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Zweiter Teil

1

Im Verlauf einer erfundenen Erzählung müssen zweifellos gewisse Eigentümlichkeiten beachtet werden, um die Klarheit und Wirkung zu verstärken. Ein Mann von Einbildungskraft, und sei er noch so unerfahren in der Erzählungskunst, wird sich von seinem Instinkt bei der Wahl der Worte und bei der Entwicklung der Handlung leiten lassen können. Ein Funke Talent entschuldigt viele Fehler. Doch dies ist kein Werk der Einbildungskraft; ich habe kein Talent. Meine Entschuldigung für dieses Unternehmen liegt nicht in seiner Kunst, sondern in seiner Kunstlosigkeit. Ich bin mir meiner Grenzen wohl bewußt, halte an meiner innerlichen Absicht fest und würde nie versuchen (selbst wenn ich dazu imstande wäre), irgend etwas zu erfinden. Meine Bedenken gehen so weit, daß ich nicht einmal einen Übergang erfinden wollte.

So lasse ich also Rasumoffs Erinnerungen an dem Punkt abbrechen, wo Rat Mikulins Frage »Wohin?« sich mit der Gewalt eines unlösbaren Problems aufdrängt, und stelle ganz einfach fest, daß ich die Bekanntschaft der beiden Damen ungefähr sechs Monate vorher gemacht hatte. Mit den »beiden Damen« meine ich natürlich die Mutter und die Schwester des unglücklichen Haldin.

Durch was für Vorstellungen er seine Mutter dazu gebracht hatte, ihr kleines Gut zu verkaufen und für unbestimmte Zeit außer Landes zu gehen, kann ich nicht genau angeben. Ich glaube nur, daß Frau Haldin auf den Wunsch ihres Sohnes ihr Haus auch angezündet hätte und nach dem Monde ausgewandert wäre, ohne irgendein Zeichen von Überraschung oder Bestürzung, und daß Fräulein Haldin – Natalie, mit dem Kosenamen Natalka – ihre Einwilligung dazu gegeben hätte.

Ihre zärtliche stolze Ergebenheit für den jungen Mann wurde mir nach sehr kurzer Zeit klar. Seinem Wunsche entsprechend, fuhren sie ohne Aufenthalt nach der Schweiz – nach Zürich – und blieben da ziemlich ein Jahr. Von Zürich aus, das ihnen nicht gefiel, kamen sie nach Genf. Einer meiner Freunde in Lausanne, der an der Universität Geschichte las (er hatte eine Russin geheiratet, eine entfernte Verwandte von Frau Haldin), forderte mich brieflich auf, den Damen einen Besuch zu machen. Es war ein sehr gut gemeinter, geschäftlicher Rat. Fräulein Haldin wünschte mit einem tüchtigen Lehrer die besten englischen Autoren durchzunehmen.

Frau Haldin empfing mich überaus freundlich. Ihr schlechtes Französisch, über das sie selbst lächelte, ließ gleich bei der ersten Unterredung keine Förmlichkeit aufkommen. Sie war eine schlanke Frau in schwarzem Seidenkleid; hochgeschwungene Brauen, regelmäßige Züge und fein geschnittene Lippen zeugten von ihrer früheren Schönheit. Sie saß gerade aufgerichtet in einem Armstuhl und erzählte mir mit ziemlich leiser, freundlicher Stimme, daß der Wissensdurst ihrer Natalka einfach unersättlich sei. Ihre mageren Hände hielt sie im Schoß, und die Unbeweglichkeit ihres Gesichtes gab ihr etwas fast Mönchisches. In Rußland, fuhr sie fort, sei alles Wissen mit Lüge durchsetzt. »Nicht Chemie und die ähnlichen Fächer, sondern die Erziehung im allgemeinen«, erklärte sie. Die Regierung fälsche den Lehrplan zugunsten ihrer eigenen Zwecke. Ihre beiden Kinder hätten das erfahren müssen. Ihre Natalka habe eine höhere Töchterschule absolviert, und ihr Sohn sei Student an der Petersburger Universität. Er sei äußerst intelligent, dabei vornehm und selbstlos von Charakter, und seine Kameraden hingen blind an ihm. Zu Beginn des nächsten Jahres würde er sie, so hoffte sie, hier abholen, und sie würden zusammen nach Italien gehen. In jedem anderen als in ihrem eigenen Lande wäre einem Mann von den glänzenden Fähigkeiten und dem reinen Charakter ihres Sohnes eine große Zukunft gewiß, in Rußland aber …

Die junge Dame, die beim Fenster saß, wendete den Kopf und sagte: »Ach Mutter, sogar bei uns ändern sich die Dinge mit den Jahren.«

Ihre Stimme war tief, fast rauh und doch einschmeichelnd trotz ihrer Rauheit. Sie hatte eine dunkle Hautfarbe, rote Lippen und eine volle Figur und erweckte den Eindruck starker Lebenskraft. Die alte Dame seufzte.

»Ihr seid jung, ihr beide. Für euch ist es leicht, zu hoffen. Ich bin ja allerdings auch nicht hoffnungslos, wie könnte ich auch – mit einem solchen Sohne.«

Ich wandte mich an Fräulein Haldin und fragte sie, welche Autoren sie zu lesen wünschte. Sie richtete ihre grauen, von schwarzen Wimpern überschatteten Augen auf mich, und ich merkte trotz meiner Jahre, welche starke physische Anziehungskraft ihre Persönlichkeit auf einen Mann ausüben konnte, der imstande war, an einer Frau etwas mehr als die rein weibliche Grazie zu schätzen. Ihr Blick war gerade und offen, wie der eines jungen Mannes, dem die Schule des Lebens noch nichts anhaben konnte. Es sprach auch eine Furchtlosigkeit daraus, die aber nicht aggressiv wirkte; naive und doch gedankenvolle Sicherheit wäre ein besserer Ausdruck. Sie hatte schon nachgedacht (in Rußland beginnen die Jungen früh zu denken), doch hatte sie bisher die Enttäuschung nicht kennengelernt, da sie augenscheinlich noch keiner Leidenschaft erlegen war. Sie war, das lehrte ein Blick auf sie zur Genüge, wohl imstande, sich an einer Idee oder auch nur an einer Person zu begeistern. Wenigstens urteilte ich so, mit, wie ich glaube, ungetrübter Objektivität. Denn es lag auf der Hand, daß ich nicht die Person sein konnte – und meine Ideen erst! …

Wir wurden gute Freunde im Verlaufe dieser Lesestunden. Es war sehr unterhaltend. Ohne Angst, ein Lächeln hervorzurufen, will ich gern gestehen, daß ich mich zu dem jungen Mädchen sehr hingezogen fühlte. Nach vier Monaten sagte ich ihr, daß sie nun recht gut für sich allein Englisch lesen könne. Für den Lehrer sei es Zeit, sich zurückzuziehen. Meine Schülerin schien unangenehm überrascht.

Frau Haldin, mit dem unbeweglichen Gesicht und dem gütigen Ausdruck in den Augen, sagte aus ihrem Lehnstuhl heraus in ihrem unsicheren Französisch: »Mais l'ami reviendra!« Und so wurde es abgemacht. Ich kam wieder – nicht viermal in der Woche wie früher, aber doch noch ziemlich häufig. Im Herbst machten wir zusammen und in Gesellschaft einiger anderer Russen ein paar kurze Ausflüge. Meine Freundschaft mit den beiden Damen gab mir in der russischen Kolonie eine Stellung, die ich sonst nicht erreicht hätte.

An dem Tage, an dem ich in den Zeitungen die Nachricht von der Ermordung des Herrn von P. gelesen hatte – es war ein Sonntag –, traf ich die beiden Damen auf der Straße und ging ein kurzes Stück mit ihnen. Frau Haldin trug einen schweren grauen Mantel über ihrem schwarzen Seidenkleid, daran erinnere ich mich noch, und ihre schönen Augen begegneten den meinen mit ganz ruhigem Ausdruck.

»Wir waren im zweiten Hochamt«, sagte sie. »Natalka kam mit mir; ihre Freundinnen, die Studentinnen hier, tun das natürlich nicht … Bei uns in Rußland identifiziert man die Kirche so mit der Unterdrückung, daß es für einen, der in diesem Leben frei sein will, fast notwendig erscheint, auch jede Hoffnung auf ein ewiges Leben aufzugeben. Ich kann es aber nicht lassen, für meinen Sohn zu beten.«

Sie fügte mit einer steinernen Ruhe und leicht errötend auf Französisch hinzu: »Ce n'est peut-être qu'une habitude« (es ist vielleicht nur eine Gewohnheit).

Fräulein Haldin trug das Gebetbuch. Sie sah ihre Mutter nicht an.

»Du und Viktor, ihr seid beide tief gläubig.«

Ich teilte ihnen die Neuigkeiten aus ihrem Lande mit, die ich eben in einem Café gelesen hatte. Eine volle Minute lang schritten wir nebeneinander, in recht plötzlichem Schweigen, dann murmelte Frau Haldin:

»Nun wird es noch mehr Aufregungen, noch mehr Verfolgungen deswegen geben. Vielleicht schließt man sogar die Universität. In Rußland gibt es für niemand Frieden und Ruhe, außer im Grabe.«

»Ja. Das ist hart«, ließ sich die Tochter hören und sah starr auf die schneebedeckten Juraketten, die wie eine weiße Mauer das Ende der Straße abschlossen. »Doch der Tag der Einigkeit ist nicht mehr so weit entfernt.«

»So denken meine Kinder«, bemerkte Frau Haldin mir zugewandt.

Ich konnte mich nicht enthalten zu sagen, daß es meiner Ansicht nach ein merkwürdiger Zeitpunkt sei, von Einigkeit zu sprechen. Natalie Haldin überraschte mich durch die Erwiderung, daß die Abendländer die Lage nicht verstünden. Sie schien über die Frage viel nachgedacht zu haben und war ganz ruhig und voll jugendlicher Überlegenheit. »Sie glauben, es ist ein Klassenstreit oder ein Interessenkampf, wie es eben die sozialen Kämpfe bei Ihnen in Europa sind. Es ist aber nichts der Art, sondern etwas ganz anderes.«

»Es ist sehr wohl möglich, daß ich es nicht verstehe«, gab ich zu. Diese Neigung, jedes Problem durch irgendeinen mystischen Ausdruck aus dem Gebiete des Verständlichen hinauszuheben, ist ganz russisch. Ich kannte sie gut genug, um zu wissen, wie sehr sie alle praktischen Formen politischer Freiheit verachtete, die in der westlichen Welt bekannt waren. Ich glaube, man muß Russe sein, um die russische Einfachheit zu verstehen. Eine furchtbar ätzende Einfachheit, wenn ich so sagen darf, bei der mystische Phrasen einen naiven und hoffnungslosen Zynismus verkleiden. Ich glaube mitunter, daß das psychologische Geheimnis der Grundverschiedenheit dieses Volkes darin liegt, daß sie das Leben verachten, das unverbesserliche Leben dieser Welt, wie es ist, während wir vom Westen es vielleicht in gleichem Maße lieben und dabei seine sentimentalen Werte in gleicher Weise überschätzen. Doch ich verliere den Faden …

Ich half den Damen in die Straßenbahn, und sie forderten mich auf, sie nachmittags zu besuchen. Wenigstens Frau Haldin sprach die Einladung aus, während sie einstieg, und ihre Natalka lächelte von der rückwärtigen Plattform des abfahrenden Wagens nachsichtig auf den begriffsstutzigen Westeuropäer herunter. Das Licht des klaren Wintermorgens strahlte gedämpft aus ihren grauen Augen.

Rasumoffs Tagebuch erweckt in mir, wie das offene Buch des Schicksals, die Erinnerung an jenen Tag wieder, und wieder fühle ich die furchtbare Grausamkeit, die in dem Ausbleiben jedes Vorzeichens lag. Viktor Haldin war noch unter den Lebenden, doch unter den Lebenden, deren einzige Berührung mit dem Leben die Erwartung des Todes bildet. Er durchlebte damals wohl schon die letzte seiner irdischen Heimsuchungen, die Stunden jenes hartnäckigen Schweigens, das ihn in die Ewigkeit hinüberführte …

An jenem Nachmittag hatten die Damen eine große Anzahl ihrer Landsleute zu Gast – weit mehr, als sie sonst auf einmal zu empfangen pflegten –, und das Wohnzimmer im Erdgeschoß des großen Hauses im Boulevard des Philosophes war ziemlich überfüllt.

Ich blieb bis ganz zuletzt, und als ich mich erhob, stand auch Fräulein Haldin auf. Ich nahm ihre Hand und fühlte den Wunsch, das Gespräch, das wir am Morgen in der Straße gehabt hatten, wieder aufzunehmen.

»Zugegeben, daß wir westlichen Menschen den Charakter Ihres Volkes nicht verstehen …«, begann ich.

Es war, als sei sie durch irgendeine geheimnisvolle Vorahnung auf meine Frage vorbereitet gewesen. Sie unterbrach mich freundlich.

»Seine Impulse – seine …«, sie suchte nach dem richtigen Ausdruck und fand ihn, aber im Französischen … »seine mouvements d'âme.« Ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern.

