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Die jüngste Frühlingssonne glänzte in vollem Lichte auf ihrer blauen Himmelsbahn. – Als sei sie das majestätische Antlitz der Gottheit, die mit lächelndem Blicke der Schöpfung zuruft: »Auf! Auf! der Winter ist vergangen, steht auf und seid fröhlich zu meiner Freude!« – so milde breitete sie ihr jugendliches Licht über Heide und Feld und machte den nassen Boden unter der Wärme ihrer Strahlen gären und dampfen.

Nur wenige Blumen hatten den Ruf der Weltfreundin vernommen: das Schneeglöckchen allein bewegte die Spitzen seiner silbernen Sternchen, der Haselstrauch entfaltete seine schaukelnden Kätzchen, die Waldanemone ließ im Unterholze ihre ersten Blätter sehen; aber die Vögel hüpften in dem heißen Lichtstrom und zwitscherten mit hellen Stimmen von der nahenden Liebeszeit …

 

Nicht weit von dem Tannengehölze, einsam und vergessen, standen zwei kleine Lehmhäuser nebeneinander. In dem einen wohnte eine arme Witwe mit ihrer Tochter; alle Habe, die sie in dieser Welt besaßen, war eine Kuh. – In dem anderen Häuschen wohnte ebenfalls eine Witwe mit ihrem steinalten Vater und zwei Söhnen, von denen nur der eine bisher das Jünglingsalter erreicht hatte. Sie waren reicher als ihre Nachbarn; denn sie besaßen einen Ochsen und eine Kuh und hatten viel mehr Land in Pacht. Trotzdem aber bildeten die beiden Hütten – denn es waren Hütten – seit langen Jahren doch nur einen Hausstand, und ihre Bewohner liebten einander und halfen einander, wo es not tat. Jan und sein Ochse arbeiteten auch auf dem Felde der armen Witwe; Trien holte auch das Futter für den Ochsen und ging jäten und half ernten bei ihren Nachbarn, ohne daß jemals unter diesen Menschen der Gedanke entstanden wäre, nachzurechnen, wer das meiste für den anderen getan habe.

Einfach, ohne Wissen von alledem, was da draußen unter dem hastenden Menschenschwarme vorgeht, lebten sie zufrieden mit dem Stück Schwarzbrot, das Gott ihnen vergönnt hatte. Ihre Welt hatte enge Grenzen: auf der einen Seite das Dorf mit seinem demütigen Kirchlein, auf der anderen Seite die unermeßliche Heide und der grenzenlose Horizont.

Und dennoch, alles lachte und sang in der einsamen Siedelung und ringsumher; Freude und Genügen herrschten, und keiner dieser armen Menschen würde sein Los gegen ein scheinbar besseres vertauscht haben.

Das war, weil die Liebe mit ihrer goldenen Zaubergerte auch hier die Wüstenei in Leben verwandelt hatte. Jan und Trien – sie wußten es nicht – liebten einander mit der unausgesprochenen und schüchternen Empfindung, die das Herz bei dem kleinsten Zeichen schlagen macht, die das Antlitz verfärbt bei dem leisesten Worte; die das Leben verwandelt in einen langen Traum, blauen Himmel mit glitzernden Sternen des Glücks, und ihn unmeßbar tief macht, als müßte das Menschenherz ewig so bleiben, wie die erste Sehnsucht der Liebe – keuscher Weihrauch der Seele – es machte.

Arme Leute! sie dachten nicht an die große Menschengesellschaft, die da fern in den Städten ihr hastendes Leben lebt; da sie nichts von ihr wollten, glaubten sie, daß sie sich ihrer nicht mehr erinnern würde, und lebten voll Vertrauen dahin in ihrer schönen und süßen Armseligkeit. Aber auf einmal kam man, von den kleinen Lehmhütten den Zoll des Blutes einzufordern. Der einzige junge Mann, der da wohnte, der einzige, der imstande war, die undankbare Erde durch den Schweiß seiner Arbeit fruchtbar zu machen, sollte losen und Soldat werden, wenn seine bebende Hand eine unglückliche Nummer zog: seiner Heide, seiner Mutter, seiner Freundin ein langes Lebewohl sagen – vielleicht auf ewig Abschied nehmen und verkümmern an den Wunden, die das wüste Kriegsleben seiner reinen, stillen Seele schlagen würde.

Er war gekommen, der trübe Märztag, der in Triens Almanach von 1833 mit einem schwarzen Kreuze gezeichnet stand.

Der junge Mann war mit einem Dutzend Gefährten aus dem Dorfe nach Brecht gegangen, um zu losen.

Da drinnen saßen die beiden Frauen und das Bübchen vor dem Muttergottesbilde und beteten mit erhobenen Händen. Der alte Großvater irrte wortlos hin und her und blieb endlich vor der Tür stehen, die Hand an den Weinstock gelegt und das Haupt zu Boden gebeugt, als blicke er in ein Grab.

Die Jungfrau stand im Stalle vor ihrer Kuh, blickte dem Tiere starr und traurig in die Augen und streichelte ihm sachte die Wangen, als wollte sie es trösten über ein nahendes Unglück.

Über den beiden Häuschen hing ein Trauerflor düsterer Stille, die nur hier und da durch das dumpfe und traurige Geläute des Ochsen unterbrochen wurde.

Nach einer Weile stellte sich Trien ebenfalls wortlos neben den Großvater und blickte ihm eine Zeitlang bittend und fragend in die Augen.

Der Greis erwachte aus seinem schmerzlichen Nachdenken; er ergriff einen schweren Handstock und sagte zu dem Mädchen:

»Verlier den Mut nicht, Trien. Gott wird uns beistehen in dieser schrecklichen Not. Komm, es ist Zeit: wir wollen den armen Lospflichtigen entgegengehen …«

Trien folgte dem Großvater auf einen Weg, der am Hause vorüber zum Dorfe führte. Obwohl eine brennende Ungeduld sie vorwärts trieb, ging sie mit trägen Schritten. Der Greis wandte sich nach dem Mädchen um und bemerkte, wie sie mit gesenktem Kopfe und ganz bleichen Wangen hinter ihm hertrottete. Er nahm sie in zartem Mitleid bei der Hand und sagte:

»Armes Kind, wie lieb mußt du unsern Jan doch haben. Er ist nicht dein Bruder, und doch bist du tiefer erregt als wir! Sei doch beherzter, Trien liebes, du weißt ja gar nicht, was Gott beschlossen hat.«

»O, wie bin ich erschrocken!« seufzte das Mädchen, sichtlich zitternd und mit durchdringendem Blick in das Gehölz starrend.

»Erschrocken?« wiederholte der Greis, während er die Ursache ihrer Bewegung zu entdecken suchte.

»Ja, ja,« schluchzte Trien und bedeckte ihre Augen mit der Schürze, »es ist geschehen, wir sind unglücklich: er hat das Los gezogen!«

»Aber wie kannst du das wissen? Ach Gott, du machst mich auch beben«, sagte der Großvater beklommen.

Das Mädchen deutete mit dem Finger weit über die Bäume hin und antwortete:

»Dahinten, hinter dem Holze … horch!«

»Ich höre nichts. Komm, sputen wir uns lieber: es werden die Ausgelosten sein. Um so besser!«

»Gott, Gott,« rief das Mädchen, »ich höre eine Stimme … so schmerzlich, so traurig: es ist wie ein heulendes Seufzen, das in meinen Ohren dröhnt.«

Eine Weile betrachtete der Großvater mit ängstlichem Erstaunen das junge Mädchen, das auf einen fernen Schall zu horchen schien. – Auch er strengte sein Ohr an, um die Geräusche der stillen Heide zu erfassen. Ein wunderbar süßes Lächeln erhellte seine Züge, als er dann sagte:

»Kleine Einfalt! Es ist der Wind, der im Hochwald rauscht.«

»Nein, nein,« antwortete das Mädchen, »weiter, weiter, hinter dem Walde. Hörst du nicht die klagende Stimme?«

Nach einem Augenblicke der Aufmerksamkeit sagte der Alte:

»Nun verstehe ich, was du meinst. Es ist der Hund des Pächters Klaas, der um einen Toten heult; seine Pächterin, die die Schwindsucht hatte, soll diese Nacht gestorben sein. Gott sei ihrer armen Seele gnädig!«

Das Mädchen, das in seiner Gemütserregung das nahe Geheul als ein Vorzeichen sicheren Unheils empfunden hatte, erkannte seinen Irrtum. Ohne daran zu denken, sich die Tränen aus den Augen zu wischen, beschleunigte es seinen Gang und folgte schweigend dem Greise, bis dieser sagte:

»Aber, Trien, wenn du so untröstlich bist, was soll dann erst seine Mutter, was soll ich, sein Großvater, dann sagen? Wir haben ihn großgezogen im Schweiße unseres Angesichts, haben ihn wie unsern Augapfel geliebt. Nun sind wir alt und gebrechlich, er sollte arbeiten für uns in unsern müden Tagen … und, ach Gott, wenn der Herr seinen Engel nicht gesandt hat, seine Hand zu führen – so muß er nun Soldat werden, uns verlassen in unserer Not …«

Bei diesen Worten brach das Mädchen in Tränen aus. Fast ärgerlich antwortete es:

»Aber was soll denn das alles, Vater, ich hab doch auch Arme am Leibe, und wenn ihr es nicht mehr schaffen könnt, dann werde ich schon selber mit dem Ochsen aufs Feld gehen und alle die grobe Arbeit tun; aber er, aber Jan, der arme! Nichts hören als fluchen und schwören, und Prügel kriegen und im Wirtshaus sitzen, Hunger leiden und sich verzehren vor Kummer, wie der unglückliche Pauw Stuyck, den sie da innerhalb vier Monaten totgequält haben. Und niemanden mehr sehen von all denen, die ihn lieben auf Erden, weder dich, noch seine Mutter, noch sein Brüderchen, noch … keinen Menschen mehr, außer den wüsten, bösen Soldaten!«

»Sprich nicht so, Trien,« sagte der Greis mit erstickter Stimme, »deine Worte tun mir weh. Du jammerst und zitterst, als gäbe es gar keinen Zweifel mehr an seinem Unglück; ich im Gegenteil habe ein Gefühl, als sei er ausgelost, ich habe Vertrauen zu Gott!«

Ein unmerkliches Lächeln schwebte zwischen den Tränen des Mädchens auf, aber sie antwortete nicht weiter, und beide schritten schweigend voraus, bis sie das Dorf erreicht hatten.

Hier, an dem Wege, auf dem die Rekruten von Brecht kommen mußten, standen viele Menschen in kleinen Gruppen, alle voll Ungeduld wartend, das Ergebnis der Auslosung zu erfahren. Es war äußerst leicht, diejenigen zu erkennen, von denen ein Bruder oder Sohn oder Liebster nach Brecht gegangen war: hier und da sah man eine Mutter, die Schürze vor den Augen, dastehen; einen Vater sich bemühen, die Angst zu verbergen, die ihm wider seinen Willen auf dem Gesichte geschrieben stand; ein Mädchen mit blassen Wangen und schüchternem Blick von einer Gruppe zur andern gehen, wie gejagt von einer verborgenen Beklommenheit …

Viele andere, die nur aus Neugierde dastanden, sprachen und scherzten mit lauter Stimme. Der alte Schmied, der seinerzeit bei den Napoleonischen Dragonern gedient hatte, sprach mit überschwenglichem Lobe vom Soldatenleben und wurde darin kräftig unterstützt von dem betrunkenen Sohne des Müllers, der elf Monate gedient und seit jener Zeit das Vermögen seiner Eltern schon zur Hälfte verpraßt und vertrunken hatte. Der Schmied hatte keine schlechte Absicht, er glaubte, seine bangenden Freunde durch solche herrliche Schilderungen trösten zu können, und rief immer wieder aus:

»Alle Tage Suppe und Fleisch, viel Geld, gutes Bier, stramme Mädchen, tanzen und springen und fechten, daß die Fetzen fliegen: das heißt erst leben! Ihr ahnt es nicht! Ihr ahnt es nicht!«

Aber seine Worte taten eine falsche Wirkung, denn sie machten die Tränen der Mütter heftiger fließen und beunruhigten viele Gemüter.

Trien konnte nicht mehr an sich halten; in diesem Scherze war ein Wort, das ihr Herz verletzt hatte, sie sprang mit geballter Faust vor den Spötter und rief:

»Pfui, du garstiger Schmied! Sie sollten wohl allesamt Trinker werden, wie du, und schlechte Kerle, wie dieser verkommene Landstreicher, der bei den Soldaten nichts gelernt hat, als locker zu leben und seine Eltern zugrunde zu richten!«

Der Sohn des Müllers fuhr wütend auf und wollte dem tapferen Mädchen grob zu Leibe. In diesem Augenblicke aber ertönte auf der andern Seite des Weges der Ruf:

»Da sind sie! Da sind sie!«

In der Tat waren weit hinten hinter dem Walde hervor die Rekruten auf dem Wege erschienen, und nun kamen sie anmarschiert, singend und jauchzend, daß es in der Luft widerhallte. Einige warfen ihre Hüte oder Mützen zum Zeichen ihrer Freude in die Luft, und alle zusammen machten den Eindruck eines Haufens von Betrunkenen, der von einer Kirchweih zurückkehrt. – Aber wer da sang und fröhlich war und wer schwieg und Kummer hatte, das konnte man noch nicht unterscheiden.

Sobald die Rekruten auf dem Wege sichtbar wurden, liefen ihre Verwandten und Freunde, jeder von seiner Seite, ihnen entgegen. Der alte Großvater konnte nicht so schnell gehen, obwohl Trien ihn an der Hand fortzog. Endlich, nicht mehr imstande ihre Ungeduld zu meistern, als sie sah, wie da vorne die Mütter und Mädchen einige der Rekruten mit lauten Freudenrufen umarmten, ließ sie die Hand des Alten los und stürmte mit allen Kräften voraus. Mitten auf ihrem Wege machte sie plötzlich Halt, wie von einer unbekannten Macht gelähmt. Sie wich wankend zur Seite und lehnte weinend ihren Kopf an einen Baumstamm.

Der Alte holte sie ein und fragte:

»Ist Jan denn nicht dabei, daß du stehen bleibst, Trien?«

»Mein Gott, mein Gott, ich werde es nicht überleben!« rief das Mädchen, »sieh, da hinten hinter den andern kommt er mit hängendem Kopfe und bleichem Gesichte; er ist schon halbtot, der Arme!«

»Es ist vielleicht Übermaß von Freude, Trien.«

»Wie glücklich du bist, Vater, daß du nicht mehr gut sehen kannst!«

Inzwischen näherte sich Jan der Stelle, an der er seinen Großvater bemerkte, und kam mit schweren Schritten auf ihn zu.

Trien ging ihm nicht entgegen; im Gegenteil, sie verbarg ihr Gesicht an dem Baume und schluchzte hörbar.

Der Jüngling ergriff die Hand des Alten, und indem er ihm eine Nummer zeigte, sagte er mit heiserer Stimme:

»Vater, es hat mich getroffen!«

Dann ging er zu dem jungen Mädchen, und während ein Strom von Tränen aus seinen Augen brach, schluchzte er:

»Trien! Trien!«

Mehr konnte er nicht sagen; der Schmerz erstickte ihm die Stimme in der Kehle.

Der steinalte Greis war zu entsetzt, um ein Wort sprechen oder einen Gedanken formen zu können; während einzelne Tränen über die Furchen seiner Wangen rollten, stand er stumm und grübelnd, den Blick zu Boden gerichtet.

Eine Weile herrschte die feierlichste Stille, bis Jan plötzlich in düsterer Verzweiflung ausrief:

»O meine arme Mutter! Meine arme Mutter!«

Bei diesem Rufe vollzog sich eine völlige Wandlung im Gemüte der Jungfrau. Sie war ein edles und starkmutiges Frauengeschöpf. Solange sie in Zweifel verharrte, weinte sie; doch nun ihr Herz in der Gewißheit des Unglücks Erleuchtung gefunden hatte, nun ein gehobenes Pflichtgefühl sie aus der Niedergeschlagenheit aufrüttelte, kehrte die Seelenkraft, die ihrer schönen Wesensart eigen war, wieder in sie ein. – Sie hob den Kopf, trocknete ihre Tränen und sagte mit Gelassenheit:

»Jan, Freund, Gott hat es so beschlossen; wer kann wider seinen Willen? Du bleibst doch noch ein Jahr; vielleicht gibt es noch einen Ausweg. Laß mich gehen; ich will dies auch deiner Mutter sagen. Brächte ein anderer ihr die schreckliche Botschaft, ach, sie stürbe sicher daran …«

Mit diesen Worten sprang sie vom Wege ab, quer durch das Tannenholz, und verschwand.

Der Greis und der unglückliche Rekrut gingen den gewohnten Weg am Dorfe entlang. Sie hörten singen, schreien und jauchzen, aber sie waren zu tief in ihre Traurigkeit versunken, um auf diese Geräusche achtgeben zu können.

Als sie sich ihrer ärmlichen Behausung näherten, sahen sie Trien mit den beiden Frauen und dem Brüderchen ihnen weinend entgegenkommen.

Der Jüngling warf in die Augen seiner guten Freundin einen Blick äußerster Dankbarkeit; denn er las es in den Zügen seiner Mutter, daß das edelsinnige Mädchen in der Tat ein Hoffnungsgefühl dem Herzen der leidenden Frau eingeflößt hatte.

Durch diesen Anblick gestärkt, bezwang auch er seinen Schmerz und lief mit offenen Armen auf seine Mutter zu.

Wohl gab es noch eine heftige Erschütterung, eine bittere Aufwallung; Tränen wurden noch vergossen; aber die Verzweiflung wich, und allmählich wurde es wieder Frieden in den Hütten der beiden Witwen.

 

Die Stunde der Abreise ist gekommen! Da, vor den Hütten steht ein schöner, jugendlicher Mann, den Wanderstock über die Schulter gelegt und das Bündel auf dem Rücken. Seine sonst so lebhaften Augen gleiten nun langsam in der Runde; sein Antlitz ist still, und alles scheint Ruhe des Gemütes in ihm zu verraten, während doch das Herz ihm heftig pocht und seine Brust in dumpfen Atemzügen sich hebt und senkt.

Seine Mutter hat eine seiner Hände ergriffen und überhäuft ihn mit den Bezeugungen der wärmsten Liebe; die arme Frau weint nicht: ihre Wangen beben unter der Anstrengung, ihren Schmerz zu verbergen. Sie lacht ihrem Kinde zu, um es zu trösten; aber das Lachen, gezwungen und schmerzlich, ist trauriger noch als die bitterste Klage.

Die andere Witwe bemüht sich, das kleine Bübchen zu beruhigen und ihm weiszumachen, daß Jan bald zurückkehren werde; aber das Kind hat durch die Gedrücktheit der Älteren während eines ganzen Jahres schon begriffen, daß der Abschied ein schreckliches Unglück ist, – und so weint es mit lautem Schreien.

Der Großvater und Trien sind drinnen, um die letzten Vorbereitungen zur Reise zu beenden: sie schneiden ein großes Loch in ein Kommißbrot und füllen es mit Butter aus. – Da kommen sie mit dem Proviant zur Tür heraus und bleiben neben dem Jüngling stehen.

Der Stall ist offen; der Ochse blickt traurig nach seinem Herrn und läutet von Zeit zu Zeit so leise, so mutlos; – man möchte meinen, das Tier fühle, was da geschehen soll.

Alles ist bereit: er schickt sich zum Gehen an. Schon hat er die Hand seiner Mutter fester gedrückt und einen Fuß vorwärts gesetzt – da legt er die Hand über die Augen, verbirgt die Tränen, die über seine Wangen rollen, und seufzt unhörbar:

»Lebt wohl!«

Er erhebt das Haupt wieder, wirft seine losen Haare wie eine Mähne zurück und schreitet entschlossen vorwärts.

Aber alle folgen sie ihm; denn jetzt sollen sie ihn noch nicht verlassen. Etwas weiter nach dem Dorfe zu, bei dem Kreuzweg, hängt ein Liebfrauenbild an dem Lindenbaume. Trien hat es dort an einem schönen Maiabend aufgerichtet, und Jan hat am Fuße des Baumes eine Betbank gezimmert. An der heiligen Stätte, an die täglich ihrer eines kam, dem guten Gotte zu danken oder zu beten, da soll das traurige Lebewohl ihren bebenden Lippen entgleiten …

Schon sehen sie in der Ferne den Lindenbaum, den Grenzpfahl, hinter dem die tödliche Verbannung liegt. Der Jüngling verlangsamt den Gang, während seine Mutter, ihn liebevoll streichelnd, zu ihm spricht:

»Jan, mein Sohn! Vergiß niemals, was ich dir gesagt habe. Halte allezeit Gott vor Augen! Doch sollte es geschehen, daß du einmal zu beten vergessen hättest, dann denke am nächsten Tage an mich; denn wer an Gott und an seine Mutter denkt, der ist beschirmt gegen alles Böse, liebes Kind.«

»Ich werde immer, immer in Gedanken bei dir sein, Mutter,« seufzt der Jüngling mit ruhiger Stimme; »und wenn ich traurig bin und den Mut verliere, soll die Erinnerung an dich mich stützen und trösten; denn ich fühle es deutlich, ich werde unglücklich sein: ich habe euch allesamt viel zu lieb!«

»Und dann: du darfst nicht fluchen, hörst du wohl, und nicht locker leben. Du mußt zur Kirche gehn, nicht wahr? Und uns, sooft es möglich ist, Nachricht von deiner Gesundheit geben, und immer daran denken, daß die geringste Mitteilung von ihrem Kinde eine Mutter glücklich macht; nicht wahr, Jan?«

Tief ist der Jüngling gerührt durch den wundersüßen Klang der mütterlichen Stimme. Seine einzige Antwort ist hin und wieder ein festerer Druck der Hand und ein langer Seufzer, den manchmal die Worte: »Mutter, liebe Mutter« begleiten.

Sie nähern sich schweigend dem Kreuzwege; der Großvater begibt sich an die andere Seite des Jünglings, und in ernstem Tone spricht er zu ihm:

»Jan, mein Sohn, du wirst deinen Pflichten nachkommen ohne Murren und mit Liebe, nicht wahr? Wirst aufpassen und dienstfertig jedem begegnen? Guten Willen zeigen und beherzt alles ausführen, was dir aufgetragen wird? Dann wird Gott dir beistehen, dann werden deine Vorgesetzten und deine Kameraden dich lieben …«

Trien mit ihrer Mutter und dem Bübchen sitzen schon unter dem Lindenbaum vor der Bank, im Grase kniend und betend. Alle knien nieder und beten mit erhobenen Händen.

