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II.
In der Töchterschule.

Als der Abbé wieder in der Ecke seines Wagens saß, der ihn nach der entfernten Rue du Cardinal Lemoine führte, sagte er sich: »Es ist freilich wahr, daß das Geld uns weder Ruhm noch Talent verleihen kann, daß es manchmal sogar das gerade Gegenteil bewirkt. Wer weiß, ob Renaudel, indem er diesem jungen Dichter sein Vermögen zurückgibt, nicht die französische Litteratur eines Meisterwerkes beraubt! ... Aber halt da! diese Gedanken darf man doch nicht laut aussprechen. Die heiligen Gebote vor allem ... ›Du sollst nicht stehlen‹ ... Und die Diebe, die den Ertrag ihres Diebstahls zurückgeben, sind selten genug. Man darf sie nicht entmutigen.«

Dank einer Haferration, die er während des Abbés Besuch bei dem Dichter erhalten hatte, nahm der Fiakergaul, ein altes Militärpferd, das seiner Zeit bei den zweiten Husaren gedient hatte, die Strecke von der Butte Montmartre nach der Montagne Sainte Geneviève etwas schneller. Es war kaum sieben Uhr, als der Abbé dort aus dem Wagen stieg.

Durch den jetzt etwas weniger dichten Nebel, den der Mond mit bläulichem Licht durchleuchtete, unterschied der Geistliche die Kuppel des Pantheons. Er konnte sogar über einem Gitterthor die mit großen gelben Buchstaben auf ein schwarzes Schild gemalte Aufschrift lesen: »Töchterschule von Fräulein Latournure.«

Richtig, das stimmte, und er zog die Klingel.

Eine junge Magd eilte mit einem Leuchter in der Hand herbei. Der Priesterrock und die weißen Haare des Geistlichen machten sofort einen guten Eindruck auf sie.

»Das Fräulein ist bei Tisch ... aber es macht nichts ... treten Sie nur näher, Herr Abbé.«

Und nachdem sie den würdigen alten Herrn durch ein kleines Gärtchen, wo ein paar kümmerliche Fliederbüsche ihre nackten Aeste fröstelnd in die Luft streckten, geleitet hatte, öffnete sie dienstfertig eine Thüre, aus der heller Lichterschein und heiteres Kindergelächter hervordrangen.

Ach, welch reizendes, allerliebstes Schauspiel!

Es war das Klassenzimmer – das Klassenzimmer einer armen Schule mit seinen gelb angestrichenen Wänden, seinem schwarzen Katheder, worüber die Tafel mit den Maßen und Gewichten, die Karten Frankreichs und Europas hingen. Die Pulte waren in eine Ecke geschoben, die Bänke an die Wände gerückt, um Platz zu schaffen. In der Mitte dieses geräumigen Zimmers, um einen gedeckten Tisch herum, auf dem beim Schein zweier großen Petroleumlampen die Gläser und Teller hell aufblitzten, saß eine alte Dame mit zehn kleinen Mädchen.

Die alte Dame mochte zur Zeit des Generals Cavaignac etwa das gewesen sein, was die älteren Herren von damals eine pikante Brünette nannten. Trotz ihres Alters hatte sie sich ein Paar dunkler, lebhafter Augen und eine frische Gesichtsfarbe bewahrt. Nur die Locken, die langen Schmachtlocken glichen jetzt weißer Seide. Aber welch anmutiges Lächeln! Welch gesundes, munteres Aussehen! In dem Augenblick, als der Abbé Moulin ins Zimmer trat, schien die alte Dame, welche die Serviette mit zwei Nadeln vor die Brust ihres Staatskleides – eines schwarzen Atlaskleides – geheftet hatte, in der That kaum sechsunddreißig Jahre alt zu sein. Sie hielt in ihrer Hand ein großes Tranchiermesser, womit sie eben den Bauch einer gebratenen Truthenne aufgeschnitten hatte, dem eine wohlduftende Fülle von gebratenen Kastanien entquoll.

Und nun mußte man die leuchtenden Augen beobachten, mit denen die kleinen Mädchen diesem seltenen Schauspiel folgten, die Ausrufe hören, mit denen sie, starr vor Bewunderung, ihren Gefühlen Luft machten. Sicherlich aßen diese kleinen Schelme nicht jeden Tag Truthenne mit Kastanien. Das konnte man schon aus der Art ersehen, wie sie, das Messer in der einen, die Gabel in der andern Hand, das Wundertier anstarrten, mit dem Gesichtsausdruck kleiner Kannibalinnen, wenn sie frisches Fleisch wittern.