»Ganz recht«, sagte ich, »aber dennoch sind wir Zeugen eines Konfliktes. Sie sagen, dieser Konflikt spielt nicht zwischen den Klassen oder Interessen. Nehmen wir an, ich gäbe das zu. Sind denn aber widerstreitende Ideen leichter zu versöhnen – kann man sie mit Blut und Gewalt zu der Einigkeit verschweißen, die, wie Sie behaupten, so nahe ist?«

Sie sah mich mit ihren klaren grauen Augen forschend an und antwortete nicht auf meine vernünftige Frage, die so klar gestellt und doch nicht zu beantworten war.

»Es ist unfaßbar«, fügte ich hinzu, mit einem Anflug von Ärger.

»Alles ist unfaßbar«, sagte sie. »Die ganze Welt ist dem streng logischen Denken unfaßbar, und doch besteht sie für unseren Sinn, und wir bestehen mit ihr. Es muß eine Notwendigkeit geben, die über unserem Begriffsvermögen steht. Es ist eine ganz elende und ganz verkehrte Sache, einfach zur Masse zu gehören. Wir Russen werden einmal eine würdigere Form nationaler Freiheit finden als den künstlichen Konflikt von Parteien, – der falsch ist, weil er ein Konflikt, und verächtlich, weil er künstlich ist. Uns Russen ist es vorbehalten, einen besseren Weg zu finden.«

Frau Haldin hatte zum Fenster hinausgesehen. Nun wandte sie mir die fast leblose Schönheit ihres Gesichts und den belebten, gütigen Blick ihrer großen dunklen Augen zu.

»So denken meine Kinder«, erklärte sie.

»Ich vermute«, sagte ich zu Fräulein Haldin, »daß Sie empört sein werden, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht verstanden habe – nicht etwa ein einzelnes Wort. Ich habe alle Worte verstanden … aber was Sie unter dieser erhofften Ära körperloser Einigkeit verstehen … Das Leben ist eine Frage der Form. Es hat seine plastische Gestalt und seine scharf umrissenen begrifflichen Grenzen. Die idealsten Begriffe von Liebe und Verzeihung müssen erst Fleisch und Blut gewinnen, bevor sie verständlich werden.«

Ich verabschiedete mich von Frau Haldin, deren schöne Lippen reglos blieben. Sie lächelte nur mit den Augen. Natalie Haldin kam mit mir bis zur Tür und war sehr liebenswürdig.

»Mutter glaubt, daß ich das sklavische Echo meines Bruders Viktor bin. Das ist nicht so. Er versteht mich besser, als ich ihn verstehen kann. Wenn er hier zu uns kommt und Sie ihn kennenlernen, dann werden Sie sehen, was für ein Ausnahmemensch er ist.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Er ist kein starker Mann im landläufigen Sinn, sein Charakter aber ist fleckenlos.«

»Ich hoffe, daß es mir nicht schwer fallen soll, mit Ihrem Bruder Viktor Freund zu werden.«

»Erwarten Sie nicht, ihn ganz zu verstehen«, sagte sie ein wenig boshaft. »Er ist im Grunde ganz und gar nicht … ganz und gar nicht … westlich

Und nach dieser unnötigen Warnung verließ ich den Raum, mit einer zweiten Verbeugung, von der Türe aus, gegen Frau Haldin, die in ihrem Lehnstuhl beim Fenster saß. Die Autokratie hatte schon, ohne daß ich es bemerkt hatte, auf den Boulevard des Philosophes ihre Schatten geworfen, in der freien, unabhängigen und demokratischen Stadt Genf, deren einer Bezirk »La Petite Russie« heißt. Wo immer zwei Russen zusammenkommen, da ist der Schatten der Autokratie mit ihnen, färbt ihre Gedanken, ihre Ansichten, ihre eigensten Gefühle, ihr inneres Leben, ihr offizielles Auftreten – spukt bis in das Geheimnis ihres Schweigens hinein.

Was mir im Laufe der nächsten Woche auffiel, war das Schweigen der Damen. Ich pflegte sie beim Spazierengehen in den öffentlichen Gärten neben der Universität zu treffen. Sie begrüßten mich mit gewohnter Freundlichkeit, ich konnte aber nicht umhin, ihre Schweigsamkeit zu bemerken. Um diese Zeit war es ganz allgemein bekannt, daß der Mörder des Herrn von P. gefaßt, abgeurteilt und hingerichtet worden war. Soviel war von Amts wegen den Telegraphenagenturen mitgeteilt worden. Für die große Welt aber blieb sein Name ein Geheimnis. Die amtliche Verschwiegenheit enthielt ihn dem Publikum vor. Den Grund dafür kann ich mir allerdings nicht vorstellen.

Eines Tages traf ich Fräulein Haldin, die allein auf den Bastionen unter den entlaubten Bäumen spazierenging. »Mutter ist nicht ganz wohl«, erklärte sie mir.

Da Frau Haldin bisher, soviel ich wußte, nicht einen Tag lang krank gewesen war, so war dieses Unwohlsein beunruhigend. Es handelte sich aber um nichts Bestimmtes.

»Ich glaube, sie sorgt sich, weil wir schon sehr lange von meinem Bruder ohne Nachricht sind.«

»Keine Nachricht – gute Nachricht«, sagte ich aufmunternd, und wir begannen langsam nebeneinander herzugehen.

»Das gilt nicht für Rußland«, meinte sie so leise, daß ich kaum noch die Worte verstehen konnte. Ich sah sie aufmerksam an.

»Sind Sie auch in Angst?«

Sie gab es nach einem kurzen Zögern zu.

»Es ist wirklich schon sehr lange her, seit wir hörten …«

Und bevor ich die in solchen Fällen angebrachten Trostworte finden konnte, vertraute sie sich mir an.

»Oh, es ist ja weit Schlimmeres als nur das. Ich habe nach Petersburg an eine bekannte Familie geschrieben. Sie hatten ihn mehr als einen Monat nicht gesehen und glaubten, er sei schon bei uns. Sie schienen sogar ein wenig beleidigt, daß er Petersburg verlassen haben sollte, ohne ihnen einen Abschiedsbesuch zu machen. Der Gemahl der Dame ging sofort in seine Wohnung. Viktor war ausgezogen, und die Leute wußten seine Adresse nicht.«

Ich erinnere mich noch, daß sie dabei recht bedrückt schien. Ihr Bruder war auch sehr lange nicht mehr in den Vorlesungen gesehen worden. Er kam nur dann und wann an das Tor der Universität und fragte den Portier nach Briefen, und der befreundete Herr erhielt die Auskunft, daß der Student Haldin die beiden letzten Briefe nicht mehr geholt habe. Dagegen sei die Polizei erschienen, um nachzuforschen, ob der Student Haldin jemals an die Universität Post bekommen habe, und habe sie beschlagnahmt.

»Meine beiden letzten Briefe«, sagte sie.

Wir sahen einander an. Ein paar vereinzelte Schneeflocken tanzten in dem nackten Geäst. Der Himmel war dunkel.

»Was, glauben Sie, kann geschehen sein?« fragte ich.

Sie bewegte nur leise die Schultern.

»Das kann man gar nicht sagen – in Rußland.«

Da sah ich wieder den Schatten der Autokratie über dem russischen Leben liegen, ganz gleich, ob es in Ergebenheit oder Aufruhr verfloß. Ich sah, wie er das junge offene Gesicht des Mädchens verdunkelte, das aus dem großen Pelzkragen hervorsah, sah, wie er den Blick ihrer klaren Augen trübte. »Gehen wir weiter«, sagte sie. »Es ist heute zu kalt zum Stehen.«

Sie fröstelte leise und stampfte mit den kleinen Füßen. Wir gingen schnell bis zum Ende der Allee und zurück bis zum großen Tor des Gartens.

»Haben Sie es Ihrer Mutter gesagt?« fragte ich.

»Nein, noch nicht. Ich lief hier heraus, um den Eindruck dieses Briefes loszuwerden.«

Ich hörte ein Papier rascheln. Es kam aus ihrem Muff; sie hatte den Brief bei sich.

»Wovor fürchten Sie sich eigentlich?«

Uns Westeuropäern scheint jeder Gedanke an politische Verschwörungen kindisch, eine plumpe Erfindung für das Theater oder für eine Schauergeschichte. Ich wollte meine Fragen nicht genauer stellen.

»Für mich und besonders für meine Mutter gibt es nur eine Angst, die vor der Ungewißheit. Leute können verschwinden. Jawohl, sie verschwinden einfach. Ich überlasse es Ihnen, sich auszudenken, was das heißt. Die grausame Spannung der Wochen – Monate – Jahre. Der Freund, von dem ich Ihnen sagte, hat seine Nachforschungen eingestellt, sobald er hörte, daß die Polizei die Briefe beschlagnahmt habe. Ich vermute, er fürchtet, sich selbst zu kompromittieren. Er hat eine Frau und Kinder – und warum sollte er schließlich … überdies hat er keine einflußreichen Verbindungen und ist nicht reich. Was konnte er tun … Ja, ich fürchte das Schweigen – für meine arme Mutter. Sie wird es nicht ertragen können. Für meinen Bruder fürchte ich …« – sie vollendete fast unhörbar – »… alles …«

Wir waren nun nahe an dem Tor, das dem Theater gegenüberliegt. Sie hob die Stimme.

»Aber sogar in Rußland tauchen verlorene Leute wieder auf. Wissen Sie, was meine letzte Hoffnung ist? Vielleicht kommt er dieser Tage einmal zu uns hereingeschneit.«

Ich zog den Hut, sie neigte leicht den Kopf und verließ den Garten, die Hände im Muff, wohl um den grausamen Petersburger Brief geschlossen. Aus ihrer Erscheinung sprach eine merkwürdige Mischung von Zartheit und Kraft.

Zu Hause angekommen, schlug ich die Zeitung auf, die mir aus London nachgeschickt wurde, überblickte die Nachrichten aus Rußland – nicht die Telegramme, sondern die Nachrichten –, und das erste, was mir dabei in die Augen fiel, war der Name Haldin. Herrn von P.s Tod war nicht mehr aktuell. Der unternehmungslustige Korrespondent war aber stolz darauf, über dieses Ereignis der Zeitgeschichte eine weitere Information aufgespürt zu haben. Er hatte Haldins Namen aufgeschnappt und desgleichen auch die Geschichte der Verhaftung um Mitternacht in der Straße. Die Sensation, vom journalistischen Gesichtspunkte aus, war aber schon reichlich abgeflaut. Er widmete der Sache nicht mehr als zwanzig Zeilen von einer ganzen Spalte. Doch genügte auch das, mir eine schlaflose Nacht zu verschaffen. Ich machte mir klar, daß es eine Art Verrat wäre, Fräulein Haldin unvorbereitet diese journalistische Entdeckung unter die Augen kommen zu lassen, denn zweifellos würde die Nachricht am nächsten Morgen in französischen und Schweizer Blättern nachgedruckt werden. Ich quälte mich damit bis zum Morgen, konnte vor nervöser Erregung nicht schlafen und hatte gleichzeitig das niederdrückende Gefühl, in irgendein theatralisches und krankhaftes Schicksal mit verwickelt zu sein. Die Erkenntnis, welche krasse Dissonanz dieser Vorfall in das Leben der beiden Frauen tragen mußte, peinigte mich die ganze Nacht und setzte sich in quälende Angstzustände um. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß ihnen vielleicht, um ihres überfeinerten Seelenlebens willen, das ganze Ereignis besser auf immer verborgen bliebe. Als ich am nächsten Morgen zu ganz unglaublich früher Stunde mich bei ihnen melden ließ, war mir, als stände ich im Begriff, einen Akt des Vandalismus zu begehen …

Das ältliche Dienstmädchen führte mich ins Wohnzimmer; auf einem Stuhl lag ein Wischlappen, und gegen den Mitteltisch lehnte ein Besen. Die Sonnenstäubchen wirbelten in der Luft. Ich bedauerte es, daß ich nicht lieber einen Brief geschrieben hatte, anstatt selbst zu kommen, und genoß doch dankbar den schönen Tag. Fräulein Haldin kam, in einem einfachen schwarzen Kleid, mit leichten Schritten aus dem Zimmer ihrer Mutter, ein Lächeln ungewisser Erwartung auf den Lippen.

Ich zog die Zeitung aus der Tasche. Ich hätte nie gedacht, daß eine Nummer des »Standard« eine Wirkung hervorrufen könnte wie das Haupt der Medusa. In einem Augenblick wurde ihr ganzes Gesicht steinern – ihre Augen – ihre Glieder. Das gräßlichste dabei war, daß sie bei aller Erstarrung doch lebendig blieb. Man merkte deutlich, wie ihr Herz pochte. Ich hoffe, daß sie mir die Verzögerung verziehen hat, die durch meine plumpen vorbereitenden Worte bedingt wurde. Der Aufschub währte nicht lange; sie hätte ja auch nicht für länger als höchstens eine oder zwei Sekunden in solcher Reglosigkeit verharren können; dann hörte ich, wie sie Atem holte. Als ob der Chok ihre moralische Widerstandskraft gelähmt und die Festigkeit ihrer Muskeln gebrochen hätte, so schienen die Züge ihres Gesichtes zu verschwimmen. Sie war furchtbar verändert. Sie sah gealtert aus – zerstört. Doch nur einen Augenblick lang, dann sagte sie fest:

»Ich will es meiner Mutter sofort sagen.«

»Ist das rätlich, bei ihrem Zustand?« warf ich ein.