Der Wind rauscht sanft in den Nadeln der Tannen, die Frühlingssonne scheint mild auf den sandigen Weg, droben die Vögel singen ein fröhliches Lied; aber doch ist alles still und feierlich, und hörbar lispelt die heilige Bitte rund um den Lindenbaum …

Es ist geschehen, alle erheben sich; aber aus aller Augen bricht eine Flut von Tränen. Die Mutter umhalst unter bitteren Klagen wieder und wieder ihr Kind. Endlich läßt die ermattete Frau, abgespannt, doch immer weinend, sich auf der Bank nieder …

Jan umarmt hastig seinen Großvater und Triens Mutter; mit freundlicher Gewalt schiebt er das schreiende Brüderchen von seinen Beinen weg, läuft noch einmal zu seiner Mutter, schließt sie in die Arme, küßt ihre Stirn, ruft mit schneidender Stimme »lebe wohl« und schreitet, ohne zu wagen sich noch einmal umzusehen, auf das Dorf zu, bis er hinter der Ecke des Holzes den Augen seiner Eltern entschwunden ist.

Kaum kann Trien, die das Kommißbrot unter dem Arme trägt, ihm folgen und ihn einholen.

Eine Weile gehen die zwei jungen Leute nebeneinander dahin, ohne zu sprechen; ihre Herzen jagen und klopfen gewaltig; heftige Röte färbt beider Stirn und Wangen; sie getrauen sich nicht, zueinander aufzusehen. – O Feierstunde, da zwei Seelen beben vor einem Bekenntnis, da sie fühlen, daß ein heilig bewahrtes Geheimnis von ihren Lippen fallen wird!

Jan sucht in Schüchternheit Triens Hand, er berührt sie; doch als sei diese Berührung eine Untat, läßt er sie los und zittert.

Nach einer Weile des Schweigens aber faßt er von neuem ihre Hand und seufzt in einem seltsamen Tonfalle:

»Trien, wirst du mich nicht vergessen?«

Tränen sind die einzige Antwort der Jungfrau. »Wirst du warten, bis Jan von den Soldaten zurückkehrt?« fragt der Jüngling wieder. »Kann er wenigstens diesen Trost mitnehmen, um nicht zu sterben vor Kummer …?«

Die Jungfrau hebt ihre großen blauen Augen zu ihm auf und blickt ihn mit einem langen Blicke an, der wie ein Feuerstrom seine Seele durchdringt und sein Herz in unbekannter Seligkeit schmelzen macht. Bewußtlos steht er einen Augenblick; wie es kommt, weiß er nicht, aber seine glühenden Lippen haben die Stirn des Mädchens berührt. Er ist wie in Furcht zur Seite gewichen und hat seinen Arm um einen Eichenstamm gelegt. Da, vor ihm strahlt das Antlitz der Geliebten in der Glut der Keuschheit und des Glücks; er legt die Hand auf sein Herz, denn da drinnen in seiner Brust möchte wohl etwas brechen von den wilden Schlägen; – und doch, ein unbeschreibliches Lächeln steht auf seinem Angesichte, seine Augen blitzen in männlichem Feuer, sein Haupt ragt stolz und trotzig empor, es ist, als habe ein einziger Blick der Geliebten mit Riesenkraft und Riesenmut ihn begabt.

Aber hinter dem Unterholze ertönte eine wohlbekannte Stimme. Jemand nähert sich, ein fröhliches Liedlein singend …

Es ist Karel von dem Kartoffelbauer, der auch einrücken muß und nach dem Dorfe wandert.

Trien bemüht sich, ihre Erregung zu verbergen. Diese Überraschung weckt sie aus ihren unbewußten Träumen; sie wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Freund und nötigt ihn, auszuschreiten, damit Karel sie nicht erreiche und kein fremdes Auge gewahre, was in ihren Seelen vorgegangen ist.

Aber Karel eilt vorwärts, um seinen Reisegefährten einzuholen. Trien bemerkt es wohl; sie sagt hastig:

»Jan, wenn du fort bist, dann werde ich allein für deine Mutter, deinen Großvater und dein Brüderchen sorgen; ich werde hinter dem Pfluge gehen, wenn es sein muß, und den Ochsen versehen, daß er es gut hat. Ich bin stark und gesund genug, und ich will schon sehen, daß du bei deiner Heimkehr alles so wiederfindest, wie es war bei deinem bitteren Abschied.«

»Alles?« wiederholt der Jüngling, ihr tief in die Augen blickend, »alles?«

»Ja, alles, und ich werde nicht zur Kirmes gehen, solange du wegbleibst; denn ohne dich habe ich doch nichts davon als Kummer. Aber … du darfst auch nicht so sein, wie der garstige Schmied immer spricht, von Trinken und hübschen Mädchen; denn wenn ich das erführe, dann würde ich wohl bald auf dem Kirchhof liegen …«

Karel legt in diesem Augenblicke seine schwere Hand auf Jans Schulter, während er scherzend, mit trauriger Stimme, singt:

»Ach Gott, schön Lieb, nun muß ich dich verlassen,
O traurig Los, muß unter die Soldaten,
Leb wohl, vergiß mein nicht!«

Das Mädchen errötet vor Scham. Jan, ihre Verlegenheit bemerkend, beantwortet mit leichten Sprüchen den Scherz seines Gefährten und faßt ihn unter den Arm. Trien kommt schweigend hinterdrein.

Endlich betreten sie das Dorf. Vor der »Krone« stehen noch drei andere Jünglinge mit dem Reisepack auf dem Rücken; sie warten auf Jan und Karel.

Jeder küßt seine Eltern und Freunde. Nur Trien küßt niemand; aber in dem heimlichen Blicke, den sie mit Jan wechselt, wie sie ihm das Kommißbrot gibt, liegt eine rührende Seelenzwiesprache.

Die Rekruten ziehen fort der Stadt zu.

Trien verläßt das Dorf, ohne zu weinen; aber hinter dem Tannenholze läuft ihr das Herz über; sie kehrt, die Schürze vor den Augen, nach der Hütte zurück, wo alles nun eitel sein wird bis auf eins: mit dem Leben der Erinnerung alles das anzufüllen, was leer wurde durch den Abschied von Sohn und Geliebten.

 

An einem hellen Augusttage verließ Trien fast übereilig das Dorf und wandte sich heimwärts; ihr Antlitz, von einem süßen Lächeln geziert, verriet Heiterkeit und fröhliche Hast; leicht gingen ihre Schritte durch den weichen Sand des Weges, und von Zeit zu Zeit entrang ein unverständlicher Klang sich ihrer wogenden Brust, als spräche sie mit sich selbst. In der einen Hand hielt sie zwei große Bogen Schreibpapier, in der anderen eine alte Schreibfeder und ein Fläschchen Tinte, das der Küster ihr geschenkt hatte.

Unterwegs traf sie die schöne Kaat des Holzschuhmachers, die singend mit einem Büschel Klee auf dem Kopfe aus einem Seitenwege trat und ihre Freundin anhielt mit der Frage:

»He, Trien, wohin läufst denn du mit dem Papier? Und so eilig? Es brennt doch nicht? – Sag einmal, wie geht es denn eurem Jan?«

»Ja, unserem Jan?« antwortete Trien, »das weiß unser Herrgott, Käthchen liebes. Seit seiner Abreise haben wir erst dreimal Nachricht von ihm bekommen, daß er gesund ist. Nun ist es schon sechs Monate her, daß sein Kamerad aus Turnhout in der ›Krone‹ eine Botschaft von ihm für uns abgegeben hat; aber es muß auch schwer gehen; er liegt nämlich oberhalb Maastrichts, und es kommen nicht alle Tage von so weither Bekannte in diesen Winkel.«

»So, kann er denn nicht schreiben, Trien?«

»Gekonnt hat er es; als wir klein waren und zusammen bei dem Küster in die Schule gingen, hat er sogar noch einen Preis im Schreiben bekommen. Aber er wird es verlernt haben, meine ich.«

»Und was willst du mit diesem Papier anfangen?«

»Ja eben, Kaat, vor zwei Monaten habe ich mein altes Schreibheft wieder aus der Kiste geholt und es neu gelernt. Ich will jetzt versuchen, ob ich keinen Brief zusammenbringen kann. Ob es gehen wird, weiß ich nicht. Hast du schon jemals im Leben einen Brief geschrieben?«

»Nein, aber ich habe schon viele vorlesen hören; mein Bruder Dries nämlich, der in der Stadt wohnt, schreibt fast jeden Monat an uns.«

»Und wie ist das, ein Brief? Was steht darin? Ist es so, wie wenn man jemand anredet?«

»Beileibe nicht, Trien! Das wäre was Schönes! Nein, immer Komplimente und große Worte, die man beinah nicht versteht.«

»O je, Kaat, wie komme ich damit zurecht! Aber wenn ich nun, zum Beispiel, so einfach schreibe: – Jan, wir sind betrübt, weil wir nicht wissen, ob du gesund bist; du mußt uns nun schnell Nachricht geben, denn deine Mutter wird davon krank werden, und so weiter; – das wird er doch wohl auch verstehen?«

»Aber Dummerl, das ist kein Brief; so sprechen alle Menschen, ob sie gelehrt sind, oder nicht. Warte mal! Ja, es fängt immer so an: – Sehr geehrte Eltern, bebend nehme ich die Feder, um … um … um … da kann ich nun schon nicht mehr mit!«

»Um zu schreiben.«

»Was, du kannst es ja besser als ich. Du hältst mich zum Narren; das ist sehr bös von dir, Trien.«

»Nun ja, Kaat, wo sind deine Gedanken? Er wird sicher die Feder zur Hand nehmen, um ein Butterbrot zu schneiden? Ich muß lachen, daß du so einfältig bist. Aber ich verstehe nicht, warum dein Bruder Dries immer zittert, wenn er einen Brief anfangen muß. Da kann er sicher nicht gut schreiben. Das ist doch noch schlimmer: jemand, der zittert, schreibt noch schlechter.«

»Nein, das ist es nicht; aber Dries geht immer so ein bißchen seine eigenen Wege in der Stadt, und er bittet immer um Geld; und darum zittert er, denn Vater ist so böse! Aber, sag einmal, Trien, wie geht es eurer Kuh?«

»Nun, ziemlich gut. Sie hat was ausgestanden, die arme! Aber nun ist sie schon wieder tüchtig am Knöterich und fängt an fett zu werden. Das Kalb haben wir verkauft an einen Bauer von Wechelderzande. Es war ein buntes: ach, ein so liebes Tierchen!«

Während dieser letzten Worte hatten die beiden Mädchen sich schon einige Schritte voneinander getrennt.

»Also, komm gut nach Haus, Trien,« rief Kaat im Weitergehen, »seht, daß ihr herauskommt mit eurem Brief, und viele Grüße von uns an Jan.«

»Auf Sonntag nach der Hochmesse; dann werde ich dir sagen können, wie es gegangen ist. Einen guten Tag deiner Schwester …«

Kaats Stimme erklang schon im Tannenholze; sie sang in fröhlichem Takte und mit hellen Tönen den Refrain eines bekannten Mailiedes:

»Der Maibaum wird gestellt,
verziert mit grünen Kränzchen,
man sieht die junge Welt
vereint im frohen Tänzchen;
ihr Mägdlein, wie ihr seid,
nehmt eure Jugend wahr;
denn in der Alterszeit
kehrt Jugend nimmerdar.«

Trien blieb träumend stehen, bis die schöne Stimme ihrer Freundin hinter den Baumkronen verklungen war. Dann sprang sie halb tanzend, halb gehend ihren Weg weiter und erreichte schnell ihre Wohnung.

Hier saßen die beiden Witwen am Tische und erwarteten Trien mit Ungeduld. Der alte Großvater, von einer Erkältung befallen, lag im Alkoven im Bette und steckte seinen Kopf zwischen den Vorhängen hervor, um wenigstens mit Auge und Ohr dem großen Werke beiwohnen zu können, das man unternehmen wollte.

Sobald das Mädchen auf der Schwelle erschien, rafften die Frauen in aller Eile die Gegenstände zusammen, die auf dem Tische lagen, und fegten diesen mit dem Schürzenzipfel rein.

»Komm hierher, Trien,« sagte Jans Mutter, »setze dich auf Großvaters Stuhl; er ist viel bequemer.«

Das Mädchen nahm stillschweigend am Tische Platz, legte die Papierbogen darauf nieder und steckte den Kiel der Feder grübelnd zwischen ihre Lippen …

Unterdessen blickten die Frauen und der Großvater das sinnende Mädchen mit äußerster Neugierde an. Das Brüderchen hatte beide Arme auf den Tisch gelegt und gaffte ihr in Mund und Augen, um zu erspähen, was sie mit der Feder anfangen würde.

Aber Trien stand wortlos auf, nahm ein Kaffeetäßchen vom Schranke, goß die Tinte aus dem Fläschchen hinein und setzte sich wieder an den Tisch, wo sie das Schreibpapier wohl zehnmal um und um wandte.

Endlich tauchte sie die Feder in die Tinte und machte eine Bewegung, als wollte sie schreiben. Nach einem Augenblicke hob sie den Kopf und fragte:

»Also, nun sagt: was soll ich schreiben?«

Die beiden Witwen sahen einander fragend an und blickten dann gleichzeitig auf den kranken Großvater, der den Hals weit aus den Vorhängen herausgesteckt hatte und mit seinen Augen an Triens Händen hing.

»Nun, schreibe, daß wir allesamt gesund sind,« sagte der Greis hustend, »so fängt ein Brief doch immer an.«

Das Mädchen erwiderte mit einem spöttischen Lächeln:

»Was, das ist auch etwas Rechtes! Daß wir allesamt gesund sind, – und du liegst da krank im Bett seit vierzehn Tagen!«

»Nun, das kannst du am Schlusse des Briefes doch wohl immer noch sagen, Trien?«

»Nein, Mädchen; sieh, weißt du, was du tust?« sagte Jans Mutter; »fang nur einmal an mit den Fragen nach seiner Gesundheit. Und wenn das einmal dasteht, werden wir schon so nach und nach etwas dazusetzen.«

»Nein, Kind,« sagte die andere Witwe, »schreib erst, daß du die Feder zur Hand nimmst, um von ihm über seinen Gesundheitszustand zu hören. So fing der Brief von Per Jans Tist auch an, den ich gestern bei dem Mehlhändler habe lesen hören.«

»Ja, das sagt die Holzschuhers Kaat auch, aber ich tue es doch nicht, denn es ist viel zu kindisch,« sagte das Mädchen ungeduldig, »Jan wird doch wohl wissen, daß ich nicht mit den Füßen schreiben kann.«

»Setze erst einmal seinen Namen oben auf das Papier,« sagte der Großvater.

»Welchen Namen? Braems?«

»Beileibe nicht: Jan!«

»Ihr habt recht, Vater,« sagte die Jungfrau. »Geh weg, Pauwken; nimm deine Arme vom Tische. Und Ihr, Mutter, rückt ein wenig ab; sonst werdet Ihr mich sicher stoßen.«

Sie legte die Feder auf das Papier, und während sie sich den Platz zum Schreiben aussuchte, nannte sie mit leiser Stimme den Namen des fernen Freundes.

Jans Mutter stand plötzlich auf und ergriff die Hand der Jungfrau:

»Warte eben, Trien,« sagte sie, »meinst du nicht auch, daß Jan allein nicht gut ist! So kurz und abgebrochen! Da muß etwas dabeistehen. Willst du nicht lieber setzen ›teurer Sohn‹ oder ›liebes Kind‹?«

»Nein, das will ich auch nicht schreiben,« murrte Trien verdrießlich. »Kann ich denn an Jan schreiben, als ob ich seine Mutter wäre?«

»Aber, was sollst du sonst schreiben?«

Eine leichte Schamröte stieg der Jungfrau in die Wangen, während sie antwortete: »Schreiben wir doch ›lieber Freund?‹ Findet ihr nicht, daß das noch das Schönste von allem ist?«

»Nein, das will ich nun auch nicht,« sagte die Mutter, »dann noch lieber kurz Jan.«

»Liebster Jan?« fragte die Jungfrau.

»Ja, das ist gut,« antworteten die andern gleichzeitig, ganz erfreut über die Lösung des lästigen Rätsels.

»Also, dann bleibt nun einmal alle miteinander vom Tische weg,« rief die Jungfrau, »und haltet mir Pauwken vom Leibe, damit er mich nicht stößt.«

Trien hatte nun schon eine ganze Weile tiefatmend und schwitzend gearbeitet. Der Großvater keuchte und hustete; die Frauen schwiegen und wagten nicht zu mucksen; das Brüderchen unterhielt sich damit, den Finger in die Tinte zu stecken und sein Ärmchen mit schwarzen Flecken zu betupfen.

Als nach einer Weile die erste Reihe voll großer Buchstaben dastand, unterbrach das Mädchen seine Arbeit und las dann mit lauter Stimme:

»Liebster Jan! Wie steht es mit Eurer Gesundheit?«

»So ist es gut,« sprach die Mutter, »schreib nun, daß wir allesamt gesund sind, Menschen und Vieh, und daß wir ihm einen guten Tag wünschen.«

Trien besann sich einen Augenblick und fuhr dann fort zu schreiben. Darauf las sie:

»Gottlob sind wir allesamt noch gesund, und der Ochse und die Kuh auch, außer Großvater, der krank ist; und wir wünschen Euch allesamt einen guten Tag.«

»Aber, lieber Himmel,« rief ihre Mutter, »Trien! Kind, wo hast du das gelernt? Der Küster …«

»Sprecht mich nicht an,« fiel ihr das Mädchen in die Rede, »sonst bringt Ihr mich heraus. Jetzt fühle ich, daß es gehen wird.«

Eine halbe Stunde lang herrschte die tiefste Stille. Die Arbeit schien leichter voranzugehen; denn die Jungfrau lächelte dann und wann beim Schreiben. Die einzige Störung verursachte ihr Pauwken, der nun alle fünf Finger gleichzeitig in die Tinte gesteckt und seinen ganzen Arm schwarz bemalt hatte. Schon zehnmal hatte Trien das Täßchen von der einen Seite des Tisches auf die andere gestellt; aber das Bübchen war so auf die Tinte versessen, daß man es nicht davon abhalten konnte.

Immerhin, die beiden ersten Blätter des Papiers füllten sich mit Buchstaben bis untenhin. Auf das Drängen der Frauen gab Trien mit einem gewissen Hochgefühl eine Vorlesung ihres Entwurfes, der also lautete:

 

»Liebster Jan!

Wie steht es mit Eurer Gesundheit? Gottlob sind wir allesamt noch gesund, und der Ochse und die Kuh auch, außer Großvater, der krank ist; und wir wünschen Euch allesamt einen guten Tag. Es sind schon sechs Monate, daß wir von Euch nichts mehr gehört haben. Laßt uns also einmal wissen, ob Ihr noch lebt. Es ist doch schlecht von Euch, daß Ihr uns nun vergeßt, uns, die wir Euch so lieb haben, daß Eure Mutter den ganzen Tag von Euch spricht und ich nachts immer von Euch träume: daß Ihr unglücklich seid, und daß ich immer Eure Stimme im Ohre rufen höre: Trien, Trien; daß ich davon schier auffahre aus dem Schlaf. – Und der Ochs, das arme Tier, das immer zum Stall hinaussieht und dabei stöhnt, daß einem die Tränen kommen möchten. – Und daß wir allesamt nun nichts von Euch wissen, ist uns ein großer Kummer, denn Ihr müßt doch Mitleid mit uns haben, Jan; denn Eure gute Mutter wird daran noch ganz zugrunde gehen. Die arme Seele, wenn sie nur Euren Namen hört, schnürt es ihr die Kehle zu, und sie fängt zu weinen an, daß mir selbst das Herz oft brechen will …«

 

Während Trien diese Zeilen vorlas, waren die Augen der Zuhörer allmählich schon feucht geworden; bei dem düsteren Ton der letzten Worte aber konnte niemand mehr seiner Rührung widerstehen, und sie unterbrachen das Mädchen durch lautes Schluchzen und Seufzen. Der Großvater hatte seinen Kopf auf das Bett gesenkt, um so seine Tränen zu verbergen; Jans Mutter, zu tief betroffen, um ihre Erregung bezwingen zu können, sprang auf und umarmte wortlos die Jungfrau, die mit Verwunderung die Wirkung ihrer Worte vernahm.

»Trien, Trien, woher holst du solche Worte?« rief die andere Witwe. »Sie sind wie Messer, die durchs Herz gehen! Aber es ist doch schön.«

Erfreut über dieses Lob, sagte das Mädchen mit stolzem Lächeln:

»Wenn es nicht mehr ist?! Dann sollen sie nur kommen. Ich will es mit den Besten aufnehmen. Jetzt kommt erst das richtige Briefchen. Hört nur, es ist noch nicht zu Ende:

»Ach, Jan, damit Du es weißt, Du solltest uns nur schnell Nachricht geben.

»Der Klee ist schlecht ausgefallen durch die schlechte Saat, und obendrein, weil er unter Frost gelitten hat; aber unser Knöterich lacht einen an, wenn man ihn anschaut: so zart wie Butter. Und dem Getreide hat die Hitze etwas geschadet; aber doch hat unser lieber Herrgott uns gesegnet mit schönem Buchweizen und vielen Frühkartoffeln. Und Champieber hat sich mit einem Mädchen aus Pulderbosch verheiratet, das schielt, aber sie bringt ihm ordentlich was mit. – Jan Sus, der Steinmetz, ist vom Dach des Brauers unserem alten Schmied auf den Rücken gefallen, und der arme Schmied liegt auf den Tod.«

Das Mädchen schwieg.

»Ist das alles?« fragte die Mutter mißmutig. »Willst du ihm denn nicht erzählen, daß die Kuh gekalbt hat?«

»O ja, das habe ich vergessen … Seht Ihr, da steht es schon: ›Unsere Bunte hat gekalbt; alles ist gut gegangen, und das Kalb ist verkauft‹ …«

»Willst du ihm nichts von unseren Kaninchen sagen, Trien?« fragte der Großvater.

Nachdem sie geschrieben hatte, las die Jungfrau:

»Großvater hat einen Kaninchenkofen im Stall gebaut; sie sind so fett wie Dachse, aber der größte Braten muß bleiben, bis Ihr wiederkommt, Jan, dann wollen wir einmal ordentlich schmausen.«

Alle brachen in ein fröhliches Gelächter aus.

Das Bübchen, das die allgemeine Freude sah und selbst durch das Wort ›schmausen‹ sich in Rührung versetzt fühlte, klatschte jubelnd in die Hände. Aber unglücklicherweise traf seine Hand das Kaffeetäßchen mit solcher Gewalt, daß es über den Tisch rollte und die Tinte über den schönen Brief ausgoß.

Das Lachen schwand von allen Gesichtern; sie starrten einander beklommen schweigend an, sie hoben Hände und Augen zum Himmel auf, während Pauwken, die Schläge fürchtend, im voraus greinte und heulte, daß einem die Ohren dröhnten.