Und doch waren es nicht etwa Töchter aus dem Arbeiterstand, wie man sie mit schwarzen Schürzen und die Haare im Netze aus den Volksschulen kommen sieht. In jenen Kreisen ernährt man sich wenigstens einmal alle vierzehn Tage gut. Nein, es waren Kinder bescheidener Bürgersleute, verschämter Armen, die ihr Schulgeld bezahlten, um durch Fräulein Latournure die Befähigung zum höheren Lehrdienst zu erhalten.

Bevor die Mutter – die Frau eines bescheidenen Ladenbesitzers oder eines kleinen schlechtbezahlten Beamten – ihre Tochter zu dem heutigen Festmahl des »Fräuleins« geschickt, hatte sie die Kleine frisiert, ihr eine bunte Schleife ins Haar gesteckt und einen frisch gebügelten Kragen umgelegt. Aber das sah man auf den ersten Blick, daß die Truthenne mit Kastanien für diese kleine Gesellschaft ein außergewöhnlicher Schmaus war, daß sie für die Leckermäulchen eine angenehme Abwechslung bildete gegenüber den spärlichen Mahlzeiten, an die sie zu Hause gewöhnt waren, und die aus kaltem Aufschnitt und allerlei Aufgewärmtem bestanden.

O, die schöne Truthenne!

Unter uns gesagt, verehrte Leserin, war diese Truthenne nur von mittlerer Größe und Sie hätten sie in der Markthalle, ohne viel zu handeln, für sieben bis acht Franken bekommen. Wenn man sie mit den kolossalen, mit Trüffeln gespickten Truthennen verglich, die man in den Schaufenstern der Delikatessenhändler liegen sieht, so konnte man diese hier sogar für schwindsüchtig halten. Der Abbé Moulin hatte auf dem Mittagstisch der reichen Frommen schon oft weit größere gesehen, aber niemals hatte er Kinder mit so gutem Appetit um ein Geflügel herumsitzen sehen, und das machte dem braven Mann großes Vergnügen.

Was ihn jedoch am meisten wundernahm, das war das frohe und gesunde Aussehen der alten Dame, die dem Festschmaus präsidierte. Renaudel hatte ihm Fräulein Latournure als eine griesgrämige, kränkliche Person geschildert. Wie sollte er das verstehen?

Beim Eintritt des Geistlichen hatten die kleinen Mädchen sich ehrerbietig erhoben. Die alte Dame war, mit dem Tranchiermesser in der Hand, gleichfalls aufgestanden.

»Fräulein Latournure?« fragte der Priester, der an ein Mißverständnis glaubte.

»Zu Ihren Diensten, Herr Abbé,« war die freundliche Antwort.

»Ich bedauere aufrichtig, Ihre Mahlzeit unterbrechen zu müssen, aber ich bringe Ihnen eine höchst wichtige Nachricht ... die Sie angenehm überraschen wird, mein Fräulein ... ich möchte Sie einen Augenblick allein sprechen.«

»Nichts leichter als das,« erwiderte die alte Jungfer in einem Tone, dem man eine leichte Erregung wohl anmerkte.

Und sich an die junge Magd wendend: »Clémence, nehmen Sie eine dieser Lampen und führen Sie den Herrn Abbé ins Sprechzimmer. Ich komme sofort nach, Herr Abbé.«

Dann legte sie ihr Tranchiermesser auf den Tisch und ließ ihren Blick über die kleinen Mädchen hin streifen: »Nicht wahr, liebe Kinder, ihr werdet einen Augenblick auf mich warten und recht artig sein?«

»Ja, Fräulein,« antworteten im Chor die Kleinen, aber dieser Chorus glich demjenigen der antiken Tragödie, es lag etwas darin von unterdrückten Klagelauten und verhaltenen Thränen. Wie! Die schöne, dampfende Truthenne, die so herrlich duftete, die in der Sauce schwimmenden Kastanien, sie sollten unberührt daliegen und kalt werden, und da mußte man still zusehen und aus Höflichkeit und Gehorsam noch »Ja, Fräulein,« sagen! ...

O, der garstige Priester!