»Was kann schlimmer sein als der Zustand, in dem sie den letzten Monat über war. Wir haben darüber eine ganz andere Auffassung. Für uns ist nicht er der Verbrecher; glauben Sie aber nicht, daß ich ihn vor Ihnen verteidigen will.«

Sie ging auf die Tür des Schlafzimmers zu, kam aber nochmals zurück und flüsterte mir zu, ich sollte nicht früher weggehen, als bis sie wiedergekommen sei. Zwanzig endlose Minuten lang hörte ich keinen Laut. Schließlich trat Fräulein Haldin heraus und ging mit ihren raschen leichten Schritten durch das Zimmer. Bei dem Armstuhl angekommen, ließ sie sich schwer hineinfallen, als sei sie völlig erschöpft.

Frau Haldin, erzählte sie mir, habe keine Träne vergossen. Sie sei aufrecht im Bett gesessen, und ihre Reglosigkeit, ihr Schweigen seien äußerst beunruhigend gewesen. Schließlich habe sie sich langsam zurücksinken lassen und ihrer Tochter zugewinkt, sie möchte gehen.

»Sie wird mich jeden Augenblick rufen«, fügte Fräulein Haldin hinzu, »ich habe ihr eine Glocke ans Bett gestellt.«

Ich gestehe, daß sich für meine aufrichtige, starke Sympathie doch kein richtiger Anhaltspunkt bot. Die Leser aus dem Westen, für die diese Geschichte geschrieben ist, werden verstehen, was ich meine. Mir fehlte, wenn ich so sagen darf, die Erfahrung. Der Tod ist ein unbarmherziger Räuber, und der Schmerz über einen unersetzlichen Verlust ist uns allen vertraut. Kein Leben ist so einsam, daß es gegen diese Erfahrung gefeit wäre. Der Schmerz aber, den ich den beiden Damen zugefügt, hatte grausame Begleiterscheinungen – Bomben und Galgen – eine grauenerregende russische Staffage, die keine rechte Basis für meine Sympathie bot.

Ich war Fräulein Haldin dankbar dafür, daß sie mich nicht durch irgendeinen heftigen Gefühlsausbruch in Verlegenheit setzte. Ich bewunderte sie um dieser unerhörten Selbstbeherrschung willen, wenn ich darüber auch ein wenig erschrocken war. Es war die Ruhe einer furchtbaren Spannung. Wie, wenn plötzlich die Auslösung kam? Selbst die Türe von Frau Haldins Zimmer, hinter der die alte Mutter allein sich befand, erweckte furchtbare Vorstellungen.

Natalie Haldin murmelte traurig:

»Ich glaube, Sie fragen sich, was wohl meine Gefühle sein mögen?«

Das war im Grunde richtig. Ebendiese erstaunte Frage war es, die mich begriffsstutzigen Abendländer in meiner Sympathie verwirrte. Mir fiel beim besten Willen nichts ein als ein paar banale Trostworte, ein paar jener durchsichtigen Phrasen, in denen sich so recht unsere Ohnmacht vor fremdem Schmerz zeigt. Ich murmelte etwas der Art, daß das Leben für die Jungen immer noch Hoffnungen und Belohnung berge. Auch Pflichten – doch war ich ganz gewiß, daß ich sie daran nicht zu erinnern brauchte.

Sie hielt ihr Taschentuch in der Hand und zerrte nervös daran. »Ich vergesse sicher meine Mutter nicht«, sagte sie. »Wir waren immer drei, so lange ich denken kann. Nun sind wir zu zweit – zwei Frauen. Sie ist nicht sehr alt, sie kann noch recht lange leben. Worauf sollen wir unsere Zukunft aufbauen, auf welcher Hoffnung oder welchem Trost?«

»Sie müssen weiter schauen«, sagte ich entschlossen, aus der Überzeugung heraus, daß dies der Ton war, den man diesem Ausnahmegeschöpf gegenüber anschlagen mußte. Sie sah mich einen Augenblick lang unverwandt an, und dann strömten die Tränen, die sie niedergehalten hatte, ungehemmt hervor. Sie sprang auf, trat in die Fensternische und wandte mir den Rücken zu.

Ich ging fort, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, mich ihr zu nähern. Am nächsten Tag erfuhr ich an der Tür, daß es Frau Haldin besser ging. Das ältliche Dienstmädchen teilte mir mit, daß eine Menge Leute – Russen – vorgesprochen hätten, daß aber Fräulein Haldin niemand empfangen habe. Zwei Wochen später, als ich wie gewöhnlich Nachfrage hielt, wurde ich hereingebeten und fand Frau Haldin auf ihrem gewöhnlichen Platz beim Fenster sitzen.

Auf den ersten Blick hätte man glauben können, daß nichts verändert sei. Ich erblickte über das Zimmer weg das vertraute Profil, etwas scharf geworden und von einer tiefen Blässe überzogen, wie man sie bei einer Kranken erwarten möchte. Keine Krankheit aber hätte die Veränderung in ihren schwarzen Augen hervorrufen können, die nicht mehr in freundlicher Ironie lächelten. Sie hob den Blick, als sie mir die Hand gab. Ich bemerkte, daß die drei Wochen alte Nummer des »Standard« zusammengefaltet obenauf auf einem Stoß von Briefschaften aus Rußland lag, auf einem kleinen Tisch neben dem Lehnstuhl. Frau Haldins Stimme war erschreckend schwach und farblos. Ihr erstes Wort an mich war eine Frage.

»War noch irgend etwas darüber in Ihren Zeitungen?«

Ich ließ ihre lange, abgemagerte Hand los, schüttelte verneinend den Kopf und setzte mich nieder.

»Die englische Presse ist wunderbar. Ihr kann nichts verborgen bleiben, und die ganze Welt muß es erfahren. Nur unsere russischen Nachrichten sind nicht immer leicht zu verstehen. Nicht immer leicht … Aber englische Mütter schauen ja auch nicht nach solchen Nachrichten aus …«

Sie legte die Hand auf die Zeitung und zog sie wieder weg. Ich sagte:

»Auch wir hatten tragische Perioden in unserer Geschichte.«

»Vor längerer Zeit, vor sehr langer Zeit.«

»Ja.«

»Es gibt Nationen, die mit dem Schicksal einen Handel geschlossen haben«, sagte Fräulein Haldin, die zu uns getreten war. »Wir brauchen Sie nicht zu beneiden.«

»Warum diese Verachtung?« fragte ich freundlich. »Mag sein, daß unser Handel nicht sehr ruhmvoll war. Die Zugeständnisse aber, die Männer und Nationen vom Schicksal erwirken, werden durch den Preis geheiligt, der dafür zu zahlen ist.«

Frau Haldin wandte den Kopf und sah eine Weile zum Fenster hinaus, mit diesem neuen, düsteren, erloschenen Blick ihrer eingesunkenen Augen, der eine so ganz andere Frau aus ihr machte.

»Dieser Engländer, dieser Korrespondent«, fragte sie mich plötzlich, »halten Sie es für möglich, daß er meinen Sohn gekannt hat?«

Auf diese befremdliche Frage konnte ich ihr nur antworten, daß es natürlich möglich sei. Sie merkte mir die Überraschung an.

»Wenn man wüßte, was er für ein Mensch wäre, könnte man ihm vielleicht schreiben.«

»Mutter glaubt«, erklärte Fräulein Haldin, die zwischen uns stand, eine Hand auf die Lehne des Stuhles gestützt, »daß mein armer Bruder vielleicht nicht versuchte, sich zu retten.«

Ich sah in einiger Bestürzung zu Fräulein Haldin auf, doch sie blickte ruhig auf ihre Mutter hinunter, die eben fortfuhr.

»Wir kennen nicht die Adresse irgendeines seiner Freunde. Eigentlich wissen wir überhaupt nichts von seinen Petersburger Kameraden. Er hatte eine ganze Reihe junger Freunde, sprach aber niemals viel von ihnen. Man konnte nur erraten, daß sie sich als seine Schüler fühlten und ihn abgöttisch verehrten. Aber er war so bescheiden. Man sollte doch glauben, daß bei so viel Ergebenen …«

Wieder wendete sie den Kopf ab und sah auf den Boulevard des Philosophes hinaus, der sich dürr und staubig hinzog und auf dem im Augenblick weiter nichts zu sehen war als zwei Hunde, ein kleines Mädchen in einer Umhangschürze, das auf einem Bein tanzte, und, ganz weit weg, ein radfahrender Arbeiter.

»Sogar unter den Aposteln Christi fand sich ein Judas«, flüsterte sie wie für sich, doch in der augenscheinlichen Absicht, von mir gehört zu werden.

Die russischen Besucher sammelten sich unterdessen in kleinen Gruppen und unterhielten sich untereinander in leisem Flüsterton und mit kurzen Seitenblicken auf uns. Es war ein scharfer Gegensatz zu der sonstigen lauten Fröhlichkeit dieser Zusammenkünfte. Fräulein Haldin begleitete mich in das Vorzimmer.

»Es werden noch mehr kommen«, sagte sie, »wir können ihnen nicht die Türe vor der Nase zumachen.«

Während ich meinen Überrock anzog, begann sie von ihrer Mutter zu sprechen. Die arme Frau Haldin sehnte sich nach genaueren Nachrichten. Sie wollte immer mehr über ihren unglücklichen Sohn hören. Sie konnte sich nicht entschließen, ihn dem großen Schweigen zu überantworten, das ihn umfangen hielt. Sie beharrte darauf, seinen Spuren dahin zu folgen, während all der langen Tage, die sie in stummer Unbeweglichkeit angesichts des leeren Boulevard des Philosophes zubrachte. Sie konnte es nicht verstehen, warum er nicht geflohen war –, wie so viele andere Revolutionäre und Verschwörer es fertiggebracht hatten, in anderen Fällen dieser Art. Es war tatsächlich unverständlich, daß die Mittel der geheimen revolutionären Organisationen gerade in diesem einen Fall so unverzeihlich versagt haben sollten, wo es sich darum gehandelt hätte, ihren Sohn zu retten. Was sie aber in Wirklichkeit am härtesten packte, das war nichts anderes als der Gedanke, daß der Tod sie selbst übergangen und mit so grausamer Härte nach jenem jungen und teuren Menschen gelangt hatte.

Fräulein Haldin übergab mir mechanisch und mit zerstreutem Blick meinen Hut. Ich entnahm aus ihren Worten, daß die arme Frau von der düsteren Vorstellung verfolgt wurde, ihr Sohn sei umgekommen, weil er nicht gerettet sein wollte. Es war unmöglich, daß er an der Zukunft seines Landes verzweifelt haben konnte. Das war ausgeschlossen. War es möglich, daß seine Mutter und seine Schwester sich sein Vertrauen nicht zu verdienen gewußt hatten und daß sich nach Vollbringung der Tat, zu der es ihn gedrängt, ein unerträglicher Zweifel über seine Seele gelegt und ein plötzliches Mißtrauen seinen Verstand verwirrt hatte?

Ich war über diese ganz eigenartige Auffassung sehr bestürzt.

»Das Leben von uns dreien war so …« Dabei verschränkte Fräulein Haldin die Finger ihrer beiden Hände, trennte sie dann wieder langsam und sah mir starr ins Gesicht.

»Das ist es nun, was meine arme Mutter gefunden hat, um sich und mich durch alle die kommenden Jahre zu quälen«, fügte das merkwürdige Mädchen hinzu. In diesem Augenblick, unter dem doppelten Eindruck von Leidenschaft und Stoizismus, ging mir das volle Verständnis für ihren unbeschreiblichen Reiz auf. Ich versuchte mir auszumalen, wie sich wohl ihr Leben gestalten müßte an der Seite von Frau Haldin, die in furchtbarer Starrheit nur dieser einen fixen Idee lebte. Mein Mitgefühl blieb aber stumm, da ich ihre Gefühle ja so gar nicht kannte. Ein Unterschied in der Nationalität ist ein furchtbares Hindernis für uns komplizierte Menschen aus dem Westen. Fräulein Haldin war aber wohl zu einfach, um meine Verwirrung auch nur zu ahnen. Sie schien gar keine Äußerung von mir zu erwarten, fuhr aber, als hätte sie mir die Gedanken vom Gesicht gelesen, mutig fort:

»Im ersten Augenblick war meine arme Mutter wie betäubt; dann aber begann sie zu denken und wird jetzt weiter grübeln und grübeln über diesen einen unglücklichen Punkt. Sie sehen selbst, wie hart das ist …«

Nie in meinem Leben war es mir tieferer Ernst mit einem Gefühl, als da ich ihr nun zustimmte, daß es unsagbar traurig werden würde. Sie holte angstvoll Atem.