Lange Zeit wurde das Kind mit Verweisen überschüttet, und man klagte jämmerlich über das Unheil, bis man schließlich fragte:

»Mein Gott, was nun?«

»Ruhe, Ruhe,« sagte Trien entschlossen; »das Unglück ist nicht so arg. Ich hatte doch vor, den Brief noch einmal abzuschreiben; denn so zum ersten ging es doch nicht gut; die Buchstaben waren zu groß und die Schrift zu krumm. Jetzt werde ich es schon besser machen; ich habe Mut dazu bekommen. Ich will mir nur eben schnell im Dorfe Papier und Tinte holen und meine Feder ein bißchen richten lassen, denn sie ist schon viel zu weich geworden.«

»Also, dann geh nur schnell, Kind,« war die Antwort. »Da hast du das Fünffrankenstück von dem Kalbe. Laß es wechseln beim Küster; denn wir müssen unserem armen Jan doch mindestens sechzehn und einhalb schicken. – Schnell Pauwken! Mach, daß du hinauskommst, und komm noch vor dem Abend zurück, wenn du kannst!«

Trien sprang aus der Türe und lief, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesichte, in der Richtung des Dorfes fort. Die Überzeugung, daß sie fortan an Jan würde schreiben können, und vor allem eine Art Stolz über ihre Kenntnisse füllten ihr Herz mit süßer Freude.

Am Lindenbaum bei dem Kreuzwege sah sie von weitem den Briefträger auf sich zukommen. Dieser Anblick ließ sie stillstehen und machte ihr Herz heftig klopfen; denn da dieser Weg nur zu den Lehmhütten und den unbewohnten Heideflächen und Wäldern führte, zweifelte sie nicht, daß der Bote eine Nachricht von Jan bringen müßte.

Und in der Tat holte er, indem er sich ihr näherte, einen Brief aus der Tasche und sagte lachend:

»Nun, Trienchen, hier habe ich etwas für Euch, das von Venlo kommt; aber es kostet fünfunddreißig Cents.«

»Fünfunddreißig Cents,« murrte Trien, während sie den Brief zitternd ergriff und träumend auf die Aufschrift starrte.

»Ja, ja,« antwortete der Bote, »es steht oben auf der Adresse. Ich werde Euch gerade um eine solche Summe betrügen.«

»Könnt Ihr das wechseln?« fragte Trien und reichte ihm das Fünffrankenstück.

Der Briefträger wechselte ihr das Geldstück und zog die Kosten davon ab. Dann grüßte er das Mädchen freundlich und kehrte nach dem Dorfe zurück.

Trien eilte vorwärts auf dem Wege und lief jubelnd heimwärts. Von Ungeduld gestachelt, riß sie den Brief auf und war nicht wenig erstaunt, als sie einen zweiten Brief herausfallen sah. Sie blieb stehen und hob ihn auf. Die Schamröte färbte ihr Stirn und Wangen, während ein Lächeln um ihre Lippen schwebte und ihre Augen vor Freude hell aufleuchteten. Auf dem zweiten Briefe stand in großen Buchstaben: »Für Trien allein«: – für Trien! Jans Seele war in dies Blatt Papier eingeschlossen; seine Stimme drang daraus hervor zu ihr, um mit ihr allein zu reden!

Es gab ein Geheimnis zwischen Jan und ihr!

Gerührt und nachdenklich stand sie einen Augenblick, die Augen zu Boden gerichtet. Eine Flut von Gedanken strömte ihr durch den Kopf, bis das ferne Geläute des Ochsen sie daran erinnerte, daß sie nicht länger wegbleiben konnte. Sie barg den zweiten Brief an ihrer Brust und eilte unverwandt nach der Hütte, wo sie zu den wartenden Frauen stürzte und mit fröhlicher Stimme ausrief:

»Ein Brief von Jan! Ein Brief von Jan!«

Die zwei Witwen kamen erstaunt herbeigeeilt und hüpften vor Freude über die unerwartete Botschaft. Der Großvater machte eine Bewegung, um weiter aus dem Alkoven hervorsehen zu können, und fiel beinahe aus dem Bette.

Mit hastigen Worten erzählte das Mädchen, wie sie unterwegs den Briefträger getroffen und wie er ihr fünfunddreißig Cents abgenommen hatte; aber sie wurde von den beiden Witwen unterbrochen, die unaufhörlich riefen:

»Aber, Trien, lies ihn doch vor! Lies ihn doch vor!«

Trien setzte sich an den Tisch und begann mit lauter Stimme den Brief zu buchstabieren. Da die Schrift nicht allzu deutlich war, konnte sie nur Wort um Wort vorwärtskommen und mußte mehr als einmal etwas wiederholen, um sich verständlich zu machen. Sie las:

 

»Sehr geliebte Eltern!

Ich nehme die Feder zur Hand, um zu vernehmen von Euer Liebden Gesundheit, und hoffe mir von Euern Liebden dasselbe. Da ich schlechte Augen bekommen habe, und ich liege im Lazarett. Und daß ich viel Kummer habe, liebe Eltern, und ich bin erschreckt, da so viele Kameraden blind werden von derselben Krankheit.«

 

Trien konnte nicht weitersprechen; sie ließ schluchzend ihr Haupt auf das unselige Blatt niedersinken, während die Frauen und der Großvater bittere Tränen vergossen und mit lautem Wehgeschrei ihr Unglück bejammerten.

»Mein Gott, mein Gott, mein armes Kind!« rief die Mutter, ihre Hände zum Himmel emporstreckend und verzweifelnd im Zimmer umherlaufend, »blind, blind!«

Das Mädchen hob den Kopf wieder empor und sprach unter Tränen:

»Um Gottes willen, macht es doch nicht noch schlimmer; es ist schon schmerzlich genug. Laßt mich fortfahren, vielleicht steht es besser, als wir denken. Verhaltet euch still und hört zu:«

»Sagt aber Mutter, daß sie nicht bedrückt sein solle; denn ich bessere mich schon und hoffe, so Gott will, zu genesen. Das Schlimmste von allem ist der Hunger; denn wir stehen im Lazarett auf halber Ration. Das Brot und das Fleisch, das wir für einen ganzen Tag bekommen, können wir leicht auf einmal in den Mund stecken, und dazu einen Happen Kartoffelbrei ohne Salz oder Pfeffer, und das ist alles. Davon lebe man, wenn das Herz gesund ist! Darum, geliebte Eltern, schickt mir doch ein wenig Geld. Wir haben hier nichts, und wir sitzen tagelang traurig im Dunkeln, denn wir dürfen kein Licht sehen. Grüße an Großvater und an Trien und an ihre Mutter und an Pauwken, und ich wünsche Euch allen gute Gesundheit und ein langes Leben.

Kobe von Tistje, der Gärtner, ist Korporal geworden. Die Ratten in der Kaserne haben ein großes Loch in mein Ränzel gebissen; und sie haben einen neuen Ranzen angeschafft, und der kostet sieben Franken und siebzig Cents. Sonst habe ich keine Schulden mehr. Ich bin beliebt bei allen meinen Vorgesetzten, und der Sergeant, der ein Wallone aus Lüttich ist, hat mich sehr gern.

Diesen Brief geschrieben hat Karl von dem Kartoffelbauer, und er liegt auch im Lazarett mit schlimmen Augen; aber Ihr sollt es seinem Vater nicht wissen lassen, denn er ist beinah wieder gesund. Die andern Freunde aus unserem Dorfe sind noch gesund. Und hiermit, geliebte Eltern, haben wir alle zusammen die Ehre Euch zu grüßen mit Händen und Füßen.

Euer untertäniger Sohn.«

 

Trien legte, nachdem sie geendet hatte, den Zipfel ihrer Schürze über die Augen und blieb in stiller Trauer sitzen. Der Großvater war in dem Alkoven verschwunden; die beiden Frauen weinten wortlos.

Lange herrschte die schmerzlichste Stille, nur dann und wann durch Seufzen und Schluchzen unterbrochen, bis Trien sich erhob, eine Sichel von der Wand nahm und mit den Worten zur Tür ging:

»Über die Traurigkeit werde ich noch unsere arme Bunte vergessen. Ich will Knöterich vom Felde holen. Schöpft inzwischen Mut und denkt einmal nach, was wir nun tun sollen.«

Niemand antwortete. – Die Jungfrau ergriff vor der Türe einen Schubkarren und fuhr damit vom Hause weg. Hinter der Ecke eines Eichenstandes, durch das Unterholz verborgen, blieb sie stehen und setzte sich auf ihren Karren. Sie löste mit bebenden Händen ihr Brusttuch und holte den Brief hervor. Nachdem sie das Blatt aufgerissen hatte, buchstabierte sie mit hörbarer Stimme das Folgende, während öfter als einmal die Tränen ihre Augen verdunkelten und das Bewußtsein sie zu verlassen drohte:

 

»Diesen Brief hat Karl auch geschrieben; aber ich habe ihm Wort für Wort gesagt, was er darin schreiben solle.

Trien, ich habe es meiner Mutter nicht schreiben können, da es doch zu entsetzlich ist. Trien, ich bin blind, blind für mein Leben! Meine beiden Augen sind ausgeschwärt! Daß ich meine Augen verloren habe, das ist wohl auch schon ein unsäglicher Kummer, aber daß ich euch nie mehr auf der Welt soll erblicken können, weder Mutter noch Großvater, noch irgendeinen von allen, die mich lieben, – daran werde ich sterben, das fühle ich deutlich.

Trien, seitdem ich blind bin, sehe ich Dich allezeit vor meinen Augen stehen; und das ist noch das einzige, was mich noch im Leben hält; aber daran darf ich nun nicht mehr denken und Du auch nicht. Ach, liebe Freundin, nun geh Du doch wieder zur Kirchweih wie zuvor und bleibe nicht meinetwegen weg und nimm Deiner Jugendzeit wahr; denn wenn Du um meinetwillen leiden müßtest, das würde mich noch früher unter die Erde bringen.

Trien, ich hab Dir dies allein geschrieben, damit Du es meiner armen Mutter allmählich mitteilen kannst. Daß ihr doch ja kein Unheil geschehe, um Gottes willen, Trien.

Dein unglücklicher
Jan Bisindentod.«

 

Kaum hatte die Jungfrau mit übermäßig angespanntem Willen das letzte Wort dieses Briefes gelesen, als die bleiche Farbe des Todes sich über ihr Antlitz breitete; ihre Arme fielen schlaff zu ihren Seiten nieder, ihre Augen schlossen sich, und ihr Haupt senkte sich langsam hintenüber auf den Schubkarren …

Da lag sie, allen Gefühls beraubt, schlafend, in einer tiefen Ohnmacht.

Nur der sanfte Atem der Heide bewegte das Eichenlaub und ließ die Schatten der Blätter über ihre alabasterne Stirn schaukeln; die Hummel schwärmte und summte um sie herum; droben, im Himmel, hing die Lerche mit ihrem Liede; ferner, in dem unbebauten Lande, erklang das ununterbrochene Gezirpe der Grillen, und dennoch war alles still und schweigend … nichts weckte das Mädchen aus ihrem tödlichen Schlummer auf.

Die Sonne schritt langsam fort auf ihrer Bahn, bis einer ihrer heißen Strahlen das Laub durchdrang und auf das Antlitz des Mädchens seinen Schein warf.

Die Unglückliche schlug langsam die Augen auf, während das Blut sich aufs neue in ihren Adern regte. Sie hob den Kopf wie beim Erwachen und blickte mit Erstaunen ringsum, als begriffe sie nicht, wo sie sei.

Der Brief, der geöffnet noch zu ihren Füßen lag, erinnerte sie an das furchtbare Unheil. Sie faltete das Papier zusammen, steckte es an die Brust, neigte das Haupt zur Erde und versank in tiefen Schlaf.

Nach einer Weile erhob sie sich und schob ihren Karren in Eile auf ein kleines Feld, wo sie den Knöterich halb ausriß und halb mit der Sichel abschlug. In weniger als einem Augenblick war der Karren gefüllt. Mit der gleichen Eile kehrte das Mädchen nach Hause zurück, warf der Kuh das Futter vor und trat mit den Worten ins Haus zu den Eltern:

»Morgen früh mit Tagesanbruch mache ich mich auf zu Jan!«

»Aber Kind,« rief ihre Mutter, »es ist am andern Ende des Landes. Was sind das nun für Gedanken, du findest es in einem Jahre nicht!«

»Ich gehe zu Jan,« antwortete die Jungfrau entschlossen, »und ich werde ihn finden, wäre er auch hundert Stunden von hier. Der Gemeindesekretär wird mir schon zeigen, in welcher Richtung ich wandern muß.«

Jans Mutter kam mit gefalteten Händen und bittendem Antlitz auf das Mädchen zu und seufzte:

»Ach Trien, lieber Engel, würdest du das für mein Kind tun, so will ich dich segnen bis an mein Sterbelager!«

»Tun,« rief Trien, »tun? Der König selbst könnte mich nicht davon zurückhalten; ich werde Jan sehen und ihn trösten, oder daran zugrunde gehen.«

»O, ich danke dir tausendmal, Trien,« rief Jans Mutter und umhalste das Mädchen mit beiden Armen.

 

Es ist erst sieben Uhr morgens, und doch ist die Hitze schon heftig; denn die Sonne brennt glühend gegen den tiefblauen Himmel.

Seht, da auf dem Wege nicht weit vom schönen Maasstrom schreitet ein Bauernmädchen rüstig voran. Ihre Kleidung beweist, daß sie hier fremd ist; denn solche Spitzenhauben und solche Strohhüte tragen die Frauen von Limburg nicht. – Sie hat ihre Schuhe in der Hand und geht barfuß, der Schweiß rinnt von ihrer Stirn. Obwohl sie bis zur Erschöpfung müde ist, hält sie ihre Augen mit unsagbarer Freude auf einen fernen Kirchturm gerichtet. – Dort hinten liegt die Stadt Venlo, das Ziel ihrer langen Reise.

Arme Trien, vier Tage schon ist sie umhergeirrt, hat gefragt und gezagt. Kaum hat sie sich einen kurzen Schlummer und ein karges Mahl gegönnt. Aber Gott und ihre starke Natur haben ihr geholfen … Sie hat ihn gefunden, den Ort, an dem der unglückliche Freund fern von den Seinen leidet und siecht. All ihr Schmerz ist vergessen. Ihr Herz jubelt vor Freude und klopft vor Ungeduld. Hätte sie Flügel, sie flöge in Blitzesschnelle fort zu jenen Türmen, von denen die Sonne widerstrahlt wie von einem Spiegel …

Das Mädchen eilte mit immer größerer Schnelligkeit vorwärts, bis sie die Verschanzungen der Stadt Venlo vor sich hatte. Sie zog hastig ihre Schuhe an, säuberte sich ein wenig vom Staube, glättete ihre Kleider und schritt dann mutig in die Festung hinein.

Nach einigen Schritten sah sie hinter den Außenwällen einen Soldaten, das Gewehr im Arm, vor einem Häuschen hin und her gehen. Schon von weitem lachte sie der Schildwache freundlich zu. Diese aber blickte sie mit einer stumpfen Gleichgültigkeit an. Dessen ungeachtet näherte sie sich mutig und fragte mit einem vertraulichen Lächeln:

»Freund, könnt Ihr mir nicht sagen, wo ich Jan Braems finden könnte! Er ist auch hier unter den Soldaten.«

Der Posten war ein Wallone aus Lüttich.

»Kann nicht verstehen!« brummte er und drehte sich um, um den Korporal zu rufen.

Dieser trat aus dem Wachthaus und kam mit freundlichen Gesichte auf das Mädchen zu, das sich höflich verbeugte und ihn fragte:

»Herr Offizier, könnten Sie mir nicht angeben, wo Jan Braems sich befindet?«

Der Korporal machte ein verdrossenes Gesicht, wie jemand, der sich in seinen Erwartungen betrogen sieht; er wandte sich gegen das Wachthaus und rief in hennegauer Mundart:

»He, Flaming, komm einmal her! Es gibt etwas zu verdienen!«

Ein junger Soldat sprang von der Pritsche auf und trat heraus, sich den schweren Schlaf noch aus den Augen reibend. Als er das Mädchen sah, erhellten sich seine Züge.

»Nun Mieken,« fragte er, »was möchtest du?«

»Ich suche Jan Braems; könntet Ihr mir nicht vielleicht sagen, wo er ist?«

»Jan Braems? Den Namen habe ich noch nicht gehört.«

»Er ist aber unter den belgischen Soldaten, so wie Ihr.«

»Ja, aber ist er bei der Kavallerie oder bei der Infanterie?«

»Was wollt Ihr damit sagen, Freund?«

»Ob er unter dem Reitervolk ist oder unter dem Fußvolk?«

»Das weiß ich nicht; aber er ist Soldat bei den grünen Jägern. Liegen die nicht in der Stadt?«

»Dann wundert es mich nicht, daß ich ihn nicht kenne; wir sind vom Neunten!«

Während dieses Gespräches hatte sich der Korporal mit drei oder vier Soldaten, unter denen sogar der Posten war, neben das Mädchen gestellt. Dieses verstand nicht, warum man ihm so sonderbar in die Augen sah, während man auf wallonisch spöttelte und lachte. Dennoch fühlte sie sich beschämt und sagte zu dem Flamen:

»Ach Freund, zeigt mir doch den Weg, ich habe so große Eile!«

Der freundliche Soldat antwortete sehr schnell:

»Geht durch das Tor; dann schlagt Ihr die erste Straße rechts ein, dann links, dann nochmals links und dann wieder rechts, bis Ihr an eine Kapelle kommt. Die laßt Ihr links liegen und geht rechtsum, hinter dem großen Hause, in dem ein Laden ist, und wenn Ihr dann noch ein Stück gegangen seid, biegt Ihr wieder links um, dann kommt Ihr auf den Markt. Da fragt Ihr nach der Kaserne der Zweiten Jäger. Das kleinste Kind kann sie Euch zeigen.«

Trien war schier von Sinnen. Ihr Kopf drehte sich von all dem Links und Rechts, dem sie mit dem Geiste zu folgen versucht hatte. Sie hatte nichts begriffen und wollte eben um eine klare Angabe bitten, als plötzlich die Schildwache aus vollem Halse rief:

»An die Gewehre!«

Alles lief durcheinander und stob in das Wachtlokal an die Gewehre. Der Soldat sagte eilig zu dem erschreckten Mädchen:

»Fort! Fort! Lauf oder wir kommen noch ins Loch! Da kommt der Kommandant!«

Das Mädchen ließ es sich nicht zweimal sagen, denn am Stadttore sah sie einen Offizier zu Pferde, der ihr wie ein König gekleidet schien und einen schrecklichen Bart hatte. Aufgebracht darüber, daß er die Wache im Gespräch mit einem Mädchen überrascht hatte, betrachtete er die arme Bäuerin mit Augen, als wolle er sie auffressen. Dennoch ritt er, ohne sie anzusprechen, vorüber; aber sie hörte zitternd, wie er die Soldaten anfuhr, ohne daß sie eigentlich begreifen konnte, woher dieser heftige Grimm entstanden sein mochte.

Sie eilte in die Stadt und fand endlich auch den Markt. Hier und da sah sie Soldaten in verschiedener Kleidung, aber der Vorfall mit der Wache hatte sie vorsichtig gemacht. Sie wandte sich also an eine Bürgersfrau und fragte:

»Gevatterin, könnt Ihr Flämisch sprechen?«

»Dietsch? Ja!«

»Bitte schön, würdet Ihr mir vielleicht sagen, wo die Jäger liegen?«

»Gewiß. Ihr müßt dahinten um die Ecke biegen und immer geradeaus gehen bis ans Ende der Straße. Da wohnen die Jäger in ihrer Kaserne.«

»Ich danke Euch hundertmal,« sagte Trien und begab sich nach der bezeichneten Straße.

Als sie vor die Kaserne kam, erkannte sie das Gebäude leicht, sowohl an den vielen Soldaten, die aus und ein gingen, wie an dem Getrommel, das sie da drinnen hörte.

Strahlend vor Freude ging sie geradewegs auf das Tor zu, um in die Kaserne zu treten; aber der Posten rief sie mit barscher Stimme an:

»Halt! Zurück! Hier darf niemand hinein!«

Und als das Mädchen noch einen Schritt machte, schob er sie mit gelinder Grobheit zurück.

»Ach, Freund,« seufzte sie, »ich möchte gern jemanden sprechen, der auch Soldat ist. Was muß ich da tun?«

»In welchem Bataillon und in welcher Kompagnie steht er?« fragte der Posten.

»Ach Gott, das weiß ich alles nicht,« antwortete das Mädchen niedergeschlagen.

»Warte dann nur eine halbe Stunde,« sprach der Posten, »gleich werden sie für die Suppe trommeln, und sofort danach ist Appell zum Exerzieren. Da werdet Ihr alle Leute aus der Kaserne marschieren sehen; und wenn Ihr gute Augen habt, so werdet Ihr ihn schon erkennen. Trinkt inzwischen noch ein Glas Bier hier nebenan im ›Falken‹ … Und nun laßt mich in Ruhe; denn dahinten spitzt der Adjutant schon auf uns.«

Der Posten ließ die erstaunte Trien stehen und gaffen; er schlug die rechte Hand mit Kraft an den Gewehrkolben, warf den Kopf hintenüber und begann als trutziger Soldat in kunstgerechtem Schritte auf und ab zu marschieren, ohne noch den Blick nach der jungen Bäuerin zu werfen.

Diese blieb einen Augenblick in traurige Überlegungen versunken stehen und bemühte sich, zu begreifen, wie es eine Missetat sein könnte, einem Fremden den Weg zu weisen. Der Schmerz begann ihr Gemüt zu überwältigen. So ungeduldig sie war – eine halbe Stunde zu warten, erschien ihr nicht sehr lang. Sie würde bei dem Ausmarsch der Jäger neben dem Tore der Kaserne stehen; und sicherlich würde ihrer Aufmerksamkeit kein einziger entgehen. Sie würde Jan sehen und wiedererkennen. Aber bei diesem hoffnungsvollen Gedanken verdüsterte sich plötzlich ihr Antlitz. Es fiel ihr ein, daß es unwahrscheinlich sei, daß ein blinder Soldat mit den anderen gehen würde. Aber, was wußte sie davon? Alles hier schien ihr so sonderlich und ungewohnt! – In ihren Zweifeln folgte sie dem Rate der Schildwache und wandte langsam ihre Schritte dem »Falken« zu. Im Wirtshaus bestellte sie ein Glas Bier und setzte sich halb beschämt in einer Ecke an einen Tisch.

Im Zimmer befanden sich acht oder zehn Soldaten. Sie standen am Schenktisch und stritten mit lauter Stimme über Fragen des täglichen Dienstes.

So schnell das Mädchen eingetreten sein mochte, alle hatten sich doch nach ihr umgewandt und lachend Bemerkungen ausgetauscht; da sie aber französisch oder wallonisch sprachen, verstand Trien nicht, was sie über sie sagten; und obwohl die freimütigen Blicke der Soldaten sie in Verlegenheit setzten, sagte sie doch unter freundlichem Lächeln: »Guten Tag allesamt, Freunde.«

Diese Soldaten schienen ihr brave Leute zu sein bis auf einen einzigen, der älter als die andern war und mit einer Art Überlegenheit zu ihnen sprach. Die Knöpfe seines Rockes blinkten wie Gold; die Polizeimütze hing ihm übers linke Ohr; sein glänzender Schnurrbart war mit schwarzem Wachs in die Höhe gedreht. Er stand mit dem Körper nach vornüber gebeugt und die Hand in die Seite gestemmt, wie in ewiger Herausforderung.

