«

»Hilf du mir!« bat sie leise.

Da beugte er sich schnell herab und küßte sie leicht auf die Stirn. »Mit allem, was ich bin und habe, mein geliebtes Kind,« sagte er mit unterdrückter Erregung.

Dann ging er schnell hinaus. Stumm winkte er draußen Helma zu, hineinzugehen.

Als er in seinem Zimmer allein war, sank er wie kraftlos in einen Sessel.

Tiefer Gram lag auf seinem Gesicht, und seine Seele ergab sich jetzt widerstandslos dem herben Schmerz. –

Heinz Althoff hatte inzwischen sehr unruhige Tage verlebt. Täglich war er darauf gefaßt, eine Forderung des Konsuls zu erhalten. Die Ungewißheit, was geschehen sein mochte, quälte ihn unsagbar. Er hatte erfahren, daß Vera an Lungenentzündung erkrankt war. Vorsichtig wußte er seine Mutter zu beeinflussen, damit sie zuweilen bei Henrici anfragen ließ, wie es seiner Frau gehe. Nun wußte er, daß Vera die Krise überstanden hatte und auf dem Wege der Besserung war. Und noch immer hatte Henrici nichts von sich hören lassen. Am liebsten wäre er selbst zu ihm gegangen, um ihm alles zu beichten. Aber das durfte er nicht, solange er nicht wußte, ob Vera gesprochen hatte. So blieb ihm nichts übrig, als zu warten, immer zu warten.

Es gibt kein grausameres Wort, als dieses harmlose: warten! Welche Pein, welche Marter ist in diesem Wort enthalten, wieviel schlaflose Nächte, wieviel Furcht und quälende Zweifel! Der zum Tode Verurteilte ›wartet‹ auf sein letztes Stündlein, der Kranke auf den erlösenden Ausspruch des Arztes, die Mutter auf die Genesung ihres Kindes. Wieviel Schuld und Sünde wird abgebüßt im Warten auf ein Glück, auf eine erlösende Botschaft! Warten verdammt zu kraftloser Ergebung, zu tatenlosem Hindämmern.

Heinz Althoff büßte in diesem Warten vieles ab, was er im Leichtsinn verbrochen hatte. Er wurde von Tag zu Tag nervöser. Schließlich vermochte er sich so wenig zu beherrschen, daß sein unruhiges Wesen seinen Eltern auffiel.

Seine Mutter sah ihn immer besorgter an.

»Du siehst so blaß aus, Heinz, und bist so still, was hast du?« fragte sie ängstlich.

Er nahm sich zusammen und drückte die Mutter zärtlicher an sich wie sonst.

»Siehst du, Milchen, nun ist es dir wieder nicht recht, daß ich still bin. Sonst bin ich dir immer zu laut und zu übermütig.«

»Es geht aber nicht mit rechten Dingen zu – du mußt krank sein, siehst auch immer so blaß aus jetzt.«

Er versuchte zu lachen. »Na – dann hilft es nicht, Milchen, dann muß ich wohl beichten. Also, ich hab einen schauderhaften Katarrh – und will mich auf Gnade und Ungnade dir und deinem Fliedertee ergeben.«

»Dacht ich's doch, der Junge ist krank,« jammerte Milchen, und wenn er sich nicht energisch gewehrt hätte, sie ihn ins Bett gesteckt haben würde.

Jedenfalls ging sie mit allerlei heilsamen Getränken gegen den Katarrh vor, den sich Heinz wirklich durch das kalte Bad zugezogen hatte. Und er ließ sich ihre Pflege viel geduldiger gefallen, als es sonst seine Art war. Ihm war immer zumute, als müsse er im voraus die Mutter entschädigen für das, was eines Tages kommen würde – das, worauf er ›wartete‹.

Auch Felix war still und bedrückt. Nicht nur seines eigenen Herzeleides wegen. Er bangte sich auch um den Bruder und litt kaum weniger unter diesem Warten, als er. Bei Felix fiel es jedoch niemand auf, daß er still war. Er hatte nie ein lautes Wesen. Außerdem waren die Eltern und Robert durch dessen Verlobung vielseitig in Anspruch genommen. Roberts Braut hatte mit ihren Eltern einen Besuch gemacht und war einige Tage geblieben. –

Endlich, einige Tage nach Veras überstandener Herzkrise, sandte der Konsul ein Schreiben an Heinz.

Mit unsicheren Fingern öffnete dieser, jäh erblassend, das Schreiben. Zunächst verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen. Er mußte sich Gewalt antun, um ruhig zu scheinen. Endlich entzifferte er die wenigen Worte, die das Schreiben enthielt.

»Wir haben miteinander zu sprechen. Bitte, besuchen Sie mich heute nachmittag in meinem Privatkontor auf dem Konsulat. Henrici.«

Das war alles. Heinz starrte darauf nieder, als wollte er entziffern, was hinter diesen kurzen Zeilen lauere. Henrici ersuchte ihn um eine Unterredung, statt ihm eine Forderung zu schicken. Was sollte das bedeuten?

Er richtete sich endlich mannhaft auf und warf aufatmend den Kopf zurück. Gleichviel, was nun geschah – er würde wenigstens zur Klarheit kommen mit dem Konsul, und er brauchte nicht mehr tatenlos auf die Entscheidung zu warten.

Er ging zu Felix und reichte ihm das Schreiben.

Der las es kopfschüttelnd. »Was hältst du davon, Heinz?«

»Ich weiß es nicht – auch mir ist es unerklärlich. Aber in wenigen Stunden werde ich es wissen. Gottlob – länger hätte ich es kaum ertragen.«

* * *

Zur festgesetzten Zeit trat Heinz Althoff in das Privatzimmer Henricis. Dieser erhob sich von seinem Schreibtisch und wandte sich nach Heinz um. Eine Weile sahen sich die beiden Männer mit stummem Forschen in die Augen, nachdem sie sich förmlich begrüßt hatten.

Dann machte Henrici eine Bewegung, und, seine Erregung niederzwingend, sagte er scheinbar ruhig: »Setzen wir uns.«

Heinz sah ihn betroffen an. Voll Unruhe forschte sein Blick in des Konsuls bleichen Zügen. Aber er nahm ohne eine Erwiderung Platz. Henrici saß ihm gegenüber.

»Sie wissen, weshalb ich Sie um Ihren Besuch bat?«

Heinz raffte sich aus seiner Erstarrung auf.

»Ich weiß es nicht.«

Henrici erhob sich noch einmal und schob die schweren Vorhänge vor die Tür. Dann ließ er sich schwer in seinen Sessel fallen. »Aber Sie wissen, daß es zwischen uns etwas zu regeln gibt?«

»Ja.«

»Damit Sie im klaren sind, will ich Ihnen sagen – daß ich alles weiß – durch meine Frau.«

Heinz senkte den Kopf, aber dann hob er ihn entschlossen und sah Henrici fest an. »Ich ahnte es – und wie die Dinge liegen, ist es mir lieb, daß Sie alles wissen, Herr Konsul. Aber gerade darum kann ich mir nicht erklären, weshalb Sie mich riefen.«

Henrici sah mit düsterem Blick zu ihm hinüber. »Sie wundern sich, daß ich nicht mit der Waffe in der Hand Rechenschaft fordere über das, was geschehen ist?«

Heinz hielt seinen Blick aus.

»Jedenfalls war ich darauf vorbereitet, mich Ihnen zu stellen, obwohl, – wenn Sie alles wissen, Herr Konsul, – es ist im Grunde nichts geschehen –«

Henrici winkte hastig ab. »Ja, ja – man ist sehr milde im Urteil über sich selbst – wenn es nur des Andern Ehre gilt. Wären Sie an meiner Stelle, so würden Sie sagen: Es ist genug geschehen, was blutige Sühne heischt. Nur des Andern Ehre wird in solchen Fällen als Kleinigkeit behandelt. Ein leichtes Spiel mit des Andern Ehre, das gehört zum feinen Sport. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht – es ist so. Auch ich hab es in meiner Jugend leichtgenommen mit des Andern Ehre, habe manche Schuld gehäuft in dieser Beziehung. Nun ist die Reihe an mir, der Andere zu sein. Auch Sie werden vielleicht eines Tages soweit sein. Das Leben ist ein unbestechlicher Richter. – Ich kenne Sie genug, um zu wissen, daß Sie sich nicht mit bösem Willen an mir vergangen haben. Eine große Leidenschaft war es auch nicht, die Sie dazu trieb, sonst – sonst hätten Sie nicht im Augenblick der Entscheidung der Vernunft Gehör gegeben und die Frau, die unglücklicherweise tiefer und heißer empfand, zurückweisen können. Sie sehen,« – er atmete gepreßt auf – »ich urteile ganz ruhig und sachlich. Also bleibt auf Ihrer Seite nur ein leichtsinniges Spiel mit des Andern Ehre. Nicht wahr?«

Heinz neigte den Kopf. »Ich kann und will nicht widersprechen; es ist so, wie Sie sagen, und – ich kann nichts tun, als mich zu Ihrer Verfügung stellen.«

»Das heißt – wir knallen ein paar Kugeln gegeneinander los. Schieße ich Sie über den Haufen – dann sind Ihre braven Eltern diejenigen, die gestraft werden. Falle ich – wo bleibt dann in diesem Falle die ausgleichende Gerechtigkeit? Was ist solch ein Duell anderes als eine sinnlose Posse? Selbst wenn, was gottlob verhütet wurde, etwas über unsere Angelegenheit in die Öffentlichkeit gedrungen wäre, hätte ich mich nicht dazu verstanden, solch einen Duellunsinn auszuführen. Ich habe ein Gelübde getan, nie mehr im Duell einem Gegner gegenüberzutreten. Das geschah, als ich in die brechenden Augen eines Mannes sah, dem ich erst die Ehre gestohlen und den ich dann im Duell erschossen hatte. Deshalb habe ich auch kein Recht, mich Ihnen gegenüber als Richter aufzuwerfen. Ich überlasse Sie Ihrem eigenen Gewissen. Das ist Strafe genug für Ihren Leichtsinn, wenn Sie sich sagen müssen, Sie haben das Dasein einer Frau zerstört, die Ihnen nichts zuleide tat, die Sie nur zu sehr geliebt hat. Sie wird vielleicht nie darüber hinwegkommen. Wenn Sie bedenken, daß sie so verzweifelt war, daß sie das Leben von sich werfen wollte, dann wird Ihnen in der eigenen Brust ein Richter erstehen, der sich nicht beirren läßt wie eine vom Zufall geführte Pistolenkugel. Danken Sie dem Geschick, daß Sie selbst das Leben retten durften, welches Sie in Gefahr brachten, denn nichts ist furchtbarer, als der Gedanke, schuld zu sein am Tode eines Menschen.«

Heinz hatte bleich, mit festgeschlossenen Lippen zugehört, ohne sich zu regen. Nun sah er bewegt in das düstere Gesicht des Konsuls. »Alles, was Sie mir gesagt haben, werde ich nie vergessen, Herr Konsul. Und glauben Sie mir – ich habe in diesen Tagen bereits einen Teil meiner Schuld abgebüßt. Nicht zuletzt im Gedanken daran, daß meine Eltern Leid zu tragen haben würden. Denn wenn Sie mich vor die Waffe gefordert hätten – ich hätte mich nicht gewehrt.«

Henrici nickte vor sich hin. »Das glaube ich Ihnen. Auch ich habe damals gewiß nicht auf das Herz meines Gegners gezielt. Der blinde Zufall führte die Kugel – oder doch vielleicht die Nemesis. Denn wahrlich – ich habe dadurch eine härtere Strafe erlitten, als wenn ich selbst gefallen wäre. Aber nun sind wir wohl zu Ende,« fügte er, sich erhebend, hinzu. »Ich glaube nicht, daß wir uns noch etwas zu sagen haben.«

Heinz erhob sich ebenfalls. »Darf ich noch eine Bitte aussprechen, Herr Konsul?«

Henrici verneigte sich, stumm gewährend.

