Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel IX

Während eines Monats bereits hatte König Artur, hatten die Ritter zu Camelot nichts mehr von Gawein vernommen, der auf die Suche nach dem Schachbrett gezogen war, und ob ein Monat gleich nicht sonderlich lange Zeit bietet, so ein schwebendes Wunder einzufangen, so begann doch König Artur, begannen mit ihm die Ritter unruhig zu werden. Und die letzteren flüsterten miteinander und sannen, was wohl dem Gawein zugestoßen sein könne! Seltsam war es zugleich, daß Didonel und Mordred oftmals des Abends abwesend waren, und daß sie für ihr Fernsein keine besonders triftigen Gründe anzuführen vermochten. Zudem hatte sich Merlin während dieses ganzen Mondes nicht mehr auf Camelot sehen lassen. Das alles waren Dinge, die unfrohe Stimmung in Camelot schufen, und die, wie es schien, nur Lancelot und Ginevra sich kaum zu Herzen nahmen. Da endlich kam Merlin eines schönen Tages zur Zeit der Frühmesse auf seinem Phönix herabgeflogen, und kaum war er abgestiegen, so ward er von den Rittern mit Fragen bestürmt, ob er denn nicht wisse, wo Gawein sei? Und wo er selber so lange geweilt hätte?

»Wo ich so lange gewesen bin?« gab Merlin zurück. »Aber, meine tapferen Degen, ich bin ja keiner aus dem Kreise derer, die hier bereits seit zehn Jahren auf Camelot in säumiger Muße sich verliegen, von Heldentaten ausruhen und abwarten, bis neue Abenteuer locken. Ich bin, wohl ist es wahr, ein Magier, aber ich bin auch Alchimist und Kenner der Kräfte des Weltalls, bin Schöpfer wundersamer Dinge und Erforscher der Natur, bin ein Mann der okkulten Wissenschaften. Und da habe ich viel zu schaffen – wahrlich, groß ist Müh und Plage für mich. Glaubt ihr in der Tat, ich könnte nur jeden Tag hier nach Camelot kommen, um müßig zu schwatzen und nichts anderes zu tun als darüber nachzudenken, ob wohl ein Wunder sich begeben würde oder nicht? Ich habe in diesen Tagen darüber nachgedacht, ob ich nicht die Sprechblume, die alle Gespräche zwischen Morgueine und mir aufnimmt und wiedergibt, drahtlos einrichten könnte.«

»Drahtlos!« wiederholte Agloval, laut auflachend.

Merlin sah den Ritter an, der, gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht, immer so leicht auflachte, und zuckte nur die Achseln.

»Jawohl, drahtlos!« sagte er. »Jetzt brauchen wir Metalldrähte, die mir meine Gnomen unter der Erde fortspannen. Wißt Ihr, Agloval, drahtlos wäre es viel einfacher. Doch weil Morgueine zu dieser Stunde nicht in ihrem Schloß am Meere weilt, hat mir die Arbeit viel Zeit genommen, und jetzt bin ich vollends damit hintan geblieben, weil sie sich in dem Tal der Ungetreuen Ritter daran ergetzt, mit hundertundfünfzig Ungetreuen ihr Wesen zu treiben.«

»Hundertfünfzig?« wiederholte Sagremort zweifelnd.

»Hunddddd ... ertfünfffff ... zig?« stotterte Ywein erstaunt.

»Keiner mehr und nicht einer weniger«, versicherte Merlin, »und der hundertundfünfzigste ist Gawein.«

»Gawein?« riefen Hestor und Melegant.

Galehot lächelte, weil er längst schon geahnt hatte, wo Gawein so lange verweilen mochte. Und als Lancelot und Ginevra engumschlungen dahergewandelt kamen, gab er ihnen gleich die Kunde weiter:

»Gawein hat seine Lust mit Morgueine in dem Tal der Ungetreuen Ritter ...«

Und Merlin erzählte von dem Tode Gringolettes, des guten Rosses, und berichtete, wie Morgueine ihm endlich durch die Sprechblume gemeldet habe, daß Gawein ihr hundertundfünfzigster Ungetreuer geworden sei.

»Wenn das der König erfährt«, sagte Lancelot verstört.