Wahrlich, es war nicht anders möglich, der stolze Kriegsmann mußte ein Profoß oder ein Fechtmeister sein.

Dieses Auftreten und diese Haltung waren es aber nicht, wodurch er einen so schlechten Eindruck auf das Mädchen machte. Aber daß er sie so unverschämt zwang, unter seinem harten Blick die Augen niederzuschlagen, und daß er so laut sie zu verspotten schien, das brachte sie auf. Und sie machte kein Hehl aus ihren Gefühlen, denn der stolze Jäger konnte an ihrem Gesichtsausdruck wohl merken, daß sie ihm nicht freundschaftlich gesinnt war.

Während sie einander so betrachteten, setzte die Wirtin ein Glas Bier vor das Mädchen hin; ein junger Soldat mit sanftem Blick und lieben Augen näherte sich ihr, bot ihr sein Glas und sagte in Kempener Mundart:

»Mieken, laß uns ein bißchen schwätzen. Ihr stammt sicher aus der Gegend von Antwerpen?«

»Nein, Kamerad, ich bin aus der Gegend von St. Antonis, von Schilde oder von Magerhal, wie Ihr wollt.«

»Und ich bin von Wechelderzande, so daß wir also Nachbarn sind!«

Eine süße Freude erhellte die Züge der Jungfrau; sie warf dem jungen Soldaten einen liebevollen Blick zu, als hätte sie in ihm einen Bruder wiedergefunden. Inzwischen waren die andern Jäger gleichfalls an den Tisch getreten oder hatten sich daran niedergelassen. Unter anderen hatte sich der Soldat mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart so dicht neben dem Mädchen hingesetzt, daß er beinahe ihre Wangen berührte. Trien konnte diese geringschätzige Vertraulichkeit nicht ertragen und erzitterte, als hätte man sie erschreckt. Sie ergriff die Hand ihres Landsmannes und hauchte in herzlichem Ton:

»Ach, lieber Freund, Ihr müßt bei mir sitzen bleiben, bitte schön. Ich bin erschreckt über diesen Wallonen. Was denkt er denn von mir?«

»Nun, nun,« antwortete der andere, »er ist ein Flederwisch. Er soll Euch nur einmal anrühren – dann soll er meine Faust auf seinem Schnurrbart spüren, und wenn er zehnmal Fechtmeister wäre!«

Ermutigt durch diese Worte wandte sich Trien dem Spötter zu und sprach mit Würde:

»Herr Soldat, ich muß Sie ersuchen, sich weiter weg zu setzen. Was denkt Ihr wohl? Seht Ihr mich für etwas an, das schlecht ist?«

Der Fechtmeister brach in ein langes Gelächter aus, schob aber doch seinen Stuhl allmählich zurück, während er einige Witze machte, die das Mädchen glücklicherweise nicht verstand.

»Sagt, Freund,« fragte Trien ihren Beschützer, »wie heißt Ihr denn, wenn ich es wissen darf?«

»Sus Caers.«

»Sus Caers! Sieh mal an. Wir haben vor vierzehn Tagen noch Eurem Vater ein Kalb verkauft. So ein schönes buntes. Ich habe noch von dem Gelde in meiner Tasche!«

»Und wie geht es meinem Vater? – Ist er gesund?«

»Gesund! Er ist ein Mann wie ein Baum … Und jetzt fällt es mir auch ein, daß er mir gesagt hat, daß Ihr auch bei den Soldaten seid. Aber kennt Ihr da unseren Jan nicht?«

»Wie heißt er mit Zunamen?«

»Braems.«

»Du lieber Gott, und ob ich Jan Braems kenne. Wir stehen in derselben Kompagnie. Wir gingen immer zusammen aus, bevor er schlimme Augen bekam.«

Die Jungfrau ergriff in tiefer Rührung seine beiden Hände und seufzte: »Seht, Freund, da danke ich unserem lieben Herrgott, daß ich hier in diese Herberge kam. Ihr werdet mir wohl zeigen, wohin ich gehen muß, um Jan zu sehen; nicht wahr? Die Jungens aus unserer Gegend sind doch allesamt gute Menschen!«

»Gewiß, ich werde Euch vor das Lazarett bringen. – Ihr wißt, daß er blind ist.«

»Leider Gottes ja,« seufzte Trien, »aber in Gottesnamen, es ist nun einmal so. Wir haben so viele Tränen darum geweint …«

Die Soldaten hatten mit einem gewissen Neide gesehen, welch eine innige Freundschaft zwischen dem jungen Kempener und dem Mädchen entstanden war. Vor allem der Fechtmeister rückte auf seinem Stuhl hin und her und machte allerlei Gebärden. Inzwischen war er wieder sehr nah an die Jungfrau herangekommen und legte nun seine Hand unter ihr Kinn, als sie am wenigsten auf ihn achtete.

Der Flame sprang auf und wandte sich drohend gegen ihn; Trien aber, deren Antlitz vor Entrüstung erglühte, stand auf und versetzte dem Fechtmeister mit der flachen Hand einen so mannhaften Schlag, daß ihm der Kopf wirbelte. Diese freilich etwas rauhe Verteidigungsweise ist unter den Kempener Bauernmädchen eine durchaus allgemeine Gewohnheit und wird als eine Pflicht der Ehrbarkeit angesehen.

Sobald der Fechtmeister sich von seiner Betäubung erholt hatte, verwandelte sich die Herberge in einen Schauplatz allgemeiner Verwirrung. Er ergriff einen Krug und wollte damit dem Mädchen über den Kopf schlagen; aber der junge Kempener, stärker gebaut als er, hatte ihn ebenso schnell an der Gurgel gepackt und ihm den Krug entwunden. Die anderen Kameraden sprangen dazwischen und zogen die beiden Kämpfer voneinander, indem sie riefen, Soldaten dürften nicht mit der Faust kämpfen, sondern der Säbel müsse zwischen ihnen entscheiden.

Während Trien, die in der größten Angst war und bebte, eine Flut grober Worte zu hören bekam, während die Soldaten noch streitend hin und her drängten, und die Wirtin schrie, sie würde die Wache holen, hörte man plötzlich ein anhaltendes Trommeln in der Kaserne.

»Die Suppe, die Suppe,« riefen diejenigen, die nicht in den Streit verwickelt waren; sie ließen die anderen stehen und eilten zur Herberge hinaus.

Der Fechtmeister stieß noch einige Drohungen aus und ging dann gleichfalls weg, indem er zu dem Kempener sagte:

» A chinq heures sol terreing! edj vindrai vo quérie!«

»Schon gut, schon gut, du Schwätzer,« antwortete der herausgeforderte Jüngling mit spöttischem Lachen.

»Mein Gott, lieber Sus, was hab ich ausgestanden!« seufzte Trien, als sie mit ihrem Beschützer allein war. »Ist es nun überstanden?«

»Überstanden? Ich muß heute abend gegen den Eisenfresser mit dem Säbel fechten.«

»Ach! Und das um meinetwillen!« rief das Mädchen, erbleichend und sichtlich zitternd.

»Darüber darfst du dich nicht entsetzen, Mädel; das ist ja nur zum Lachen. Es wird darauf hinauslaufen, daß wir wieder zusammen einen trinken gehen; für den Wallonen ist das nur eine Art, zu einem Schnaps zu kommen, wenn seine Laune aus ist. So etwas passiert ihm jede Woche zweimal; das ist jedermann bekannt. – Komm schnell; ich werde dich nach dem Lazarett bringen, wo Jan Braems ist.«

Trien bezahlte das Bier und ging mit dem Soldaten zur Herberge hinaus. Er brachte sie plaudernd zwei oder drei Straßen weiter und verließ sie mit den Worten:

»Siehst du dort den Soldaten, der auf einer Bank vor der Tür jenes großen Hauses sitzt? Nun, das ist das Lazarett. Du mußt diesen Soldaten ansprechen, er wird dich hineinlassen, wenn es möglich ist; komm gut nach Haus und grüße meinen Vater bei Gelegenheit!«

»Tausend Dank, Freund,« antwortete Trien und verließ ihn, um sich nach dem Lazarett zu begeben.

Als sie sich allein befand, fing eine trübe Unruhe wieder an, ihren Geist zu verdüstern, und sie fühlte beinahe nicht den Mut, den Soldaten, der auf der Bank saß, anzusprechen. Als sie sich jedoch dem Lazarett näherte, erschien ein frohes Lächeln auf ihrem Gesicht. Es war ihr, als kenne sie den Soldaten. Und in der Tat: auf einige Schritte Abstand rief sie ihn schon beim Namen; es war Kobe, von dem Jan erzählt hatte, daß er Korporal geworden sei.

Sobald er das Mädchen bemerkte, stand er erfreut auf, kam auf sie zugelaufen und rief mit froher Verwunderung:

»Ach, liebes Trienchen, bist du es? Ach Gott, was für eine Freude, dich hier zu sehen! Wie geht es denn in unserem Dorf? Ist meine Mutter wieder gesund? Wie geht es Loken Verbaets? Wissen sie dort, daß ich Korporal geworden bin? Und was hat Loken gesagt, als sie es gehört hat?«

»Es geht allen gut,« antwortete Trien, »deine Mutter war vorigen Sonntag schon im Hochamt; man kann es ihr kaum mehr ansehen, daß sie krank gewesen ist. – Ich selber habe es im Vorbeigehen Loken gesagt, daß du Korporal geworden bist …«

»Nun, und lachte sie nicht?«

»Nein, sie wurde rot bis unter die Haare. Aber sie war doch so froh daß sie nicht mehr sprechen konnte, das habe ich ihr an den Augen angesehen.«

Kobe, der Korporal, senkte langsam den Kopf und blickte zu Boden; auch er fühlte das Rot der Bewegung in seine Wangen steigen und sein Herz schneller klopfen. Das Geburtsdorf mit seinen Heiden und Feldern, der keusche Augenaufschlag der geliebten Freundin, das liebreiche Lachen der Mutter, die Sonntagsfreude nach der langen Arbeit, die Lieder unter der grünen Linde, das Schnattern der Hauselster, das Bellen des Hundes, das Rauschen der grünen Tannen –: dies alles stand ihm frisch und lebendig vor Augen, dies alles rauschte verführerisch in seinen Ohren und versenkte ihn in die Betrachtung der verflossenen Zeiten …

»Was hab ich denn gesagt, Kobe, das dich betrübt?« fragte Trien leise.

»Ach, liebes Trienchen,« war die Antwort, »ich weiß es selber nicht! Auf einmal stand unser Dorf vor meinen Augen, so deutlich, daß ich die Sonne auf unserem Turm glänzen sah! Ich sah meinen Vater das Feld von den Stoppeln säubern, und meine Mutter stand dabei, und ich hörte, daß sie von mir sprachen … Ich war wie entrückt; aber nun ist es vorüber.«

»Komm, Kobe,« sagte Trien, »führ mich nun schnell zu Jan; er wird sich so freuen, wenn er mich sieht!«

»Du weißt doch von seinem Unglück?«

»Ach ja, ich komme, um mit ihm zu sprechen und ihn zu trösten. Laß mich hier nicht länger stehen und bring mich sogleich zu ihm.«

»Liebe Trien, wie bedauere ich dich,« seufzte Kobe mit aufrichtiger Betrübnis.

»Und warum?« rief Trien. »Ach, Kobe, hör auf; du machst mir ganz bang.«

»Unglückliche Trien, es darf niemand zu den Blinden und zu den anderen Augenkranken vorgelassen werden. Es ist uns bei schwerer Strafe verboten!«

Die Jungfrau stieß einen schmerzlichen Schrei aus, während sie die Schürze vor die Augen schlug und weinend klagte:

»O Gott, o Herr! Ich soll vier Tage lang gelaufen und herumgeirrt sein und ihn nicht einmal sehen dürfen! Dann werde ich nicht lebend von hier weggehen; dessen kannst du sicher sein!«

»Trien, du darfst hier auf der Straße nicht so schreien,« sagte Kobe, »sonst gaffen uns die Menschen zu sehr an. Sei doch still!«

Das Mädchen wischte mit einem Ausdruck von Mut oder Verzweiflung die Tränen aus ihren Augen und rief: »Und wenn ich in dieses Haus einbrechen müßte wie ein Dieb, und wenn mir ein Schwert durchs Herz ginge, ich werde ihn sehen und sprechen … Da sollen sie mich einmal davon abhalten, wenn sie können!«

»Höre, liebe Trien,« sagte der Korporal leise, »ich kann meine Streifen dabei verlieren, aber ich werde dir doch helfen. Halt dich ganz still und tue, als ob du von nichts wüßtest. Bald geht der Sergeant zum Platzkommandanten; der Besuch des Doktors ist schon vorüber, und der Direktor ist nicht wohl; der wird nicht mehr kommen. Wenn der Sergeant weg ist, werde ich dich heimlich in das Blindenzimmer bringen. Aber Trien, wenn ich in die Enge gerate und meine Streifen verliere, sag dann meiner Mutter und Loken, daß es aus Freundschaft und Barmherzigkeit geschehen ist.«

»Sei versichert, Kobe,« antwortete das Mädchen mit feuchten Augen, »ich werde dir mein Leben lang dafür dankbar sein; laß mich nur machen: ich werde dafür sorgen, daß Loken dir einen Brief schreibt, sobald ich zu Hause bin!«

»Sie kann nicht schreiben, Trien,« seufzte der Korporal.

»Dafür kann ich es um so besser,« sagte die Jungfrau, »dann werde ich es für sie tun; und ich werde Dinge hineinschreiben, daß du vor Freude hüpfen wirst!«

»Siehst du, Trien, ich stehe hier nicht auf Schildwacht; es ist mir nicht verboten, mit den Menschen zu sprechen. Komm, setz dich hier auf die Bank, bis der Sergeant zur Tür herauskommt; ich werde sagen, daß du meine Schwester bist, sonst fährt er noch dazwischen. Laß uns nun noch plaudern über die Freunde daheim. Ist Nell vom Brauer schon mit der Kuhmagd vom Pächter Diericke getraut? Ist das Fohlen, das wir dem Wirt von der ›Krone‹ verkauft haben, ein schönes Pferd geworden?«

Sie setzten sich auf die Bank, in einem gewissen Abstand voneinander, und begannen über daheim zu plaudern.

 

Drinnen in dem Augenlazarett befand sich ein sonderbares Zimmer. Seine Fenster waren mit Schirmen von dunkelgrünem Papier versehen, kein einziger Sonnenstrahl durfte hineindringen. Für sehende Menschen war dies ein abscheulicher Aufenthalt, wo ein traurigerer Ton als das schwärzeste Dunkel alles mit den trübsten Farben überzog und das Herz des Beschauers mit Angst und Schrecken beklemmte. Es war dort eigentlich weder hell noch dunkel; man mußte sich erst an das grüne Totenlicht gewöhnen, wollte man irgend etwas erkennen. Dabei herrschte dort, obwohl Menschen da wohnten und in unsäglichem Kummer dahinsiechten, eine tiefe Stille, die nur von Zeit zu Zeit durch einen Klagelaut unterbrochen wurde.

Längs den Wänden auf hölzernen Bänken saßen die Blinden wie eine Reihe von Spukgestalten, reglos und stumm im Dunkeln. Jeder hatte einen langen grünen Lichtschirm um den Kopf gebunden, der über das Gesicht heruntergeschlagen war, so daß man niemandes Gesicht sehen konnte.

In der äußersten Ecke saß Jan Braems, den Kopf auf die Knie gesenkt und schmerzlich träumend von Dingen, die er liebte und die er nie mehr sehen sollte. Seine Seele war entrückt in jene Gegend, wo seine Eltern und Freunde wohnten. Unter dem grünen Lichtschirm spielte manchmal ein stilles Lächeln um seinen Mund, während seine Lippen sich bewegten, als ob er mit unsichtbaren Wesen spräche. Soeben hatte er das Bild seiner Freundin heraufgerufen und sich von ihr aufs neue das schüchterne Geständnis ihrer Liebe ins Ohr flüstern lassen, als sich plötzlich auf der Treppe ein beinahe unhörbares Geräusch vernehmen ließ. Es schien ihm, daß sein Name genannt worden sei. Wie dem auch sei, der Jüngling sprang bebend auf, als hätte ihn ein verborgener Schlag getroffen, und sein Mund seufzte ohne sein Zutun:

»Trien! Trien!«

Die Türe wurde von außen geöffnet, und das Mädchen erschien mit dem Korporal auf der Schwelle des Zimmers. Trien erschrak, als ihr Blick in dies dunkle Gemach fiel und sie die spukhaften Schemen, wie vermummt mit den grünen Lichtschirmen, sitzen sah. Sie wich mit einem lauten Schrei zurück; doch ihre Stimme hatte Jan Braems erreicht, und dieser kam mit vorgestreckten Händen tastend und suchend auf sie zu. Sie erkannte den unglücklichen Freund, sprang stöhnend auf ihn zu und schlug ihre beiden Arme mit Heftigkeit um seinen Hals.

Zuerst hörte man nichts als die Namen »Trien«, »Jan«, in verschiedenen Tönen der Liebe und des Mitleids gesprochen. Das Mädchen lag weinend an der Brust des Jünglings und schien schließlich vor Bewegung ohnmächtig zu werden; denn ihr Kopf sank auf die Seite, und ihre Arme hingen schlaff über die Schultern ihres unglücklichen Freundes. Inzwischen waren die anderen Blinden rund um das Mädchen stehen geblieben und betasteten sie mit den Händen, als wollten sie sie ebenfalls erkennen. Diese Berührungen erweckten sie aus ihrer Bewußtlosigkeit. Sie zog Jan nach rückwärts und sagte erschreckt:

»Ach Gott! Liebster Jan, was bedeutet das hier? Sag ihnen doch, daß sie mich in Ruhe lassen, oder ich kann hier nicht bleiben.«

»Sei nicht bang,« antwortete Jan, »es ist nichts. Die Blinden sehen mit den Fingern. Sie fühlen deine Kleider an, um zu erfahren, aus welcher Gegend du bist. Sie haben kein Arg dabei.«

»Ach, die armen Burschen!« seufzte Trien, »wenn es so ist, vergebe ich es ihnen von Herzen. Aber es ist mir doch nicht angenehm. Wir wollen uns lieber in jenes dunkle Eckchen auf die Bank setzen. Ich habe dir so viel zu sagen.«

Mit diesen Worten führte sie ihren Freund zu der Bank und setzte sich neben ihn, indem sie seine Hände in die ihren nahm.

Das Gespräch, das darauf begann, mußte wohl sehr rührend sein, obwohl es beinahe unhörbar war; denn auf dem Antlitz Triens wechselten Heiterkeit und Freude und Betrübnis und Tränen oftmals ab; und von Zeit zu Zeit sah man, wie sie die Hände Jans mit noch innigerem Gefühl drückte. Gewiß goß sie den Balsam des Trostes in das Herz des Unglücklichen; denn die wenigen hörbaren Klänge ihrer Stimme waren so fein und so eindringlich süß, wie die süßesten Töne eines Liebessanges. Auf dem Antlitz Jans, der den grünen Lichtschirm weiter zurückgeschoben hatte, war ein sonderbarer Ausdruck von träumerischer Andacht und zugleich von Schmerz und Verzweiflung, wie von jemand, der aus dem Abgrund des Schmerzes heraus Worten lauscht, die ihm sein Unglück nicht vergessen lassen, ihm aber doch im Augenblick Freude und Lust vorgaukeln.

Die andern Blinden standen im Halbkreis stillschweigend um das bewegte Paar. Auch sie wendeten ihm das Ohr zu, um zu hören, was sie sagten, und um einige der tröstenden Klänge aufzufangen.

Der Korporal war vor der Türe stehen geblieben und ging dort auf und ab; von Zeit zu Zeit steckte er den Kopf in das Blindenzimmer, um zu sehen, ob Trien noch nicht bereit sei, das Gemach zu verlassen. Plötzlich erbleichte er, während in seinen Augen ein großer Schrecken zu lesen war.

Er sah den Sergeanten die Treppe heraufkommen. – Er ließ ihn, ohne ein Wort zu wagen, in das Blindenzimmer gehen und folgte ihm mit gesenktem Kopf, wie ein Verbrecher, der sein Urteil erwartet.

Kaum hatte der Sergeant das Mädchen bemerkt, als er in eine Flut von zornigen Worten ausbrach, und schließlich rief er dem Korporal zu:

»Was, du hast hier einen Fremden hereingelassen? Und noch dazu eine Frau? Sofort hinunter! Ich werde dich augenblicklich ablösen und dir fünfzehn Tage Arrest geben lassen. Wenn deine Korporaltressen dir nicht bleiben, so ist es nicht meine Schuld!«

Trien richtete sich auf und sprach flehend zu dem erzürnten Sergeanten:

»Ach, Herr Offizier, seid doch barmherzig; ich allein trage die Schuld, durch meine Tränen habe ich ihn dazu gebracht, mich hier einzulassen. Tut ihm nichts, weil er Mitleid hatte …«

Ungeduldig den Kopf schüttelnd, fiel der Sergeant ihr mit spöttischem Lachen in die Rede:

»Ach was! Ich kenne meinen Dienst und weiß, was ich zu tun habe … und du, Mädel, augenblicklich zur Tür hinaus! Und das schnell!«

Die Jungfrau schien schmerzlich überrascht bei diesem unerwarteten Befehl; sie bemerkte jedoch, daß es Ernst war, kam bebend näher und flehte:

»Ach, ich bitt Euch, noch ein halbes Stündchen! Ich werde sieben Vaterunser für Euch beten und Eure Hand küssen vor Freude …«

»Vorwärts, vorwärts, keine Dummheiten,« schnauzte der Sergeant, »keine Minute länger!«

»Ach Gott, bester Mann,« rief die betrübte Trien, »ich komme zu Fuß vom andern Ende des Landes, um unserem unglücklichen Jan ein wenig Trost zu bringen, dem Ärmsten; und Ihr wollt mich nun wegjagen? Ich habe ihm ja beinahe noch nichts gesagt!«

»Gehst du, oder nicht?« schrie der Sergeant und drohte mit groben Worten, die das Mädchen zittern machten.