»Aber alle die merkwürdigen Umstände, die die englische Zeitung nennt«, rief sie plötzlich aus. »Was soll das alles nur heißen? Ich denke mir, daß sie wahr sind. Und ist es denn nicht entsetzlich, daß mein armer Bruder verhaftet worden sein soll, während er ganz allein durch die Straßen irrte, in der Nacht, wie verzweifelt …«

Wir standen so nahe nebeneinander in dem dunklen Vorzimmer, daß ich sehen konnte, wie sie sich auf die Lippen biß, um ihr tränenloses Schluchzen zurückzuhalten. Nach einer kurzen Pause sagte sie:

»Ich legte meiner Mutter nahe, daß er vielleicht von einem falschen Freund oder einfach von irgendeinem Schuft verraten worden sein könnte. Vielleicht wird es ihr leichter, das zu glauben.«

Nun verstand ich, was die arme Frau von einem Judas geflüstert hatte.

»Es mag ihr leichter fallen«, gab ich zu und bewunderte im stillen die Denkschärfe und Feinfühligkeit des Mädchens. Sie nahm das Leben, wie es sich für sie aus den politischen Zuständen ihres Landes ergab. Sie nahm Stellung zu grausamen Wirklichkeiten, nicht zu krankhaften Ausgeburten ihrer eigenen Phantasie. Ich konnte ein Gefühl der Hochachtung nicht unterdrücken, als sie schlicht hinzufügte:

»Man sagt, daß die Zeit jede Bitterkeit mildern kann. Ich kann aber nicht glauben, daß sie über die Reue irgendeine Macht hat. Es ist besser für Mutter, zu glauben, daß irgendein Mensch an Viktors Tod Schuld trägt, als daß sie eine Schwäche ihres Sohnes vermuten oder sich selbst einer Unzulänglichkeit bezichtigen sollte.«

»Aber Sie, Sie selbst glauben doch nicht …«, begann ich.

Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. Sie hegte keine üblen Gedanken gegen irgend jemand, versicherte sie – und vielleicht war nichts von allem, was geschehen war, unnötig. Nach diesen leise gesprochenen Worten, die geheimnisvoll durch das Halbdunkel des Zimmers klangen, verabschiedeten wir uns mit einem vielsagenden, warmen Händedruck. Der Griff ihrer starken, festen Hand erweckte den Eindruck einer wunderbaren Freimütigkeit, wirkte im besten Sinn männlich. Ich weiß nicht, warum sie für mich irgendwelche freundschaftlichen Gefühle hätte haben sollen. Vielleicht glaubte sie, ich verstünde sie weit besser, als ich es tatsächlich imstande war. Selbst ihre klarsten Aussprüche schienen mir immer einen rätselhaften Doppelsinn zu haben, der irgendwie über meinen Horizont hinausging. Ich habe mich mit der Vermutung abgefunden, daß sie meine Aufmerksamkeit und mein Schweigen schätzte. Sie konnte selbst sehen, daß die Aufmerksamkeit echt war, und das schloß den Gedanken aus, daß das Schweigen in Kälte seinen Grund haben könnte. Das schien sie zu befriedigen, und es muß bemerkt werden, daß sie, wenn sie sich mir anvertraute, es augenscheinlich nicht in der Erwartung tat, einen Rat zu erhalten, um den sie auch tatsächlich nie bat.

2

Bald darauf wurde unser täglicher Verkehr für ungefähr zwei Wochen unterbrochen. Ich mußte Genf unerwartet verlassen. Nach meiner Rückkehr sprach ich unverweilt am Boulevard des Philosophes vor.

Es erfüllte mich mit einigem Ärger, daß ich durch die offene Tür des Wohnzimmers den gemessenen, salbungsvollen Baß eines Besuchers hörte.

Frau Haldins Stuhl beim Fenster stand leer. Vom Sofa her grüßte mich Natalie Haldin mit einem Blick ihrer wunderbaren grauen Augen und mit der leisen Andeutung eines Willkommlächelns, machte aber keine Bewegung. Ihre kräftigen weißen Hände lagen gefaltet im Schoße ihres Trauerkleides, und sie war einem Manne zugewendet, von dem ich nur den starken Rücken sah, der gut zu der tiefen Stimme paßte. Er wandte den Kopf scharf über die Schulter, doch nur für einen Augenblick.

»Ah, Ihr englischer Freund. Ich weiß, ich weiß; das macht nichts.«

Er trug schwarze Augengläser, und neben seinem Stuhl stand ein Zylinderhut auf dem Boden. Mit einer leichten Bewegung seiner großen weichen Hand fuhr er in seinem Sermon fort, aber etwas rascher.

»Ich bin nie an dem Glauben irre geworden, den ich hatte, während ich noch durch die Wälder und Sümpfe Sibiriens wanderte. Er hat mich damals aufrecht erhalten – und hält mich heute aufrecht. Die Großmächte Europas müssen verschwinden, – und der Grund ihres Zusammenbruches wird sehr einfach sein. Sie werden sich in dem Kampfe gegen ihr Proletariat erschöpfen. In Rußland ist es anders. In Rußland haben wir keine Klassen, die sich untereinander bekämpfen und von denen die eine den materiellen Besitz in der Hand hat, während die andere durch die Masse wirkt. Wir haben nur eine korrupte Bürokratie, die dem Volke gegenübersteht, das groß ist und unverderbbar wie der Ozean. Nein, wir haben keine Klassen, aber wir haben die russische Frau, die wunderbare russische Frau. Ich erhalte ganz bemerkenswerte Briefe von Frauen, so erhaben im Ton, so mutig und von einem so edlen Diensteifer durchglüht. Unsere stärksten Hoffnungen ruhen auf der Frau. Ich erkenne ihren Wissensdurst an; er ist bewundernswert. Sehen Sie selbst, wie sie aufsaugen, wie sie sich alles zu eigen machen. Es ist wunderbar. Doch was ist Wissen? … Ich denke, daß Sie kein bestimmtes Studium ergriffen haben – Medizin zum Beispiel. Nein? Das ist recht. Hätten Sie mich nach Ihrer Ankunft hier mit einer Bitte um Rat beehrt, so hätte auch ich mich durchaus gegen ein solches Studium ausgesprochen. Jedes Spezialwissen ist nur Schlacke.«

Er hatte eines dieser bärtigen russischen Gesichter, ohne bestimmte Form, ein Durcheinander von Haut und Haaren, ohne einen einzigen ausgesprochenen Zug. Da seine Augen hinter den dunklen Gläsern verborgen waren, so wirkte seine Miene auffallend ausdruckslos. Ich kannte ihn vom Sehen. Er war ein berühmter russischer Flüchtling. Ganz Genf kannte seine stämmige Gestalt in dem schwarzen Rock. Eine Zeitlang hallte Europa wider von seiner Geschichte, die er selbst geschrieben hatte und die in sieben oder noch mehr Sprachen übersetzt worden war. In seiner Jugend hatte er ein müßiges, zerfahrenes Leben geführt. Dann starb eine junge Dame der Gesellschaft, die er heiraten wollte, ganz plötzlich, und daraufhin kehrte er der eleganten Welt den Rücken, wendete sich aus einer Art Reue heraus der revolutionären Bewegung zu, und nachher sorgte die Autokratie seines Landes schon dafür, daß ihm die übelsten Dinge widerfuhren. Er wurde in Festungen eingekerkert, zu drei Vierteln tot geprügelt und zur Zwangsarbeit in Minen, in Gesellschaft gemeiner Verbrecher, verurteilt. Was seinem Buch aber am allermeisten zu Erfolg verhalf, das war die Kette.

Ich erinnere mich jetzt nicht mehr genau an das Gewicht und die Länge der Fesseln, die ihm auf Regierungsbefehl angeschmiedet wurden. – Die Zahl der Pfunde und die Stärke der Kettenglieder bildeten aber ein furchtbares Zeugnis für die göttliche Berechtigung der Selbstherrschaft. Furchtbar und doch auch lächerlich, denn dieser große Mann brachte es fertig, das einfache Regierungswerkzeug mit sich durch die Wälder zu schleppen. Das aufreizende Klirren dieser Fesseln tönt durch alle die Kapitel, die seine Flucht beschreiben, und war ein Gegenstand der Verwunderung für zwei Erdteile. Es hatte damit begonnen, daß er sich mit Erfolg vor seiner Wache in einer Uferhöhle verbarg. Es war Abend; mit unsäglicher Mühe gelang es ihm, einen Fuß frei zu machen. Darüber brach die Nacht herein. Er war eben dabei, den anderen Fuß freizubekommen, als ihm ein furchtbares Unglück zustieß: seine Feile fiel ihm aus der Hand.

Ein mystischer Schimmer liegt über diesen genauen Daten, und die Feile hatte ihre pathetische Geschichte. Sie wurde ihm ganz unerwartet eines Abends von einem stillen, bleichen Mädchen gegeben. Das arme Geschöpf war in die Minen herausgekommen, um einem seiner Mitgefangenen Gesellschaft zu leisten, einem zarten jungen Menschen, mit breiten Backenknochen und großen starren Augen, gewesenem Mechaniker und Sozialdemokraten. Sie hatte sich mühselig durch halb Rußland und fast ganz Sibirien durchgekämpft, um ihm nahe zu sein und, wie es scheint, in der Hoffnung, ihm zur Flucht zu verhelfen. Doch sie kam zu spät. Ihr Geliebter war eine Woche vorher gestorben. Durch diese, wie er es nennt, »dunkle Episode in der Geschichte der ideellen Entwicklung Rußlands« kam die Feile in seine Hände und erweckte in ihm den brennenden Entschluß, seine Freiheit wiederzugewinnen. Als ihm das Werkzeug aus den Fingern gefallen war, schien es, als habe die Erde es verschluckt. Es wollte und wollte ihm nicht gelingen, es im Dunkeln mit der Hand wieder zu fassen. Er suchte systematisch danach, in dem losen Erdreich, im Schlamm, im Wasser; inzwischen verging die Nacht, die kostbare Nacht, auf die er gerechnet hatte, um in die Wälder entkommen zu können, was die einzige Möglichkeit einer Flucht war. Einen Augenblick lang war er aus Verzweiflung versucht, alles aufzugeben. Doch dann rief er sich das ruhige, traurige Gesicht des heldenhaften Mädchens zurück und fühlte sich tief beschämt über seine Schwäche. Sie hatte ihn für die Gabe der Freiheit ausersehen, und er mußte sich der Gunst würdig erweisen, die ihre weibliche, unbezwingbare Seele ihm zugewendet hatte. Ihre Zuversicht mußte ihm heilig sein. Versagte er, so wäre das eine Art Verrat an der Weihe der Selbstaufopferung und der Liebe des Weibes gewesen.

Ganze Seiten seines Buches sind mit einer Selbstanalyse angefüllt, aus der, wie eine weiße Erscheinung auf dunkler aufgeregter See, die Überzeugung von der geistigen Überlegenheit der Frau hervorging – sein neuer Glaube, den er seither in vielen Bänden bekannte. Die ersten Anfänge und der große Akt der Bekehrung selbst fallen in die Zeit, in der er in den endlosen Wäldern der Ochotskprovinz ein wildes Leben führte, das lose Ende der Kette um die Hüften geschlungen und mit einem von seinem Sträflingsgewand losgerissenen Streifen festgebunden; andere Streifen hielten die Kette an seinem linken Bein fest, um das Klirren zu dämpfen und das Hängenbleiben der Glieder im Buschwerk zu verhüten. Er verwilderte vollständig und entwickelte ungeahnte Instinkte für die tausend Kniffe eines vogelfreien Daseins. Er lernte es, in Dörfer zu kriechen, ohne seine Anwesenheit durch mehr als höchstens ein schwaches Klirren zu verraten. Er brach in Nebengebäude ein, mit einer Axt, die er in einem Holzmacherlager entlehnt hatte. In den wüsten Landstrichen lebte er von wilden Beeren und suchte nach Honig. Nach und nach fielen ihm die Kleider vom Leibe. Da und dort tauchte seine nackte, lohfarbene Gestalt in den Büschen auf; Wolken von Moskitos umschwärmten den zottigen Kopf, und die Schauermär davon verbreitete sich über ganze Distrikte. Im Laufe der Tage kam die richtige Raubtiernatur in ihm zum Durchbruch, und er freute sich darüber, denn nur davon konnte er Rettung erhoffen. Es war, als stünden bei dem ganzen Unternehmen zwei menschliche Wesen unlösbar verbunden nebeneinander: der zivilisierte Mensch, der enthusiastische Vorkämpfer hoher menschlicher Ideale, mit dem unstillbaren Verlangen nach dem Triumph der Nächstenliebe und der politischen Freiheit, und der verschlagene, urzeitliche Wilde, der erbarmungslos und mit allen Mitteln von Tag zu Tag für seine Freiheit kämpfte, wie ein gehetztes Raubtier.