»Bitte, sagen Sie Ihrer Frau Gemahlin, wie tief ich bereue, ihren Frieden gestört zu haben. Um Verzeihung wage ich weder Sie, noch Ihre Frau Gemahlin zu bitten.«

»Ich werde gelegentlich meiner Frau Ihre Worte ausrichten,« sagte der Konsul förmlich.

Mit einem stummen Gruß verabschiedeten sich die beiden Männer. Als sich die Tür hinter Heinz geschlossen hatte, preßte Henrici die geschlossenen Fäuste an seine Brust und senkte kraftlos das Haupt.

»Genug – genug,« stöhnte er, »jetzt hab ich genug gebüßt. Das war schwerer als alles andere.« –

Heinz atmete tief und schwer, als er ins Freie trat. Daß der Konsul nur schwer seine Ruhe bewahrte, hatte er gefühlt. Schwer und drückend hatte sich gerade diese Selbstbeherrschung des beleidigten Mannes auf seine Brust gelegt. Die Worte, die er gesprochen, hatten sich tief eingegraben im Herzen des jungen Mannes.

»Nie wieder so vor einem Menschen stehen müssen – nie wieder freveln an des Andern Ehre!« Der Gedanke stieg wie ein Gelübde in ihm empor.

Planlos lief er lange umher. Noch nie war er so bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert gewesen, wie jetzt durch Henricis Verhalten ihm gegenüber. Endlich schlug Heinz doch den Heimweg ein. Er dachte an Felix. Der würde ihn voll Unruhe erwarten. Und der Kleine hatte es verdient um ihn, daß er ihn aus banger Sorge erlöste.

Er suchte Felix sofort auf und berichtete getreulich alles.

Felix drückte ihm die Hand. »Gottlob, Heinz – ich hatte einen schlimmeren Ausgang befürchtet.«

Heinz nickte. »Ich auch. Aber trotzdem, Kleiner, ich bin mir nie so klein und erbärmlich vorgekommen, wie dem Konsul gegenüber. Und wenn mein Leichtsinn auch nicht dauernd ausgerottet ist – dazu ist er eine zu kräftige Wucherpflanze –, so ist mir doch eins gewiß: niemals vergehe ich mich wieder an des Andern Ehre.«

* * *

Milchen schüttelte in der nächsten Zeit wieder und wieder sorgenvoll den Kopf. Heinz war beängstigend ernst und ruhig in diesen Tagen. Er trieb nicht mehr tausend Schnurrpfeifereien, neckte sie nicht mehr, gab ihr keine Veranlassung, über Respektlosigkeit zu räsonieren, ja – er nannte sie zuweilen gar Mutter und nicht Milchen. Sein Katarrh konnte nicht mehr schuld sein, der war geheilt.

»Junge, was ist nur los mit dir?« fragte sie ihn besorgt. »Es ist ganz unheimlich, wie du dich verändert hast. Du bist mit uns so höflich und rücksichtsvoll – und Mutter nennst du mich jetzt auch.«

Heinz zwang sich zu dem alten scherzenden Ton, der ihm jetzt gar nicht recht gelingen wollte.

»Milchen, du bist unbeständig. Nun hab ich die Absicht, mich zu einem Muttersohn zu entwickeln, und das paßt dir auch wieder nicht. Einmal muß der Mensch doch vernünftig werden. Diese Notwendigkeit hast du mir doch in allen Tonarten vorgepredigt.«

»Aber so plötzlich, Heinz – nein, ich kann mir nicht helfen – es ist mir ganz unheimlich, wie brav du jetzt immer bist. Und du hockst ewig zu Hause. Das geht nicht mit rechten Dingen zu.«

Karl Althoff hatte Heinz scharf beobachtet. Auch ihm war Heinz' verändertes Wesen nicht entgangen. Aber er glaubte, eine Erklärung gefunden zu haben.

»Laß nur gut sein, Milchen. Wenn junge Leute ohne besondern Grund die Köpfe hängen lassen, gibt es nur eine Erklärung. Der Junge wird uns wohl nächstens mit seiner Verlobung überraschen.«

Milchen fuhr freudig erstaunt empor. »Du bist verliebt, Heinz? Gestehe es, Junge, wen hast du denn auf dem Korn?«

Robert lachte. »Hast du Heinz schon mal anders als verliebt gesehen, Mutter?« fragte er ein wenig spöttisch.

»Ach, Unsinn, Robert! Diesmal scheint es Ernst zu sein. Sag's doch, Heinz! Du weißt doch, wie ich mich freuen würde. Am Ende könnten wir gar eine Doppelhochzeit feiern, das wäre wunderschön. Sag's Junge, sei nicht so verschlossen!«

Heinz streichelte ihr die erregt geröteten Wangen.

»Mit der Doppelhochzeit wird's nichts, Milchen – ganz aussichtslos. Ich heirate nicht, da schick dich drein.«

»Nicht heiraten! Was soll denn da aus dir werden?«

»Ich entwickle mich zum Erbonkel für Roberts und Felix' künftige Kinder – das ist eine ganz schöne Beschäftigung.«

»Ach, nun sei doch mal vernünftig, Heinz,« schalt die Mutter ärgerlich.

»Siehst du, Milchen, nun bin ich dir schon wieder zu unvernünftig.«

»Na – irgend etwas ist auch nicht richtig mit dir.«

»Soll ich's dir anvertrauen, Milchen?«

Sie nickte lebhaft.

Er nahm sie beim Kopf und flüsterte ihr geheimnisvoll ins Ohr: »Ich habe einen Katzenjammer, einen riesengroßen.«

Sie zuckte ärgerlich zurück. »Der hält doch nicht tagelang an.«

Er seufzte. »Doch, Milchen, die Sorte ist anhänglich.«

Karl Althoff sah ihn scharf an. »Ist es vielleicht ein moralischer Katzenjammer, Heinz? Hast du was auf dem Kerbholz?«

Heinz sah dem Vater ernst in das kluge Gesicht. »Ja, Vater. Ich hatte mir eine Suppe eingebrockt. Nun habe ich sie aufgegessen, und sie liegt mir noch etwas schwer im Magen.«

Der Vater nickte. »Dann Schluß, Milchen! Er hat einen gesunden Magen und wird sich nicht lange nutzlos mit Sachen herumschlagen, die nicht mehr zu ändern sind.«

Heinz drückte dem Vater die Hand. So war dieser immer. Ohne viel Worte sah er den Dingen auf den Grund und hatte einen guten, treffenden Gedanken in Bereitschaft.

»Nichts ist törichter als nutzlose Reue, mein Sohn,« sagte Karl Althoff noch. Damit war für ihn das Thema erledigt.

Milchen aber seufzte bedrückt. »Man hat seine Not mit euch Jungens. Das sag ich dir aber, Heinz, zum Hagestolz darfst du mir nicht werden. Das fehlte mir. Schwiegertöchter will ich haben und eine ganze Reihe kleiner Enkelkinder – lauter Mädels, denn mit Jungens mag ich mich nicht mehr abquälen.«

»Milchen, nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl,« sagte Heinz neckend.

»Na ja – mit euch hab ich wirklich meine Not. Auch mit Robert. Da freue ich mich unsäglich auf seine Hochzeit. Und was tut er? Draußen am andern Ende der Stadt mietet er ein Landhaus, um dort mit seiner jungen Frau zu wohnen. So ein Ende Weges. Da komme ich doch höchstens einmal die Woche hinaus.«

Karl Althoff lachte. »Milchen – ich glaube, das will er ja gerade. Solch junges Volk will doch allein sein.«

Milchen sah mit großen Augen um sich. »Na, was hab ich denn da von meinen Kindern?«

»Siehst du wohl, solange sie noch nicht verheiratet sind, gehören sie dir, nachher der Frau.«

Milchen sah ganz betreten aus. »Das hab ich mir ganz anders gedacht. Zu meinen drei Söhnen wollte ich noch drei Töchter haben.«

»Tröste dich nur, Mutter. Zum Ersatz schicken wir dir täglich unsere Kinder,« tröstete Robert lächelnd.

»Ach – wenn ihr nur erst welche habt, dann wollt ihr sie auch für euch behalten. Nein, das sag ich euch, einer von euch muß hier im Hause bleiben, wenn er heiratet. Dann wird das dritte Stockwerk neu hergerichtet, das geht ganz schön.«

»Also gut, Milchen, der nächste, der von uns heiratet, bekommt das dritte Stockwerk zur Wohnung. Abgemacht. Nicht wahr, Felix, wir verpflichten uns eidlich?«

Felix nickte. »Ja, Heinz, das können wir ja der Mutter zur Beruhigung versprechen.« –

Robert brachte ein anderes Thema auf.

»Ich habe übrigens heute Henrici getroffen. Mein Gott, sieht der Mann elend aus! Er muß sich die Krankheit seiner Frau sehr zu Herzen genommen haben.«

»Ja, das habe ich auch gefunden, als ich ihn neulich traf,« warf Karl Althoff ein. »Er muß sich furchtbar gesorgt haben. Gottlob ist die Frau auf dem Wege der Besserung. Hast du dich vielleicht beim Konsul nach ihrem Befinden erkundigt, Robert?«

»Ja, Vater. Es geht besser. Aber zur völligen Heilung ist ein Aufenthalt im Süden vom Arzt verordnet worden.«

»So, so, dann werden sie wohl bald reisen?«

»Sobald es der Arzt gestattet.«

Heinz war während dieser Unterhaltung an das Fenster getreten. Felix gab dem Gespräch eine andere Wendung, wenngleich er sehr gerne erfahren hätte, ob Helma Olfers den Konsul und seine Frau begleiten würde. Obwohl er sich einredete, daß es gut für ihn sei, wenn er sie nicht wiedersehen würde, brannte doch die Sehnsucht nach ihrem Anblick wie ein stetig glimmendes Feuer in seinem Herzen.

* * *

Am Abend desselben Tages trat Heinz, wie jetzt oft, zu Felix ins Zimmer. »Störe ich dich bei deinen Büchern, Kleiner?«

»Nein, Heinz, die laufen mir nicht fort. Willst du mir Gesellschaft leisten?«

»Wenn du mich nicht 'rauswirfst, verdenken könnte ich es dir nicht. Ich hocke dir jetzt ewig auf der Bude.«

»Für mich ist das sehr angenehm, Heinz. Aber du solltest dich nicht so von allem Verkehr zurückziehen.«

Heinz steckte eine Zigarette in Brand. »Ist die bloße Angst, daß ich meinen Vorsätzen untreu werde.«

»Was sind denn das für Vorsätze?«

»Eigentlich nur einer – ich will mich nie mehr verlieben, will nichts mehr mit den Frauen zu tun haben.«

Felix lachte gutmütig. »Das hältst du nicht lange aus.«

»Meinst du?«

»Ja, das meine ich. Ist ja auch Unsinn. Damit machst du Geschehenes nicht ungeschehen. Such dir doch ein nettes Mädchen aus und heirate. Ich glaube, das ist das beste für dich.«

Heinz warf sich auf den Diwan und sah den Rauchwolken seiner Zigarette nach. »Jetzt fängst du auch noch damit an. Nee, nee, mein Junge – nichts zu machen. Ich heirate nicht, denn ich kann meiner Frau nicht länger treu bleiben als vier Wochen; wenn's hoch kommt, doppelt so lange.«

»Trotz aller Vorsätze?«

»Trotzdem. Ich kann einfach nicht anders.«

»Die Rechte ist wohl noch nicht gekommen.«

»Beee – geh mir mit dieser abgedroschenen Redensart. Entweder man taugt für die Ehe – oder nicht. Ich ganz bestimmt nicht. Bevor ich kein Mummelgreis bin, heirate ich nicht.«

»Und als Mummelgreis wirst du nicht mehr sonderlich begehrenswert sein.«

Heinz sprang auf. »Richtig, dann bekomme ich höchstens eine Frau, die einen andern begehrenswerter findet als mich. Also ausgeschlossen, daß ich jemals das Ehejoch auf mich nehme. Sprechen wir lieber von dir, Felix. Wie ist es mit Helma Olfers? Wie weit bist du mit ihr? Ich habe wahrhaftig über meinen eigenen Angelegenheiten alles andere vergessen. Du, Felix, das ist ein Prachtmädel – die gönne ich dir. Weißt du, so ein Mädel – die könnte mich beinahe von meiner Ehescheu heilen. Warum machst du nicht Ernst? Du wirst so lang warten, bis sie dir ein anderer wegschnappt.«

Felix beschattete das Gesicht mit der Hand. »Ereifere dich nicht, Heinz – ich habe bereits einen unverblümten Korb von ihr erhalten. Damit ist es aus und vorbei.«

Heinz horchte interessiert auf. »Du – einen Korb?«

»Ja.«

»Das ist allerdings unerklärlich. Ich hätte darauf schwören mögen, daß sie dich liebt.«

»Dann warst du eben im Irrtum.«

Heinz sah nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er noch immer verwundert: »Wann hast du sie denn gefragt? Erzähle doch mal. Vor mir brauchst du wahrlich kein Geheimnis zu haben.«

Felix berichtete nur widerwillig. Als er geendet hatte, sah Heinz noch viel nachdenklicher aus.