Die Tränen stürzten aus ihren Augen, und die gefalteten Hände zu dem Sergeanten aufhebend, schluchzte sie bittend:

»Um Gottes willen, Freund, noch ein Viertelstündchen! Bringt mich nicht um; habt doch Mitleid mit einem armen Blinden; es kann auch Euch geschehen, Mensch! Würde Euer Herz dann nicht auch zerreißen, wenn man Euere Mutter und Schwester wegjagte, wie einen Hund! Ach, Herr Offizier, erbarmt Euch unser; ich werde Euch mein ganzes Leben lang liebhaben!«

Jan und die andern Blinden murrten währenddessen unmutig über die Grausamkeit des Sergeanten und unterstützten die Bitte der Jungfrau. Das Zimmer geriet in Aufruhr; es war wie ein Aufstand der Blinden gegen den unerbittlichen Vorgesetzten. Dieser, darüber noch mehr erzürnt, drohte, sie alle auf Diät oder Wasser und Brot zu setzen, und faßte plötzlich das Mädchen beim Arm, um sie mit Gewalt aus dem Zimmer zu führen; aber Trien, seinen unwiderruflichen Entschluß bemerkend, riß sich los, lief weinend zu Jan und schloß ihn mit bitteren Wehklagen in ihre Arme. Der Jüngling, ebenso traurig, doch überzeugt, daß nichts den Abschied verhindern könne, wollte sie trösten und sagte ihr eilig noch vieles, was in der heimlichen Unterhaltung vergessen worden war.

Doch schnell war ihr der Sergeant gefolgt und hatte sie wieder ergriffen. Die Hände auf ihren Schultern, wollte er sie von Jan wegzerren; doch die weinende Trien hielt ihre Arme wie ein eisernes Band um den Körper des blinden Freundes geschlossen und widerstand der wütenden Gewalt des Sergeanten. Dieser rief Kobe, der bestürzt an der Türe stand, zu:

»Korporal, was bleiben Sie dort stehen? Hierher! Ich befehle Ihnen, daß Sie selbst die Bäuerin zur Tür hinausbringen, oder Sie werden es teuer bezahlen; – und schnell gemacht!«

Kobe näherte sich der Jungfrau und sagte, indem er sie beim Arm faßte:

»Liebe Trien, es tut mir weh; aber ich kann es nicht ändern. Geh lieber weg; sonst werfen sie dich noch die Treppe hinunter. Der Befehl ist so! Der Sergeant muß doch seinen Dienst tun.«

Trien ließ ihren Freund los, und das Haupt mit ruhiger Würde erhebend, ging sie, immer noch bitterlich weinend, auf den Sergeanten zu und sprach:

»Herr Offizier, ich gehe weg; aber, Freund, vergebt mir und vergebt auch Kobe, Gott wird es Euch gewiß lohnen; denn es ist ein gutes Werk. Ihr habt doch auch ein Herz, und alle Menschen auf der Welt sind doch Brüder. Nicht wahr, Herr Sergeant, Ihr werdet so gut sein und es vergessen? Ich werde Euer eingedenk sein in allen meinen Gebeten.«

Da man nun so demütig seinen Befehlen nachkam, fühlte der Sergeant seinen ganzen Zorn verfliegen; die sanfte Stimme und die eindringlichen blauen Augen der Jungfrau hatten sein Gemüt erweicht, und er antwortete mit wahrer Güte:

»Gut denn, geht dann schleunigst von dannen, – und wenn die Übertretung verborgen bleibt, so will ich aus Mitleid für dich die Sache verschweigen und vergessen.«

»Ach, Ihr guter Mensch!« rief Trien, »ich wußte es ja: Ihr sprecht ja auch flämisch wie wir. Ich gehe sofort weg; nur noch ein einziges Abschiedswort!«

Sie umarmte noch einmal den armen unglücklichen Blinden, der wortlos ihren Abschiedskuß empfing, hauchte einige zaubersüße Worte in sein Ohr und wandte sich dann weinend und schluchzend nach der Zimmertür. Dort drehte sie den Kopf um und stieß einen gellenden Schrei aus; sie wollte wieder in das Gemach zurückkehren und rang mit dem Sergeanten, der sie diesmal mit unerbittlicher Kraft zurückhielt. – Das Mädchen sah in der Ecke des Zimmers ihren unglücklichen Freund am Boden sitzen und den Kopf an eine Bank lehnen, als ob das Leben aus ihm entflohen sei. Dieser Anblick entsetzte sie derartig, daß sie vor Angst und Schmerz zitterte und sich wie eine Wütende wand, um aus den Händen des Sergeanten loszukommen. Aber er schob sie hinaus und schloß die Tür des Zimmers. Ermattet, entnervt und sterbend vor Verzweiflung, geduldig und beinah gefühllos wie eine Märtyrerin, stieg Trien zwischen dem Korporal und dem Sergeanten die Treppe hinunter bis an den offenen Vorhof. Hier ließ sie sich bewußtlos weiterstoßen und schieben; denn ihre Beine weigerten sich, die Bewegung zu machen, die sie von Jan entfernen mußte. Sie sagte jedoch kein Wort; stille Tränen, die wie Bäche über ihre Wangen flossen, waren der einzige Ausdruck ihres Schmerzes.

Auf der Schwelle einer der Türen, die auf den Vorhof führten, stand eine Dame in reicher Kleidung und mit edlem Angesicht. Sie betrachtete das weinende Mädchen von ferne und schien begierig zu sein, zu vernehmen, was da geschah. Als man ihr näher kam, um das Tor zu erreichen, füllte sich ihr Blick mit tiefem Mitleid.

Trien fühlte es; ein Hoffnungsstrahl wallte in ihr auf. Diese Bewegung entging Kobe nicht; er flüsterte der Jungfrau ins Ohr:

»Es ist die Frau des Lazarettverwalters – eine gute Frau! Sie ist aus Antwerpen.«

Schneller schritt die Jungfrau aus und schien nun selber Eile zu haben, zum Tor hinauszugelangen; doch in der Nähe der reich gekleideten Frau angekommen, lief sie plötzlich klagend auf diese zu, warf sich vor ihren Füßen auf die Knie und rief, indem sie die Arme emporhob:

»Ach, gnädige Frau! Hilfe, Barmherzigkeit für einen armen Blinden!«

Die Frau schien überrascht und verlegen durch diesen unerwarteten Kniefall. Eine kurze Weile sah sie mit Verwunderung die junge Bäuerin an, die ihre schönen blauen Augen, wie ein Gebet der Seele, zu ihr aufgeschlagen hatte und durch ihre Tränen vor Hoffnung lächelte, als ob sie schon dankte für eine empfangene Wohltat. Sie faßte Trien bei beiden Händen und hob sie auf, indem sie in sanftem Tone sagte:

»Armes Mädchen! Komm herein, liebes Kind; was betrübt dich so?«

Mit diesen Worten und ohne den Sergeanten zu beachten, der höflich die Hand an die Mütze hielt, führte sie die Jungfrau in ihre Wohnung, wo sie sie auf einen Stuhl niedersitzen ließ.

Im Zimmer befand sich ein Offizier der Jäger, der an einem Schreibtisch arbeitete; er hob mit neugierigem Interesse den Kopf von seiner Arbeit auf und betrachtete das weinende Mädchen, wartete jedoch bewegungslos auf eine Erklärung.

Die Frau – es war seine Gemahlin – ergriff die Hand der Jungfrau und sprach:

»Komm, komm Mädchen, fasse dich nur; es wird dir nichts Böses geschehen. Sage mir, was dich so bekümmert; ich werde dir helfen, wenn es möglich ist.«

»Ach, gnädige Frau,« seufzte Trien, während sie die Hand ihrer Beschützerin innig küßte, »Gott wird Sie für Ihre Güte segnen! Ich bin ein armes Bauernmädchen aus der Gegend zwischen St. Antonius und Magerhal in den Kempen. Unser Jan hat das Los gezogen und ist Soldat geworden. Vor vier Tagen hat er an seine Mutter einen Brief geschrieben, daß er blind geworden sei für sein ganzes Leben. Ich habe zwei Stunden wie tot dagelegen in einem Eichenwäldchen; aber ich habe nicht gewagt, es seiner Mutter zu sagen, damit sie nicht vor Kummer stürbe. Frühmorgens am andern Tage bin ich barfuß weggegangen, ohne zu wissen, wie ich gehen mußte, um von unserm Dorfe nach Venlo zu kommen; ich habe gefragt, bin herumgeirrt und habe den Weg verloren, habe Gram und Schmerz genug gelitten, bin Tag und Nacht gelaufen, beinah ohne zu essen und zu trinken, und das Blut ist aus meinen Füßen gesprungen. Nach drei Tagen des Herumirrens, gleich einem verlorenen Schafe, komme ich hierher; ein Bursche aus unserm Dorfe, der Korporal ist, läßt mich aus Mitleid ein; ich sehe unseren Jan mit ausgeschwärten Augen; ich will ihn trösten – und da kommt der Sergeant und jagt mich weg! Nun darf ich Jan nicht mehr sehen; ich muß ihn verlassen, den Ärmsten, ohne Trost. O, gnädige Frau, das kann ja nicht sein! Bedenken Sie doch, ich bitte Sie, was ich ausgestanden habe, um bis hierher zu kommen; und haben Sie doch Mitleid mit dem unschuldigen Lamm, das da im Dunkeln sich vor Schmerz verzehrt und dahinsiecht!

»Ist es dein Bruder?« fragte der Offizier von seinem Schreibtisch aus.

Die Jungfrau neigte das Haupt, um das Schamrot zu verbergen, das ihr bei dieser Frage ins Gesicht stieg.

Nach einem kurzen Stillschweigen hob sie die Augen wieder auf und antwortete:

»Herr, ich bin seine Schwester nicht, doch von Kindesbeinen an wohnen wir unter demselben Dach, seine Eltern sind die meinen; er liebt meine Mutter, sein Großvater hat mich auf den Armen getragen, als ich noch nicht gehen konnte; Arbeit, Gewinn, Freude und Kummer, alles ist uns gemeinsam.«

Nach einer Pause schlug sie den Blick zu Boden und sagte im leiseren Ton:

»Seit er so unglücklich ist, fühle ich es wohl, daß ich nicht seine Schwester bin …«

Der Offizier, durch die Worte des Mädchens gerührt, war vom Schreibtisch aufgestanden und hatte sich ihr genähert.

»Armes Kind,« seufzte die Frau, »du mußt dir diese Gedanken aus dem Sinne schlagen und dich trösten über sein Unglück. Einen blinden Burschen kannst du doch nicht lieb behalten …?«

Trien zitterte vor Schmerz.

»Ihn verlassen? Ihn vergessen, weil er blind und unglücklich ist für sein Leben? Ach, gnädige Frau, ich bitte Sie, sagen Sie das nicht mehr; es schneidet mir wie ein Messer ins Herz!«

Und in der Tat entfloß ihren Augen eine neue Tränenflut.

Der Offizier wechselte einige Worte auf französisch mit seiner Gemahlin. Er teilte ihr mit, daß ein ministerieller Befehl gekommen war, wodurch dem Obersten die Vollmacht verliehen wurde, die blinden Soldaten mit unbegrenztem Urlaub nach ihren Gemeinden zurückzusenden, bis ihnen die endgültige Entlassung aus dem Dienst zugesandt werden würde. Obwohl diese Maßregel erst in einigen Wochen zur Ausführung kommen sollte, erklärte der Offizier sich bereit, bei dem Obersten oder wem es sonst noch angehen möchte, einen Versuch zu machen, um dem unglücklichen Freund der Bäuerin ausnahmsweise noch am selben Tage einen Urlaubspaß zu verschaffen. Seine Gemahlin bat ihn, diese Absicht doch auszuführen. Trien, obwohl sie nicht verstand, was gesprochen wurde, fühlte doch, daß ihre Beschützerin ihren Mann zu etwas Gutem veranlassen wollte; die halbgetröstete Jungfrau nickte flehend mit dem Kopf, wie um die menschenfreundliche Bestrebung zu unterstützen.

Der Offizier wandte sich zu dem Mädchen und fragte:

»Würdest du erfreut sein, wenn dein Freund mit dir nach Hause zurückkehren dürfte?«

Das Antlitz Triens wurde plötzlich erleuchtet von einem unbeschreiblichen Ausdruck, der aus Freude und Angst gemischt war. Ihre großen blauen Augen, die sie weit geöffnet hatte, schienen noch andere Worte aus dem Munde des Offiziers locken zu wollen. Endlich brach es aus ihr heraus:

»Erfreut? Froh?« rief sie: »O Herr, Herr, trügen Sie mich nicht mit einer solchen Hoffnung. Ich würde vor Ihnen am Boden liegen und Ihre Füße küssen vor Dankbarkeit!«

Der Offizier nahm schnell seinen Tschako vom Tisch, gürtete seinen Säbel um und ging zur Tür hinaus, indem er sagte:

»Nun, Kopf hoch, Mädchen; es wird mir vielleicht glücken. Auf jeden Fall wirst du Jan noch sehen dürfen; dafür werde ich sorgen.«

Unverständliche Laute der Dankbarkeit folgten dem Offizier bis auf den Vorhof; dann begann Trien ihrer Wohltäterin feurig zu danken; doch diese ließ ihr keine Zeit, das Gefühl ihres überströmenden Herzens auszudrücken. Sie lief in die Küche und kam nach kurzer Zeit mit einer Magd zurück, die ein Tischchen vor Trien schob und darauf Fleisch, Brot und Bier setzte, während die Dame zu der Jungfrau sagte:

»Iß und trink nur ruhig Mädchen; es ist dir von Herzen gegönnt.«

»Ach, das weiß ich wohl, gnädige Frau,« seufzte Trien, »womit habe ich das denn verdient? Es ist ja, als ob Sie meine Mutter wären. Gott wird es Ihnen lohnen!«

»Du hast wohl schon lange nichts mehr gegessen?« fragte die Frau.

»Seit heute früh um drei Uhr,« antwortete Trien, die mit wahrem Heißhunger die Speisen verzehrte. »Ich bin seitdem sieben Stunden gelaufen; doch nun danke ich dem lieben Gott noch in all meinem Kummer, weil er Sie so gut gemacht hat, gnädige Frau.«

Lang noch bezeugte Trien ihren Dank, und lange tröstete die edelmütige Frau sie mit sanften, schwesterlichen Worten; denn der Offizier blieb wohl zwei Stunden lang weg. Trien hatte ihre ganze Geschichte schon erzählt und mit Liebe von dem schönen Kempenland gesprochen, wo Geist und Herz rein sind wie die Luft der sandigen Ebene; wo jedes Gefühl der Seele von dem Duft der Einfalt und Rechtlichkeit umwebt wird, wie der ewige Blumenflor der Heide, der sich jeden Morgen in Balsamdüften badet …

Die Dame empfand ein inniges Wohlgefallen an dem Bauernmädchen, dessen Sprache, so ungekünstelt sie auch war, ein feines Verständnis und ein reichbegabtes Herz verrieten. Mehr als einmal hatte Trien ihr Gemüt bewegt und ihre Augen in Rührung erglänzen lassen.

Während sie so wartend saßen und über das reine Landleben sprachen, war der Offizier in das große Tor gegangen und mit dem Sergeanten zu dem Zimmer der Blinden hinaufgestiegen. Nachdem er einige Zeit bei den Unglücklichen verweilt hatte, kam er die Treppe herunter auf den Hof. Jan folgte ihm mit dem Ranzen auf dem Rücken und einem Wanderstab in der Hand; der Sergeant führte ihn bis zu der Tür der Wohnung des Offiziers. Hier faßte dieser selbst den Blinden an der Hand und sagte zu ihm:

»Hier drinnen ist Trien, sie erwartet dich.«

Mit diesen Worten öffnete er die Tür.

Jan zog ein Papier aus seiner Brusttasche, schwenkte es hoch und rief mit jauchzender Freude:

»Trien, liebe Trien, ich darf mit nach Hause gehen! Ich brauche kein Soldat mehr zu sein; hier ist mein Abschied!«

»Es ist wahr, was er sagt,« sprach der Offizier, der sah, daß die Jungfrau es nicht zu glauben wagte.

Unterdessen kam Jan mit vorgestreckten Händen weiter ins Zimmer; aber Trien sprang ihm nicht entgegen. Das erschütterte Mädchen ließ sich von ihrem Stuhl gleiten und schob sich auf den Knieen zu ihrer Wohltäterin hin, die etwas entfernt auf einer Ruhebank saß. Mit erhobenen Händen, weinend und ihr dankbar in die Augen sehend, rief sie laut:

»O, gnädige Frau, wenn Sie nicht in den Himmel kommen, wer wird dann selig werden! Ich kann nicht sprechen. Ach, mein Herz bricht – ich sterbe vor Freude – Dank! Dank!«

In der Tat, ihr Haupt fiel kraftlos nieder auf den Schoß der Dame und schweigend umfaßte sie ihre Knie. Bald jedoch erwachte sie wieder aus ihrer tiefen Bewegung, sie sprang empor und lief mit offenen Armen zu dem Blinden, mit einer Flut freudiger Ausrufe, aus denen nur der Name des Jünglings verständlich wurde, ihn überschüttend.

 

Nach dem vollen Erguß ihrer Freude und Dankbarkeit zogen Trien und Jan zum Tor des Lazaretts hinaus, begleitet von den freundschaftlichen Glückwünschen ihrer Wohltäter.

Es war ein sonderbarer Anblick, diese frische Bauerntochter, den blinden Soldaten an der Hand führend, durch die Straßen von Venlo schreiten zu sehen. Und jeder, der vorüberging, blieb stehen, voller Rührung, nicht so sehr über den Anblick des Unglücklichen, der mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem grünen Lichtschirm vor den Augen neben dem Mädchen dahinschritt, als vielmehr über den unerklärlichen Ausdruck von Stolz und Freude, der dem Antlitze der Bäuerin etwas Edles, etwas Wunderschönes verlieh.

Die gute Trien war so glücklich, so stolz über das Ergebnis ihrer Aufopferung und ihres Wagemutes, daß sie mit aufgehobenem Haupte und mit strahlendem Gesicht dahineilte, ohne das Auge vor den neugierigen Blicken der Bürger niederzuschlagen.

Sie hatte große Eile, die Stadt zu verlassen, und nötigte den Blinden zu schnellem Gang. Der unerwartete Sieg hatte sie überrascht und verwundert. Noch jetzt konnte sie kaum daran glauben, und von Zeit zu Zeit lief ein flüchtiges Zittern über ihr Herz, als ob sie fürchtete, daß man ihr den unglücklichen Freund doch noch nehmen könne.

Endlich erreichten sie das Stadttor; sie sah das offene Feld und die weite Ebene, durch die sie der Weg zu ihrem Geburtsdorf führen würde. Nun erst stieg ein heller Siegesschrei aus ihrem Busen auf, sie richtete das Auge dankbar zum Himmel, machte das Zeichen des Kreuzes und sagte dann mit süßer Entzückung:

»Nun komm, Jan. Nun sind wir frei!«

 

Es war noch glühend heiß, obwohl der Schatten der Bäume auf dem Boden sich schon sichtlich verlängerte; über Heide und Feldern wogte noch der kristallklare Sommerduft; kein Lüftchen lispelte im Laub; die Vögel saßen still im reglosen Gezweig; alle Stimmen der Natur schwiegen; soweit das Auge reichte, war weder Mensch noch Tier wahrzunehmen, die Erde schien vor Ermattung eingeschlummert.

Am Rande eines einsamen Weges im Schatten von Eichenzweigen lag ein Soldat mit dem Kopf auf seinem Ränzel und schlief. Seine Füße waren nackt, die Schuhe standen neben ihm.

Eine junge Bäuerin saß bei ihm und hielt den Blick kummervoll auf ihn gerichtet, während sie ihm in der tiefen Stille mit einem Birkenreis die Fliegen von Angesicht und Füßen wehrte.

Der Soldat lag auf einem Bette von wildem Thymian; rings um ihn dufteten Balsamlüfte. Die liebe Glockenblume neigte ihre Glöcklein über seine Stirne; weiter unten, an seinen Füßen, hob die himmelblaue Gentiane ihre prächtigen Kelche zu ihm auf.

Ohne Zweifel mochte er schon eine lange Weile geruht haben; seine Gefährtin blickte manchmal mit einer gewissen Unruhe nach der Sonne, als wollte sie aus dem Gang der Himmelsfackel ermessen, wie weit der Tag vorgeschritten sei. Vielleicht auch hatte ihre Besorgnis eine andere Ursache. Und in der Tat, sie bemerkte mit einer gewissen Betrübnis, daß die Sonne das Eichenwäldchen überschritten hatte und daß einige ihrer Strahlen schon mit voller Glut auf den Körper des Schlafenden fielen. Ihre Verlegenheit war groß; sie stand auf und schaute um sich. Erst gedachte sie die Zweige des Unterholzes zu biegen und zusammenzubinden, um die Ruhe des Soldaten zu beschatten; doch dieses Mittel war erfolglos, weil das Licht schon von vorne und von der Seite den Rand des Weges zu bescheinen begann.

In der größten Stille und leise auftretend, kroch die Jungfrau in das Eichenwäldchen und schnitt mit einem Messer zwei Zweige aus dem Gebüsch. Sie stellte sich vor den schlafenden Soldaten, und die Sonne betrachtend, als ob sie einen Entwurf berechne, steckte sie die beiden Äste neben ihm in den Boden. Dann löste sie das Band, das um ihre Taille geschlungen war, und hing ihre Schürze als einen breiten Schatten vor das Antlitz des Soldaten, worauf sie sich mit einem Ausdruck der Zufriedenheit wieder neben ihn niederließ.

Einige Zeit noch bewachte sie seine Ruhe und lauschte auf seine Atemzüge, als versuche sie, das Klopfen seines Herzens zu zählen. Seine Augen konnte sie nicht sehen, denn diese waren unter einem grünen Lichtschirm verborgen.

Endlich machte der Soldat eine Bewegung; er tastete ängstlich um sich, streckte die Hände aus und rief mit banger Stimme:

»Trien, Trien, wo bist du?«

Das Mädchen ergriff seine Hand und sagte:

»Ach Jan, hier bin ich. Still nur. Du bebst? Was hast du?«

»Ach, ich habe geträumt, du seist von mir weggegangen!« antwortete der Jüngling, sich aufrichtend. »Gott, was für ein Traum! Der kalte Schweiß bricht mir noch aus.«

»Was für Gedanken sind das,« rief die Jungfrau mit sanftem Vorwurf. »Um so besser, daß du dies geträumt hast, Jan; es ist ein sicheres Zeichen, daß ich dich niemals verlassen werde: die Träume müssen ja immer umgekehrt ausgelegt werden.«

»Das ist wahr, liebe Freundin,« sagte der Soldat, ihre Hände drückend, »Gott wird es dir im Himmel lohnen!«

Inzwischen hatte das Mädchen die Riemen des Ranzels aufgeschnallt und ein Brot und ein Stück Fleisch herausgeholt. Sie begann das Brot in kleine Stücke zu schneiden und legte auf jedes etwas Fleisch.