Dieses Raubtier schlug aus Instinkt den Weg nach Osten, zur Küste des Stillen Ozeans ein, und das zivilisierte Wesen in ihm verfolgte in ehrfürchtiger und ängstlicher Abhängigkeit die gemachten Fortschritte. In allen diesen Wochen konnte er sich nie entschließen, das Mitleid der Menschen anzurufen. Bei dem stets kampfbereiten, urzeitlichen Wilden mochte diese Scheu natürlich sein, doch auch in dem anderen, zivilisierten Geschöpf, dem Denker, dem entsprungenen »Politischen«, hatte sich eine absurde Form von krankhaftem Pessimismus ausgebildet, eine Art vorübergehenden Irrsinns, die vielleicht in den körperlichen Beschwerden ihren Grund haben mochte, die ihm die Kette verursachte. Diese Fesseln, glaubte er, mußten ihn dem Rest der Menschheit widerwärtig machen. Ihr Träger mußte gebrandmarkt erscheinen. Niemand konnte auch nur die Spur von Mitleid empfinden bei dem abstoßenden Anblick eines Menschen, der eine zerbrochene Kette auf seiner Flucht mitschleppte. Diese Fesseln beeinflußten seine Einbildungskraft in einer ganz bestimmten, eindeutigen Richtung. Es schien ihm unmöglich, daß irgendjemand sollte der Versuchung widerstehen können, das lose Ende an einen Ring in der Mauer anzuschließen und zur nächsten Polizeistation zu laufen. Während er in Erdlöchern herumkroch oder sich im Dickicht verbarg, versuchte er in den Gesichtern ahnungsloser, freier Ansiedler zu lesen, die an den Lichtungen arbeiteten oder auf den Wegen wenige Handbreit vor ihm vorbeigingen. Er hatte das Gefühl, daß er keinen Menschen auf der Welt vor die Versuchung stellen dürfe, die die Kette bedeutet hätte.

Eines Tages aber kam er in die Nähe einer einsamen Frau. Es war auf einer offenen, mit rauhem Gras bestandenen Halde vor dem Wald. Sie saß am Ufer eines schmalen Flusses, hatte ein rotes Taschentuch um den Kopf gebunden, und ein kleines Körbchen lag neben ihr auf dem Boden. Ein wenig weiter weg sah man ein paar Blockhäuser und ein Wasserrad unter dem Stauweiher, der von schattigen Birken umstanden war und im Dämmerlicht wie ein Spiegel glänzte. Er schlich sich lautlos näher, einen dicken Knüppel in der Hand, die Axt in seinen eisernen Gürtel gesteckt. Laub und Zweige hingen in seinem verwirrten Haar und seinem Bart. Um die Lenden flatterten zerlumpte Fetzen, die er um die Kette gewickelt hatte. Ein leichtes Klirren der Fesseln ließ die Frau umschauen. Die wilde Erscheinung erschreckte sie zu sehr, als daß sie hätte aufspringen oder auch nur schreien können, doch war sie auch zu starkherzig, um einfach in Ohnmacht zu fallen … Da sie nicht anders dachte, als er würde sie auf dem Fleck umbringen, so bedeckte sie die Augen mit den Händen, um die niedersausende Axt nicht sehen zu müssen. Als sie endlich den Mut fand, wieder aufzublicken, sah sie den zottigen wilden Mann zwei Schritte von ihr weg am Ufer sitzen. Seine dünnen sehnigen Arme hielten die nackten Beine umklammert. Der lange Bart bedeckte die Knie, auf die er sein Kinn stützte. Diese ganz zusammengekrümmten Glieder, die bloßen Schultern, der wilde Kopf mit den roten stieren Augen zitterten und bebten heftig, während das vertierte Geschöpf sich anstrengte, zu sprechen. Es war sechs Wochen her, seit er den Klang seiner eigenen Stimme gehört hatte. Es schien, als habe er die Sprache verloren. Er war zum stumpfen, verzweifelten Tier geworden, bis die Frau plötzlich und ganz unerwartet einen Schrei tiefsten Mitleids ausstieß. Mit dem Scharfblick weiblichen Mitgefühls hatte sie das namenlose Elend des Mannes unter der entsetzlichen Maske des Ungeheuers erkannt; das gab ihn der Menschheit wieder. Mit unwiderstehlicher Beredsamkeit hat er diesen einen Punkt in seinem Buch herausgearbeitet. Schließlich weinte sie über ihn heilige, erlösende Tränen, während auch er weinte, doch aus Freude, wie ein bekehrter Sünder. Sie wies ihn an, sich in den Büschen zu verbergen und geduldig zu warten (eine Polizeipatrouille wurde in der Ansiedlung erwartet). Dann ging sie den Häusern zu und versprach, nachts wiederzukommen.

Die Vorsehung schien es so eingerichtet zu haben, daß sie das jung verheiratete Weib des Dorfschmiedes war; also überredete die Frau ihren Mann, mit ihr hinauszugehen und ein paar seiner Werkzeuge, einen Hammer, einen Meißel und einen kleinen Amboß mitzunehmen …

»Meine Fesseln«, sagt das Buch, »wurden an den Ufern des Stromes gesprengt, im Sternenlicht einer klaren Nacht, von einem riesenhaften, schweigsamen jungen Mann aus dem Volke, der zu meinen Füßen kniete, während die Frau, wie ein befreiender Genius, mit gefalteten Händen dabei stand.« Ganz offensichtlich eine symbolische Gruppe. Zugleich halfen sie seiner wiedergewonnenen Menschlichkeit mit ein paar anständigen Kleidungsstücken auf und gaben ihm neuen Mut mit der Eröffnung, daß die Küste des Stillen Ozeans nur ganz wenige Meilen entfernt sei. Man konnte sie tatsächlich von der Spitze des nächsten Hügels aus sehen …

Das Ende seiner Flucht bietet keine Anhaltspunkte mehr für mystische Ausschmückungen oder symbolische Deutungen. Er kam schließlich nach dem Westen zurück, auf dem ganz gewöhnlichen Wege durch den Suezkanal. Als er die Küste von Südeuropa erreicht hatte, setzte er sich nieder und schrieb seine Autobiographie. Es war der große literarische Erfolg des Jahres. Diesem Buch folgten andere, die alle in der ausdrücklichen Absicht geschrieben waren, die Menschheit zu erziehen. In diesen Werken predigte er ganz allgemein den Kult der Frau. Er für seine Person übte ihn in Form einer ganz besonderen Verehrung für die transzendentalen Verdienste einer gewissen Madame de S. Diese Dame war im Denken, doch leider auch in gleicher Weise an Jahren fortgeschritten und war seinerzeit einmal die intrigante Gattin eines nun toten und vergessenen Diplomaten gewesen. Sie hatte (wie Voltaire und Madame de Staël) sich in den Schutz des republikanischen Genf begeben und erhob von da aus laut den Anspruch, für eine der Führerinnen der modernen Ideen- und Gefühlsrichtungen genommen zu werden. Wenn sie in ihrem großen Landauer durch die Straßen fuhr, so bot sie den gleichgültigen Eingeborenen und den gaffenden Touristen den Anblick einer langleibigen, jugendlichen Gestalt von priesterlicher Steifheit. Ein paar große, überglänzende Augen rollten ruhelos hinter dem kurzen schwarzen Spitzenschleier, der nur bis zu den lebhaft roten Lippen reichte und an eine Maske erinnerte. Gewöhnlich begleitete sie der »heldenhafte Flüchtling«. Dieser Beiname war ihm in einer Besprechung der englischen Ausgabe seines Buches verliehen worden. Der »heldenhafte Flüchtling« also, mit dem mächtigen Bart und den dunklen Augengläsern, saß nicht neben ihr, sondern ihr gegenüber auf dem Rücksitz, und wenn sie einander so ansahen, ganz allein in dem geräumigen Gefährt, hatte man den Eindruck einer bewußten, öffentlichen Schaustellung. Vielleicht war sie auch unbewußt. Die russische Einfalt reicht oft aus irgendeinem erhabenen Beweggrund bis hart an die Grenze des Zynismus. Es ist ja auch ein müßiges Beginnen, dem sophistisch verseuchten Europa das Verständnis für diese Handlungsweise erschließen zu wollen. Wenn man nur den tiefen Ernst betrachtete, der sich sogar bis auf das Gesicht des Kutschers und die Gangart der Galapferde erstreckte, so hätte man dem ganzen wunderlichen Aufzug eine gewisse mystische Bedeutung zuerkennen mögen. Für die korrupte Frivolität eines westeuropäischen Verstandes wie des meinen schien er aber kaum noch anständig.

Wie immer dem auch sei, es steht einem namenlosen Sprachlehrer nicht zu, an einem heldenhaften Flüchtling von nationaler Berühmtheit Kritik zu üben. Ich wußte vom Hörensagen, daß er so recht das war, was man einen »G'schaftelhuber« nennt; er suchte seine Landsleute in Hotels und Privatwohnungen auf und beehrte sie zeitweilig auch, wie man mir sagte, in den öffentlichen Gärten mit seiner auszeichnenden Gesellschaft, wenn sich eine passende Gelegenheit dazu bot.

Ich hatte den Eindruck, daß er mehrere Monate zuvor nach einem oder zwei Besuchen die Damen Haldin aufgegeben hatte – zweifellos mit Widerstreben, denn er war ganz gewiß kein Mann von raschen Entschlüssen. Vielleicht war es ja zu erwarten, daß er nun bei diesem furchtbaren Anlaß wieder auftauchte, als Russe und als Revolutionär, um das rechte Wort zu sprechen, um den wahren, vielleicht tröstlichen Ton zu finden. Es gefiel mir aber doch nicht, daß ich ihn da sitzen fand. Ich bin der festen Überzeugung, daß dabei keinerlei unangebrachte Eifersucht meiner Sonderstellung wegen im Spiel war. Ich leitete aus meiner stummen Freundschaft keinerlei Vorrechte ab. Der Unterschied im Alter und in der Nationalität entrückte mich gleichsam in eine andere Sphäre, und ich selbst sogar konnte mich des Eindruckes nicht erwehren, daß ich ein stummes, hilfloses Gespenst sei, ein angsterfülltes und körperloses Wesen, das nur herumspuken konnte, ohne die Macht zu haben, auch nur mit einem Flüstern eine Warnung oder einen Rat zu erteilen. Da Fräulein Haldin mit ihrem sicheren Instinkt es unterlassen hatte, mich der stämmigen Berühmtheit vorzustellen, so hätte ich mich ruhig zurückgezogen und wäre später wieder zurückgekehrt, hätte ich nicht den merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen wahrgenommen, den ich als eine Aufforderung zum Bleiben auffaßte, in der Absicht vielleicht, einen unwillkommenen Besuch abzukürzen.

Er nahm seinen Hut auf, doch nur, um ihn auf die Knie zu setzen.

»Wir werden uns wiedertreffen, Natalia Viktorowna. Heute habe ich Sie nur besucht, um Ihnen und Ihrer verehrten Mutter gegenüber Gefühlen Ausdruck zu geben, über deren Natur Sie nicht im Zweifel sein können. Es bedurfte keines Anspornes für mich, doch Eleanor – Madame de S. – selbst hat mich sozusagen hergeschickt. Sie bietet Ihnen die Hand fraulicher Freundschaft. Ganz unbedingt gibt es in der reichen Abstufung menschlicher Gefühle keine Freude und keinen Kummer, den diese Frau nicht verstehen könnte, läutern und vergeistigen durch ihre Teilnahme. Der junge Mann, der da kürzlich von St. Petersburg angekommen ist und den ich schon erwähnte, steht bereits unter dem Bann ihrer Persönlichkeit.«

In diesem Augenblick stand Fräulein Haldin unvermittelt auf. Ich war froh. Er hatte augenscheinlich keine derartige Entschiedenheit erwartet, warf in der ersten Überraschung den Kopf zurück und schob in blanker Neugier die dunklen Augengläser hoch. Bald aber hatte er sich gefaßt und stand hastig auf.

»Wie kommt es nur, Natalia Viktorowna, daß Sie sich so lange von einem Kreis ferngehalten haben, in dem sich schließlich doch – mögen die bösen Zungen sagen, was sie wollen – die geistige Freiheit sammelt und der Ihnen die Möglichkeit bietet, sich neue Ideen für Ihre Zukunft zu formen? Im Falle Ihrer verehrten Mutter verstehe ich es ja einigermaßen. In ihrem Alter sind neue Ideen, neue Gesichter, vielleicht nicht … Aber Sie: War es Mißtrauen – oder Gleichgültigkeit? Sie müssen aus Ihrer Zurückhaltung heraustreten. Wir Russen haben kein Recht, gegeneinander zurückhaltend zu sein. In unseren Verhältnissen ist das fast ein Verbrechen gegen die Menschheit. Wir dürfen uns den Luxus geheimen Schmerzes nicht erlauben. In unseren Tagen bekämpft man den Teufel nicht mit Beten und Fasten. Und was ist Fasten denn schließlich anderes als Verhungern? Sie dürfen sich nicht aushungern, Natalia Viktorowna. Was wir brauchen, ist Stärke. Geistige Stärke, meine ich. Denn die andere Stärke haben wir ja, und wer könnte uns widerstehen, wenn wir Russen uns entschließen wollten, sie auszunützen? Der Begriff der Sünde hat sich in unseren Tagen verschoben und damit auch der Weg zum Heil für die reinen Seelen. Er führt nicht mehr durch Klöster, sondern durch die Welt …«

Unterirdische Klänge schienen unter dem Boden hervorzudringen, und man fühlte sich davon bis zu den Lippen umspült. Die Bemerkung, die Fräulein Haldin einwarf, schien die letzte Anstrengung eines Ertrinkenden, sich über Wasser zu halten. Sie sagte mit leichter Ungeduld im Ton:

»Aber Peter Iwanowitsch, ich denke nicht daran, mich in ein Kloster zurückzuziehen. Wer würde das Heil dort suchen?«

»Ich sprach bildlich«, säuselte er.