Dem Abbé war gar nicht recht wohl unter diesen Blicken, die voll naiver Entrüstung auf ihn gerichtet waren, und beeilte sich, der Magd zu folgen.

In dem Sprechzimmer, das durch einen Schreibtisch und sechs Rohrstühle nahezu ausgefüllt und seit längerer Zeit nicht geheizt war, nahmen das alte Fräulein und der Geistliche Platz.

Der Abbé Moulin war durchaus kein Diplomat. Er hatte nicht das geringste Talent für schonende Einleitungen und sonstige Redekünste, mit denen man jemand auf ein großes Glück vorbereitet. So hätte er denn beinahe das Gegenteil angerichtet durch die schroffe Art, in der er ohne weiteres mit dem Namen »Renaudel« herausplatzte, von der Rückzahlung des gestohlenen Geldes sprach und dem alten Fräulein das glänzende Stempelpapier, mit der stattlichen, voll ausgeschriebenen Zahl von dreihundertfünfundsechzigtausend, vierhundertdreiundvierzig Franken darauf, unter die Nase hielt.

Die frische Gesichtsfarbe der alten Jungfer machte unter dem Einfluß dieser freudigen Ueberraschung plötzlich einer apoplektischen Röte Platz. Glücklicherweise brach sie gleich darauf in Thränen aus, und mit dieser Thränenflut vermischte sich alsbald ein Strom mehr oder weniger zusammenhängender Dankesworte an die Adresse des Herrn Abbé, des lieben Gottes, der Jungfrau Maria und aller Heiligen des Himmels; Entschuldigungen, daß man den Ofen nicht angezündet habe, und Segenswünsche für den Bösewicht – nein, für den höchst achtungswerten Herrn Renaudel. Fast gleichzeitig erhielt das Dienstmädchen den Auftrag, gleich morgen ins Pfandhaus zu laufen und den Vorleglöffel, die sechs silberne Bestecke, sowie die Zuckerzange einzulösen, da der Schein in drei Tagen verfallen sei.

In diesem Augenblick hörte man im Nebenzimmer einen gellenden Schrei, gefolgt von Schluchzen und Weinen.

»Das ist Ernestine!« rief Fräulein Latournure aufspringend. »Sicher wegen der Truthenne ... Sie begreifen, ein Balg von kaum fünf Jahren ... Es ist kein Grund, weil mir ein großes Glück zufällt, daß ich die armen Kleinen darüber vergesse ... im Gegenteil! ... Kommen Sie, bitte, Herr Abbé, wir können ebensogut vor den Kindern plaudern.«

Damit öffnete sie die Thüre. Ihr Eintritt wurde von allen Mädchen mit Jubelrufen begrüßt und Ernestine, die neben dem leeren Platz der Lehrerin auf einem, durch zwei dicke Bücher erhöhten Sessel saß, hörte sofort zu weinen auf.

»Clémence, einen Stuhl für den Herrn Abbé!« befahl das alte Fräulein, indem sie das Präsidium wieder übernahm und sich mit ihrem großen Messer bewaffnete.

»Sie haben sicher noch nicht gespeist, Herr Abbé ... Wenn Sie uns die große Ehre erweisen wollten? ...«

Dem armen Abbé knurrte der Magen, und unter andern Umständen hätte er die Einladung unbedingt angenommen; er mußte aber vor Mitternacht noch zwei andre Besuche erledigen und hätte sich überdies Vorwürfe gemacht, von dieser Truthenne mitzuspeisen, die, wie bereits erwähnt, ohnehin nicht sehr groß war. Er lehnte also ab, nahm aber, da er sehr hungrig war, einen Schluck Wein und ein Biskuit an.

Jetzt war die Truthenne in ganz kleine Stücke zerlegt. Jedes Kind hatte ein Scheibchen auf seinem Teller mit etwas Kastanien- und Wurstfülle dazu. Clémence, das Dienstmädchen, hatte die Verteilung mit salomonischer Gerechtigkeit besorgt, und die Kleinen ließen sich's tüchtig schmecken. Ernestinchen, das Leckermaul, hatte sogar schon einen Fettschnurrbart, der ihr bis an die Ohren reichte.