Dabei sprach sie in liebreichem Ton:

»Jan, wie ist es nun? Bist du ausgeruht? Hat der Schlaf dich erquickt?«

»Müde bin ich nicht mehr, liebe Trien,« war die Antwort, »aber ich weiß nicht, ich bin so traurig durch diesen häßlichen Traum.«

»Das wird vergehen, Jan; es kommt von dem schweren Schlaf auf der Erde. – Ich habe hier den Tisch schon gedeckt; willst du essen?«

»Ja, ich habe Hunger, Trien.«

Das Mädchen gab ihm die Stücke Brot und Fleisch eins nach dem andern in die Hand. Während er schweigend die Nahrung verzehrte, betrachtete sie aufmerksam sein Antlitz und bemerkte einen sonderbaren Ausdruck von Mutlosigkeit und Trauer auf demselben. Noch immer in der Annahme, daß die Schwere des Schlafes die einzige Ursache dieser Betrübnis sei, machte sie vorerst keinen Versuch, sein Gemüt zu erheitern. Sobald sie ihm die letzten Stücke Brot gereicht hatte, zog sie ihm die Strümpfe und Schuhe an. Der Soldat griff nach seinem Ränzel, um es auf den Rücken zu nehmen; doch die Jungfrau nahm ihm die Last ab.

»Nein, Trien, laß es mich doch tragen,« flehte er. »Du wirst dich viel zu müde machen. Ein Mädchen mit dem Ränzel auf dem Rücken, das geht doch nicht; es muß schon seltsam genug sein, eine Bäuerin mit einem blinden Soldaten über die Heide ziehen zu sehen. Was mögen die Menschen denken?«

»Was gehen uns die Menschen an, Jan? Du, der du nicht sehen kannst, ermüdest dich hundertmal mehr als ich; du stolperst ja beinah bei jedem Schritt!«

Sie nahm das Ränzel auf den Rücken, brachte den Soldaten auf die Mitte des Weges und gab ihm einen Stock in die Hand, dessen anderes Ende sie gegen ihren Rücken hielt, damit der arme Blinde genau ihrer Fußspur folgen möge. Im Weiterschreiten sprach sie:

»Nun, lieber Jan, wenn ich zu schnell gehe, mußt du es sagen, – und laß uns ein wenig plaudern, das wird den Weg verkürzen.«

Da sie keine Antwort bekam, wendete sie sich im Gehen zu dem Jüngling um und sagte:

»Jan, du darfst den Kopf nicht hängen lassen, das ermüdet deine Brust.«

Der Blinde hob wortlos das Haupt, doch beim dritten Schritt ließ er es schon wieder tief vornüberfallen. Augenscheinlich war er in ernste Grübelei, vielleicht in schmerzliche Gedanken versunken; dies letztere war wohl auch die Meinung der Jungfrau; denn obwohl ihr Antlitz plötzlich betrübt wurde, sagte sie mit lebhafter Stimme, wie um ihn aus seiner Traurigkeit aufzuwecken:

»Ach Jan, morgen abend sind wir zu Hause! Das wird eine Freude sein! Deine arme Mutter, die denkt, daß du noch immer in dem dunklen Krankenhaus dahinsiechst, – wie wird sie froh sein und dich küssen vor Freude! … Und Pauwken, der soviel Tränen vergoß, wie du zu den Soldaten mußtest! Was wird das Kind tanzen, – und meine Mutter und Großvater! Mich deucht, ich sehe sie schon mit offenen Armen gelaufen kommen … und der Ochs, das arme Tier, wenn er dich hören wird, wird er sich wie ein Mensch benehmen; denn ich konnte es noch alle Tage an seinen Augen sehen, daß er dich nicht vergessen hat … und dann wird Großvater das fette Schwein schlachten, und wir werden alle miteinander schmausen wie Könige. Ach ich wünschte, ich wäre schon dabei!«

So plaudernd, sah sich die Jungfrau oft nach dem Blinden um, der hinter ihr an dem leitenden Stock fortschritt, um die Wirkung ihrer Worte auf seinem Gesicht zu lesen. Ein zweifelndes Lächeln war die einzige Veränderung, die sie bemerkte. Immerhin, dies geringe Zeichen flößte ihr wieder Mut ein; und obwohl der Jüngling nicht geantwortet hatte, fuhr sie fort:

»Und wenn wir zu Hause sind, Jan, werde ich immer bei dir sein und dich niemals verlassen. Ich werde Liederchen kaufen und sie lernen, um sie dir abends am Kamin vorzusingen; wenn ich zur Arbeit aufs Feld gehe, mußt du immer dabei sein, wir werden zusammen schwatzen bei der Arbeit; und was du nicht sehen kannst, das werde ich dich mit den Händen fühlen lassen; du wirst also so gut wie ich wissen, wie es mit den Feldfrüchten steht; du wirst sie im Geist wachsen sehen. Ich werde dich zur Kirche geleiten und mit dir Sonntags abends in der ›Krone‹ ein Glas Bier trinken gehen, damit du die Freunde sprechen hören kannst. Es wird sein, als ob du gar nicht blind wärest! Was sagst du dazu? Ist es so nicht doch noch gut?«

Eine Träne rann glitzernd unter dem grünen Lichtschirm des Soldaten hervor und rollte wie ein Tautropfen über seine Wangen in den Sand des Weges. Er antwortete in trübem Tone:

»Liebe Trien, deine Stimme ist so fein, daß sie mein Herz vor Entzücken beben macht; wenn ich deinen süßen Worten lausche, ist es, als ob mein Schutzengel vor mir herginge, ich sehe dich so vor meinen Augen stehen: du hast Flügel, dein Leib ist so licht wie die Sonne. Ich glaube, daß unser Herr mich mit meinen blinden Augen sehen läßt, wie du später im Himmel belohnt werden wirst für deine unbegreifliche Güte!«

»Ach, Jan, du darfst nicht so sonderbar sprechen,« sagte das Mädchen, »ich verlange nur eine Belohnung für meine Mühe, und die ist, daß du nicht so traurig bist. Gestern noch warst du viel fröhlicheren Gemütes.«

Der Blinde zog den Stock an sich und faßte die Hand der Jungfrau, um neben ihr zu gehen; dann sagte er:

»Trien, gestern war ich so froh, daß ich nach Hause zurückkehren durfte, doch heute, während ich da schlief, ist mir die Wahrheit vor Augen gekommen. Nun nagt etwas an meinem Herzen, ich kann es dir nicht verschweigen. Gott soll mich strafen, wenn ich deine Liebe mit Begehrlichkeit belohne!«

»Aber Jan, was kommt dir nun in den Kopf? Du machst mich so traurig, daß ich beinahe nicht mehr weiter kann. Sag mir, was du auf dem Herzen hast; es werden nur Gedanken sein.«

»Wir wollen einmal in Ruhe darüber sprechen, Trien,« begann der Jüngling wieder mit erstickter Stimme. »Du bist schön, stark und von Herzen gut, zu jeder Arbeit geschickt … Und du solltest dein junges Leben vorübergehen lassen und verschwenden aus Liebe und Barmherzigkeit für einen unglücklichen Blinden? Und dann wärest du alt, allein auf der Welt und verlassen, um meinetwillen?«

Das Mädchen, durch den traurigen Ton seiner Stimme betroffen, weinte bitterlich; der Blinde merkte es nicht und fuhr fort:

»Trien, noch auf meinem Totenbette werde ich des Augenblicks gedenken, da wir voneinander Abschied nahmen; ich habe verstanden, was deine schönen blauen Augen sagten, und es hat mich glücklich gemacht in allen meinen Leiden. Sogar wie der Doktor meine Augen mit Höllenstein ausbrannte und ich vor Schmerzen schrie, standest du noch vor mir, mit jenem Erröten auf der Stirne, und ich fühlte noch deine Hand in der meinen beben. Ach, hätte der gute Gott mir nur ein einziges Auge gelassen, daß ich für unser tägliches Brot hätte arbeiten können, ich wäre auf meine Knie gefallen, Trien, um dich zu bitten, mir für das ganze Leben anzugehören; und ich hätte mich totgearbeitet für dich. – Nun kann es nicht mehr sein …«

»Aber um Gottes willen, Jan,« rief die Jungfrau verzweifelt aus, »was sagst du da alles? Tust du es, um mich zu betrüben? Ich verstehe dich nicht. Und was hättest du dann auf der Welt?«

»Kummer … und Tod …,« seufzte der Jüngling.

»Tod!« rief die Jungfrau mit Bitterkeit, »und du denkst wohl, daß ich dich sterben lasse? Was glaubst du denn? Sprich nur deutlicher, ich kann die dunklen Worte nicht vertragen! Und so will ich nicht weitergehen. Setze dich hier ein wenig an den Weg, bis du die häßlichen Dinge aus dem Kopf hast.«

Sie führte den Blinden an den Rand des Weges, setzte sich mit ihm auf das Gras nieder, warf das Ränzel ab und sprach:

»Laß hören, Jan, sage nur frei, was du meinst!«

»Ach, liebe Trien, du verstehst mich wohl,« antwortete der Soldat, »du willst deine Jugend für mich opfern. Kann ich das annehmen, daß du dein ganzes Leben verdirbst aus Güte für mich? Der Gedanke schon, daß du es tun möchtest, nagt an meinem Herzen. Du möchtest, daß ich fröhlich und getrost wäre. Nun denn, versprich mir, daß du für mich nur eine Schwester sein willst, daß du nach der Kirchweih wie früher gehen und andern Burschen zugeneigt sein wirst in Ehrbarkeit …«

Schluchzend antwortete die Jungfrau unter bitteren Tränen:

»Jan, Jan, wie ist es möglich, daß du so grausam sein kannst! Du schneidest mir das Herz in Stücke wie ein Henker. Das habe ich nun für meine Gutherzigkeit: ›Geh, such nach andern Burschen!‹ Womit habe ich das verdient?«

Jan suchte die Hand des Mädchens, und indem er sie drückte, sagte er mit sanfter trauriger Stimme:

»Ach Trien, du willst mich nicht verstehen. Hätte ich auch sechs Augen, ich ließe sie mir alle ausbrennen, um dich lieben zu dürfen, ohne daß du littest! Und doch ist blind sein eine Pein, die niemand begreifen kann, solange er das Licht noch sieht! Doch Gott würde mich gewiß strafen, wenn ich dein Leben zu meinem Nutzen mißbrauchen wollte.«

»Und wenn ich deinem häßlichen Rat folgte, dann würdest du mich wohl vergessen, nicht wahr?«

»Vergessen?« seufzte der Blinde. »Es ist immer Nacht für mich. Ich kann mein Leben lang nur denken und träumen. An wen, von was könnte das sein, wenn nicht von deiner Güte und von dem, was deine Augen mir beim Abschied sagten?«

»Und du würdest Trien noch lieb haben, wenn sie deinen Wunsch erfüllte?«

»Immerdar, bis in den Tod!«

Die Jungfrau wischte die Tränen aus ihren Augen. Ein ganz anderer Ausdruck lag auf ihrem Gesicht; mit hellem Stolz und frohem Mut sprach sie:

»Und ich sollte dich verlassen? Mit anderen Burschen zur Kirmeß gehen und tanzen, während du, im Eckchen beim Kamin, wochenlang säßest und an mich dächtest? – Aber Jan, ich weiß nicht, wie du dir das ausgrübeln konntest! Sei versichert, wenn du es nicht wärest, dann wäre ich sehr böse darüber. Glaubst du denn, daß ich kein Herz habe und dich so hinsiechen ließe? Nein, nein, du hast mich lieb gehabt, wie du deine zwei schwarzen Augen noch hattest; nun werde ich dich auch lieb behalten, wenn du auch, Ärmster, deine Augen verloren hast! – Und sprich mir nicht mehr von anderen Burschen: das betrübt mich; denn es ist, als ob du dir nichts mehr aus mir machtest … Wenn ich nur daran denke, stürzen mir die Tränen über die Wangen.«

Jan drückte in stummer Bewunderung und mit dankbarer Innigkeit die Hände der Jungfrau. Nach einem kurzen Stillschweigen stammelte er:

»Trien, du bist ein Engel auf Erden; ich fühle es wohl, du allein kannst mich vergessen machen, was Gott mir genommen hat; doch es darf nicht sein!«

»Ja,« fuhr das Mädchen fort, »ich verstehe dich wohl: du willst sagen, daß ich eine alte Jungfer werden könnte. Es ist nicht wahr; ich werde eine glückliche Ehe schließen und heiraten, ehe das Winterkorn gesäet wird; siehst du nun!«

»Heiraten,« murmelte der Soldat mit verborgener Betrübnis, »o Trien, nun wird mein Gemüt erleichtert. Gott gebe, daß dein Mann dich liebe, wie du es verdienst! Ach, du wirst heiraten? Und wen? Ist es ein Freund aus dem Dorfe?«

»Jan, du bist von Sinnen!« rief die Jungfrau so laut, daß es hinter ihr im Tannenwalde widerhallte. »Ich will heiraten. Du fragst wen! – Dich!«

»Gott! Gott! Mich? Einen Blinden!«

»Ja, dich, denjenigen, der sechs Augen darum geben würde, um mich lieben zu dürfen!«

»O, Dank, Dank für deine große Güte. Sei gesegnet für so viel Liebe, aber …«

Trien legte ihm die Hand auf den Mund und erstickte das verweigernde »aber«, während sie siegesgewiß sagte:

»Schweig nur; du hast vorhin so ernst gesprochen, daß es mir das Herz im Busen brach; laß mich nun auch einmal so sprechen. – Wenn Trien durch ein Unglück blind geworden wäre, hättest du das arme Lamm verstoßen? Und wenn sie dich in ihrem Kummer lieb behalten hätte, hättest du ihr den Todesstoß gegeben, indem du dich anderen Mädchen zugewendet hättest? Nun, antworte mir!«

»Ich trau mich nicht.«

»Du mußt und sollst aufrichtig sprechen, Jan.«

»Ach Trien, ich hätte getan, was du nun tust; aber es kann doch nicht sein, liebste Freundin. Was würden die Leute von mir sagen?«

»Es wird geschehen!« sprach die Jungfrau mit Entschiedenheit. »Hier ist meine rechte Hand. Daß Gott es sehe, bis der Priester für uns betet.«

Als er diese Worte hörte, schlug der Soldat beide Hände vors Gesicht und ließ das Haupt langsam an die Brust der Jungfrau sinken; er blieb wortlos vor Bewegung, bis Trien in Begeisterung ausrief:

»Die Menschen? Wer wohltut, darf sich nicht schämen! Und wenn ich mit dir zur Kirche gehe, um das Jawort vor dem Altar zu sprechen, dann werde ich stolz das Haupt erheben und denken, daß Gott da oben weiß, was gut und böse ist. Und laß mich nur machen; ich werde zeigen, was man kann, wenn Herz und Arme stark sind. Es wird uns an nichts fehlen, lieber Jan; dafür wird deine Trien sorgen, und sie wird bei dir bleiben und dich trösten und dich liebhaben und erfreuen, bis daß der Tod uns scheidet. Und so werden wir mit unseren Eltern, mit Großvater und Pauwken leben in Frieden und in Glück wie vorher. Ist es so nicht gut?«

Weinend und schluchzend küßte der blinde Soldat ihre Hände. Er murmelte nur noch einige Worte der Weigerung, doch die Jungfrau sprach in befehlendem Ton:

»Jan, wir können hier nicht sitzen bleiben, wir müssen weiter. Es wird nun schon dunkel werden, ehe wir zu dem Hof kommen, wo ich vor vier Tagen geschlafen habe. Stehe auf und komme nun fröhlich mit weiter. Ich will von dieser Sache nichts mehr hören: was gesagt ist, bleibt gesagt. Laß uns nun von anderen Dingen plaudern.«

Sie lud das Ränzel auf den Rücken, reichte Jan den Stock, und beide schritten stumm, doch erheiterten Gemüts weiter über die Heide.

 

Am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, war Trien schon wieder auf dem Wege, das Ränzel auf dem Rücken und den blinden Soldaten hinter sich.

Das Gras und die Kräuter der Heide glitzerten im Morgenscheine, als wären sie mit Diamanten bestreut, während die Nadeln der Fichten, vom Tau befeuchtet, wie mit mattem Silber überzogen aussahen. Im Osten glänzte der Horizont wie Purpur und Gold. Vor den fernen Wäldern stiegen die nächtlichen Dünste in die Höhe und schwebten da zwischen Himmel und Erde. Der Chor der Vögel war erwacht und erfüllte die Luft mit einem Regen von hellen Tönen; die wackere Honigbiene schwebte summend über die Thymianblüten; viel fröhliche Tierlein – Käfer, Schmetterlinge, Grillen – flogen und taumelten herum, alles lachte beim Anbrechen des schönen Tages, alles jauchzte beim Steigen des jungen Lichtes.

Auch das gute Mädchen geriet, ohne es zu wissen, in die fröhliche Stimmung der Natur. Von Zeit zu Zeit sang sie fast übermütig einige Verslein des einen oder anderen Liedes, oder sprach einige Worte, um der Heiterkeit ihres Herzens Ausdruck zu geben. Der Soldat war schon lange stillschweigend dahingeschritten; endlich fragte er:

»Aber liebste Trien, was bist du so froh! Gewiß ist das Wetter sehr schön? Ich kann es nicht sehen, doch ich höre wohl, wie die Vögel der Sonne guten Morgen sagen und wie die Bienlein um meine Füße summen und froh sind!«

»Nein, Jan, darum ist es nicht,« antwortete die Jungfrau, ihn bei der Hand fassend; »komm einmal neben mich, ich muß dir etwas Seltsames erzählen. Es ist nur ein Traum, und ich hatte ihn schon beinahe vergessen; doch seitdem ich ganz wach geworden bin, ist er mir wieder klar ins Gedächtnis gekommen.«

»Was hast du denn so Schönes geträumt, Trien?«

»Ja, du warst auch dabei, Jan, das kannst du dir wohl denken! Ach, es war so schön! Höre, Liebster. – Die Pächterin – die gute Frau, Gott soll es ihr lohnen – hat mich in einem kleinen Zimmer schlafen lassen. Wie ich nun allein war, begann ich auf den Knien zu beten vor dem Bilde Unserer lieben Frau, das da stand. Ich weiß nicht, wie lange ich gekniet hatte; doch wie ich aufstand, drehte sich alles mit mir, und ich war beinah von Sinnen; so wenigstens schien es mir. Der Mond war inzwischen aufgegangen und schien so hell durch das Fensterlein, daß meine Kammer überall blau aussah und ganz seltsam. Ich drückte meine Stirne gegen die Scheiben, um meinen Kopf ein wenig abzukühlen, und legte mich dann halb bekleidet auf das Bett, um am anderen Tage schon früh bereit zu sein. Aber ich konnte doch nicht schlafen; der Mond schien gerade in meine Augen, und ich mußte stets nach dem Mann mit dem Reisigbündel auf dem Rücken sehen, der im Mond steht. Auf einmal bekam der Mond einen Mund und wunderschöne blaue Augen, und er fing an zu erröten gleich einem Apfel und lachte mich so freundlich an, daß ich ganz bewegt davon wurde. In meinem Leben hab ich keine Frau gesehen von so schönem und holdseligem Wesen; denn wenn es so eine auf der Welt gäbe, die Menschen würden ja alle auf den Knien vor ihr liegen. Höre nur weiter. – Unterdessen bekam der Mond Arme und ein langes Gewand mit großen, goldenen Blumen; auf dem Haupte trug die Frau eine silberne Krone von sieben funkelnden Sternen. Auf ihrem Arme trug sie ein Kind, schöner noch als die Engel im Himmel. Und, ach Gott, Jan, es war Unsere liebe Frau selber, die da stand, mit unserem Herrgott auf dem Arm, und mir zulachte und Zeichen machte … Und nun kommt es noch schöner! Wie du ins Zimmer gekommen warst, weiß ich nicht; doch du saßest auf einem Stuhl am Fenster, und mit deinen blinden Augen sahst du Unsere liebe Frau doch wohl; denn wir fielen beide auf unsere Knie und streckten die Arme zum Fenster hinaus, als ob wir die Mutter Gottes anriefen. Da kommt sie auf einmal ganz still und sacht heruntergeschwebt, immer näher und näher und mitten durchs Fenster bis ins Zimmer. Sie sagt etwas zu dem Jesuskindlein, und das Kindlein rührt deine Augen mit dem Finger an, und du, Jan, du rufst in heller Freude: ›Ich sehe! Ich sehe!‹ Und ich Ärmste war so davon bewegt, daß ich in meinem Schlaf aufsprang und beinahe aus dem Bett fiel … Und da war es nicht wahr! Ich hatte nur geträumt; denn der Mond mit dem Mann darin stand noch still am Himmel, und das Bildnis Unserer lieben Frau stand noch ruhig auf seinem Platze … Ist dies nun kein glücklicher Traum?«

Die Jungfrau schwieg und wartete auf Antwort. Nach einer Weile sagte der Jüngling:

»Trien, was kannst du schön erzählen! Mein Herz hüpfte vor Freude, während du sprachst; ich glaubte alles selber mit anzusehen; und wie du sagtest, daß Unser Herr meine Augen berührte, da habe ich etwas gefühlt, was ich nicht ausdrücken kann: und ich habe Unsere liebe Frau gesehen, so klar und so deutlich, daß ich im Sand die goldenen Blumen zeichnen könnte, die auf ihrem Gewande glänzten!«

»Was für Blumen hast du gesehen, Jan?«

»Große Rosen.«

»Ich auch, das ist wundersam!«

»Und Lilien, wie voriges Jahr so viele im Hof bei dem Brauer standen.«

»Und ich habe auch Rosen und Lilien darauf gesehen! Wie ist es nur möglich? Mein Verstand steht mir still dabei.«

»Ach, beste Freundin,« seufzte Jan, »laß dich keine falsche Hoffnung trügen. Träume sind Schäume, sagt das Sprichwort; es ist nur ein Trost, den uns Gott auf dieser Reise sendet.«

»Wie dem auch sei,« rief die Magd mit froher Stimme, »mich deucht, ich habe seit dieser Nacht die Mutter Gottes noch lieber als bisher … Und wenn wir zu Hause sind, dann werde ich mir vom Küster ein Silberpapier geben lassen, um dem Bilde am Lindenbaum auch so eine Sternenkrone zu machen. Und wenn es geht, soll das Bild auch ein Gewand mit goldenen Blumen bekommen. – Laß uns nun flink ausschreiten, ehe die Sonne hoch steht; und nimm den Stock, denn der Fußweg wird schmal und uneben. Ich glaube fast, daß wir falsch gegangen sind bei dieser Erzählung.«

»Liebste Trien, du mußt auf den Weg achtgeben; denn meine Knie werden schon müde; ich fühle wohl, daß ich heute keine zehn Stunden werde laufen können.«

»Beunruhige dich nicht, Jan,« antwortete das Mädchen, ihre Schritte mäßigend, »auf einer ebenen Heide wie dieser findet man sich immer zurecht … Und ich sehe ganz weit dahinten zwei Türme, Moll und Balen, so wie man uns heute morgen gesagt hat.«

Inzwischen war die Sonne schon hoch über den Horizont gestiegen und begann ihre Strahlen wie einen Feuerstrom über die Heide zu ergießen. Die Hitze wurde so drückend, daß die beiden Wanderer nach Atem rangen, während der Schweiß von ihrem Antlitz troff. Der Soldat klagte jedoch nicht über Müdigkeit und schritt mutig hinter seiner Führerin her. Nur einmal hatte er die Bemerkung gemacht, daß seine Augen ihn schmerzten, als ob die sengende Sonnenglut ihre Entzündung verschlimmerte.