»Gut also, dann spreche ich auch bildlich. Aber Schmerz ist Schmerz, und Kummer ist Kummer, wie es immer war. Sie stellen ihre Ansprüche an die Menschen. Man muß ihnen so gut man kann entgegentreten. Ich weiß wohl, daß der Schlag, der uns so unerwartet getroffen hat, nur eine Episode ist in dem Geschick eines Volkes. Sie können versichert sein, daß ich das nicht vergesse. Doch gerade jetzt habe ich an meine Mutter zu denken. Wie können Sie glauben, daß ich sie sich selbst überlasse …?«

»Sie drücken sich etwas zu hart aus«, sagte er mit seiner mächtigen Stimme.

Fräulein Haldin wartete nicht, bis die Schwingungen erstorben waren:

»… und herumlaufe, um einer Reihe von fremden Leuten Besuche zu machen. Der Gedanke ist mir widerwärtig. Und ich kann mir nicht vorstellen, was Sie sonst meinen könnten.«

Er türmte sich vor ihr auf, ungeheuer und doch demütig, mit dem nach Sträflingsart kurzgeschnittenen Haar; und sein großer roter Kopf erweckte in mir die Vorstellung eines wüsten Schädels mit wirren Haarsträhnen, der durch geteilte Büsche spähte, die Vorstellung von nackten, lederfarbenen Gliedern, die sich hinter dem Laubdickicht unter Schwärmen von Fliegen und Moskitos regten. Es war ein unwillkürlicher Tribut an die Wucht seiner Schreibweise. Niemand konnte daran zweifeln, daß er die sibirischen Wälder durchwandert hatte, nackt und mit einer Kette gegürtet. Der Rock aus feinem schwarzen Tuch gab seiner Persönlichkeit etwas Würdiges und Ergebenes, das an einen Missionar erinnerte.

»Wissen Sie, was ich will, Natalia Viktorowna?« sprach er feierlich. »Ich will, daß Sie eine Fanatikerin werden.«

»Eine Fanatikerin?«

Seine Stimme wurde noch um einen Ton tiefer. Einen Augenblick lang erhob er einen dicken Arm, der andere hing schlaff an der Seite herab, mit dem gebrechlichen Glanzhut am Ende.

»Ich will Ihnen nun etwas sagen, was ich Sie ernsthaft zu überlegen bitte. Hören Sie: wir brauchen eine Macht, die Himmel und Erde in Bewegung setzt – nichts weniger als das.«

Der tiefe unterirdische Klang dieses »nichts weniger als das« durchzitterte die Luft, als ob der Wind in den Pfeifen einer Orgel heulte.

»Und werden wir diese Macht im Salon von Madame de S. finden? Verzeihen Sie, Peter Iwanowitsch, wenn ich mir erlaube, daran zu zweifeln. Kommt diese Dame nicht aus der Großen Welt? Ist sie nicht eine Aristokratin?«

»Vorurteil«, schrie er. »Sie setzen mich in Erstaunen. Und gesetzt den Fall, sie wäre alles das – sie ist auch ein Weib von Fleisch und Blut. In jedem von uns gibt es ein Gegengewicht gegen das Geistige. Daraus aber einen Vorwurf zu schmieden, ist etwas, was ich von Ihnen nicht erwartet hätte. Nein! Das hätte ich nicht erwartet. Man möchte glauben, daß Sie irgendeinem böswilligen Geschwätz Ihr Ohr geschenkt haben.«

»Ich habe keinen Klatsch gehört, versichere ich Ihnen. Wie wäre das auch möglich gewesen, in unserer Provinz. Doch die Welt spricht von ihr. Was kann es Gemeinsames geben zwischen einer Frau dieser Art und einem unbedeutenden Landmädchen wie mir?«

»In ihr betätigt sich unablässig ein edler und einziger Geist«, fiel er ein. »Ihr Charme – nein – ich will nicht von ihrem Charme sprechen, genug, daß jeder, der ihr in die Nähe kommt, unter ihren Bann gerät … Widersprüche verschwinden, jeder Druck läßt nach … Wenn ich mich nicht irre – aber ich irre mich nie in geistigen Fragen –, so haben Sie einen seelischen Druck, Natalia Viktorowna.«

Fräulein Haldins klare graue Augen blickten fest in sein weiches großes Gesicht. Ich hatte plötzlich den Eindruck, daß er hinter seinen dunklen Augengläsern so unverschämt sein konnte, wie er nur wollte.

»Neulich abends erst, als ich mit unserem letzten interessanten Ankömmling aus St. Petersburg vom Château Borel nach der Stadt zurückging, konnte ich den stark beruhigenden – ich möchte sagen, versöhnenden Einfluß beobachten … Den ganzen weiten Weg am See entlang schwieg er, wie ein Mann, dem man den Weg zum Frieden gewiesen hat. Ich konnte fühlen, wie es in seiner Seele gärte. Sie verstehen mich. Er hörte mich geduldig an. Ich war an jenem Abend begeistert von dem starken Genius Eleanors – von Madame de S., meine ich. Es war Vollmond, und ich konnte sein Gesicht beobachten. Ich bin nicht zu täuschen.«

Fräulein Haldin sah zu Boden und schien zu zögern.

»Nun gut, ich werde daran denken, was Sie gesagt haben, Peter Iwanowitsch, und will versuchen, bei Ihnen vorzusprechen, sobald ich mit gutem Gewissen Mutter auf eine oder zwei Stunden allein lassen kann.«

So kalt diese Worte auch gesagt wurden, so war ich durch das Zugeständnis doch überrascht. Er ergriff ihre rechte Hand mit solchem Eifer, daß ich nicht anders dachte, als er würde sie an seine Lippen oder an seine Brust drücken. Doch er hielt sie nur bei den Fingerspitzen in seiner großen Pranke und schüttelte sie leise, während er die letzte Breitseite von Worten von sich gab.

»Das ist recht, das ist recht. Noch habe ich nicht Ihr volles Vertrauen errungen, Natalia Viktorowna, doch das wird kommen. Alles zu seiner Zeit. Die Schwester von Viktor Haldin kann nicht ohne Bedeutung sein … das ist einfach unmöglich. Und keine Frau kann auf der Galerie sitzen bleiben. Blumen, Tränen, Applaus – die haben ihre Zeit gehabt; es waren mittelalterliche Begriffe. Die Arena selbst ist der Platz für die Frauen.«

Er gab mit einem leichten Schwung ihre Hand frei, als wollte er sie ihr zum Geschenk machen, und blieb dann still stehen, das Haupt leicht gebeugt, in würdiger Unterwerfung unter ihre Weiblichkeit.

»Die Arena! … Sie müssen in die Arena hinabsteigen, Natalia.«

Er trat einen Schritt zurück, neigte seinen mächtigen Körper und ging schnell hinaus. Die Tür schloß sich hinter ihm. Doch unmittelbar darauf hörte man den mächtigen Widerhall seiner Stimme, während er im Vorzimmer mit dem ältlichen Dienstmädchen sprach, das ihn hinausbegleitete. Ob er auch sie ermahnte, in die Arena hinabzusteigen, kann ich nicht sagen. Es hörte sich an wie eine Predigt, und das leichte Zuklappen der Außentür schnitt sie plötzlich ab.

3

Eine Zeitlang sahen wir uns schweigend an.

»Wissen Sie, wer es ist?«

Fräulein Haldin kam auf mich zu und richtete diese Frage auf Englisch an mich.

Ich nahm die dargebotene Hand.

»Jedermann weiß das. Er ist ein revolutionärer Feminist, ein großer Schriftsteller, wenn Sie wollen, und, wie soll ich sagen, der – der – Stammgast in Madame de S.s mystisch-revolutionärem Salon.«

Fräulein Haldin strich sich mit der Hand über die Stirn.

»Sie müssen wissen, er war über eine Stunde bei mir, bevor Sie hereinkamen. Ich war so froh, daß Mutter sich niedergelegt hatte. Sie schläft oft ganze Nächte nicht und ruht dann manchmal mitten am Tag ein paar Stunden. Es ist offensichtlich Erschöpfung – und doch bin ich dankbar … wenn diese Pausen nicht wären …«

Sie sah mich an mit jenem Ausdruck rücksichtsloser Einsicht, der mich an ihr immer so verwirrte, und schüttelte den Kopf.

»Nein, sie würde nicht irrsinnig werden.«

»Mein liebes Fräulein«, rief ich abwehrend aus und war doppelt erschreckt, weil ich in meinem Innersten weit davon entfernt war, Frau Haldin für ganz normal zu halten.

»Sie wissen nicht, was für einen scharfen und durchdringenden Verstand meine Mutter hatte«, fuhr Natalie fort, mit der ruhigen, verständigen Einfachheit, die mir immer wie eine Art Heroismus vorkam.

»Ich bin sicher …«, murmelte ich.

»Ich verdunkelte Mutters Zimmer und kam hier heraus. Ich hatte es mir so lange gewünscht, ruhig nachdenken zu können.«

Sie unterbrach sich und fügte dann ohne irgendein Zeichen von Trauer hinzu: »Es ist sehr schwer.« Dabei sah sie mich seltsam starr an, als erwartete sie irgendeine Äußerung der Zustimmung oder Überraschung. Ich äußerte keines von beiden. Ich fühlte mich unwiderstehlich gedrängt, zu sagen:

»Der Besuch jenes Herrn hat es um nichts leichter gemacht, fürchte ich.«

Fräulein Haldin stand vor mir mit einem eigentümlichen Ausdruck in den Augen.

»Ich will nicht behaupten, daß ich Peter Iwanowitsch vollständig verstehe. Man muß irgendeine Führung haben, wenn man ihm auch nicht die Oberaufsicht über sein ganzes Leben in die Hand gibt. Ich bin ein unerfahrenes Mädchen, aber ich bin keine Sklavennatur. Davon haben wir in Rußland zu viele gehabt. Warum sollte ich nicht auf ihn hören? Es kann nicht schlimm sein, wenn man seine Gedanken leiten läßt. Aber ich will Ihnen gestehen, daß ich Peter Iwanowitsch gegenüber nicht ganz unbefangen bin. Ich weiß nicht recht, was mich im Augenblick hindert …«

Sie ging plötzlich von mir weg in eine entfernte Ecke des Zimmers. Sie öffnete rasch eine Schublade, schob sie wieder zu und kam mit einem Stück Papier in der Hand zurück. Es war dünn und mit engen Schriftzügen bedeckt. Augenscheinlich ein Brief.

»Ich wollte es Ihnen wörtlich vorlesen«, sagte sie. »Es ist einer der Briefe meines armen Bruders. Er zweifelte nie. Wie konnte er zweifeln? Sie sind ja nur eine kleine Handvoll Leute, die Unterdrücker, gegen den einmütigen Willen unseres Volkes.«

»Ihr Bruder glaubte daran, daß der Wille eines Volkes alles erreichen könne?«

»Es war seine Religion«, erklärte Fräulein Haldin.

Ich sah auf ihr ruhiges Gesicht und ihre belebten Augen.

»Natürlich muß der Wille geweckt werden, gesammelt und angestachelt«, fuhr sie fort. »Das ist die wahre Aufgabe richtiger Agitatoren. Man muß sein ganzes Leben daran setzen. Die Erniedrigung, die Knechtschaft, die absolutistischen Lügen müssen entwurzelt und fortgeschwemmt werden. Eine Reform ist unmöglich. Es gibt nichts zu reformieren. Wir haben keine Gesetze, keine Institutionen, wir haben nur eigenmächtige Entscheidungen; nur eine Handvoll grausame, vielleicht blinde Beamte stehen gegen ein Volk.«

Der Brief raschelte leise in ihrer Hand. Ich sah auf die bekritzelten Blätter herunter, deren Handschrift allein schon kabbalistisch schien, unverständlich für das westliche Europa.

»Wenn man es so darstellt«, gab ich zu, »so erscheint das Problem recht einfach. Ich fürchte aber, daß ich seine Lösung nicht erleben werde. Wenn Sie nach Rußland zurückgehen, dann weiß ich, daß ich Sie nie wiedersehen werde; und doch sage ich nochmals: Gehen Sie zurück! Glauben Sie nicht, daß ich nur auf Ihre Erhaltung bedacht bin. Nein, ich weiß, daß eine Rückkehr Sie die persönliche Sicherheit kosten würde. Doch ich will Sie mir weit lieber dort in Gefahr vorstellen, als dem ausgesetzt, was hier vielleicht an Sie herantreten möchte.«

»Ich will Ihnen etwas sagen«, sagte Fräulein Haldin mit kurzer Überlegung. »Ich glaube, Sie hassen die Revolution. Sie halten sie nicht für anständig. Sie gehören einem Volke an, das einen Pakt mit dem Schicksal abgeschlossen hat und nun nicht dagegen verstoßen möchte. Wir aber haben keinen Pakt geschlossen. Es hat sich uns nie die Gelegenheit dazu geboten – so viel Freiheit für so viel bare Münze. Sie schrecken vor dem Gedanken zurück, daß irgend jemand, von dem Sie etwas halten, sich revolutionär betätigen könnte, als wäre das – wie soll ich sagen – etwas Unehrenhaftes.«

Ich senkte den Kopf.