»Das hältst du für einen Korb?«

»Du vielleicht nicht? Willst du mich glauben machen, daß ein Mädchen vor der Werbung eines Mannes, den sie liebt, davonläuft – weil sie zufällig Kopfweh hat?«

Heinz antwortete lange nicht. Er war mit seinen Gedanken bei jenem Mittwochabend. Er rief sich Helmas Beteiligung an den Szenen im Hause des Konsuls ins Gedächtnis zurück. Und Helmas verstörtes Gesicht sah er im Geiste wieder vor sich, als sie ihn und Vera überraschte, und dann, als er sie mit in die Verstellungsposse hineinzog, die er dem Konsul vorspielte. Nur kurze Zeit später hatte Felix um ihre Hand anhalten wollen, hatte ihr deutlich genug die Absicht kundgetan. War es nicht verständlich, daß sie durch das Vorhergegangene ganz aus ihrem seelischen Gleichgewicht gerissen war? Sie war ein sehr feinfühliges Geschöpf. Eine ehrliche Werbung an demselben Abend, da sie mit einem andern eine Werbungskomödie aufführen mußte, konnte ihr Gefühl verletzen. War es nicht möglich, daß sie die Werbung nur hinausschieben wollte? Oder war sie nicht vielleicht tatsächlich so angegriffen, daß sie fürchtete, die Fassung zu verlieren? Wer konnte wissen, was alles in ihr vorgegangen war in jenem Augenblick, der so ungeeignet wie möglich für eine Werbung war! Hatte er nun zu aller andern Schuld auch noch die auf sich geladen, seines Bruders Glück zerstört zu haben? Wie konnte er das ergründen? Wie das wieder gutmachen, wenn es wirklich so war?

Sollte er Felix seine Zweifel mitteilen und ihn veranlassen, Helma dennoch die Frage vorzulegen, die sie an jenem Abend nicht hatte hören wollen? Nein – das war vergeblich. Er kannte den Mangel an Selbstbewußtsein im Wesen seines Bruders. Er würde sich nicht zu einer erneuten Werbung entschließen. Und war es nicht gewagt, in Felix' Herzen eine Hoffnung zu erwecken, die sich schließlich nicht erfüllen konnte? Möglich war es immerhin, daß er selbst sich getäuscht hatte, als er zu bemerken glaubte, daß Helma seinen Bruder liebte. Nein, wenn etwas geschehen konnte, so mußte er selbst handeln. Auf jeden Fall wollte er versuchen, Helma zu sprechen. Er hatte ihr ohnedies noch kein Wort des Dankes sagen können für alles, was sie für ihn getan hatte. Eine unbegrenzte Hochachtung erfüllte ihn gegen dies ›tapfere kleine Mädchen‹. Nein – die konnte man sich nicht so ohne weiteres als Schwägerin entgehen lassen. Und was für eine musterhafte Schwiegertochter wäre das für Milchen! Die würde sich nicht weigern, ins dritte Stockwerk zu ziehen, würde nicht ein Landhaus vor der Stadt beanspruchen wie Roberts Braut, vor der Milchen eine unbehagliche Scheu hatte. Und überhaupt – wenn diese beiden Menschen nicht zusammenkamen, das war doch jammerschade, so ein paar Prachtgeschöpfe. Also unbedingt mußte er versuchen, Helma zu sprechen, und zwar so bald als möglich. Es war nicht ausgeschlossen, daß sie mit Henricis nach Italien ging. Sie durfte keinesfalls abreisen, bevor er mit ihr gesprochen hatte. Er wollte schon herausbekommen, ob Felix wirklich nichts zu hoffen hatte. War dies der Fall, dann brauchte Felix gar nicht zu wissen, daß er mit ihr gesprochen hatte.

* * *

Helma hatte Vera treu und aufopfernd gepflegt. Es herrschte jetzt ein eigenartiges Verhältnis zwischen den beiden Damen. Fast schien es, als hätten sie die Rollen getauscht. Vera war schwach und willenlos und ordnete sich ihrer Pflegerin unter. Helma sorgte wie eine zärtliche Mutter für ihre Kranke. Daß Veras körperliches Leiden nicht so eingreifender Natur war wie das der Seele, blieb Helma nicht verborgen. Als die Kranke die Krise überstanden hatte und fieberlos im Bett lag, suchte Helma sie durch heitere Vorlesungen zu zerstreuen, und ihre Gedanken von traurigen Bildern abzulenken. In diesem Bemühen wurde sie von dem Konsul nach Kräften unterstützt. Er hielt sich freilich nie lange im Krankenzimmer auf, weil er sehr wohl merkte, daß Vera unruhig wurde, sobald er neben ihrem Lager saß. Ihr Blick suchte dann immer Helma, und wenn diese wie sonst aus dem Zimmer gehen wollte, rief Vera sie zurück und hielt sie mit irgendeinem Auftrag in ihrer Nähe fest.

Deshalb beschränkte Henrici seinen Aufenthalt im Krankenzimmer auf das äußerste. Er verstand so gut, daß Vera sich jetzt vor einem Alleinsein mit ihm fürchtete, obwohl er schon von selbst mit keinem Wort an das Geschehene gerührt hätte. Aber er kam nie, ohne für seine Frau eine Aufmerksamkeit zu haben. Er brachte ihr herrliche Blumen und seltene Früchte, sorgte für heitere Lektüre und erzählte von der bevorstehenden Reise. Alles das geschah in einer fast väterlich ruhigen Weise, so daß sich Veras Scheu vor einem Alleinsein mit ihm langsam wieder verlor. Aber am ruhigsten war sie doch, wenn sie mit Helma allein war.

Wie gut es die beiden Menschen mit ihr meinten, fühlte sie mit tiefer Beschämung. Was hatte sie getan, um so viel Liebe und zarte Sorgfalt zu verdienen? Nichts – gar nichts, ihren Gatten hatte sie bitter gekränkt und Helma früher kaum beachtet. Nun mühten sich die beiden Menschen, um sie ihr Leid vergessen zu machen.

Aber das brannte noch wie ein ätzendes Feuer in ihrer Seele: Verschmäht – verschmäht! Dies Wort prägte sich tiefer und tiefer in ihr Empfinden. Verschmäht von dem Manne, dem sie ihr ganzes Herz zu eigen gegeben hatte, verschmäht, verworfen. Nur der Spielball einer flüchtigen Laune war sie gewesen, nicht mehr.

Und deshalb hatte sie ihren Gatten, der sie so namenlos liebte, daß er ihr alles verzieh, was sie ihm angetan, deshalb hatte sie ihn verlassen wollen, hatte ihn getäuscht und verraten und nicht bedacht, daß sie ihn dadurch bis in das Innerste traf. Schlecht und selbstisch hatte sie gehandelt, an nichts gedacht, als an das eigene Glück. Geschah ihr nicht recht, daß auch sie gedemütigt wurde?

Wie blaß und verfallen ihr Mann aussah, wie umflort seine Augen blickten! Litt er nicht ebensoschwer wie sie selbst? Und doch tat er alles, sie abzulenken von ihrem Leid. Er dachte nicht selbstsüchtig nur an sich, er mühte sich um ihr Wohlbefinden, als wäre sie allein diejenige, die Schmerzen zu tragen hatte.

War es denn nicht möglich, das törichte Herz zu bezwingen, daß es sich dem zuwandte, der ihr so schrankenlos ergeben war, den sie mit ihrer Liebe unendlich glücklich machen konnte? Konnte sie mit allem ehrlichen Willen das Bild des andern nicht aus ihrem Herzen reißen, konnte sie die sonnigen, zärtlichen Augen und das übermütige Lachen Heinz Althoffs nicht vergessen? Starb ihre Liebe zu ihm nicht endlich, diese törichte Liebe, die er nicht begehrte, die ihn nur erschreckt hatte?

Henrici ahnte, daß Vera im stillen schwere Kämpfe mit sich selbst zu bestehen hatte. Es schmerzte ihn, daß er ihr nicht helfen konnte. Nichts vermochte er zu tun, als sie so schonend wie möglich zu behandeln. Die Zeit mußte ihre Wunden heilen, niemand konnte ihr helfen.

Das Verhältnis zwischen Helma und Vera wurde inzwischen immer inniger. Eines Tages, als sich Helma wieder redlich mühte, die Kranke aufzuheitern, erschien ein warmes Licht in Veras Augen.

»Warum tun Sie eigentlich das alles für mich, Helma? Verachten Sie mich im Grunde Ihres Herzens nicht? Bin ich Ihnen nicht verabscheuungswürdig geworden durch das, was ich getan habe? Wenn man selbst rein und unberührt ist, wie Sie, urteilt man streng über solche, die gestrauchelt sind.«

Helma schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß Sie sehr unglücklich sind, gnädige Frau. Weiter braucht es nichts, das ist mir genug. Ich denke, wir Menschen sind alle Irrtümern unterworfen, und wir sollten uns in gegenseitiger Liebe zu helfen suchen.« Sie streichelte dabei sanft Veras blasse, kraftlose Hände.

Diese sah mit feuchtschimmernden Augen zu dem jungen Mädchen auf. »Kind, liebes, gutes Kind – Sie wissen nicht, wieviel Sie mir geworden sind in dieser schlimmen Zeit.« Und nach einer Weile fuhr sie fort: »Wollen Sie mir einen herzlichen Wunsch erfüllen, Helma?«

»Jeden, liebe Frau Konsul.«

»Dann lassen Sie uns ›Du‹ zueinander sagen – seien Sie mir eine Freundin. Ich hatte nie eine, vielleicht war ich selbst schuld daran. Ich war herrisch, unliebenswürdig, ungeduldig, und ich bin in trübseligen Verhältnissen aufgewachsen. Nie fühlte ich den Drang in mir, mich einem Menschen mitzuteilen. Selbst meine Mutter war mir innerlich fremd. Jetzt sehne ich mich nach einer Freundin – ich glaube, Sie haben diesen Wunsch in mir erweckt. Überhaupt, mir ist, als sei ich eine andere geworden, seit – seit ich aus dem Fluß gezogen wurde. Die alte Vera liegt darin begraben ... Wollen Sie mir eine Freundin sein?«

Helma drückte voll warmer Herzlichkeit ihre Hand. »Gern und voll Freude. Aber wird der Herr Konsul nichts dagegen einzuwenden haben? Ich bin doch eigentlich nur die bezahlte Gesellschafterin ...«

Vera schüttelte wehmütig lächelnd den Kopf.