Nachdem sie eine gute Stunde zurückgelegt hatten, blieb das Mädchen plötzlich stehen, ohne dem Blinden etwas zu sagen. Dieser fragte verwundert:

»Trien, was ist denn, daß du so plötzlich anhältst?«

»Ach, Jan,« antwortete Trien betrübt, »ich habe was Schönes gemacht! Gott weiß, wie lang wir schon vom Weg abgeirrt sind; und da stehen wir nun vor einem breiten Wasser, das quer durch die ganze Heide läuft, ohne daß ich irgendwo eine Brücke sehe.«

»Das ist schade,« seufzte Jan, »ich werde schon so müde; ist das Wasser tief?«

»Ach nein, es ist ein breiter Bach. Ich kann gut bis auf den Grund sehen; man würde wohl hinüberwaten können.«

»Gut, dann wollen wir es wagen, Trien; dann brauchen wir nicht herumzulaufen.«

»Ja, aber es ist unmöglich Jan; die Ufer sind zu hoch. Du kommst niemals hinunter oder herauf. – Komm, komm, laß uns aus der Not eine Tugend machen!«

Sie brachte den Blinden an den Rand des Wassers, warf das Ränzel auf das andere Ufer und ließ sich ins Wasser gleiten; der Jüngling hörte es und fragte:

»Was willst du tun, Trien?«

»Schlinge die Arme um meinen Hals und halte dich recht fest,« antwortete die Jungfrau, während sie den Soldaten an der Hand nach sich zog und ihn, seiner Einwendungen nicht achtend, zwang, ihrem liebevollen Befehl zu folgen.

Dann lief sie, mit der schweren Last schwankend, durch das Wasser bis ans andere Ufer und sagte:

»Jan, da am Rand steht ein Weidengebüsch, halte dich an den Zweigen fest und klettere hinauf, ich werde dir dabei helfen.«

Der Soldat tat, was das Mädchen ihm sagte, und kam ohne Mühe auf den festen Boden. Trien kletterte ebenfalls hinauf und schüttelte das Wasser von ihren Kleidern. Der Blinde sagte zu ihr:

»Ach, Trien, du bist die Güte und die Freundschaft selbst. Es macht mir Schmerz, daß ich dich niemals werde belohnen können für so viel Liebe und Barmherzigkeit.«

»Nun, Jan, das ist schon der Mühe wert, davon zu sprechen,« fiel das Mädchen ihm ins Wort. »Weil ich dich über das Wasser getragen habe? Die Sonne wird meine Kleider schnell getrocknet haben. Komm jetzt nur wieder weiter; noch eine halbe Stunde und wir sind bei dem ersten Turm; es wird Moll sein, da können wir lange ausruhen.«

»Ist das Wasser des Baches klar?« fragte der Jüngling.

»So hell wie Glas,« antwortete das Mädchen, »hast du Durst? Warte ein wenig, ich bin doch schon naß und werde dir einen guten Trunk holen.«

Doch der Soldat sagte:

»Nein, Trien, darum ist es nicht. Meine Augen stechen mich so sehr; wenn du mir ein wenig Wasser und ein Tüchlein gäbest, um sie zu waschen; das wird mich erfrischen!«

Das Mägdlein stieg in den Bach und schöpfte den Napf des Soldaten voll klaren Wassers; dann kam sie zu dem Blinden zurück und sprach, indem sie ein weißes Tuch aus ihrem Busen holte:

»Setz dich und laß mich deine Augen auswaschen.«

Der Soldat gehorchte und setzte sich in das Gras mit dem Rücken gegen die Sonne. Trien nahm ihm den grünen Lichtschirm ab und begann seine geschlossenen Augen mit dem nassen Tuch zu säubern. Da der Jüngling ihr sagte, daß diese Waschung ihm große Erleichterung verschaffte, ließ sie nicht ab und näßte ihm Angesicht und Stirne reichlich, bis er sagte:

»Halt ein, Trien, nun ist es genug.«

Während nun die Jungfrau ein wenig zur Seite ging, um den Lichtschirm zu nehmen, sprang der Blinde plötzlich mit einem sonderbaren Schrei in die Höhe, und die Hände nach seiner Freundin ausstreckend, blieb er zitternd stehen, während unverständliche Laute aus seinem Munde kamen.

»O Gott, liebster Jan, was hast du?« rief das Mädchen, indem sie erschreckt gelaufen kam.

Doch er schob sie sanft von sich und flehte:

»Trien, Trien, geh zurück auf dieselbe Stelle! Ach, ich bitte dich!«

Erstaunt über den Ton seiner Stimme und über die unbegreifliche Freude, die sein Antlitz erleuchtete, erfüllte das Mädchen seine Bitte und stellte sich ein paar Schritte weiter von ihm auf. Er öffnete seine erstorbenen Augen und rief mit aufgehobenen Armen:

»Trien, o Gott, ich habe dich gesehen! Mein linkes Auge ist noch nicht ganz erstorben!«

Wie vom Blitz getroffen begann das Mädchen an allen Gliedern zu zittern; mit schwankenden Schritten auf den Soldaten zugehend, rief sie:

»Nein, nein, Jan, es ist nicht wahr! Laß mich nicht sterben vor Freude! Das Sonnenlicht hat dich betrogen. Ärmster!«

»Ich habe dich gesehen,« rief der Soldat, vor Freude beinahe außer sich. »Dunkel und wie einen Schatten –, aber doch gesehen! Mein linkes Auge ist noch nicht erstorben, sage ich dir! O liebste Trien, es ist dein Traum von heute nacht!«

Ein Schrei, so gellend, als entstiege er der Brust einer Gefolterten, kam aus dem Mund der Jungfrau, während sie zitternd auf die Knie fiel und mit gen Himmel erhobenen Händen ein leises stammelndes Dankgebet zu Gott emporsandte. Der Soldat sah sie, obwohl undeutlich und nur als dunkle Form; er kniete an der Seite des betenden Mädchen ebenfalls nieder.

Diese, in der Entrückung ihres Dankgebetes, merkte es nicht und blieb eine Weile bewegungslos auf den Knien liegen. Endlich, durch das Gebet beruhigt, drehte sie den Kopf zur Seite und rief:

»O Himmel, du hast gesehen, was ich tat?«

»Ich habe es gesehen,« jauchzte Jan.

»Ach Unsere liebe Frau,« seufzte Trien unter Strömen von Tränen, die nun erst aus ihren Augen brachen, »das hast du getan, heilige Mutter Gottes! Aber ich werde es auch niemals vergessen und jedes Jahr auf meinen bloßen Füßen zu deiner Ehre nach Scherpenheuvel gehen!«

Nach dieser innigen Anrufung schien die Kraft sie zu verlassen; sie schlang den Arm um die Schulter des Soldaten und lehnte wortlos weinend das Haupt gegen seine Brust. Der Jüngling war nicht minder bewegt; auch ihm fehlten die Worte, um all die Gefühle auszudrücken, die sein Herz überströmten. Eine ganze Zukunft von Dankbarkeit, Liebe und Glück hatte sich vor ihm geöffnet und entrückte ihn mit dem Zauberglanz ihrer Verheißungen. Endlich richtete Trien sich auf und band unter freudigen Ausrufen ihrem Freund den Lichtschirm vor die Augen; sie nahm das Ränzel auf den Rücken und den Jüngling bei der Hand, wonach beide leichten Schrittes ihre Reise fortsetzten. Nach einer Weile sprach die Jungfrau:

»Ach, liebster Jan, ich weiß nicht, was ich habe, aber ich möchte tanzen und springen vor Freude; nun will ich noch zwanzig Stunden gehen, ohne Müdigkeit zu spüren.«

»Mir geht es geradeso wie dir, Trien,« antwortete der Soldat. »Mich dünkt, ich könnte fliegen! O liebste Freundin, wenn mein linkes Auge noch genesen könnte! Welches Glück! Welches Glück!«

»Genesen! Du wirst genesen! Da wird Unsere liebe Frau im Himmel wohl dafür sorgen. Siehst du nicht, daß die Hand Gottes mit uns ist? Mein Traum von dieser Nacht!«

»Trienchen, liebstes Trienchen,« rief der Jüngling, ihr bebend die Hand drückend, »ach, wenn es wahr wäre, wie schön könnte unser Leben noch sein! Wir könnten tun, was du mir so barmherzig versprochen hast: wir würden uns heiraten. Ich würde arbeiten wie ein Sklave, aber mit Mut und mit Glück; du, meine herzallerliebste Frau, dürftest nichts mehr anrühren …«

»O, da wird nichts daraus, Jan,« fiel Trien lächelnd ein. »Du denkst sicher, daß meine Arme sich an die Müßigkeit gewöhnen könnten; das werde ich dir aber zeigen!«

»Es ist gleich,« begann der Jüngling wieder, »du sollst nur tun, was du willst, und nichts anderes. – Und unsere Eltern, Trien, wie werden die glücklich sein, bis auf ihre alten Tage, in unserer Liebe und Sorge! Und dann, wir haben zu wenig Land in Pacht, um vorwärts zu kommen. Ich werde Kaufmann werden, in Mastbäumen und Holz. Da muß ein wenig dafür gesorgt werden; denn …«

Der Jüngling dämpfte seine Stimme und sagte beinahe unhörbar:

»Denn wenn es Gott gefällt, wird unser Haushalt mit der Zeit größer werden …«

Er schwieg; denn die Jungfrau schlug in diesem Moment die Hände vor die Augen, und er hörte, wie sie schluchzend weinte.

»Warum betrüben dich meine Worte?« fragte der Soldat.

Das Mädchen griff wieder nach seiner Hand und seufzte, sie drückend: »Um Gottes willen schweig doch von all den schönen Dingen. Mein Herz bricht dabei; aber es ist doch nur vor Freude …«

»Trien, ich kann nicht schweigen, mein Herz läuft über. Laß mich nur fortfahren und sage du auch etwas. So kommen wir voll froher Freude und ohne es zu wissen nach Moll, um auszuruhen.«

Der Soldat begann aufs neue seine fröhlichen Hoffnungen auszudrücken und zauberte vor die Augen des bewegten Mägdleins eine selige Zukunft.

Endlich näherten sie sich einem großen Dorfe. Trien gab Jan das Ränzel, und beide traten Hand in Hand in den Ort ein.

 

Am späten Nachmittag schritt Trien mit ihrem Freund über die Heide, bei Casterlee, wo sie die Nethe überschritten. Beide waren schweigend und traurig; doch keiner hatte dem anderen seine trübe Gemütsstimmung entdeckt; im Gegenteil, die wenigen Worte, die sie sprachen, waren noch Versuche, voreinander froh zu erscheinen.

Und dennoch hatte eine bittere Enttäuschung ihre Herzen nach und nach mit Schmerz erfüllt.

Seit ihrem Aufbruche hatte Trien fünf- oder sechsmal die Augen des Soldaten gewaschen. Sie kamen an keinem Wasser vorbei, ohne zu versuchen, ob es nicht auch die wundertätige Kraft des ersten Heidebaches hätte. Doch ach, ihre liebreiche Fürsorge wurde für sie und den unglücklichen Jüngling eine Quelle der Verzweiflung und des Leidens.

Sei es, daß der Soldat sich getäuscht hatte, als er seine Gefährtin gesehen zu haben glaubte, sei es, daß die Kühle des Wassers und das Reiben der Augen mit dem Tüchlein ihre Entzündung verschlimmert hatte, jedenfalls sah er nichts mehr, sooft er auch mit aller Gewalt versuchte, das Schattenbild seiner Freundin zu entdecken. Er konnte nun sogar das Licht nicht mehr vertragen und schloß die Augen unter heftigen Schmerzen, jedesmal, wenn Trien ihm den Lichtschirm abnahm.

So senkte sich denn unwiderstehlich in beider Gemüt die schreckliche Überzeugung, daß eine grausame Täuschung sie betrogen hätte und die Blindheit vollständig unheilbar sei. Wohl blieb die Hoffnung wie eine glückliche Ungewißheit in der Tiefe ihres Herzens; doch vermochte sie nur von Zeit zu Zeit einen flüchtigen Strahl durch die stille Verzweiflung zu werfen.

Noch eine andere Ursache stimmte ihre Herzen traurig. Seit dem Morgen hatten sie schon acht Stunden zurückgelegt und waren bis zum äußersten ermüdet.

Vor allem der blinde Soldat, der oftmals auf dem Wege stolperte, war abgehetzt und erschöpft. Ohne Gefühl, beinahe stumpfsinnig, schleppte er sich an dem Stock hinter seiner Freundin her und beugte sich mit matten Gliedern vornüber, als wäre er eine leblose Maschine. Seine Füße waren wund, und hätte er nicht schon das Bewußtsein ganz verloren gehabt, so hätte er gefühlt, daß das Blut aus seiner Ferse warm in seine Schuhe lief.

Trien war nicht minder ermattet, sie schritt jedoch immer weiter, ohne etwas zu sagen und sich nach dem Soldaten umzusehen. Das arme Mädchen wagte nicht zu sprechen. Es blieb ihr kein Trost mehr übrig, die selige Aussicht war verschwunden, die Hoffnung auf Glück vergangen. Eine unsägliche Freude hatte sie fast von Sinnen gebracht, als sich die Zukunft so schön vor ihren Augen erschlossen hatte; aber gerade deshalb war der Schmerz der Enttäuschung noch tausendmal schlimmer und beugte sie nun, so beherzt sie auch sonst war, wie eine Sklavin unter eine unendliche Mutlosigkeit. Und dann – was konnte sie sagen, um ihren Freund aus seiner Verzweiflung aufzuwecken! Von seinen Augen sprechen und ihr eigenes Gefühl belügen? Sie konnte es nicht; es hätte wie ein bitterer Spott geklungen.

Deshalb ging sie wortlos und mit schweren Schritten vorwärts, in trauriges Grübeln versunken und beinahe ihres Zustandes unbewußt.

Nach einer guten halben Stunde des tiefsten Schweigens sagte der Soldat plötzlich, mit einem schmerzlichen Seufzer:

»Trien, halt ein, ich kann nicht mehr!«

»Ich bin auch am Ende,« antwortete das Mädchen, ohne sich umzusehen, »wir wollen ein wenig ruhen und diese Nacht dort in jenem Dorf schlafen.«

»Ach, bleibe stehen,« flehte der Blinde.

»Wir sind bei einem Gehöfte; noch zwanzig Schritte, Jan, dort ist ein schönes Buchenwäldchen. Da sitzen wir im Schatten.«

»Um Gottes willen, geh dann schnell!«

Ihn bei der Hand fassend, brachte sie ihn mit dem Rücken gegen das Gehölz und ließ ihn da niedersitzen.

Der Jüngling fiel bleischwer nieder in das Gras und neigte das Haupt vornüber …

Hinter der Stelle, wo der Soldat und seine Gefährtin sich befanden, waren die Bäume zu einer Laube gezogen und nach innen zusammengebunden. In dieser Laubhütte saß ein Herr mit einem Buch in der Hand. Er mußte sehr alt sein, denn sein Antlitz war von tiefen Falten durchzogen, und die wenigen Haare, die noch wie eine Krone seinen Kopf zierten, waren weiß wie Schnee. Ein bis unter das Kinn zugeknöpfter Rock und ein rotes Ehrenband auf der Brust gaben ihm das Aussehen eines pensionierten Offiziers.

Als er hinter sich ein Geräusch hörte, wendete er sich um und entdeckte durch das Laub des Gehölzes hindurch einen Soldaten und ein Bauernmädchen mit einem Ränzel auf dem Rücken. Dieser Anblick überraschte ihn zuerst sehr; doch er erklärte es sich so, daß es eine Schwester sei, die ihren Bruder nach Hause geleite und ihm aus Liebe die Last von den Schultern genommen habe. Wie dem auch sei, er bewunderte den einfachen Liebesdienst und lächelte mit sanftem Mitgefühl, während er das Auge auf die ruhenden Wanderer richtete.

Trien hatte sich inzwischen neben den Blinden niedergesetzt und sagte zu ihm:

»Jan, du bist so still und so traurig! Was fehlt dir? Du bist übermüdet, nicht wahr? Doch es wird wohl vorübergehen.«

Da sie keine Antwort bekam, fragte sie mit sanfterer Stimme:

»Ach, Freund, sei nur getrost, und denke, daß wir morgen zu Hause sein werden. Von Venlo bis hier sind es schon an die zwanzig Stunden … noch drei Stündchen weiter und wir sehen unser Dorf. Wenn wir morgen früh weggehen, können wir diesen kurzen Weg wie einen Spaziergang zurücklegen. Wir können doch noch zufrieden sein, denn es ist immerhin ein großes Glück, daß ich dich von den Soldaten mit nach Hause nehmen durfte. Und im übrigen – ich werde es schon fertig bringen, daß du nicht zuviel Kummer in deinem Leben haben wirst, liebster Jan … Warum sprichst du nicht ein einziges Wort?«

Der Jüngling holte mühsam Atem und antwortete seufzend:

»Mein Herz klopft so sehr; meine Augen stechen so schmerzhaft … Laß mich ruhen.«

Einige Augenblicke unterbrach das Mädchen die Stille nicht; doch mit der Zeit begann sie zu denken, daß es eher Betrübnis als Ermüdung sei, die ihren Freund niederdrückte. In ihrer Edelmütigkeit bezwang sie den eigenen Schmerz, um dem Blinden Trost ins Herz zu flößen, und sagte in hellem Ton:

»Aber, Jan, du bist doch sicher, daß du mich gesehen hast? Das gibt mir den Glauben, daß doch noch Leben in deinem linken Auge sein muß, obwohl du nun wieder ganz blind bist. Das kommt von der Hitze, die deine Augen entzündet hat. Hab nur Geduld, bis wir zu Hause sind; wir werden das neue Korn verkaufen und den Doktor van Wynekem kommen lassen. Der wird dich wohl heilen; der hat schon mehr Wunder getan an Menschen, die schon drei Tage für tot dalagen … Doch was ist das? Ich sehe Blut auf deinem Strumpf! O weh! Und du geduldiges Lamm, du sagst gar nichts davon!«

Sie zog ihm hastig den Schuh und den Strumpf aus und wischte ihm mit ihrem weißen Brusttuch das Blut vom Fuß. Dann wollte sie ihm sagen, daß es nur eine unbedeutende Wunde sei; doch kaum hatte sie die Augen aufgehoben, so begann sie zu zittern wie ein Rohr und fragte angstvoll:

»Ja, Freund, was hast du? Du wirst so bleich?«

Der Jüngling seufzte mit schwacher Stimme:

»Ach, ich weiß nicht, mein Herz bricht; mir ist, als ob ich sterben muß …«

Ein unheimliches Zittern durchlief seine Glieder, sein Haupt sank leblos auf seine Schultern, seine Arme fielen schlaff neben seinem Körper auf das Gras.

Jammernd legte Trien ihre Hände an seine entfärbten Wangen und wollte sein Haupt aufrichten, während sie verzweifelnd schrie:

»Jan! Jan! O Gott, er ist tot! Wasser! Wasser! Hilfe! Hilfe!«

Mit diesen Worten sprang sie empor, schaute wie eine Wahnsinnige um sich und lief von der einen Seite nach der anderen, um zu sehen, ob sie kein Wasser finden könne. Sie entdeckte hinter der Ecke des Gehölzes einen offenstehenden Zaun, der zu einem Hof führte, in welchem ein Herrenhaus stand. Dieser Anblick entlockte ihr einen Freudenschrei, und sie rannte mit aller Gewalt vorwärts, um auf diesem Landgut um Hilfe zu bitten.

Während sie sich nun auf den schlängelnden Pfaden des Blumengartens dem Eingang der Wohnung näherte, sah sie daraus zwei Menschen auf sich zukommen. Der eine war ein alter Herr mit silberweißem Haar und Ehrfurcht erweckendem Antlitz. Der andere, ebenfalls bejahrt, schien noch stark von Körper zu sein. Eine breite Narbe wie von einem Säbelhieb lief ihm von der Stirne über Mund und Kinn und gab seinem Gesicht etwas Bitteres. Er trug einen Krug, einige Fläschchen und etwas Watte. Gewiß war er ein Diener des alten Herrn; denn er folgte ihm schweigend und mit einem gewissen Abstand.

»O Herr!« rief Trien in Verzweiflung, »geben Sie mir doch etwas Wasser oder Essig! Da hinter dem Gehölz liegt ein armer blinder Bursche, er ist ohnmächtig geworden. Im Namen Gottes, Herr, seien Sie barmherzig; tun Sie ein gutes Werk und gehen Sie mit mir. Ach, ich bitte Sie!«

Der Greis lächelte mitleidig; und indem er die Hand des Mädchens faßte, antwortete er mit großer Ruhe:

»Sei getrost, meine Tochter; es ist nichts. Wir sind auf dem Weg, um ihm zu helfen. Du brauchst nicht ängstlich zu sein, Kind, es ist nur eine Ohnmacht. Dein Freund hat sich übermüdet. Sei nur ruhig und betrübe dich nicht.«

Trien verstand beinahe nicht, was er sagte; es schien ihr so wundersam, diese Hilfe bereitzufinden, ohne daß jemand in dem Herrenhaus den Vorfall gemeldet haben konnte, daß sie in ihrem einfältigen Gemüt wieder das barmherzige Eingreifen der Mutier Gottes zu merken glaubte. Sie starrte mit froher Verwunderung das sanfte und tröstende Antlitz des Greises an, der ihr beschützend zulächelte und im schnellen Weiterschreiten noch zu ihr sprach:

»Tochter, du bist ein braves Mägdlein, daß du einem armen Soldaten so viel Liebe erweist. Von woher kommst du denn mit ihm? Ists nicht von Venlo?«

»Ja, von Venlo, Herr; es ist sehr weit von hier.«

»Und hast du während der ganzen Zeit das Ränzel getragen, das du da auf dem Rücken hast?«

»Ach Herr,« seufzte das Mägdlein mit stillen Tränen, »der Ärmste ist blind, er kann nicht gut gehen, weil er den Weg nicht sieht. Wir hatten Eile, ich bin stark und gesund … Kommt, sehen Sie, da liegt er! So weiß wie der Tod.«

Eine Tränenflut brach aus ihren Augen, mit bittend gefalteten Händen rief sie in klagendem Tone:

»Er wird doch nicht sterben, Herr?«

Lächelnd den Kopf schüttelnd, näherte sich der Greis dem kranken Jüngling, der Diener setzte die Flaschen auf den Boden; und ohne einen Befehl abzuwarten, hob er mit der einen Hand das Haupt des Soldaten auf, während er mit der anderen dessen Kragen öffnete und den Rock von der Brust zurückschlug. Inzwischen war der Greis beschäftigt, das Antlitz und die Handgelenke des Jünglings zu waschen.

Trien lag neben ihnen auf den Knien und sah weinend zu, wie die zwei Unbekannten ihren unglücklichen Freund pflegten.