»Sie haben ganz recht«, sagte ich. »Ich halte sehr viel von Ihnen.«

»Glauben Sie nicht, daß ich das nicht weiß«, fiel sie hastig ein. »Ihre Freundschaft war mir von höchstem Wert.«

»Ich habe wenig mehr getan, als zugesehen.«

Sie errötete ganz leicht unter den Augen.

»Es gibt eine Art zuzusehen, die wertvoll ist. Ich habe mich dadurch weniger einsam gefühlt. Es ist schwer zu erklären.«

»Wirklich? Nun, auch ich habe mich weniger einsam gefühlt. Und das ist leicht zu erklären. Aber ich will nicht weiter darüber sprechen. Nur eines möchte ich Ihnen noch sagen: in einer wirklichen Revolution – nicht einem einfachen Dynastiewechsel oder einer Reform der staatlichen Grundlagen –, in einer wirklichen Revolution kommen die besten Charaktere nicht obenauf. Eine heftige Revolution fällt zunächst einmal engsichtigen Fanatikern und tyrannischen Heuchlern in die Hände. Dann kommt die Reihe an alle die anspruchsvollen, intellektuellen Bankerotteure der Zeit. Das sind die Häupter und Führer. Sie werden bemerken, daß ich die einfachen Schurken nicht mitgenannt habe. – Die gründlichen und gerechten, die edlen, menschlichen und hingebungsvollen Naturen, die Selbstlosen und Intelligenten mögen eine Bewegung beginnen, – sie gleitet ihnen aber aus der Hand. Sie sind nicht die Führer einer Revolution – sie sind ihre Opfer: Opfer des Abscheus, der Enttäuschung – oft der Reue. Schmählich verratene Hoffnungen, verzerrte Ideale, das ist die Definition revolutionären Erfolges. Bei jeder Revolution sind Herzen gebrochen an solchen Erfolgen. Doch genug davon. Ich will nur sagen, daß ich nicht wünsche, daß Sie ein Opfer werden möchten.«

»Selbst wenn ich alles glauben könnte, was Sie gesagt haben, so wollte ich doch immer noch nicht an mich selbst denken«, wehrte Fräulein Haldin ab. »Ich würde Freiheit aus jeder Hand nehmen, wie ein Hungriger nach einem Stück Brot greift. Der wahre Fortschritt muß nachher einsetzen, und dafür werden sich die rechten Leute finden lassen. Sie sind schon unter uns. Man trifft sie da und dort in ihrer Abgeschiedenheit und Namenlosigkeit, wie sie sich vorbereiten …«

Sie breitete den Brief aus, den sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, wiederholte mit einem Blick darauf: »Ja! man trifft solche Leute«, und las dann laut die Worte vor: »Fleckenlose, hochgesinnte und einsame Existenzen.«

Sie faltete den Brief zusammen und erklärte, während ich sie fragend ansah:

»Das sind die Worte, in denen mein Bruder von einem jungen Mann spricht, den er in Petersburg kennengelernt hat. Ein vertrauter Freund, vermute ich. Es muß so sein. Sein Name ist der einzige, den mein Bruder in seiner ganzen Korrespondenz mit mir erwähnt. Durchaus der einzige, und – würden Sie es glauben – der Mann ist hier. Er kam kürzlich in Genf an.«

»Haben Sie ihn gesehen?« forschte ich. »Aber natürlich müssen Sie ihn gesehen haben.«

»Nein, nein, das habe ich nicht, ich wußte nicht, daß er hier ist. Peter Iwanowitsch selbst hat es mir gesagt. Sie haben es ja auch gehört, wie er einen neuen Ankömmling aus St. Petersburg erwähnte … Nun gut, das ist der Mann mit der ›fleckenlosen, hochgesinnten und einsamen Existenz‹. Meines Bruders Freund!«

»Politisch kompromittiert, vermute ich«, warf ich ein.

»Das weiß ich nicht. Ja, es muß wohl so sein. Wer weiß. Vielleicht war es ebendiese Freundschaft mit meinem Bruder … aber nein, das ist kaum möglich. Ich weiß eigentlich nichts weiter von ihm, als was Peter Iwanowitsch mir gesagt hat. Er hat ein Empfehlungsschreiben von Vater Zosim gebracht. – Sie kennen ihn doch, den priesterlichen Demokraten; Sie haben von Vater Zosim gehört?«

»O ja, der berühmte Vater Zosim war vor ungefähr einem Jahr etwas über zwei Monate hier in Genf«, sagte ich. »Nach seiner Abreise von hier scheint er verschwunden zu sein.«

»Es hat den Anschein, daß er wieder in Rußland an der Arbeit ist. Irgendwo im Zentrum«, sagte Fräulein Haldin lebhaft. »Aber bitte, erwähnen Sie das zu niemand, lassen Sie ja nichts davon verlauten, denn wenn etwas davon in die Zeitungen käme, so wäre es für ihn gefährlich.«

»Sie sind natürlich begierig, diesen Freund Ihres Bruders kennenzulernen?« fragte ich.

Fräulein Haldin steckte den Brief in die Tasche. Ihre Augen wanderten über mich weg nach der Tür von ihrer Mutter Zimmer.

»Nicht hier«, murmelte sie, »nicht zum ersten Male wenigstens.«

Nach einem kurzen Schweigen empfahl ich mich, doch Fräulein Haldin folgte mir in das Vorzimmer und schloß behutsam die Tür hinter uns.

»Sie vermuten wohl schon, wo ich morgen hingehen will?«

»Sie haben sich entschlossen, bei Madame de S. Besuch zu machen.«

»Ja. Ich gehe ins Château Borel. Ich muß.«

»Was, glauben Sie, werden Sie dort hören?« fragte ich leise.

Ich vermutete, daß sie sich mit irgendeiner unerfüllbaren Hoffnung trug. Es war aber nicht das.

»Denken Sie nur, – so ein Freund. Der einzige Mann, den er in seinen Briefen nannte. Er muß mir etwas zu geben haben, und seien es auch nur ein paar arme Worte. Vielleicht etwas, was er in jenen letzten Tagen gesagt oder gedacht hat. Können Sie wollen, daß ich allem, was von meinem armen Bruder übrig ist, den Rücken kehre – einem Freunde?«

»Gewiß nicht«, sagte ich. »Ich verstehe Ihre pietätvolle Neugier durchaus.«

»Fleckenlose, hochgesinnte und einsame Existenzen«, murmelte sie vor sich hin. »Es gibt welche! Es gibt welche! Nun gut, lassen Sie mich eine davon über den geliebten Toten befragen.«

»Wie wissen Sie aber, daß Sie ihn dort treffen werden? Wohnt er als Gast im Schloß, glauben Sie?«

»Ich kann es wirklich nicht sagen«, gab sie zu. »Er brachte ein Empfehlungsschreiben von Vater Zosim, der, wie es scheint, ebenfalls ein Freund von Madame de S. ist. Schließlich muß sie doch keine gar so wertlose Frau sein.«

»Eine Zeitlang waren über Vater Zosim selbst alle möglichen Gerüchte im Umlauf«, bemerkte ich.

Sie zuckte die Schultern.

»Auch Verleumdung ist eine Waffe unserer Regierung, das ist gut bekannt. O ja, es ist Tatsache, daß Vater Zosim die Protektion des Gouverneurs einer gewissen Provinz genoß. Ich sprach darüber mit meinem Bruder vor ungefähr zwei Jahren, wie ich mich erinnere. Aber seine Arbeit war gut. Und jetzt ist er proskribiert. Kann man einen besseren Beweis verlangen? Doch einerlei, was der Priester war oder ist. Alles das hat mit dem Freunde meines Bruders nichts zu tun. Wenn ich ihn dort nicht treffe, dann werde ich die Leute nach seiner Adresse fragen, und natürlich muß ihn meine Mutter später auch kennenlernen. Er kann uns vielleicht alles mögliche zu sagen haben. Es wäre eine Wohltat, wenn Mutter etwas beruhigt werden könnte. Sie wissen ja, was sie sich vorstellt. Vielleicht kann man eine Erklärung finden – oder erfinden sogar; es wäre keine Sünde.«

»Gewiß«, sagte ich, »es wäre keine Sünde, nur – nur – ein Fehler vielleicht.«

»Ich möchte nur, daß sie einen Teil ihrer alten geistigen Frische zurückgewinnt. Solange sie so ist wie jetzt, kann ich nichts in Ruhe überdenken.«

»Denken Sie daran, irgendeinen frommen Betrug zum Wohl Ihrer Mutter zu ersinnen?« fragte ich.

»Warum Betrug? Ein solcher Freund muß unbedingt etwas über die letzten Tage meines Bruders wissen. Er könnte uns sagen … Es ist irgend etwas in den Tatsachen, was mir keine Ruhe läßt. Ich bin sicher, daß er uns hier ins Ausland nachkommen wollte, – daß er irgendwelche Pläne hatte, irgendeine große patriotische Tat im Auge; nicht nur für sich allein, sondern für uns beide. Ich glaubte daran; ich erwartete freudig die Zeit, oh, mit so viel Hoffnung und Ungeduld … Ich hätte helfen können. Und jetzt plötzlich dieser Anschein von Rücksichtslosigkeit – als wäre ihm nichts daran gelegen gewesen …«

Sie schwieg eine Zeit und schloß dann eigensinnig: »Ich will wissen …«

Als ich später langsam den Boulevard des Philosophes hinunterschritt, überdachte ich das Gespräch und fragte mich selbst, was es denn im Grunde sein könnte, was sie wissen wollte. Ich wußte genug von ihrer Geschichte, um einen Anhaltspunkt zu finden. In der höheren Töchterschule, in der Fräulein Haldin ihre Studien beendet hatte, war sie mit recht mißgünstigen Augen betrachtet worden. Man hatte sie im Verdacht, daß sie eigene Ansichten habe über Fragen, die im offiziellen Lehrplan gelöst schienen. Als später die beiden Damen sich auf ihr Landgut zurückzogen, hatten beide, Mutter und Tochter, bei offiziellen Zusammenkünften ihre Meinung geäußert und sich dabei in den Ruf von Liberalismus gebracht. Das Dreigespann des Polizeikapitäns des Distriktes wurde immer häufiger in ihrem Dorfe gesehen. »Ich muß die Bauern im Auge behalten«, so erklärte er seine Besuche oben im Herrenhaus. »Nach zwei alleinstehenden Damen muß man sich ein bißchen umsehen.« Er inspizierte dann die Wände, als wollte er sie mit den Augen durchdringen, sah die Photographien an, drehte nachlässig die Bücher im Wohnzimmer um und verabschiedete sich nach der üblichen Erfrischung. Eines Abends aber kam der alte Priester aus dem Dorf in der größten Betrübnis und Aufregung und berichtete, daß er, der Priester, den Auftrag erhalten habe, alles, was in dem Hause vorging, scharf zu überwachen, auch auf andere Weise (so zum Beispiel unter Ausnützung seines geistlichen Einflusses auf die Dienerschaft), ganz besonders aber auf Besuche zu achten, die die Damen erhielten, wer es war, wie lange sie blieben, ob manche davon in der Gegend fremd waren, und so weiter. Der einfache alte Mann war aufs tiefste erniedrigt und erschreckt. »Ich bin gekommen, um Sie zu warnen. Seien Sie vorsichtig in Ihrer Lebensweise, um der Liebe Gottes willen. Ich schäme mich zu Tode. Aber für mich gibt es kein Entrinnen. Ich werde ihnen sagen müssen, was ich sehe, denn täte ich es nicht, so ist da mein Diakonus. Der ist zu allem imstande, wenn es sich darum handelt, sich in Gunst zu setzen. Und dann mein Schwiegersohn, der Mann meiner Parascha, der Schreiber im kaiserlichen Domänenamt ist; sie würden ihn schnell hinauswerfen – und vielleicht irgendwohin weit weg schicken.« Der alte Mann jammerte über die harten Zeiten, »wenn die Leute irgendwie mißfallen«, und trocknete sich die Augen. Er wünschte nicht, seinen Lebensabend mit kahlgeschorenem Kopf in der Büßerzelle irgendeines Klosters zu verbringen – der ganzen Strenge der kirchlichen Strafen unterworfen, »denn die würden kein Mitleid haben mit einem alten Mann«, stöhnte er. Er bekam förmlich einen Weinkrampf, und die beiden Damen versuchten, voller Mitleid und so gut es ging, ihn zu trösten, bevor sie ihn in sein Dorf zurückgehen ließen. Übrigens bekamen sie tatsächlich wenig Besuch. Die Nachbarn, darunter ein paar alte Freunde, begannen sich fernzuhalten. Einige aus Ängstlichkeit, andere mit deutlicher Verachtung – das waren große Leute, die nur für den Sommer kamen, erklärte mir Fräulein Haldin, Aristokraten, Reaktionäre. Es war ein einsames Leben für ein junges Mädchen. Ihre Beziehungen zu ihrer Mutter waren von der zärtlichsten und offenherzigsten Art; doch Frau Haldin hatte sich die Erfahrungen ihrer Zeit zu eigen gemacht. Ihre Leiden, ihre Enttäuschungen, ihre Apostasien; ihre Zuneigung zu ihren Kindern äußerte sich darin, daß sie jedes Anzeichen von Angst unterdrückte. Sie behielt eine heldenhafte Zurückhaltung bei. Der einzige sichtbare Vertreter der geächteten Freiheit war für Natalie Haldin ihr Bruder, mit seinem Petersburger Leben, das zwar durchaus nicht rätselhaft (denn über seine Gefühle und Gedanken konnte kein Zweifel bestehen), aber in gewissen Einzelheiten in Geheimnis gehüllt war. Das innerste Wesen der Freiheit, ihre zahllosen Versprechungen lebten in ihren langen Gesprächen auf, die die kühnsten Tathoffnungen und den Glauben an Erfolg atmeten. Dann plötzlich kamen die Taten und die Hoffnungen zu einem Ende infolge der Einzelheiten, die ein englischer Journalist herausgebracht hatte. Die konkrete Tatsache, die Tatsache seines Todes blieb bestehen. Ihre tieferen Gründe aber schienen unerfindlich. Sie fühlte sich verlassen, ohne Aufklärung, und doch hatte sie keinen Verdacht gegen ihn. Ihr einziger Wunsch war, jetzt um jeden Preis zu erfahren, wie sie seinem abgeschiedenen Geist die Treue wahren könne.