»Nur ein Ritter, der seiner Fraue getreu ist, vermag Gawein zu erlösen«, meinte Gwinebant.

»So gehet Ihr, Gwinebant, ihn zu retten«, entgegnete Merlin, »denn Ihr träumet ja nicht einmal von einer anderen Jungfrau als von Ysabel, des Assentijn schönem Enkelkinde.«

»Gwinebant liebt nicht lange genug. Er ist noch nicht genug erprobt«, riefen Melegant und Hestor.

»Zweifelt ihr an meiner Treue?« rief Gwinebant, und Entrüstung klang aus seiner klaren Stimme.

»Wer von euch ist denn getreu?« fragte Merlin – und wußte es doch schon!

Keiner von ihnen war es, bis auf einen einzigen. Und sie lächelten einander zu und zuckten die Achseln und wußten voneinander, daß sie, wenn sie eine Jungfrau geliebt hatten, auch zugleich einer anderen minnig zugetan gewesen waren. Gwinebant nur war noch ein Knabe, obschon er nur drei, vier Jahre weniger zählte als sie.

»Lancelot«, meinte darauf Hestor, und er sprach sehr bescheidentlich, als dächte er gar nicht an sich selber.

»Ja, Llll ... Lancelot«, meinte Ywein bestätigend.

»Lancelot!« riefen nun auch die anderen.

Der stand mit niedergeschlagenen Augen da, als wolle er um Vergebung bitten für seine Ohnmacht, untreu zu sein, und er sprach mit leiser Stimme, ohne vom Boden aufzusehen:

»Ich bin getreu!«

»Bei Sankt Michael, ja, du bist wahrlich getreu«, riefen sie alle.

»So ist es an dir, Gawein zu erlösen«, hob Merlin an.

»An dir«, fielen sie alle ein.

»An mir«, bestätigte Lancelot. »Ich werde also den König um die Erlaubnis bitten, Gawein zu retten.«

»Nein, nicht das«, riefen sie alle, »der König weiß ja nicht, daß Gawein ...«

»... im Tale der Ungetreuen Ritter verweilt«, ergänzten Sagremort, Agloval und die anderen.

»Wo sind denn nur Mordred und Didonel?« überlegte Galehot bei sich.

»Ich werde denn«, hub Lancelot von neuem an, »den König um die Erlaubnis bitten, Gawein zu suchen.«

»So ist es recht: ihn zu suchen!«

»Ich werde Euch zur Seite stehen, Lancelot«, rief Merlin. »Wahrlich, meine Schwester Morgueine treibt ein ärgerlich Spiel in ihrem Tal ...«

»Hunddd ... ertundfff ... fünfzig«, sagte Ywein und entrüstete sich.

Eine große Glocke ließ darauf ihren metallenen Ruf ertönen. Das war das Zeichen, daß König Artur nun in den runden Saal hinabsteigen und seinen Platz in dem Thronsessel an der Tafelrunde einnehmen werde. Und allbereits erschien er, von Ginevra geleitet, und drei Pagen trugen seinen vermotteten Mantel, und die Ritter nahten sich, einer nach dem anderen, ihrem Herrn und König und beugten das Knie vor ihm. –

 

Am Nachmittage des gleichen Tages zogen Lancelot und Gwinebant mit des Königs Erlaubnis zu Pferde aus, Gawein zu suchen. Merlin war es leid gewesen, daß er ihnen nicht sogleich hatte helfen können, weil er eben seinen Zauberwagen der Morgueine überlassen hatte. Sonst hätten die beiden Ritter rasche Fahrt darin tun können bis ans Tal der Ungetreuen Ritter ... »Aber freilich hätte ja keiner von ihnen mit der Maschine umgehen und das Gefährte lenken können«, tröstete sich Merlin, und er selber war an diesem Tage zu beschäftigt mit der Vervollkommnung des drahtlosen Fernspruchs ...