»Hast du je erlebt, daß er mir etwas versagt, was mir Freude macht? Ach, Helma – wenn ich ihm doch je seine Güte vergelten könnte!«

Helma streichelte ihre Wangen. »Du wirst es können, wenn du nur den festen Willen dazu hast.«

»Meinst du? An ehrlichem Willen dazu fehlt es nicht, das weiß Gott. Aber solange ich mein törichtes Herz nicht bezwingen kann, wird mein Bemühen, ihn froh und glücklich zu machen, vergeblich sein. Ruhe und Frieden kann ich ihm nur wiedergeben, wenn ich ihm sagen kann: Ich habe überwunden.«

»Auch das wirst du eines Tages können, Vera. Die Zeit heilt alle Wunden.«

Ein blasses Lächeln huschte um Veras Mund. »Kind – du sprichst, wie der Blinde von der Farbe. Wohl dir. – Aber ich verspreche dir, daß ich ehrlich kämpfen will gegen mich selbst. Nur Zeit muß ich haben. Und versprich mir: laß mich jetzt nicht mit ihm allein – eine fieberhafte Furcht überfällt mich dann vor mir selbst – es ist mir selbst unerklärlich – aber ich kann mir nicht helfen. Bleib bei mir – auch wenn wir nach Italien gehen. Willst du?«

Helma zögerte einen Augenblick. Sie dachte an Felix Althoff. Aber dann sagte sie schnell zu.

Als dann bald darauf Vera friedlich eingeschlummert war, saß Helma träumend und sinnend an ihrem Lager. Ihre Gedanken flogen wieder zu Felix. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen seit jenem Abend und nichts von ihm gehört. Warum schwieg er all die Zeit, warum legte er ihr nicht schriftlich die Frage vor, die er hatte an sie richten wollen? Von Veras Erkrankung mußte er gehört haben, denn seine Eltern ließen sich regelmäßig nach ihrem Befinden erkundigen. Daß er deshalb nicht kam, auch wenn er nichts von seines Bruders Beziehung zu Vera wußte, war erklärlich. Er konnte sie nicht vom Krankenbett rufen, um seine Werbung anzubringen.

Aber er hätte ihr doch schreiben können, nachdem er ihr seine Absicht so deutlich verraten hatte. Konnte er sich nicht denken, wie unruhig sie auf ein Wort von ihm wartete?

Einige Male, wenn sie, um Luft zu schöpfen, ein Stündchen ins Freie ging, war sie wie von einer inneren Macht getrieben in der Nähe der Althoffschen Fabrik durch die Straßen gegangen. Eine heimliche Hoffnung, ihm zu begegnen, zwang sie dazu. Aber nie sah sie ihn auch nur von ferne. Einmal nahm sie sich sogar vor, in das Detailgeschäft zu gehen und irgendeine Kleinigkeit dort zu kaufen. Aber in mädchenhafter Scheu kehrte sie um, ehe sie das Geschäft erreichte. Und nun sollte sie in kurzer Zeit mit nach Italien reisen – vielleicht ohne Felix wiedergesehen zu haben. Ihr war zumute, als wenn dann alles aus und vorbei wäre, als wenn die Trennung dann alles zerstören würde, was heimlich an süßen Hoffnungen in ihr lebte.

Ach, warum hatte er gerade an jenem unseligen Abend das entscheidende Wort sprechen wollen – und warum war sie so töricht unbeherrscht gewesen! Hätte sie nicht alles Störende und Häßliche vergessen können in jenem Augenblick?

Aber nun war es zu spät, sich darüber Vorwürfe zu machen. Wenn sie ihn nur ein einziges Mal vor der Abreise sehen – nur erst die selige Gewißheit haben könnte, daß er sie liebte und zur Frau begehrte, dann wollte sie ja gern mit Vera und dem Konsul nach Italien gehen! Aber so, mit dieser Ungewißheit im Herzen, das war unerträglich. –

Robert Althoff war mit seinem Bruder Heinz hinausgefahren nach seinem Landhaus, um nachzusehen, wie weit die Zimmermaler mit ihren Arbeiten waren. Das Landhaus wurde vollständig neu eingerichtet und sollte in einigen Wochen fertig sein, weil dann die Hochzeit stattfinden sollte.

Die beiden Brüder fuhren dann gemeinsam in derselben Droschke wieder heimwärts. Als sie über den Markt fuhren, sahen sie Helma Olfers kommen. Sie grüßten beide, und Heinz wandte sich schnell nach ihr um. Er sah, daß sie in einem Konfitürengeschäft verschwand. Schnell entschlossen ließ er den Kutscher halten. Diese Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, durfte er sich nicht entgehen lassen. Robert sah ihn erstaunt an, als er sich anschickte, auszusteigen. Dann pfiff er leise durch die Zähne.

»Du willst wohl gar der kleinen Gesellschafterin nachsteigen, Heinz?«

Heinz schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen scharf an.

»Nachsteigen? Du, dieser jungen Dame steigt man nicht nach, verstanden? Aber vielleicht habe ich ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Du kannst mir immerhin den Daumen kneifen, daß sie sich bewegen läßt, deine Schwägerin zu werden,« antwortete er sehr ernst. Dann mußte er aber lachen über Roberts entgeistertes Gesicht.

»Heinz – du wirst doch nicht diese Dummheit begehen?« sagte Robert entsetzt.

»Schweig still, mein Herz, und urteile nicht über eine Sache, die du nicht verstehst. Setze ruhig deinen Weg fort. Und wenn du zu Hause nur ein Wort verlauten läßt, bringe ich dich um, oder ich entführe dir fünf Minuten vor der Hochzeit deine Braut – oder ich tue dir sonst etwas Schreckliches an.«

»Aber Heinz, laß doch mit dir reden!«

»Kein Wort, ich habe keine Zeit. Wenn sie zu Hause fragen, wo du mich gelassen hast, sag, ich bin nach dem Nordpol, oder ich sitze auf der Rathausturmspitze, wenn dir nichts anderes einfällt. Nur die Wahrheit darfst du nicht verraten.«

Robert wollte noch etwas erwidern, aber Heinz warf lachend den Wagenschlag zu und rief dem Kutscher zu: »Der Herr fährt weiter bis zum Thomasplatz.«

Dann winkte er, belustigt über Roberts geärgertes Gesicht, noch einmal zu ihm hinüber und ging langsam bis in die Nähe des Geschäftes, in dem Helma verschwunden war. Es währte nicht lange, bis sie wieder herauskam und, ohne Heinz zu bemerken, ihren Weg fortsetzte. Er folgte ihr durch die belebten Straßen, ohne sie anzureden. Erst als sie in eine ruhige Straße mit breiten Vorgärten einbog, holte er sie schnell ein.

»Guten Morgen, gnädiges Fräulein!«

Helma schrak aus tiefen Gedanken empor. Die Begegnung mit Heinz und Robert Althoff hatte sie sehr erregt. Verwirrt blickte sie in Heinz' Gesicht. »Guten Morgen, Herr Althoff!« erwiderte sie fast unbewußt.

»Gnädiges Fräulein, ich konnte nicht umhin, die Gelegenheit zu benutzen, mit Ihnen einige Worte zu sprechen. Ich danke dem Zufall, der mich in Ihren Weg führte, denn ich sehne mich schon lange danach, Ihnen zu begegnen. Gestatten Sie, daß ich Sie ein Stück Wegs begleite? Ich bitte herzlich darum.«

Helma neigte nur zustimmend das Haupt. So unangenehm es ihr war, mit Heinz zusammenzutreffen, hoffte sie doch, durch ihn etwas von Felix zu hören. Deshalb vermochte sie nicht, ihn zurückzuweisen.

Helma kam ihm mit keinem Wort zu Hilfe. So beschloß Heinz, zunächst einmal von sich selbst zu reden. »Gnädiges Fräulein, ich hatte bisher leider noch keine Gelegenheit, Ihnen meinen innigen Dank auszusprechen für Ihr opfermütiges Eingreifen in eine Begebenheit, die – die mir überaus peinlich war und die ohne Ihr Dazwischentreten unberechenbare Folgen hätte nach sich ziehen können. Auch für Ihre mich von schweren Sorgen befreiende Nachricht möchte ich Ihnen von ganzem Herzen danken.«

Helmas Gesicht zeigte deutlich, wie unangenehm ihr seine Worte waren. »Ich bitte sehr – lassen wir diese Angelegenheit ruhen, Herr Althoff. Sie werden verstehen, daß es mir sehr peinlich ist, darüber zu sprechen,« sagte sie hastig.

»Ich begreife es nur zu gut, gnädiges Fräulein. Aber danken muß ich Ihnen – und ich wünschte, ich könnte Ihnen meine Dankbarkeit durch die Tat beweisen.«

Helma zog die Stirn zusammen. »Sie sind mir keinen Dank schuldig. Was ich getan, habe ich aus Dankbarkeit für die Menschen getan, in deren Hause ich eine Heimat gefunden habe. Ich wollte von ihnen ein Unheil abwenden und handelte nur diesem Antrieb folgend.«

Heinz blickte forschend in das ernste, stille Mädchengesicht. »Aber die Nachricht sandten Sie mir, weil ich Sie darum gebeten habe. Dafür darf ich Ihnen doch wenigstens meinen Dank aussprechen.«

Helma sah zur Seite. »Das ist ja nun geschehen.«

»Und nun lassen Sie mich zufrieden und belästigen Sie mich nicht weiter. – Nicht wahr, das ist der unausgesprochene Nachsatz zu Ihren Worten?« sagte er halblaut.

Sie blickte schnell zu ihm auf. »Ich will Sie nicht länger aufhalten.«

Er lächelte. »Also Sie verschmähen sogar eine höfliche Einwendung? Aber trotzdem muß ich Ihnen noch ein Weilchen lästig fallen. Bitte, sagen Sie mir, wie es Frau Konsul geht und ob – ob durch meine Schuld ein Zerwürfnis zwischen den beiden Gatten stattgefunden hat. Den Herrn Konsul wagte ich nicht danach zu fragen.«

Helma sah ernst in sein blaß gewordenes Gesicht. »Der Konsul ist ein viel zu edler und gütiger Mann, um seine Frau entgelten zu lassen, was sie getan. Aber beide sind sehr unglücklich – und nur die Zeit wird die Wunden heilen können, die sie erhalten haben.«

»Glauben Sie, daß – sie es überwinden wird?« stieß er hervor, und seine Gewissensnot verriet sich deutlich in seinem Gesicht.

In Helmas Herzen regte sich auch für ihn das Mitleid. »Ich hoffe, sie wird Trost finden in der schrankenlosen Liebe ihres Mannes, wenn es auch sehr lange dauern wird, bis sie überwunden hat.«

»Und körperlich! Ist sie wieder ganz gesund?«

»Die Lungenentzündung ist geheilt, aber der Arzt verlangt einen längeren Aufenthalt in Italien. Wir reisen nächste Woche dahin.«

Heinz wehrte jetzt nachdrücklich ab, was ihn selbst betraf. Felix fiel ihm wieder ein, und der Wunsch, ihm zu helfen, regte sich mächtig in ihm.

»Sie werden mitreisen, gnädiges Fräulein?« fragte er interessiert.

»Ja!«

Heinz blickte sie scharf an, als er sagte: »Das wird mein Bruder Felix herzlich bedauern.«

Alles Blut schoß Helma zu Kopf, und unfähig, ein Wort zu erwidern, schritt sie schneller aus, wie auf der Flucht vor sich selbst.