Sie merkte, daß diese Leute es gewöhnt waren mit Kranken umzugehen, und zweifelte nicht, daß der greise Herr ein Doktor sei.

Dieser Gedanke tröstete sie und flößte ihr neuen Mut ein; auf ihrem Antlitz erschien ein Lächeln der Dankbarkeit und ängstlichen Erwartung, das durch ihre Tränen hindurchglänzte. Noch mehr erstaunte sie, als sie folgende Worte hörte:

»Herr Major,« sagte der Diener, »es ist wie zu Sabyana de Alba in Spanien. Mein Gemüt wird bewegt, wenn ich daran denke!«

»Unser armer Freund, der Hauptmann Stens, nicht wahr?« antwortete der Herr mit einem Seufzer. »Die Ohnmacht ist tief! … Reich mir das kleine Fläschchen.«

»Ja, mich dünkt, daß ich es noch sehe: der Hauptmann hat auch so an einem Zitronenbaum gelegen; doch er mußte sein Gebein in Vittoria lassen. Was war das für ein Leben von Hauen, Stechen, Schießen! Wie viele haben wir an jenem Tage aufgesucht und verbunden! Ich war von Kopf bis zu Fuß voll Blut, und Sie auch, Herr Major.«

»Das Herz schlägt wieder … Er wird bald wieder zu sich kommen.«

Der Diener hob mit einem Finger die Augenlider des Jünglings auf und sagte:

»Er ist blind! Es ist das alte Soldatenübel. Wir kennen das. Doch sehen Sie einmal sein linkes Auge an, Herr Major; das ist noch nicht ganz weg, dünkt mich?«

Ein Freudenschrei kam aus der Brust des Mägdleins. Sie hatte das zurückkehrende Leben auf dem bleichen Antlitz ihres Freundes bemerkt, hatte mit klopfendem Herzen gesehen, wie ein wenig Farbe wieder in seine Wangen kam. Und eben hatte er eine Bewegung gemacht.

Bald wieder ganz zu sich gekommen, betastete der Jüngling die Kleider derjenigen, die ihn verpflegten, und seufzte angstvoll:

»Wo bin ich? Was ist mir geschehen?«

Und indem er die Hände weiter um sich streckte, rief er klagend:

»Trien, liebste Trien, wo bist du?«

Das Mädchen faßte jauchzend seine Hände und sprach:

»Ach, Jan, danke Gott, daß du hier krank geworden bist! Es ist ein Glück, gute Menschen sind bei dir. Sie sagen auch, daß dein linkes Auge noch nicht tot ist.«

»Wer Ihr auch seid, unser Herr möge Euch segnen für Eure Barmherzigkeit,« sagte der Jüngling.

»Kamerad,« fiel der Diener ihm ins Wort, »wir wollen einmal probieren, ob wir nicht aufstehen können. Hab nur guten Mut; es ist vorbei.«

Er faßte den Soldaten unter den linken Arm, während der alte Herr ihn auf der anderen Seite stützte; und so halfen die beiden dem Blinden auf die Beine.

Trien, in der Meinung, daß die Wohltätigkeit hier enden werde, lächelte sanft und sprach mit glänzenden Augen:

»Herren, ich bin eine arme Bauerntochter, unser Jan ist auch nicht reich; doch Ihr könnt gewiß sein, daß wir unser Leben lang in unseren Gebeten Eurer gedenken und Euch segnen werden für Eure Güte. Macht Euch nun keine Mühe mehr, laßt ihn hier auf dem Gras sitzen und etwas ausruhen. Wir müssen noch nach dem Dorf; da werden wir über Nacht bleiben. Gott schenke Euch Gesundheit und Glück auf Erden und später die ewige Seligkeit!«

»Nein, nicht so,« antwortete der Greis, »folgt mir. Ihr seid brave Leutchen; ich will nicht, daß ihr euch mit dieser Reise hinschleppt. Der junge Kamerad wird nicht abreisen, ehe er gestärkt ist. Wir werden sehen, ob ich nichts tun kann, um deine edelmütige Aufopferung zu belohnen, Kind!«

»Wir haben noch einige Flaschen alten spanischen Wein, der einen Toten erwecken würde,« fügte der Diener hinzu. »Das ist die einzige Medizin, die er nötig hat. Warte nur ein wenig, Tochter; in einer Stunde wirst du ihn nicht mehr erkennen.«

»Ach, Herren,« murmelte die Jungfrau, »tut, was Euer christliches Herz Euch heißt; wenn ich Euere Güte ansehe, kann ich fast nicht mehr sprechen vor Bewegung. Seid doch tausendmal bedankt, Ihr lieben Menschen!«

Auf beiden Seiten von dem Herrn und seinem Diener gestützt, ging Jan mit schwachen Schritten vorwärts. Das Mägdlein schlich sich an die Seite des Dieners und fragte leise:

»Sag, Freund, ist Euer Herr ein Doktor?«

»Doktor?« antwortete der Diener. »Er ist Chirurg-Major unter Napoleon gewesen. Wir haben mehr Beine und Arme amputiert, als auf diesem Weg liegen könnten. Und das ist nicht wenig.«

»Kann er auch die Augen kurieren, Freund?«

»Ja, ja, und besser als die gegenwärtigen Chirurgen, das will ich meinen! Es sind nur bitter wenig übrig geblieben von den tapferen Kameraden aus Spanien; sonst liefen noch viele herum, die ihm das Augenlicht verdanken.«

»Ach, Ihr guter Mensch, Ihr müßt ihn einmal ganz bescheiden bitten, daß er die Augen von unserem Jan ansehen soll. Gott weiß, ob er sie nicht heilen könnte!«

»Laß nur, Töchterchen, das wird er schon tun; sein Herz hängt noch an den Soldaten. Jan wird nicht so schnell von hier wegkommen.«

Sie waren bei der Wohnung angekommen und traten in ein Zimmer mit prächtigen Möbeln. Der Greis geleitete den Blinden zu einem breiten Lehnstuhl und ließ ihn mit dem Rücken gegen das Licht darin niedersitzen. Er reichte dem Diener einen Schlüssel, worauf dieser aus dem Zimmer ging und kurz darauf mit einer Flasche und einigen Gläsern zurückkam. Im Vorbeigehen flüsterte er dem Mägdlein ins Ohr:

»Dies ist von dem Wein, der die Toten erwecken könnte. Du wirst es sehen.«

Trien begriff nicht ganz, was er damit sagen wollte; sie blickte mit gespannter Aufmerksamkeit auf den alten Herrn, der ein Glas mit einer hellroten Flüssigkeit an die Lippen des Jünglings brachte und dabei sagte:

»Trink dies in langsamen Zügen aus, Freund; es wird dich wundersam erquicken.«

»Gott, was ist das?« rief der Blinde verwundert, nachdem der Trank einige Augenblicke gewirkt hatte. »Wie das von innen wärmt! Dank, Dank, ich habe Hunger …«

»Gleich, Kamerad, nicht zu schnell,« bemerkte der alte Herr. »Erst wird dein Fuß verbunden, und danach werden wir einmal die Augen nachsehen. Komm, meine Tochter, ich hätte dich beinahe vergessen, liebes Kind. Setz dich auf jenen Stuhl; und du, Karl, gib dem Mädchen ein Glas Wasser.«

Während der Diener mit der Jungfrau sprach und ihr den wundertätigen spanischen Wein anpries, hatte der Greis den Fuß des Jünglings mit Leinwand verbunden. Nun war er dabei, seine Augen mit einer gewissen Flüssigkeit zu waschen und mit einer weißen Salbe zu bestreichen. Nachdem er hiermit fertig war, ging er zu den Fenstern und ließ die Vorhänge nieder, um das Licht in dem Zimmer zu dämpfen. Zu dem Soldaten zurückkommend, sprach er dann:

»Freund, öffne nun einmal die Augen und gib dir Mühe, zu versuchen, ob du mich unterscheiden kannst.«

Jan öffnete die Augen und schwieg eine Weile, obwohl der Greis ihn fragte, was er bemerke. Er schien mit seinen erstorbenen Augen etwas Bestimmtes zu suchen.

Plötzlich brach ein lauter Schrei aus seiner Brust; er sprang auf und ging mit vorgestreckten Händen auf die Jungfrau zu, die, bebend vor fieberhafter Hoffnung, ihn näherkommen sah. Sie wollte in seine Arme fliegen, doch der Diener hielt sie zurück.

Der Blinde stellte sich vor sie und bot ihr mit unsicheren Bewegungen die Hand, während er mit zitternder Stimme hauchte:

»Trien, Trien, ich bin nicht blind. Nun wird es doch wohl wahr sein! Ich werde Mutter, Großvater und Pauwken wiedersehen können in meinem Leben! Ach, ich sehe, daß du ein rotes Halstuch anhast.«

Die Jungfrau umarmte ihn unter unverständlichen Worten, die eher Klagen als Ausrufen der Freude glichen.

Doch der Greis führte den Jüngling wieder von ihr weg und gebot ihr, sich wieder friedlich auf ihren Stuhl zu setzen. Er band dem Kranken sofort den Lichtschirm wieder vor die Augen und fragte:

»Du sagst, du habest gesehen, daß deine Freundin ein rotes Halstuch anhabe. Das scheint mir unmöglich. Betrügst du dich nicht selber?«

»Ich sehe noch nichts als einen grauen Schatten,« antwortete der Soldat, »jedoch als ich anfing blind zu werden, habe ich beobachtet, daß das Rot im Dunkeln viel schwärzer erscheint, als die anderen Farben. Darum weiß ich, daß es rot ist.«

»Ich dachte es mir schon,« bemerkte der Herr, »wir wollen nun mit Vorsicht zu Werke gehen.«

Und indem er sich zu dem Diener wendete, sagte er:

»Karl, geleite den Kameraden in die Küche, daß er ein wenig Fleisch und Brot zu sich nehme, eine halbe Ration, und nicht mehr! Bringe ihn danach auf das Hinterzimmerchen zu Bett, damit er sich ausruhe. Und sage der Magd, daß sie ebenfalls Essen bringe für dieses Kind.«

Sobald der Diener mit dem Soldaten aus der Türe kam, fiel Trien mit lautem Schluchzen vor dem Greise auf die Knie nieder und umschlang wortlos seine Füße, während sie sie mit ihren Tränen benetzte. Er wollte sie aufrichten, doch sie widerstand ihm; und ihre glänzenden blauen Augen zu ihm aufrichtend, rief sie:

»Herr, Herr, Gott wird Sie segnen, daß Sie armen Bauersleuten wie uns so viel Güte beweisen! Ich kann nicht sagen, was ich fühle; doch gerne möchte ich zehn Jahre früher sterben, wenn Sie dadurch länger leben könnten. Und daß Sie die Augen von unserem Jan heilen wollen als ein guter Engel Gottes, der Sie sind, dafür werden wir alle mitsammen täglich für Sie beten und eine Wallfahrt für Sie tun, Herr.«

Der Greis hob die Jungfrau vom Boden auf und brachte sie mit tröstenden Worten zu dem Tisch, wo sie essen sollte. Bald erschien die Magd und setzte einige ausgewählte Speisen vor die Jungfrau, wonach sie das Zimmer wieder verließ.

Trien konnte wenig von der angebotenen Nahrung zu sich nehmen. Sei es, daß die Ermüdung oder die Bewegung sie daran verhinderte – sie beendete ihre Mahlzeit in wenigen Augenblicken und sah mit stillem, dankbarem Blick ihren Wohltäter an, der sich ihr gegenübergesetzt hatte und ihr zuredete, zu essen.

Der alte Herr, bemerkend, daß sie nichts mehr zu sich nahm, erfaßte ihre Hand und sagte:

»Komm, nun erzähle mir einmal, woher du bist und wie es kommt, daß du so allein mit dem blinden Soldaten auf dem Wege bist. Und ob du Eltern hast, und wo sie wohnen.«

Die Magd begann mit angeborener und einfacher Beredsamkeit ihm zu erzählen von der Lehmhütte, von der Auslosung, von der alten Mutter, vom Großvater, von Pauwken und von dem Abschied. Doch wie sie ihm darlegte, wie sie herumgeirrt war, um den blinden Freund in Venlo zu finden, wie sie beinahe vor Freude von Sinnen gewesen war, als der Offizier ihr zugestand, den Unglücklichen mit nach Hause zu nehmen, wie sie geträumt hatte von Unserer lieben Frau, und was sie unterwegs zusammen gesprochen hatten –, da begann nach und nach eine tiefe Rührung sich des Herzens des Greises zu bemächtigen, und hier und da mußte er sich eine Träne des Mitgefühls aus den Augen wischen. Er konnte dem sanften Ton der Stimme des Mädchens nicht widerstehen und bewunderte ihre unbegreifliche Aufopferung und Liebe.

Sie hatte ihm nichts verheimlicht und ihm mit voller Aufrichtigkeit erzählt von den geträumten Plänen, von ihrer Heirat mit dem Blinden, von allem, was sie ihm gelobt hatte, um die Bitterkeit seines Lebens zu mildern.

Diese rührende Erzählung hatte lange gedauert, doch der Greis hatte sie nur durch einige Fragen unterbrochen.

Als das Mädchen mit feurigem Dank endete, saß ihr Zuhörer mit zu Boden geschlagenen Augen in tiefem Nachdenken versunken.

Nach einigen Augenblicken erhob er den Kopf und sprach:

»Meine Tochter, du hast wohlgetan. Du bist ein tugendsames und edelmütiges Kind; es war also dein Traum, daß ihr, Tag und Nacht arbeitend, vorwärtskommen würdet. Du, um den Kummer der Blindheit von deinem Freund abzuhalten; er, um dich zu belohnen für deine Liebe, um zusammen euch und euern Eltern ein friedliches Leben zu verschaffen.

»Es ist gut: Gott hat dein Gebet erhört. Er ist es, der euch an diesem Orte vorbeiführte und mir ein gutes Werk zu tun gewährt. Ich werde all meine alte Erfahrung ins Treffen führen, um das linke Auge deines Freundes zu heilen; und ich habe Gründe, zu hoffen, daß es mir glücken wird. Im übrigen, sei nicht bekümmert … Du kannst diese Nacht auch hier schlafen. Morgen werden wir sehen, was noch zu tun ist. Inzwischen kannst du ruhen oder im Garten wandeln. Und nun verlasse ich dich bis zum Abend.«

Trien sah wortlos den Greis zur Tür hinausgehen … Nach einer kurzen Weile verließ auch sie das Gemach und ging frohen Mutes im Garten herum, indem sie nachdachte über das, was der alte Herr ihr gesagt hatte.

Am anderen Tage vormittags fuhr eine Kutsche aus dem Tor des Landgutes. Auf dem Bock saß der Diener mit der Narbe auf der Stirn, der sich ein lustiges Liedchen pfiff und das Pferd mit Peitschenknall zur Fahrt antrieb. Auf der hinteren Bank saß der Jüngling mit Lichtschirm vor den erstorbenen Augen und neben ihm die erfreute Trien, die ihm heimlich die Hand drückte und ihm in fröhlichem Tone ins Ohr flüsterte:

»Ach, Jan, was sind wir doch glücklich, nicht wahr? Mein schöner Traum ist wahr geworden! Nun wird deine Mutter doppelt froh sein … und du wirst sicher genesen; der gute Herr hat es gesagt … was werden sie alle miteinander verwundert schauen, wenn wir da so wie Edelleute in einer schönen Kutsche angefahren kommen!«

Der Kutscher ließ dem mutigen Pferd die Zügel schießen und rief: »Hoppla, Marengo, vorwärts! Marsch!«

Der Staub des Weges flog wie eine Wolke in die Höhe; das Fuhrwerk verschwand bald zwischen den ersten Häusern des Dorfes.

 

An einem gewissen Tage, da ich einsam über die Heide wandelte und in meinem Innern die poetischen Eindrücke der stillen Natur sammelte, zog am westlichen Horizont ein Gewitter herauf.

Es ist etwas Wunderbares, oft etwas Unheimliches, im heißen Sommer auf einer Ebene zu sein, wenn sich am unbegrenzten Himmel die blitzschwangeren Dünste langsam zu Orkanwolken zusammenballen. Es ist, als ob eine tödliche Angst plötzlich die Natur befiele; die Sonne erbleicht und scheint mit mattem Glanze; die Luft wird erstickend und beengt des Menschen Brust; die Tiere flüchten dahin und verstecken sich mit Angst; die Bienen schießen wie Pfeile durch die Luft, um ihre Körper zu erleichtern; das Laub der Bäume schweigt, der Wind hält seinen Atem an; die kleinen Pflanzen schließen ihre Blumenkelche und Blätter; in der unheimlichsten Stille wartet alles … Ein unbeschreibliches Gefühl von Angst und Ehrfurcht beklemmt das Herz des Dichters; und inmitten der allgemeinen Furcht jauchzt er in seinem Herzen, weil es ihm gegeben wird, das schreckliche Naturwunder in seiner vollen Majestät anzuschauen.

Doch bald beginnen die Wolken wütend durcheinander zu treiben; was stundenlang unbeweglich aufgetürmt war, kommt nun in wüster Fahrt herangestürmt; der Orkan saust und brüllt, als werde er durch Gotteshand mit mächtigen Schlägen vorwärtsgepeitscht. Er entreißt den Tannenwäldern ein seltsames Schmerzensgeheul, er treibt Wolken von Sand und Blättern wie Wirbel in die Höhe, bricht und entwurzelt einsame Bäume. Dann erst kommt der Donner mit seiner mächtigen Stimme und beherrscht alle anderen Geräusche. – Der Blitz schießt seine flammenden Pfeile in den Raum, die Heide scheint zu brennen, feurige Schlangen durchwühlen ihren Schoß. Ströme Wassers stürzen auf die Erde, und auf das Gebrüll des Orkans folgt das eintönige Klatschen des feinen Regens …

An jenem Tage war meine Seele auf poetische Wahrnehmungen gestimmt. Ich hatte mit besonderer Wollust das großartige Schauspiel des fieberhaften Naturwerkes angeschaut, bis die ersten Blitzstrahlen mir zu Bewußtsein brachten, daß ich tun müsse, was alles Lebende schon getan hatte: einen Unterschlupf suchen und mich in Demut verbergen vor Gottes Wundern.

Nicht weit von der Stelle, wo ich mich befand, stand ein Gehöft, einsam auf der Heide, wie eine Oase in der Wüste, umringt von grünen Feldern und schattigen Bäumen.

Kaum hatte der Regen begonnen wie eine zweite Sündflut vom Himmel zu stürzen, als ich in die Tür des Bauernhofes trat und um Unterkunft bat.

Ich fand alle Bewohner in stillem Gebete um eine geweihte Kerze versammelt. Der Pächter allein ließ sich durch meine Ankunft stören und wies mir mit freundlichem Lächeln einen Stuhl, worauf er wieder das Haupt neigte und die Hände faltete.

Ich weiß nicht, wie es kam; doch obwohl das Gewitter als nützliche Naturerscheinung mir nicht den geheimnisvollen Schrecken einflößte, der diese Leute zittern machte, so war doch das stille Gebet dieser Familie so schön, so eindrucksvoll und so himmlisch, daß ein unwiderstehliches Gefühl mich zwang, mit teilzunehmen an der Gemeinschaft dieser Menschen mit dem Gott, dessen Stimme dort oben so ehrfurchterweckend durch den Himmelsraum schallte. Mit entblößtem Haupte faltete ich ebenfalls die Hände und betete. Es tat meiner Seele so wohl, die kindliche Aufwallung des Herzens wieder zu empfinden, als ob der Atem der entzaubernden Welt mich niemals getroffen hätte.

Nachdem etwa zwanzigmal der Blitz das Zimmer in Feuer getaucht hatte, nachdem die Bewohner des Hofes ebensooft das Zeichen des Kreuzes geschlagen hatten, trieb das Unwetter weiter und wurde merklich schwächer.

Die Bauersleute hörten jedoch noch nicht auf zu beten und ließen mir Zeit, um unbemerkt jeden mit der Aufmerksamkeit zu betrachten, die jedem beobachtenden Menschen und vor allem jedem Schriftsteller eigen ist.

Da war ein alter Großvater, der wohl neunzig Jahre oder mehr zählen mochte, denn Kopf und Hände zitterten beständig, als habe er Fieber. Neben ihm saßen zwei ebenfalls bejahrte Frauen; etwas weiter ein kräftiger Mann, dessen eines Auge leblos wie eine weiße Kugel unter der schwarzen Augenbraue saß, während sein anderes Auge von Mut und Lebenslust funkelte. An seiner Seite saß eine blühende Frau mit einem Kind auf dem Schoß, und neben ihr noch ein Bübchen und ein Mädchen von sieben oder acht Jahren. Ganz am Ende des Tisches befand sich ein schöner Jüngling mit gesundfarbigem Gesicht und sanften Augen.

Auf ein Zeichen des einäugigen Mannes schlugen alle ein Kreuz und erhoben sich. Der Großvater ging mit wankenden Schritten zum Kamineckchen. Die andern Hausgenossen sprachen mir zu, ihre Wohnung noch länger als Unterkunft zu gebrauchen, da es immer noch stark regnete.

Nach kurzer Zeit schon war ich mit diesen guten Menschen vertraut und plauderte mit ihnen wie ein alter Freund. Am Mittag genoß ich mit ihnen das nahrhafte Roggenbrot und trank den gastfreundlich gebotenen Kaffee. Und da ich damals nichts Besseres zu tun hatte, als den freundlichen Dingen zu lauschen, die der einäugige Mann und seine Frau mir erzählten, so kam es, daß ich erst am andern Tag in der Frühe den Hof verließ.

Was ich dir, lieber Leser, in dieser Geschichte erzählt habe, hatte ich an jenem Abend auf dem einsamen Bauernhofe vernommen, der früher nur aus zwei Lehmhütten bestanden hatte, doch nun ein schönes Gut mit vier Kühen und zwei Pferden geworden ist.

Jan Braems und Trien, seine gute Ehefrau, arbeiten, wie sie es gelobt haben. Und Gott hat ihre Liebe gesegnet: drei Kinder springen um sie herum.

Alle leben noch: der Großvater, obwohl mit einem Fuße schon im Grabe, raucht noch sein Pfeifchen am Kamin; die beiden Mütter freuen sich am Glück ihrer Kinder und arbeiten noch mit, um das Vieh und die Hausarbeit zu besorgen. Paul, der schöne Jüngling, sorgt für die Pferde und hilft bei der Ernte; doch im nächsten Jahre zu Ostern wird er sich verheiraten mit der jüngsten Schwester des Holzschuhmachers Kaat …

Jeden Abend beten sie alle miteinander für den alten Doktor; denn er ist es, der Jan Braem das Augenlicht wieder zurückgab; er ist es, der durch seine Edelmütigkeit die Lehmhütten zu einem wohlhabenden Bauerngütchen umzuschaffen geholfen hat. So gebe denn Gott den Wohltätern und den Dankbaren ein langes und glückliches Leben auf Erden.


Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig

 


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