So ritten die zwei zu Pferde davon über die Ebene, die in Sonnenschein gebadet dalag, und rings um den Wunderberg, der sich ihnen nicht erschloß, und dann am Flusse entlang, der breit war wie ein Meer. Hin und wieder fielen sie in Trab, dann wieder in Schritt ... Gwinebant schaute immerfort auf, ob er das Schachbrett nicht erspähen könne. Allein es war nichts dergleichen zu sehen. Und es konnte ja nicht wohl in einem fort durch die Lüfte schweben. Und es war ja möglich, daß es jetzt bereits an der Stelle harrte, an der Merlin es den Gawein nach großen und kleinen Abenteuern finden lassen wollte. Und plötzlich sahen die Ritter am Wege einen aus Steinen gehäuften Grabhügel und erschraken sehr, denn sie erkannten Helm und Schwert und Schild und Speer ihres Gefährten Gawein. Und sie begriffen, daß er Morgueine unbewaffnet in das Tal gefolgt war. Indessen wagten sie es nicht, Helm, Speer oder Schild Gaweins mitzunehmen und von der Stätte zu entfernen, an der sie das Grab Gringolettes vermuteten. Beide machten das Zeichen des Kreuzes, dieweil sie ihre Rosse dem Hügel zukehrten und sich still neigten: hatte doch Gringolette beinahe menschlichen Verstand gehabt und weidete ihre Seele doch sicherlich jetzt auf den himmlischen Gefilden vor der Pforte, die St. Peter mit dem Schlüssel bewachte, und wo alle guten Pferde, die im Kampfe erschlagen oder sonst in Ehren umgekommen waren, ein glückselig Leben voller Frieden, bei der Fülle Hafers und Klees wartete ... Dann ritten sie immer weiter, und es wurde bereits Abend, da begegneten sie dem Hirten, der mit seiner Herde heimwärts zog. Und er grüßte sie artig – er war schon daran gewöhnt, Rittern zu Pferde oder Feen im Zauberwagen zu begegnen – und erzählte ihnen auch von Gringolettes Tod: das sei nun schon mehr als einen Monat her. Seither habe er den edlen Baron nicht wiedergesehen. Doch das ihm teure Grab, dessen könnten die Herren sich versichert halten, würde von niemandem geschändet werden, dafür bürgten die ritterlichen Waffen und der Schild und der Helm und die Handschuhe: so meinte der Hirte. Von dem Tal wüßte er nichts, er glaubte aber, die Barone müßten immer nur geradeaus an der Burg des Königs Mirakel vorüber reiten und dann links abbiegen. Dort seien wieder andere Wunderländer. Oh, es gäbe ihrer hier gar viele an dieser Seite des Flusses.

Als aber der Abend hereinbrach, merkten die Ritter, die noch immer, bald im Schritt, bald im Trabe ritten, daß sie sich auf diesem linken Wege verirrt hatten. Ihre Rosse waren wohl müde, und Gwinebant sagte ungeduldig:

»Warum sendet uns Merlin auch nicht ein Zeichen, daß wir in der Nacht nicht fehlgehen!«

»Er ist mit dem drahtlosen Fernspruch beschäftigt«, meinte Lancelot, mild entschuldigend. »Aber mir wäre es auch willkommen, wenn wir eine Burg fänden, in der wir um Gastfreundschaft bitten könnten.«

»Ob wir zum König Mirakel zurückkehren?« fragte Gwinebant zögernd.

»Wir kehren nimmermehr um, wenn wir auf eine Fahrt zur Suche Gaweins gehen«, sagte Lancelot strenge.

Und Gwinebant errötete wie ein Mädchen und sprach demütig: »Ihr habt wohl recht, Lancelot, möge mir Unsere liebe Fraue Maria im Himmel aus Hulden verzeihen ... Wir kehren nimmermehr um.«

Und so ritten sie weiter durch die Nacht, die hereingebrochen war. Das Land erstreckte sich endlos und verlassen unter dem Schein der Sterne, die einen silbernen Nebel woben. Jenseits des Flusses war der Horizont nicht mehr zu sehen, war doch das Wasser so breit wie ein Meer ...

»O sieh doch!« sagte Gwinebant und bekreuzigte sich voll frommen Schauders.

»Ich sehe, ich sehe«, gab Lancelot zurück, und auch er schlug das Zeichen vor sich.