Heinz war sehr zufrieden. Das sah nach allem andern mehr aus, als nach Gleichgültigkeit. Er hielt unbeirrt mit ihr Schritt und fragte hartnäckig: »Sie wissen doch, daß ihm das sehr leid tun wird?«

Sie zwang sich heldenhaft zur Ruhe. »Wie sollte ich denn?« Und mit dem Mute der Verzweiflung fuhr sie fort: »Ich habe Ihren Herrn Bruder lange nicht gesehen, er ist doch wohl?«

Heinz hörte den zitternden Unterton in ihrer Rede. »Körperlich befindet er sich ausgezeichnet. Aber auf seiner Seele lastet ein großer Schmerz.«

Helma erblaßte, aber sie antwortete nicht und sah nicht auf.

Heinz fuhr, zufrieden mit der Wirkung seiner Worte, fort: »Im Vertrauen, gnädiges Fräulein – Sie sind ja befreundet mit meinem Bruder, vielleicht könnten Sie mir einen guten Rat geben, wie ihm zu helfen wäre.«

»Ich – wie sollte ich?« fragte sie verwirrt, tonlos.

»O, Frauen sind in solchen Fällen Zauberkünstler. Mit geschickten Fingern lösen sie leicht und zart die unentwirrbar scheinenden Knoten. Und ich glaube ganz sicher, Sie könnten helfen, wenn Sie nur wollten.«

»Vielleicht irren Sie sich.«

»Nein, nein. Bitte, hören Sie mich an! Mein Bruder ist ein ernster, stiller Mensch und krankt an dem Wahn, daß sein kleines Fußleiden ihn daran hindert, die Liebe einer Frau zu erringen. Trotz seiner Verschlossenheit habe ich herausgebracht, daß er eine junge Dame liebt. Ein Mensch wie er liebt nur einmal und mit seinem ganzen Sein und Wesen. Lange brauchte er, bis er den Entschluß faßte, die junge Dame zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte. Endlich faßte er sich ein Herz. Ehe er aber seine Frage endlich anbringen kann, erhält er von der jungen Dame eine so deutliche Abweisung, daß er nicht anders kann, als an einen Korb zu glauben.«

Hier wandte sich Helma mit so erschrockenem Ausdruck nach ihm um, daß er nur mit Mühe ein überlegenes Lächeln verbergen konnte. Da sie jedoch kein Wort herausbrachte, fuhr er scheinbar unbeirrt fort: »Mir ist trotzdem die Sache etwas zweifelhaft. Wer weiß – junge Mädchen haben oft seltsame Stimmungen. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihm auszureden, daß er einen Korb erhalten hat. Aber ich kenne ihn. Er läßt sich nicht bewegen, die Werbung zu wiederholen – es fehlt ihm leider das nötige Selbstbewußtsein, er denkt viel zu bescheiden von sich selbst. Ich aber weiß, wie liebenswert mein Bruder ist. Er ist sonst ein ganzer Mann. Und ich möchte zu gern herausbekommen, ob die junge Dame ihn wirklich nicht liebt und ihm einen Korb gegeben hat. Und – dabei sollen Sie mir helfen, gnädiges Fräulein.«

Helma preßte die Lippen zusammen, als müßte sie ein vorschnelles Wort zurückhalten.

»Wollen Sie das tun, gnädiges Fräulein?« fragte er bittend.

Sie sah mit feuchtschimmernden Augen zu ihm auf. »Wie kann ich denn?« fragte sie leise.

Er sah sie ernst und bittend an. »Sie kennen die junge Dame – so genau wie sich selbst. Sagen Sie ihr doch, sie möchte mir verraten, ob sie wirklich meinem Bruder einen Korb geben wollte, oder ob sie nur an jenem unseligen Abend nicht über ihr Schicksal entscheiden wollte und deshalb der Lebensfrage auswich.«

Helma blickte ihn plötzlich an, daß ihm ganz warm ums Herz wurde. Da war wieder das herzliche, brüderliche Gefühl für sie in seiner Seele.

»Sehen Sie, liebes, teures Fräulein Helma, ich bin doch so erbärmlich klein und gedemütigt vor Ihnen seit jener Stunde. Und mir ist, als hätte ich durch mein Vergehen nun auch noch meines Bruders Glück in Frage gestellt. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Wenn ich nun Ihnen und meinem Bruder helfen könnte, dann wäre ich doch auch einmal zu etwas nütze. Ich habe Ihnen gegenüber von Anfang an das Gefühl gehabt: ›Die möchtest du zur Schwester haben.‹ Sagen Sie mir, liebes, teures Fräulein Helma – könnten Sie mir nicht eine Schwester sein? Vertrauen Sie mir, bitte, an, ob ich recht hatte, wenn ich glaubte, Felix sei Ihnen teuer.«

Er hatte so warm und ehrlich gesprochen, daß Helma sich schämte, länger ihr Gefühl zu verleugnen.

Sie sah bewegt zu ihm auf.

»Diese Frage kann und will ich nur Ihrem Bruder beantworten,« sagte sie leise, aber fest und klar.

Er ergriff ihre Hand. »Das ist mir so gut wie ein Geständnis. Sie würden anders gesprochen haben, wenn Sie Felix nicht liebten. Liebe, kleine Schwägerin – nein, protestieren Sie nicht, von heute an nenne ich Sie so, liebe, kleine Schwägerin – Sie müssen viel tun, um gutzumachen, was der arme Felix um Sie gelitten hat.«

Sie lächelte halb verschämt, halb schelmisch. »Was denn zum Beispiel?«

»Vor allen Dingen müssen Sie mir helfen, Felix dazu zu bringen, daß er Ihnen in aller Form einen Heiratsantrag macht,« sagte Heinz im alten Übermut.

Helma schüttelte energisch den Kopf. »Nein – dazu kann ich unmöglich helfen.«

»So? Und das soll wahre Liebe sein? So kleinlich wollen Sie mit einmal sein? Sie, die ich als tapferes, großherziges Geschöpf bewundert habe!«

Helma seufzte tief auf. »Mein Gott, ich kann doch nicht zu ihm gehen und ihm sagen: Hier bin ich, nun frage mich, ob ich deine Frau werden will,« sagte sie halb schmerzlich, halb lächelnd.

»Ach – das wäre eigentlich das Netteste. Aber ich weiß, da würde Ihr ganzes Heldentum kläglich Schiffbruch leiden. Nein, ich will es Ihnen viel leichter machen. Eigentlich brauchte ich Felix nur unsere Unterredung mitzuteilen, dann würde er wohl Mut bekommen. Aber wo soll er mit Ihnen zusammentreffen? Felix kennt meine Beziehungen zum Hause des Konsuls. Sein Feingefühl würde ihm verbieten, Sie dort aufzusuchen. Viel Zeit haben wir auch nicht, denn abreisen dürfen Sie auf keinen Fall, bevor ich Sie regelrecht meine Schwägerin nennen darf. Also bleibt nur ein Ausweg: Sie müssen meiner Mutter einen Besuch machen – sagen wir, um sich von ihr vor Ihrer Abreise zu verabschieden.«

»Aber – eigentlich erscheint mir solch ein Besuch gar nicht gerechtfertigt,« sagte Helma zaghaft.

»Schämen Sie sich, kleine Schwägerin! Nicht einmal so viel Mut haben Sie, einen harmlosen Abschiedsbesuch zu machen!«

Sie lachte. »Ist der wirklich so harmlos?« fragte sie schelmisch.

»Natürlich, Sie kommen einfach, um Lebewohl zu sagen. Was können Sie dafür, wenn ich Ihnen Felix zufällig in den Weg führe.«

Sie seufzte. »Ach, das ist alles nicht so leicht, wie Sie denken. Wie soll ich mich vor allen Dingen vor Ihren Eltern rechtfertigen? Was sollen sie von mir denken?«

»Das überlassen Sie mir. Ich mache Milchen – Verzeihung, meine Mutter – vorher so weich, daß Sie nichts weiter zu tun haben, als sich ihre Liebkosungen gefallen zu lassen.«

»Sind Sie so sicher, daß Ihre Eltern die arme Gesellschafterin als Schwiegertochter annehmen?« fragte Helma, noch immer zögernd.

Er sah sie lachend an. »Unter einer Bedingung.«

»Nun?«

»Sie müssen versprechen, mit Felix das dritte Stockwerk in unserem Haus zu bewohnen. Meine Mutter will durchaus eine Schwiegertochter im Hause haben, auf die sie alle Zärtlichkeit loslassen kann, die sie bisher bei ihren drei Jungen nicht anbringen konnte. Wir haben unser Wort gegeben: der nächste, der nach Robert heiratet, bleibt mit seiner Frau im Hause. Sie können unbesorgt einwilligen, Mutter ist eine seelengute Frau und wird Sie höchstens vor Liebe umbringen.«

Helma lachte, aber in ihren Augen schimmerten Tränen. »Sie entrollen mir da ein herrliches Zukunftsbild.«

»Es wird sicher von der Wirklichkeit noch übertroffen. Sie sollen es wirklich wie im Himmel bei uns haben, liebe, kleine Schwägerin. Ich helfe sicher auch mit, Sie zu verwöhnen. Nun sagen Sie mir nur, wann ich Sie Mutter anmelden darf. Gleich heute nachmittag? Oder geht das nicht?«

»Nein – heute kann ich Frau Konsul nicht noch einmal verlassen.«

»Also morgen?«

Sie zögerte noch ein Weilchen, dann hob sie entschlossen das Haupt. Sie wollte ihr Glück nicht noch einmal aufs Spiel setzen, sondern fest danach greifen. »Ja, morgen nachmittag um vier Uhr. Ist's recht so?«

»Abgemacht ... Aber Ihr Wort darauf! – Ich muß Sie binden, sonst werden Sie am Ende noch fahnenflüchtig.«

»Mein Wort – ich komme.«

»Bravo, kleine, tapfere Schwägerin! Und nun will ich nicht weiter mit Ihnen gehen, es treibt mich heim. Mir ist heute endlich mal wieder leicht und frei ums Herz. Ich war jetzt immer in einer schauderhaften Verfassung. Und noch eins, kleine Schwägerin – ich hab noch eine große Bitte.«

Sie sah ihn fragend an. »Nun?«

»Helfen Sie mir ein bißchen mein Gewissen erleichtern. Sie sind so viel um die Konsulin. Wenn Sie ihr die Überzeugung beibringen könnten, daß so ein Leichtfuß wie ich gar keine Liebe verdient! Wenn Sie ihr vor Augen halten könnten, wie viel besser, edler und liebenswerter ihr Gatte ist! Wirklich, er ist ein selten prächtiger Mensch, er hat mir Bewunderung abgezwungen durch die Größe seines Wesens. Sagen Sie ihr doch recht eindringlich, daß ein Mensch wie ich ihm das Wasser nicht reichen kann.«

»Ich will es versuchen. Ob es etwas hilft? Das Herz ist ein eigensinniges Ding und läßt sich nicht durch Gründe überzeugen. Die Zeit wird hoffentlich mächtiger sein als unser guter Wille.«

»Denken Sie noch sehr schlecht von mir, liebe Schwägerin?« fragte er halb ernst, halb scherzend.

Sie schüttelte den Kopf. »Im Grunde habe ich's nie getan, wenn ich dem Bruder Leichtsinn auch so sehr böse war.«

»Gottlob! Ehrlich gesagt – an Ihrer guten Meinung liegt mir viel. Nun leben Sie wohl für heute!«

Sie reichte ihm die Hand und sah ihn warm und herzlich an. »Meinen ehrlichen Dank für das, was Sie mir heute gesagt.«

»O, ich war Ihnen viel mehr Dank schuldig!«

»Nein, nein!«

»Nun, dann werde ich mir meinen Dank schon zur gelegenen Zeit erfordern. Auf Wiedersehen morgen um vier Uhr, kleine Schwägerin!«

»Auf Wiedersehen!«

Sie trennten sich mit einem festen Händedruck.