»Sehen Sie, Herr Abbé,« begann Fräulein Latournure, indem sie glückstrahlend um sich blickte, »ich bin nicht reich, oder richtiger gesagt, ich war vor fünf Minuten noch nicht reich ... und meine kleine Töchterschule bringt mir kaum das Nötigste zum Leben. Aber jeden Weihnachtsabend esse ich mit einigen meiner Schülerinnen, solchen, die daheim keine Bescherung haben, Truthenne mit Kastanien ... Clémence, schenken Sie den Kindern doch Wein und Wasser ein, sie verdursten ja ... Dieses Fest ist meine einzige Ausschweifung im ganzen Jahre. Aber sagen Sie selbst, Herr Abbé, ist es nicht ein reizender Anblick?«

Dann sich plötzlich an eines der Mädchen wendend: »Marie Duval, thu mir den Gefallen, nicht deine Finger abzulecken und manierlich zu essen ... Ein großes neunjähriges Mädchen! ... Schämst du dich denn nicht? ... Und jetzt bin ich aus allen Sorgen heraus!« fuhr die alte Jungfer fort. »Denn ich habe Ihnen eine angenehme Nachricht mitzuteilen, Clémence. Künftig brauchen Sie sich nicht mehr mit dem Steinkohlenhändler und mit der Milchfrau herumzustreiten; sie werden von jetzt an pünktlich bezahlt werden ... Jetzt, da ich mein Geld zurückerhalten habe, werde ich meine Töchterschule einzig und allein wegen dieser reizenden Kindergesellschaften beibehalten. Nur mit dem Unterschiede, daß ich mir diesen Schmaus künftig an allen kirchlichen Festtagen gönne, und daß das Geflügel dabei von ganz enormer Größe sein wird ... Hört ihr's, liebe Kinder?«

Drei oder vier der größten Mädchen hoben einen Augenblick die Nase von ihren Tellern empor und antworteten mit einem respektvollen: »Ja, Fräulein.« Im übrigen machten die schönen Versprechungen der Lehrerin aber keinen großen Eindruck, denn die Zukunft existiert für Kinder nicht, und die kleinen Schelme waren jetzt ganz von der Gegenwart, das heißt von der Truthenne in Anspruch genommen.

Der Abbé hatte sein Biskuit verspeist und das leere Glas auf den Tisch gesetzt. »Entschuldigen Sie, mein Fräulein, wenn ich indiskret bin,« hub er nun mit einmal an, »aber ich bin wirklich hoch erstaunt, geradezu verblüfft. Ich finde in Ihnen eine gesunde, muntere Frau, Sie sind vergnügt und nehmen regen Anteil an dem Vergnügen andrer, das zugleich ein Werk Ihrer Wohlthätigkeit ist. Darf ich es Ihnen gestehen, ohne daß ich fürchten müßte, Sie zu beleidigen? ... Renaudel sprach mir von Ihnen ...«

»Als von einer Egoistin,« fiel Fräulein Latournure ihm laut auflachend ins Wort. »Nun, Renaudel hat Ihnen die Wahrheit gesagt.«

»Wie? Unmöglich!«

»Nein, wirklich, ich war eine sehr lächerliche alte Jungfer, die immer nur ängstlich an ihre Gesundheit dachte, beständig über schlechte Verdauung klagte und tausend andre eingebildete Leiden hatte. Ja, so war ich, als mich Renaudel kennen lernte ... Wollen Sie diesen ehrlichen Dieb in Erstaunen setzen? Ja? – Schön, so brauchen Sie ihm nur zu sagen, daß er es war, der mir die Gesundheit, die gute Laune zurückgegeben hat, indem er mich finanziell zu Grunde richtete.«

In diesem Augenblick trat Clémence, das Dienstmädchen, die seit einigen Minuten verschwunden war, mit einer großen Apfeltorte ins Zimmer und wurde von den kleinen Mädchen mit lauten Hurrarufen begrüßt. Sie stellte die Torte vor Fräulein Latournure hin, die, bevor sie mit dem Messer hineinschnitt, einen musternden Blick über die kleine Gesellschaft gleiten ließ.

»Emilie Charron,« sagte sie dann, »halte dich doch gerade, oder willst du denn durchaus buckelig werden? ... Und du, Sophie Bellanger, daß ich dich nicht noch einmal mit den Ellenbogen auf dem Tisch ertappe ...«

Aber die gute Alte verstand es schlecht, zu schelten, am wenigsten heute, bei diesem Festmahl, inmitten ihrer Schülerinnen; ihr ganzes Gesicht strahlte ordentlich von innerlicher Befriedigung, und ihre Stimme, der sie vergebens einen strengen Ton zu geben versuchte, klang nachsichtig und zärtlich.