Die beiden Ritter hielten die Pferde an. Atemlos sahen sie zu. Über dem meeresbreiten Flusse flogen unzählige schwarze Vögel. Es waren keine Raben, es waren keine Krähen. Es schienen vielmehr schwarze Tauben zu sein ... Und sie flogen in weiten Kreisen und stürzten sich dann plötzlich wie in Verzweiflung in die silbern schimmernden Wasser dort unten und flogen wieder empor, doch nun so weiß wie frischer Schnee – und verloren sich in der Nacht.

»Das sind arme Seelen aus dem Fegefeuer«, sagte Lancelot und bekreuzigte sich von neuem.

»Die sich in den reinen Wassern läutern«, fuhr Gwinebant fort und tat desgleichen.

»Wir haben uns in heiliges Gefilde verirrt«, meinte Lancelot, während er um sich schaute. »Dies ist nicht mehr Logres.«

»Und auch nicht mehr das Wunderland von König Mirakel.«

»Weder das Zauberland der Morgueine noch das Merlins ...«

»Werden die beiden ins Paradies eingehen, Lancelot?« fragte Gwinebant erschauernd.

»Gewißlich«, erwiderte Lancelot, »Merlin und Morgueine sind ja nicht böse.«

»Nein, böse nicht ...«

»Sie sind nur allzu wohl erfahren in allen Dingen über und unter der Erde.«

»Nur allzu wohl erfahren«, wiederholte Gwinebant.

»Doch endlich werden sie gerettet werden; wir wollen für sie beten, Gwinebant.«

Die Ritter stiegen ab. Sie banden die Rosse an ihre in den Rasen gesteckten Schwerter. Sie knieten nebeneinander am Ufer des meeresbreiten Wassers nieder und begannen ihr Ave zu sprechen. Vor ihren Blicken flogen noch immer drüben durch die weite silberne Nacht die schwarzen Vögel daher, tauchten unter und stiegen dann schneeweiß und triefend zu den Sternen empor ...

Und Lancelot und Gwinebant beteten für Morgueine und Merlin, daß sie am Ende doch noch errettet würden.

»So mögen sie«, betete Lancelot, »wie schwarze Vögel dahergeflogen kommen, Gott im Himmelreich, über deine läuternden Wasser ...«

»So mögen sie«, betete Gwinebant, »als weiße Vögel aus deinen lauteren Wassern emporsteigen, o Gott im Himmelreich ...«

»Amen«, sprachen beide mitsammen und bekreuzigten sich.

Und sie stiegen wieder auf und ritten weiter, und glaubten, die weißen Tauben ganz leise in der Luft singen zu hören:

»Kyrie eleison! Kyrie eleison!«

Allein sie waren zu fromm, die beiden Ritter, als daß sie aufgeblickt hätten, und ritten weiter, immer weiter, ohne zu wissen, wohin, und vertrauten darauf, daß sie wohl von Schutzengeln geleitet würden, wenn auch nicht sogleich an das Ziel der Fahrt, so doch zu einem rechten Abenteuer.

»So wie im Leben«, sagte Lancelot philosophisch.

»Im Leben?« fragte Gwinebant wie ein Knabe.

»Wo das Abenteuer aus Gutem und Bösem sich zusammensetzt, genau wie bei den Irrfahrten«, gab Lancelot zur Antwort.

»Wirklich?« wunderte sich Gwinebant und fügte hinzu:

»Lancelot, warst du deiner holdseligen Herrin, deiner minnig geliebten schönen Ginevra allzeit getreu?«

»Ich bin ein großer Sünder«, sprach Lancelot, »doch in all meiner Sünde war ich allzeit getreu.«

»Auch ich werde allzeit getreu bleiben«, erklärte Gwinebant. »Ihr aber wäret Euch bereits durch lange vergangene Jahre hindurch getreu.«

»Ich bin ein großer Sünder«, hub Lancelot wieder an, »allein ich kann nicht anders, so wahr mir Gott helfe! Meine Treue ist meine große Sünde.«

»Wir werden Gawein sicherlich finden«, sagte Gwinebant, »da wir beide also getreu sind ...«

»Doch sündig bin ich allein«, meinte Lancelot und bekreuzigte sich dreimal.

Das tat denn auch Gwinebant, wiewohl er weder Lancelot noch sich selber gar so sündig fand.


 << zurück weiter >>