* * *

Als Heinz nach Hause kam, lief ihm zuerst Robert in den Weg. Er hielt Heinz am Rockknopf fest.

»Du, Heinz, du hast doch nicht im Ernst die Torheit begangen, um die kleine Gesellschafterin anzuhalten?« fragte er hastig.

Heinz sah ihn mit einem belustigten Blick an. »Wieso Torheit, mein lieber Robert?«

»Mensch, du kannst doch wahrhaftig eine ganz andere Heirat machen!«

»Hm – wenn ich da wäre, würde ich das vielleicht können. Aber ich will dir mal was sagen, Robert. Ich habe mich mit keinem Wort in deine Angelegenheit gemischt, als du dich verlobtest. Meinst du wohl, ich ließe mir nur im geringsten von dir dreinreden, wenn ich mich verloben wollte?«

»Na, bitte sehr, meine Wahl ist doch über allen Zweifel erhaben.«

»In bezug auf den nervus rerum unbedingt. In jedem andern Punkt ist Fräulein Helma Olfers genau so über jeden Zweifel erhaben, wie deine Braut.«

Robert zuckte die Achseln. »Du scheinst wirklich rettungslos verliebt zu sein in die junge Dame.«

»Vielleicht täuschst du dich doch.«

»Also hast du dich ihr noch nicht erklärt?«

Heinz lachte. Tausend Schelme zuckten in seinem Gesicht. »Vorläufig hab ich ihr bloß gesagt, daß du sie furchtbar gern zur Schwägerin haben willst. Wenn sie dich aber danach fragen sollte, wirst du mich hoffentlich nicht Lügen strafen.«

»Treib doch nicht solchen Unsinn. Mit dir ist wieder einmal kein vernünftiges Wort zu reden.«

»Also, überlaß mich meinem Schicksal, Robert.« –

Wenige Minuten später stand Heinz vor seiner Mutter im Wohnzimmer. Sie saß am Fenster und stopfte säuberlich ein winziges Loch in einem Taschentuch.

»Was hast du denn da wieder für Augenpulver, Milchen?«

Sie seufzte. »Ja, wahrhaftig für so feine Arbeit taugen meine Augen gar nicht mehr. Da dachte ich nun, Roberts zukünftige junge Frau würde mir derartige Arbeiten abnehmen, aber, du lieber Gott – dazu ist Trudi viel zu vornehm. Außerdem bleibt sie ja nicht bei uns. Wie weit ist es denn draußen in dem Landhaus mit der Einrichtung?«

»Bald alles fertig, Milchen. Wirst dich wundern, alles hochfein.«

Die alte Dame nickte bekümmert.

»Kann mir's schon denken. Da wird sich unsereins gar nicht wohl fühlen.«

Heinz nahm sie beim Kopf. »Gesteh's nur, Mutterle – die Trudi ist überhaupt nicht so recht dein Geschmack.«

Sie strich verlegen die Falten ihres Kleides glatt. »Ach, weißt du, sie ist ja ein sehr hübsches, kluges Mädchen – na – und die Hauptsache ist doch, daß Robert mit ihr glücklich wird.«

»Und außerdem wird sie nicht deine einzige Schwiegertochter bleiben.«

Sie seufzte, »Na, ihr andern beide laßt euch schrecklich lange Zeit.«

Er umfaßte ihre Schultern und flüsterte ihr ins Ohr: »Herzensmilchen – morgen nachmittag um vier Uhr besucht dich deine zweite Schwiegertochter. Und das ist eine nach deinem Herzen.«

Sie schüttelte ihn vor Überraschung an den Schultern. »Schlingel, du – also warst du doch verliebt! Nun aber mal hergesetzt und gebeichtet! Mit wem hast du dich verlobt?«

Er machte ein unschuldiges Gesicht. »Ich? Mit niemand, Milchen.«

»Aber, Heinz! Was soll denn das nun wieder heißen? Eben sagst du doch, daß mich morgen nachmittag meine zweite Schwiegertochter besuchen wird.«

»Ja doch, wird sie auch. Du hast doch außer Robert noch zwei Söhne.«

Milchen verging der Atem. »Felix – du sprichst von Felix?« rief sie freudig erstaunt.

Er hielt ihr mit geheimnisvoller Wichtigkeit den Mund zu. »Still, Milchen, schrei nicht so – er weiß es nämlich selbst noch nicht, daß er verlobt ist.«

Nun wurde sie ernstlich böse. »Narretei und kein Ende. Du solltest dich schämen, deine alte Mutter so aufzuziehen.«

»Aber, Herzensmilchen, ich rede ja ganz im Ernst. Komm nur, setz dich wieder zu mir. Ich erzähle dir gleich eine wunderschöne Geschichte. Aber jetzt versprich mir strengstes Stillschweigen bis morgen nachmittag – sonst geht dir eine prächtige, reizende Schwiegertochter durch die Lappen. Eine, die hier im Hause wohnen und sich von dir verhätscheln lassen will.«

Sie setzte sich und sah ihn unsicher an. »Ist es auch kein dummer Spaß?«

»Wahrhaftig nicht, Milchen.«

»Wenn's nicht wahr ist, kriegst du wahrhaftig Prügel, Junge,« drohte sie.

Er küßte sie scherzhaft ab. »Schneide doch nicht auf; lieber beißest du dir den kleinen Finger ab.«

»Ach Gott, so rede doch endlich, du Übermut!«

Da begann er denn mit allerlei kleinen rührseligen Übertreibungen den Herzensroman der beiden Liebenden zu erzählen.

Sie konnten, wie die beiden sagenhaften Königskinder, nicht zusammenkommen. Er malte Felix' Seelenschmerz in den schwärzesten Farben und schilderte lebhaft, wie er sich heute opfermütig Helma in den Weg gestellt und ihr mit List und Tücke das Geheimnis ihrer Liebe entrissen hatte.

Milchen schluchzte herzbrechend. Ihr armer, armer Felix, was hatte er alles erduldet, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte!

»Siehst du, Milchen,« sagte Heinz zum Schluß, »wir müssen Felix gewissermaßen zu seinem Glück zwingen. Du weißt ja, wie sonderbar er ist. Immer denkt er an seinen Fuß und bildet sich ein, es könne ihn deshalb kein Mädchen liebhaben. Weißt du, wir sagen ihm am besten vorher gar nichts. Ganz plötzlich muß Helma vor ihm stehen, damit er sich gar nicht erst besinnen kann. Du mußt mir natürlich helfen, damit sie niemand stört.«

Das war sein Trumpf. Milchen war als Hilfstruppe geworben. Sie ging, wie er erwartet hatte, mit Feuereifer darauf ein und übernahm es auch, den Vater vorzubereiten und etwaige Bedenken gegen die Heirat seines Sohnes mit einem armen Mädchen zu zerstreuen.

»Und sie hat es fest versprochen, daß sie hier im Hause wohnen will?« fragte sie mit freudig geröteten Wangen.

»Ganz fest, Milchen.«

»Ach Gott, ach Gott, weißt du, Heinz – da bin ich sehr froh.«

»Ich auch, Herzensmilchen.« – – –

Felix erfuhr wirklich von alledem nichts.

Am ungeduldigsten erwartete Milchen am nächsten Tage die vierte Stunde. Sie legte sich eine feierliche Rede zurecht und sagte sie sich in Gedanken immer wieder vor, wobei sie vor Rührung bald zerfloß. Als dann Helma Punkt vier Uhr zu ihr ins Zimmer trat und in ihrer Verwirrung so herzig und lieb vor ihr stand, da wurde aus der ganzen schönen Rede nichts. Milchen umarmte schluchzend, von Rührung überwältigt, das junge Mädchen und brachte nichts hervor als: »Mein liebes, gutes Kind, mein Töchterchen, meine liebe, liebe Helma!«

Das junge Mädchen ließ sich herzen und küssen und sah mit den schönen, feuchtschimmernden Augen in das gute, liebe Gesicht der alten Dame.

Aber Heinz bereitete dieser Szene ein schnelles Ende.

»Jetzt mußt du verschwinden, Milchen. Hast ja noch gar keine Berechtigung, dich hier als Schwiegermutter aufzuspielen. Erst hole ich jetzt Felix herbei. Kleine Schwägerin, jetzt tapfer sein! Wir überlassen Sie Ihrem Schicksal.«

Helma nickte ihm lächelnd zu und tat einen tiefen Atemzug. Milchen küßte und tätschelte sie noch einmal, ehe sie im Nebenzimmer verschwand. Heinz ging hinaus in den Vorsaal und rief Felix an den Fernsprecher.

»Du, Kleiner, komm doch schnell mal herauf!«

»Ist es denn so eilig?« fragte Felix von unten.

»Unbedingt, komm nur schnell!«

Er blieb an der Vorsaaltüre stehen, bis Felix heraufkam.

»Was ist denn los, Heinz?«

Heinz faßte ihn um die Schulter. »Komm mal her, mein Sohn! Hier im Zimmer ist jemand, der sich furchtbar gern von dir eine Frage vorlegen lassen möchte. Nun frag nur tapfer darauflos, Kleiner.« Er öffnete die Zimmertür, schob Felix hinein und schloß sie hinter ihm.

»Wenn er nun nicht als glücklicher Bräutigam herauskommt, ist ihm nicht mehr zu helfen,« sagte er vor sich hin. –

Felix stand wie erstarrt auf der Schwelle und sah mit brennenden Augen auf Helma, die glühendrot mitten im Zimmer stand. »Helma!« rief er leise, als fürchte er, das liebe Bild zu verscheuchen.

Da war es mit ihrer Fassung und Tapferkeit vorbei. Sie schlug die Hände vors Gesicht und weinte.

Im Nu war Felix an ihrer Seite. Ihre Tränen lösten seine Erstarrung, und ihre Fassungslosigkeit erweckte seinen Mut. Er zog ihr die Hände vom Gesicht.

»Helma – liebe, teure Helma – Sie hier – Sie soll ich fragen? Darf ich wirklich –? Helma – wollen Sie meine Frau werden?«

Sie sah unter Tränen lächelnd zu ihm auf. »Ich will.«

Er preßte sie fest an sich im Übermaß des Glückes und küßte sie wieder und wieder. Worte brauchte es nun nicht mehr zwischen den beiden.

Nur einmal sagte er noch: »Hast du mich wirklich lieb, Helma?«

Sie schmiegte sich in seine Arme. »Wäre ich sonst hier?« fragte sie leise.

Nun mußte sie ihm alles erzählen, was er noch nicht wußte. Das dauerte sehr lange, so lange, daß Heinz endlich die Tür aufmachte und sagte: »Kinder, ich kann Milchen nicht länger bändigen, sie will unbedingt das Brautpaar sehen.«

Da gab es nun eine neue Rührszene. Heinz hatte allen Übermut nötig, um nicht in Freudentränen zu ertrinken, wie er behauptete. Auch Karl Althoff und Robert wurden herbeigerufen. Der erstere kam Helma gleich den andern sehr liebevoll entgegen. Er fühlte, daß Helma seinen Sohn glücklich machen werde – das war ihm die Hauptsache.

Robert war zunächst sprachlos, als er Helma Olfers als Braut im Familienkreis fand. Da die Eltern einverstanden schienen, konnte auch er nichts einwenden. Er beglückwünschte sie mit guter Haltung und wandte sich dann an Heinz, um ihm, dem vermeintlichen Verlobten, die Hand zu schütteln. Der drehte ihn lachend herum.