»Herr Abbé,« wandte sie sich an diesen, »nehmen Sie doch noch ein Gläschen Wein und ein andres Biskuit; ich werde Ihnen mit kurzen Worten die Geschichte meines Lebens erzählen ... Ich blieb unverheiratet, weil ich meinen alten, kranken Vater pflegen mußte. Papa starb – ich werde den Tag, es war mein Geburtstag, niemals vergessen. Im letzten Augenblick, als schon keine Hoffnung mehr war, schickte ich in meiner Verzweiflung noch zu einem berühmten Arzt und Professor. Er kam, in seinen Pelz gehüllt, sagte: ›Er ist tot‹ und verlangte fünfhundert Franken für den Besuch. Ich war fünfundvierzig Jahre alt und stand ganz allein in der Welt, ohne ein Interesse am Leben zu haben, mit einem großen Bedürfnis nach Ruhe, denn mein armer Vater war – warum sollte ich's verschweigen? – durch seine Leiden sehr anspruchsvoll, ja sogar tyrannisch geworden. Ich sagte mir, daß ich jetzt selbst der Pflege bedürfe, und ich dachte an nichts andres mehr, als mich zu pflegen. In Wirklichkeit war ich nur müde, nicht krank; ich wurde es aber, indem ich alle möglichen Arzneien verschluckte. Ich konnte den Namen keiner Krankheit aussprechen hören, ohne mir einzureden, daß er auch auf mein Leiden passe. Das Menü jeder Mahlzeit war für mich ein wichtiges Staatsereignis, die Verdauungsfrage ein Drama. Während dreier Monate gebrauchte ich eine Milchkur, dann wurde ich Vegetarianerin. Ja, Herr Abbé, ich habe zehn Aerzte konsultiert und die verschiedensten Kurmethoden durchgemacht, ich lief zu den Homöopathen, zu den Somnambulen, zu allen Quacksalbern, die sich in der Zeitung empfahlen. Mein ursprünglich sanfter Charakter wurde ein gereizter. Ich verlangte, bedauert zu werden, und jeder, der für meine Gesundheit nicht das genügende Interesse an den Tag legte, wurde mir verhaßt. Schließlich war ich mir selbst und den andern zur Last geworden, als Renaudels Flucht mich, bis auf einige Tausend Franken, um alles brachte, was ich besaß. Das, Herr Abbé, war meine Rettung. Ich mußte arbeiten, wenn ich nicht Hungers sterben wollte. Ich erfuhr, daß diese kleine Schule zu verkaufen sei; ich kaufte sie mit meinen letzten Mitteln, und kaum befand ich mich im Kreis meiner kleinen Schülerinnen, da entfachte sich in meiner Brust jenes mütterliche Gefühl, das unter der Asche aller alten Jungferherzen schlummert. War ich bis dahin leidend und egoistisch gewesen, so lag das daran, daß ich nichts zu thun, daß ich niemand zu lieben hatte. Konnte ich früher, als ich noch das unthätige Leben einer eingebildeten Kranken führte, mein geschabtes rohes Beefsteak nur mit einer Dosis Pepsin verdauen, so verträgt mein Magen heute Suppenfleisch mit Zwiebeln und Speckkartoffeln. Seinen Lebensunterhalt verdienen, das ist die beste Diätetik! Und außerdem habe ich in den Familien dieser Kinder so viel stolze und verschämte Armut gesehen, die mir als stärkendes Beispiel diente! ... Brauche ich Ihnen zu sagen, Herr Abbé, daß ich recht schlechte Tage verlebt habe? Die Zahl meiner Schülerinnen ist gering, das Schulgeld unbedeutend, es wird mir oft schwer, die Miete zu bezahlen. Aber die Sorglosigkeit und Heiterkeit der Kinder wirken ansteckend. Ich habe Gott sei Dank gelernt, von der Hand in den Mund zu leben. Und sehen Sie, Herr Abbé, gestern habe ich meinen Tibetshawl ins Pfandhaus geschickt, um die Truthenne für unser heutiges Festmahl kaufen zu können. Sie bringen mir mein Vermögen zurück, nun, desto besser! Aber glauben Sie nicht, daß ich etwa die Absicht habe, damit wieder die Apotheker zu bereichern ... Nein, ich werde meine Schule nicht aufgeben. Da ich aber alt bin, so werde ich mir eine Gehilfin nehmen, ein armes, bleichwangiges junges Mädchen, das sein Lehrerinnenexamen bestanden hat. Ich werde ihr das Leben angenehm machen und sie soll schon bald wieder rote Backen bekommen; sie soll mir eine Freundin werden ... Für diejenigen Schülerinnen, welche mit schlecht gefülltem Frühstückskorbe zu mir kommen, wird in meiner Speisekammer immer etwas vorrätig sein. Ich brauche nicht mehr die armen Mütter zur Zahlung des Schulgelds zu drängen und zuzusehen, wie sie mit einem Seufzer das letzte Zwanzigfrankenstück aus ihrem alten Portemonnaie nehmen. Bis zu meinem Tode will ich, wenn irgend möglich, in dieser Kinderatmosphäre leben, dieses heitere Lachen hören, in diese hellen, unschuldigen Augen sehen. Das Mittel hat mir zu gute Dienste gethan, als daß ich jetzt noch darauf verzichten möchte ... Sagen Sie das Herrn Renaudel; bringen Sie ihm diese Quittung, ohne ein Wort des Dankes für das Geld ... denn schließlich hat er ja doch nur seine Pflicht gethan ... Aber immerhin ist es sein Verdienst, wenn ich heute keine alte Scharteke mehr bin, die am Kaminfeuer stöhnt, in ihrer Theetasse, ihren Arzneiflaschen herumrührt – und dafür bin ich ihm in der That zu Dank verpflichtet.«