»Du bist an die falsche Adresse geraten, Robert – dort steht der Bräutigam.«

Robert sah ihn erstaunt an. »Aber du sagtest doch –«

»Daß Helma deine Schwägerin werden soll – richtig. Ich erkläre dir ein andermal, wie das zusammenhängt.«

* * *

Vera durfte seit einigen Tagen das Bett verlassen. Sie lag in ein weißes Gewand gehüllt in einem bequemen Lehnsessel, als Helma wieder nach Hause kam. Vera sah ihr in das lebhaft gerötete Gesicht, aus dem die Augen noch glückselig strahlten.

Felix hatte sie bis nach Hause begleitet und sehr lange Zeit zum Abschied gebraucht.

»Wie lange du ausgeblieben bist, Helma!« sagte Vera mit leisem Vorwurf.

Helma ließ sich neben ihr nieder und faßte ihre Hand. »Verzeihe, daß ich dich warten ließ. Diesmal konnte ich wirklich nicht schneller heimkehren.«

»Und nun glüht dein Gesicht. Bist wohl sehr schnell gelaufen?«

»Die Sonne schien so warm – und – ach, Vera – ich möchte dir so gerne etwas sagen. Und doch ist mir, als dürfte ich gar nicht von dem sprechen, was meine Seele erfüllt.«

Vera lächelte in der ihr jetzt eigenen wehmütigen Art, die einen neuen Zauber über ihr schönes bleiches Gesicht ausstrahlte.

»Wie kann dir das schwer werden! Kennst du nicht jetzt jeden Winkel meiner Seele? Darf ich nicht auch das wissen, was dich bewegt?«

»Doch, du darfst es. Nur fürchte ich, dich zu betrüben.«

»Ist es denn etwas Trauriges, was du mir sagen willst?«

»Für mich ist es etwas sehr Frohes – etwas Wunderschönes. Aber soll ich dir von meinem Glück reden, da du so traurig bist?«

Vera stützte sinnend das Haupt in die Hand. »Meinst du, ich könne fremdes Glück nicht ertragen, weil ich selbst unglücklich bin? Nein – so egoistisch bin ich nicht. Also sage mir, was dir Gutes begegnet ist.«

Helma atmete tief auf und faßte ihre Hand. »Ich habe mich verlobt, Vera.«

Diese blickte überrascht auf. »Verlobt? Deshalb dein erregtes Wesen gestern und heute! Ich merkte dir etwas Außergewöhnliches an, seit du gestern heimgekehrt warst. Nun rede doch, kleine Helma – wer ist denn der Glückliche?«

Helma drückte fest ihre Hand, als fürchte sie, ihr mit dem Namen weh zu tun. »Felix Althoff.«

Veras Hand zuckte leise. Sie legte den Kopf mit geschlossenen Augen zurück. Der leidvolle Zug in ihrem Gesicht vertiefte sich. Dann aber schlug sie die Augen auf und blickte ernst in Helmas Gesicht. »Kind, ich hab dir einmal selbst geraten, du sollest dir Felix Althoff als Freier sichern. Aber heute sage ich dir nur eins – werde um keinen Preis seine Frau, wenn du ihn nicht liebst. Nimm dir ein Beispiel an mir. Eine Ehe ohne Liebe ist wie ein schleichendes Gift, welches das Beste im Menschen zerstört. Solch eine Fessel knechtet die Seele, daß sie sich wundreibt und verbluten muß.«

Helma schüttelte den Kopf. »Du irrst, Vera. Ich liebe ihn – mehr als mein Leben.«

Es lag ein freudiger Glanz auf dem sonnigen Gesicht. Vera zog sie in ihre Arme. »Dann sei glücklich mit ihm, kleine Helma, du verdienst es.«

»Ach, wenn es danach ginge, müßtest du auch glücklich sein.«

»Nein, ich habe am Heiligsten gefrevelt. Mir wurde zuteil, was ich selbst heraufbeschworen.«

Helma sah ihr ernst in die Augen. »Vera – kannst du nicht dennoch wieder froh und glücklich werden? Vergiß doch Heinz Althoff. Sieh, besser und edler ist dein Mann. Siehst du, Vera, ich glaube, du warst nur sehr krank in deinem Herzen, hast dir ein Wunschbild geschaffen und glaubtest, Heinz Althoff gleiche diesem. Aber du irrtest dich. Er selbst hat mir gesagt, daß er deine Liebe nicht verdient.«

Vera schrak empor. »Du sahst ihn? Du hast mit ihm gesprochen?«

»Ja – gestern und heute.«

»Sag mir, was er dir gesagt hat – alles, ich bitte dich.«

Helma erzählte ihr alles.

Vera hörte mit geschlossenen Augen zu. Als das junge Mädchen geendet hatte, quollen heiße Tränen unter Veras geschlossenen Lidern hervor. »Er kann schon wieder lachen und lustig sein?« sagte sie schmerzlich.

»Ja, Vera,« erwiderte Helma ernst und im Bestreben, ihr helfen zu wollen. »Er ist wirklich ein Mensch, der nur auf der Oberfläche lebt, ein Leichtfuß, wie er sich selbst nennt. Und er hat keinen größeren Wunsch als den, daß du ihn vergessen möchtest, damit sein Gewissen entlastet wird. Gewiß, seine persönliche Liebenswürdigkeit ist bezaubernd, und ich selbst bin ihm viel Dank schuldig, aber es ist Wahrheit, wenn er sagt, er verdiene eine tiefe Frauenliebe gar nicht, denn er vermöge sie nicht zu erwidern. Du solltest dein Herz fest in die Hand nehmen und es einem Würdigeren zuzuwenden suchen. Welch ein Mann ist der deine dagegen! Wiegt seine Güte nicht alles auf, was Heinz Althoff an äußeren Vorzügen besitzt? Und wie er dich liebt, Vera! Du solltest nur sehen, wie er dich manchmal verstohlen anblickt, so schmerzlich, so gramvoll – das Herz tut mir weh, so oft ich solch einen Blick auffange. Wende doch dein Herz nicht länger von ihm ab. Er verdient es tausendfach, geliebt zu werden.«

Vera strich sanft über Helmas Haar. »Kleine Predigerin, meinst du, ich sehe das alles nicht? Glaubst du, ich bin von Stein, daß sein Leid nicht auch das meine ist? Aber ich kann jetzt nichts anderes für ihn empfinden als Mitleid, tiefes, brennendes Mitleid. Seine Güte martert mich mehr, als sie mir wohltut, weil ich sie nicht vergelten kann. Ach, Kind, einmal vom glatten Wege abgewichen, findet man sich so schwer wieder im Leben zurecht. Mir wäre wohler, man hätte mich nicht meinem feuchten Grabe entrissen. Es war der schlechteste Dienst, den mir Heinz Althoff getan.«

Helma legte ihr erschrocken die Hand auf den Mund. »Nicht so sprechen, Vera – nicht einmal so denken darfst du. Wenn das dein Mann hörte – er wäre außer sich. Hofft er doch, daß du dich abgefunden hast mit dem Leben, daß es anfängt, dir wieder wert zu sein. Und sag selbst, hast du nicht des Schönen und Guten so viel? Du bist reich, um wohltun zu können, wirst geliebt von einem Menschen, der nichts will als dein Glück, und dem du alles bist. Du kannst reisen, wohin du willst – alle Schönheiten der Erde kannst du kennen lernen, wenn du Lust dazu hast. Und – es liegt in deiner Macht, eines andern Menschen Schmerz zu lindern, ihn glücklich zu machen. Ist das nichts? Ach, wie gesegnet kann dein Leben noch werden, wenn du erst gelernt hast, mehr an andere zu denken als an dich. Verlier dich doch nicht selbst! Raffe dich auf! Zeig deinem Manne, daß du den Willen zum Leben wiedergefunden hast! Es wird ihn beglücken, du kannst ihn von Leid und Schmerzen lösen. Glaube mir, du wirst ein reines, aber stilles Glück dabei empfinden lernen. Du bist doch gut, hast ein Herz für fremdes Leid, das habe ich oft gemerkt, als du noch glücklich warst. Das kann nicht in dir erstorben sein, besinne dich nur auf dich selbst. Wirf die Schwäche von dir, die dich niederdrückt. Bis jetzt hast du ernstlich nichts getan, um gegen das Gefühl zu kämpfen, das dich krank gemacht hat. Werde gesund – auch innerlich! Setze dich zur Wehr! Wache auf, Vera, kämpfe gegen dich selbst!«

Helma hatte sich in eine steigende Erregung hineingesprochen. Ihre Augen glänzten, ihre Wangen glühten, und ihre Worte klangen eindringlich, überzeugend. Der heiße Wunsch, Vera zu helfen, beherrschte sie so sehr, daß ihre Worte nicht wirkungslos verhallten.

Vera hörte sie nicht ohne heimliche Beschämung an. »Kind, du sprichst mit einer so feurigen Beredsamkeit, daß man glauben muß, was du sagst. Das klingt beinahe, als wüßtest du etwas vom Leben.«

»Vera – ich habe manches Schwere hinter mir, was mir zu denken gab. Ich bin nicht so unerfahren, wie du glaubst.«

»Und doch bist du ein Kind, kleine Helma, ein liebes, gutes Kind. Glaub mir – nichts weiß man vom Leben – bis man schuldig geworden ist. Dann erst kann man das Leben in seinen Höhen und Tiefen verstehen. Aber dir zuliebe will ich versuchen, mich aufzuraffen, du sollst nicht tauben Ohren gepredigt haben. Und damit du siehst, wie ernst ich es meine, will ich gleich einen Entschluß fassen. Gern gehst du doch jetzt nicht mit, da dein Herz hier zurückbleibt. – Es wäre selbstisch von mir, dich an dein Versprechen, uns zu begleiten, zu binden. Dein Verlobter wird wohl nicht böse sein, wenn du zurückbleibst.«

Helma lächelte errötend. »Das gewiß nicht, Vera, er war sehr betrübt, daß ich darauf bestand, mein Versprechen zu halten. Du sollst aber nicht an uns denken. Wenn es dir lieber ist, gehe ich dennoch mit.«

»Närrchen! Erst hältst du mir eine schöne Predigt, daß ich nicht an mich, sondern an das Glück anderer denken soll. Und nun ich den ersten schüchternen Versuch mache, willst du dagegen sprechen.«

Helma sah froh erstaunt in Veras lächelndes Gesicht. »O, wenn es so gemeint ist, dann danke ich dir von Herzen – auch in Felix' Namen. Leicht wäre es ihm nicht, mich jetzt fortzulassen.«

»Das glaub ich dir. Wann wollt ihr denn Hochzeit halten? Ist es schon bestimmt?«

Helma lachte leise. »Es war beschlossen – wenn ich von Italien zurückkomme. Alle wollen gern, daß es bald geschieht. Auch Felix' Eltern.«

»Und du?« fragte Vera lächelnd.

Helma sah voll und offen in ihr Gesicht. »Ich hab ihn doch lieb, Vera.«

Diese nickte lebhaft. »Recht hast du, Kind. Geize mit jedem Augenblick des Glückes.«

Sie lehnte sich wieder mit geschlossenen Augen zurück. Ihre Gedanken suchten Heinz Althoff. Sie sah ihn vor sich mit seinen sonnigen, lachenden Augen, die voll Bewunderung aufleuchteten bei ihrem Anblick. Wie unsagbar hatte sie ihn geliebt! Und er? Was hatte sie ihm gegolten? Eine schöne Frau, der man huldigt, der man Bewunderung zollt wegen ihres Äußeren. – Was wußte er sonst von ihr? Und jetzt – jetzt galt sie ihm nichts, war sie ihm ein Druck auf seinem Gewissen, ein lästiges Unbehagen. Ein wenig Mitleid hatte er mit ihr, aber auch dies Gefühl würde sich schnell verwischen. Dann würde er sich wieder seines Lebens freuen, als wäre sie nie eine Episode darin gewesen. Und sie selbst – sie wäre fast daran gestorben. Was ihm nur eine verliebte Laune war, wurde ihr zum Schicksal.