Fräulein Latournure mußte diese letzten Worte sehr laut sprechen, fast schreien, denn die Apfeltorte war bis auf das letzte Krümchen verzehrt, und zwischen den kleinen Mädchen hatte sich, angeregt durch das gute Essen, eine Unterhaltung entsponnen, die mit ihren hellen Tönen an das Gezwitscher junger Nestvögel an einem schönen Frühlingsmorgen erinnerte. Nur Ernestine, das jetzt gesättigte Leckermäulchen, hatte ihren müden Kopf neben dem leeren Teller auf die gekreuzten Arme gelegt und war eingeschlummert.

Gewiß war der Abbé Moulin höchlich entzückt über das Wunder, das die Armut an diesem liebenswürdigen alten Fräulein bewirkt hatte, und doch kam es ihm sonderbar vor, wenn er dabei an seine Lumpensammler dachte, bei denen die Dinge nicht immer so glatt verliefen, wo der Mangel an Geld vielmehr oft genug Krankheit und Tod zur Folge hatte.

»Ich wünsche Ihnen zu Ihrer Genesung von Herzen Glück, mein Fräulein,« sagte er sich erhebend. »Gewiß ist es nicht das Geld, das uns die Gesundheit verleiht, es kann auch, wie dies Ihr Fall beweist, das Gegenteil herbeiführen ... unter meinen Armen befindet sich indessen ein blutarmes dreizehnjähriges Mädchen, dem kräftiges Fleisch und guter Wein sehr wohlthun würden ... und dazu bedarf es ...«

»O, ich verstehe, was Sie sagen wollen,« unterbrach ihn lachend die alte Jungfer. »Nur für solche, die einmal reich waren, ist die Entbehrung ein gutes Mittel. Schicken Sie mir die Adresse Ihrer kleinen Schutzbefohlenen, und seien Sie unbesorgt, es soll ihr künftig weder an Medocwein noch an Filetbeefsteaks fehlen. Jetzt aber entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht länger zurückhalte, ich muß noch diese ganze kleine Gesellschaft in ihre Wintermäntel hüllen und zu Papa und Mama zurückführen.«

Mit vielen Komplimenten und Danksagungen zog sich der Abbé, der, wie man sieht, an diesem Abend ausgezeichnete Geschäfte machte, zurück. Das Dienstmädchen geleitete ihn bis zur Straße, wo sein Kutscher, der vom Bock gestiegen war, zitternd vor Frost, und mit den Armen um sich schlagend, auf dem Trottoir herumstampfte. Der Mond hatte die Oberhand gewonnen und der Nebel verteilte sich langsam in azurne Dämpfe.

»Merkwürdig!« sagte sich der Abbé, als er wieder im Wagen saß, »werde ich denn nicht endlich einmal auch auf einen armen Teufel stoßen, dem dieses nichtswürdige Geld wirklich uneingeschränktes Vergnügen macht?«


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