Es war ihr zumute, als wenn noch einmal alle Wunden aufgerissen würden. So heftig brannte der Schmerz in ihrer Seele. Aber dann plötzlich wurde es seltsam still und ruhig in ihr. Es war freilich eine Ruhe wie auf Kirchhöfen, eine Ruhe, in der alles Hoffen gestorben war, die aber auch keine Schmerzen mehr birgt.

Helma hatte inzwischen den Tee bringen lassen und sah nach der Uhr. Der Konsul mußte jeden Augenblick eintreffen, er nahm jetzt immer den Tee mit den beiden Damen in Veras kleinem Salon.

Gleich darauf trat er wirklich ein. Sein Blick suchte zuerst Vera. Er legte ihr einen Strauß herrlicher Rosen in den Schoß und küßte ihr zum Gruß die Hand.

Sie legte die heißen Wangen schmeichelnd an die kühlen Blumen und sah mit einem dankbaren Lächeln zu ihm auf. »Wie schön sie sind! Ich danke dir, Albert!«

Er setzte sich neben sie, nachdem er Helma begrüßt hatte. »Wie geht es dir, Vera?«

»Gut – sehr gut. Und hier – sieh dir mal diese junge Dame an. Sieht man ihr an, daß sie sich verlobt hat?«

Henrici sah überrascht zu Helma hinüber. »Verlobt? Wirklich?«

»Ja, Herr Konsul – mit Felix Althoff.«

Henrici blickte schnell in Veras Gesicht, als der Name Althoff genannt wurde. Sie schien es nicht zu bemerken, ihr Blick ruhte auf den Rosen. Er beglückwünschte Helma herzlich und plauderte eine Weile mit ihr über das Ereignis.

Währenddem sah Vera unverwandt in sein blasses, etwas müdes Gesicht. Es schien wie durchgeistigt vom Schmerz. Die edlen Linien des charakteristischen Kopfes kamen voll zur Geltung. Die Haltung seiner hohen, schlanken Gestalt war vornehm und ungezwungen. Noch jetzt war er ein schöner, bedeutender Mann. Das war ihr früher nie so zum Bewußtsein gekommen wie jetzt. Konnte es denn so schwer sein, ihn zu lieben?

Er ließ sich wieder neben ihr nieder, und Helma reichte ihm Tee. Vera hatte sonst teilnahmlos zwischen den beiden gesessen, ohne sich viel an der Unterhaltung zu beteiligen. Heute ergriff sie selbst das Wort.

»Wir beide werden nun allein nach Italien reisen, Albert. Ich habe Helma erlaubt, hierzubleiben.«

Er wandte sich ihr überrascht zu. Ein heimliches Forschen lag in seinen Augen. »Fräulein Helma will uns nicht begleiten?« fragte er hastig.

»Doch, Herr Konsul – ich wollte mein Versprechen halten. Aber Vera will es nicht leiden.«

»Du willst es nicht?« fragte er fast atemlos.

Vera lächelte. »Nein, ich will es nicht. Sie soll sich nicht aufopfern, und ich fühle mich so kräftig, Albert. Wir brauchen sie gar nicht.«

Er faßte ihre Hand. Ein heißer Strahl brach aus seinen Augen. »Wir brauchen sie nicht?« stammelte er, während Helma sich schnell aus dem Zimmer stahl.

»Nein, Albert,« antwortete Vera, ohne ihm ihre Hand zu entziehen.

»Vera – hast du dir das bedacht? Du wirst dann nur auf meine Gesellschaft angewiesen sein,« sagte er, heiser vor Erregung.

Sie atmete tief auf. »Ja, ich habe es bedacht. Und es ist gut so, daß Helma zurückbleibt. In feiger Furcht hab ich mich hinter sie verschanzt, bin jedem Alleinsein mit dir ausgewichen. Das soll nun nicht mehr sein. Wenn du mich wirklich nach alledem an deiner Seite behalten willst, wenn du mir in deiner schrankenlosen Güte restlos verzeihst, dann laß mich versuchen, meine Schuld abzutragen, laß mich wieder dein Weib sein wie zuvor – nur daß ich mehr an dich denken will als an mich.«

Er küßte ihr heftig beide Hände. »Denk nur an dich, Vera – nur dein Empfinden soll in allem entscheiden – ich will nichts, als dein Glück.«

Sie beugte sich plötzlich herab und küßte seine Hand.

»Habe Geduld mit mir, Albert. Noch ist mein Herz nicht ganz gesund – aber, so Gott will, wird es den Weg zu dir zurückfinden.«

Er preßte ihre Hand an seine Augen. Dann stand er schnell auf und trat ans Fenster, um ihr sein Gesicht zu verbergen. Nach einer Weile hatte er sich gefaßt und trat zu ihr.

»Vera – ich will ja geduldig warten, denn ich liebe dich mehr als mich selbst,« sagte er mit gepreßter Stimme.

Sie lehnte ihr Haupt wie ein vertrauendes Kind an seine Brust. Ein Hauch des tiefsten Herzensfriedens lag auf ihrem Gesicht. Sie hatte sich selbst bezwungen und erkannt, daß diese Selbstüberwindung sich reichlich lohnte durch sich selbst. – – –

Helma wurde schon wenige Wochen später Felix Althoffs Frau. Nachdem der Konsul mit seiner Frau abgereist war, ging sie heim zu ihrer Mutter, die überglücklich war, daß ihre Älteste sich verlobt hatte. Nur so lange, als nötig war, alle Vorbereitungen zur Hochzeit zu treffen, wollte Felix warten. Fast ebenso ungeduldig wie er, war Milchen, die von früh bis abends in der dritten Etage schaltete und waltete, um alles für ihre ›Herzensschwiegertochter‹ und ihren Felix recht traulich zu machen.

Robert hatte sich inzwischen verheiratet und wohnte mit seiner jungen Frau in dem vornehmen Landhaus. Heinz wurde im zweiten Stockwerk untergebracht und schuf sich dort eine gemütliche Junggesellenklause.

Nachdem Helma als Felix' glückliche Frau ihren Einzug in das Althoffsche Haus gehalten hatte, verbrachte Heinz jeden Abend, an dem er nicht gesellige Verpflichtungen hatte, in dem hübschen Heim seiner kleinen Schwägerin. Robert und seine Frau besuchte er ebenso selten wie Milchen. Um dieses Ehepaar wehte eine sehr kühle Luft. Wieviel traulicher war es da bei Helma und Felix, denen das helle Glück aus den Augen lachte!

Heinz neckte die beiden nicht wenig. Er bespöttelte in seiner übermütigen Art das ›Turteltaubenverhältnis‹ des jungen Paares. Aber bei alledem hatte er eine sehr hohe Meinung von Helma, und niemand hatte so viel Einfluß auf ihn wie sie.

Milchen gab es natürlich nicht auf, Heinz zuzureden, sich zu verheiraten. Sie wollte und konnte sich nicht darein finden, daß ihr hübschester und stattlichster Junge unverheiratet bleiben wollte. Auch Helma stimmte ihr oft bei.

Da sagte er eines Tages, als er mit Helma allein war und sie wieder dies Gebiet anschnitt: »Gib dir keine Mühe, Helma – du solltest doch wissen, daß ich nicht zum Ehemann tauge. Dazu gibt es zuviel schöne und liebenswerte Frauen. Mir gefällt eben immer eine besser als die andere, das ist mein Unglück. Nun denke dich, bitte, mal da hinein. Muselmann kann ich doch nicht werden, obwohl das mein Traum wäre. Oder meinst du, daß ich es noch werden könnte?«

»Ich meine, daß du ein arger Nichtsnutz bist. Denk doch mal an deine alten Tage. Was soll das für ein Leben für dich werden, wenn du ganz allein stehst?«

»Na, erlaube mal – wollt ihr mich vielleicht verleugnen oder vor die Tür setzen?«

»Davon ist keine Rede, Heinz.«

»Na also! Ich sonne mich an eurem Familienglück und werde euren Kindern ein reizender, sicher heißgeliebter Onkel. Du Rabenmutter! Willst du deine armen Kinder um einen prächtigen Erbonkel bringen? Nein, nein – laß mich ungeschoren. Wenn ich unbedingt ein Hauskäppchen brauche, nachdem meine Lockenpracht entschwunden ist, dann stickst du es mir. Mein Bedarf an Gardinenpredigten wird reichlich durch dein gütiges Bemühen gedeckt, wirklich, Helma – reizende Gardinenpredigten kannst du halten. Du glaubst es nicht.«

Helma lachte herzlich auf. »Du bist unverbesserlich, Heinz. Was soll man mit dir anfangen?«

»Mich in Frieden lassen mit euren dummen Heiratsplänen und mir ein warmes Plätzchen mit Schlafrock und Pantoffeln sichern, wenn ich am Ende meiner Tage Verlangen danach habe. Da ich gewissermaßen der Gründer eures Glückes bin, habe ich eine Berechtigung zu diesem Verlangen. Oder nicht?«

»Zugegeben – die hast du.«

»Nun also – da sind wir wieder einig. Es ist erstaunlich, wie gut wir uns verstehen, kleine Schwägerin!«

»Heinz – du bist ein Erzschelm!«

Er küßte ihre Hand. »Siehst du wohl, du wirst doch wohl so viel Gemeingeist haben, daß du nicht eine deiner Mitschwestern an solch einen Erzschelm verheiraten möchtest. Im Ernst, kleine Frau, – du kennst mich doch – ich beichte dir doch alle meine Sünden. Mein flatterhaftes Herz kann keine Treue halten – es geht einfach nicht. So oft ich es mir vornehme, ist's auch schon vorbei damit.«

Helma seufzte. »Aber schade ist es doch um dich. Und ich habe immer Angst, daß du dich noch einmal in eine so böse Affäre verwickeln läßt. Denke mal an Mutter. Wenn sie erleben müßte, daß du eines Tages im Duell fielst!«

Heinz' Gesicht wurde ernst. »Nein, Helma, die Angst kann ich dir nehmen. Glaube mir, die Lehre, die ich erhalten habe, war eindringlich genug trotz meines Leichtsinns. Wenn ich auch ein unbeständiger Mensch bin und bleibe – eines werde ich nie mehr außer acht lassen – die Rücksicht auf des Andern Ehre.«

* * *

Helma blieb im steten Briefwechsel mit Vera. Diese war in der milden Luft der Südens schnell ganz gesund geworden. Henrici hatte am Gardasee eine reizende Villa gemietet. Dort blieb er mit seiner Frau über zwei Jahre wohnen.

Vera schrieb an Helma ausführliche Briefe. Nur Heinz Althoffs Name wurde nie in den Briefen erwähnt. Aber nachdem mehr als zwei Jahre seit Veras Abreise vergangen waren, erhielt Helma eines Tages folgenden kurzen Brief:

 

»Meine herzliebe Helma!

Der Himmel hat uns, meinem lieben Mann und mir, ein Töchterchen geschenkt. Ich habe es Dir bis heute verschwiegen, weil ich Dich mit der Tatsache überraschen wollte. Nun liegt hier neben mir ein holdes, kleines Menschenwunder und blickt mich mit süßen Augen an. Und mir ist zumute, als müßte ich immer die Hände falten und Gott danken, daß er mich das erleben ließ. Ja, meine Helma, ich bin ganz gesund – und nun kommen wir auch wieder nach Hause. Ich fürchte mich nicht mehr, Heinz Althoff zu begegnen.

Aber jetzt muß ich schon schließen, ich sehe Albert kommen, er ist jung geworden – und ich bin eine sehr, sehr glückliche Frau und Mutter. Leb wohl für heute, meine liebe Helma! In einigen Wochen sehen wir uns wieder. Albert läßt Dich und die Deinen herzlich grüßen. Sei herzlich geküßt von

Deiner glücklichen Vera.«

* * *


 << zurück