4

Es vergingen mehrere Tage, bevor ich Natalie Haldin wieder traf. Ich kreuzte eben den Platz vor dem Theater, als ich ihre schmiegsame Gestalt erblickte, wie sie zwischen die Torpfeiler der reizlosen öffentlichen Promenade auf den Bastionen einbog. Sie schritt von mir weg, aber ich wußte, daß wir uns treffen würden, wenn sie die Hauptallee zurückkam, außer sie ging nach Hause. In diesem Fall, glaube ich, hätte ich sie noch nicht besucht. Mein Wunsch, sie von jenen Leuten fern zu halten, war so stark wie nur je, doch gab ich mich über die Macht meines Einflusses keiner Täuschung hin. Ich war ja nur ein Mensch aus dem Westen, und es lag auf der Hand, daß Fräulein Haldin meine Weisheit weder anhören wollte noch konnte; und was meine Sehnsucht betraf, ihre Stimme zu hören, so hielt ich es für besser, mir dieses Vergnügen nicht allzuoft zu gestatten. Nein, ich wäre nicht nach dem Boulevard des Philosophes gegangen. Als ich aber ungefähr in der Mitte der Hauptallee Fräulein Haldin auf mich zukommen sah, da war ich zu neugierig und vielleicht zu ehrlich, wegzulaufen.

Eine herbe Frühlingsstimmung lag in der Luft. Der Himmel war von hartem Blau, doch die jungen Blätter legten sich wie ein leichter Nebel über das kahle Geäst der Bäume, und die klare Sonne warf kleine goldene Punkte in Fräulein Haldins offene Augen, die sich mir mit freundlichem Grüßen zuwandten.

Ich erkundigte mich nach der Gesundheit ihrer Mutter. Sie antwortete nur mit einer leichten Bewegung der Schultern und mit einem kurzen, traurigen Seufzer.

»Aber, sehen Sie, ich habe mich doch zu einem Spaziergang aufgerafft … ›for exercise‹, wie ihr Engländer sagt.«

Ich lächelte zustimmend, und sie fügte eine unerwartete Bemerkung hinzu:

»Es ist ein glorreicher Tag.«

In ihrer Stimme, die leicht rauh und männlich und doch unsagbar reizvoll, wie ein Vogelruf, klang, lag ehrliches Entzücken. Ich freute mich darüber. Es war, als wäre ihr ihre Jugend zum Bewußtsein gekommen – denn es war wenig lenzliche Pracht zu spüren in dem rechtwinklig eingefaßten Raum voll Gras und Bäumen, rings von den regelmäßigen Häuserreihen dieser Stadt umstanden, die so hübsch war ohne Anmut und gastlich ohne Sympathie. Auch in der Luft lag wenig Wärme. Und der Himmel, dieser Himmel eines Landes ohne Horizonte, von den Aprilschauern reingewaschen, dehnte sich in grausamem, kaltem Blau, ohne Höhe, und plötzlich eingeengt von den häßlichen dunklen Mauern des Jura, auf denen da und dort noch ein paar kümmerliche Schneeflecken lagen. Die ganze Pracht der Jahreszeit mußte in ihr selbst liegen, – und ich war froh, daß dieses Gefühl in ihr Leben getreten war, sei es auch nur für kurze Zeit.

»Ich freue mich, Sie das sagen zu hören.«

Sie warf mir einen raschen Blick zu, rasch, nicht verstohlen. Wenn es etwas gab, dessen sie absolut unfähig war, so war es Verstohlenheit. Sogar im Rhythmus ihres Ganges äußerte sich ihre Offenherzigkeit. Ich war es, der sie heimlich betrachtete, wenn ich so sagen kann. Ich wußte, wo sie gewesen war, wußte aber nicht, was sie in diesem Nest aristokratischer Verschwörer gehört oder gesehen hatte. Ich gebrauche das Wort »aristokratisch« in Ermangelung eines besseren Ausdruckes. Das Château Borel, unter den Bäumen und Büschen des verwilderten Parkes verborgen, hatte damals seinen Ruf, so wie ihn der Wohnsitz jener anderen gefährlichen und verbannten Frau, der Madame de Staël, zu Napoleons Zeiten gehabt hat. Nur war der Napoleonische Despotismus, der in Reiterstiefeln das Erbe der Revolution angetreten und jene kluge Frau für einen Feind gehalten hatte, der Mühe wert, beobachtet zu werden, etwas ganz anderes als die Autokratie in mystischen Gewändern, in der die Sklavenhälterinstinkte der tartarischen Eroberer nachlebten. Und Madame de S. war weit davon entfernt, der begabten Verfasserin von »Corinne« ähnlich zu sein. Sie machte viel Lärm darüber, daß sie verfolgt würde. Ich weiß nicht, ob man sie in gewissen Kreisen für gefährlich hielt. Und was die Überwachung anbelangt, so glaube ich, daß das Château Borel nur aus ziemlicher Entfernung beobachtet werden konnte. In seiner Abgeschlossenheit bot es einen idealen Unterschlupf für Verschwörungen aller Art, ob sie nun ernst oder nichtig waren. Doch alles das interessierte mich nicht. Ich wollte nur wissen, welche Wirkung seine ungewöhnlichen Bewohner und die ganz besondere Atmosphäre auf ein Mädchen wie Fräulein Haldin hervorgebracht hatten, das so wahr und ehrlich, doch auch so gefährlich unerfahren war. Ihr unbewußt erhabenes Nichtwissen um die niedrigen Instinkte der Menschheit überlieferte sie waffenlos ihren eigenen Impulsen. Und da war auch noch jener Freund ihres Bruders, der bedeutende Neuankömmling aus Rußland … Ich war neugierig zu wissen, ob sie es fertiggebracht hatte, ihn zu treffen.

Wir gingen eine Strecke Weges langsam und schweigend.

»Wissen Sie«, fing ich plötzlich an, »wenn Sie die Absicht haben, mir nichts zu erzählen, dann sagen Sie mir das ganz unverblümt, und ich werde natürlich nicht weiter fragen. Ich will aber nicht den Delikaten spielen, und frage Sie ganz offen um alle Einzelheiten.«

Sie lächelte leicht über meinen drohenden Ton.

»Sie sind neugierig wie ein Kind.«

»Nein, ich bin nur ein besorgter alter Mann«, gab ich ernsthaft zurück.

Sie ließ ihren Blick auf mir ruhen, als wollte sie sich über den Grad meiner Besorgnis oder die Zahl meiner Jahre vergewissern. Mein Gesicht war niemals ausdrucksvoll, glaube ich. Und was meine Jahre angeht, so bin ich noch nicht alt genug, auffallend greisenhaft zu erscheinen. Ich habe keinen langen Bart wie der gute Eremit aus den romantischen Balladen, mein Gang ist nicht schlotternd, meine ganze Erscheinung nicht die eines abgeklärten, ehrwürdigen Weisen. Ich verfüge nicht über diese moralischen Vorzüge. Ich bin alt, leider Gottes, in eindeutiger und gewöhnlicher Art. Und mir schien es, als läge in Fräulein Haldins Blick etwas wie Mitleid. Sie schritt schneller aus.

»Sie fragen nach allen Einzelheiten. Lassen Sie mich nachdenken. Ich muß mich erst besinnen. Es war neu genug für ein – ein Landmädel wie mich.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte sie zunächst, daß das Château Borel im Inneren fast ebenso vernachlässigt sei wie äußerlich. Das war nicht weiter verwunderlich. Wenn ich nicht irre, war ein Hamburger Bankier, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, der Erbauer. Er hatte wohl gedacht, darin in Ruhe seine letzten Tage zu verbringen, im Angesicht dieses Sees, dessen klare, ruhige und wohltuende Schönheit auf die unromantische Phantasie eines Geschäftsmannes eine starke Anziehungskraft haben mochte. Doch er starb bald. Seine Frau fuhr auch ab (aber nur nach Italien), und dieser kostspielige Ruhesitz, ganz augenscheinlich unverkäuflich, hatte mehrere Jahre lang leergestanden. Man gelangte dahin auf einem bekiesten Fahrweg, der rund um einen großen ungepflegten Rasenplatz führte und einem alle Zeit ließ, den Verfall der stuckverzierten Fassade zu bemerken; Fräulein Haldin sagte, der Eindruck sei peinlich gewesen und habe sich verstärkt, als sie näherkam. Sie sah grüne Moosflecken auf der Stufe der Terrasse. Die Vordertür stand weit offen. Es war niemand zu sehen. Sie kam in eine weite, hohe und gänzlich leere Halle mit einer Unmenge Türen. Die Türen waren alle geschlossen. Ein breites, kahles steinernes Treppenhaus lag vor ihr, und das Ganze machte den Eindruck eines unbewohnten Hauses. Sie blieb still stehen, etwas verwirrt durch die Einsamkeit. Nach einer Zeit aber wurde sie inne, daß irgendwo eine Stimme unaufhörlich sprach.

»Sie wurden wahrscheinlich die ganze Zeit über beobachtet«, warf ich ein. »Ringsum waren wohl Augen …«

»Ich wüßte nicht, wie das möglich gewesen wäre«, gab sie zurück. »Ich habe nicht einmal einen Vogel im Garten gesehen. Ich kann mich nicht erinnern, das leiseste Zwitschern in den Bäumen gehört zu haben. Der ganze Ort schien völlig verödet, bis auf die Stimme.«

Sie konnte die Sprache nicht erkennen – Russisch, Französisch oder Deutsch. Niemand schien zu antworten. Sie hatte den Eindruck, als hätten die fortgezogenen Einwohner die Stimme zurückgelassen, um zu den kahlen Wänden zu sprechen. Die Stimme tönte fort, mit einer kleinen Pause dann und wann. Sie klang einsam und traurig. Die Zeit erschien Fräulein Haldin recht lang. Ein unbesieglicher Widerwille hielt sie ab, eine der Türen in der Halle zu öffnen. Es war so hoffnungslos; niemand würde kommen, die Stimme würde nie aufhören. Sie gestand mir, daß sie mit Mühe den Wunsch unterdrückte, sich umzudrehen und ungesehen, wie sie gekommen war, wegzugehen.

»Wirklich, hatten Sie den Wunsch?« rief ich voll Bedauern. »Wie schade, daß Sie ihm nicht nachgaben!«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was für eine merkwürdige Erinnerung wäre das gewesen! Der verödete Garten, die leere Halle, die unpersönliche, geläufige Stimme und – niemand, nichts, keine Seele.«

Die Erinnerung wäre einzigartig und harmlos gewesen. Aber sie war nicht das Mädchen, vor dem einschüchternden Eindruck von Einsamkeit und Geheimnis davonzulaufen. »Nein, ich bin nicht weggelaufen. Ich blieb, wo ich war, und sah endlich eine Seele. Eine so merkwürdige Seele.«

Während sie noch das breite Stiegenhaus hinaufsah und feststellte, daß die Stimme irgendwoher von oben käme, hatte ein Rauschen von Kleidern ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie sah zurück und erblickte eine Frau, die die Halle durchschritt und augenscheinlich aus einer der vielen Türen gekommen war. Ihr Gesicht war abgewendet, so daß sie zunächst Fräulein Haldin nicht erblickt hatte.

Als sie sich umdrehte und eine Fremde erblickte, schien sie zunächst ungemein erschreckt. Nach ihrer schmächtigen Gestalt hätte sie Fräulein Haldin für ein junges Mädchen gehalten; doch wenn ihr Gesicht auch kindlich rund schien, so war es doch eingefallen und runzlig, mit dunklen Ringen unter den Augen. Ein dichter Schopf staubig-braunen Haares war nach Knabenart auf der Seite gescheitelt, und eine Haarwelle lag über der trockenen, gefurchten Stirn. Nach einem kurzen verständnislosen Anstarren hockte sie sich plötzlich auf den Boden nieder.

»Was meinen Sie mit dem Niederhocken«, fragte ich erstaunt. »Das ist ja ganz merkwürdig.«

Fräulein Haldin erklärte den Grund. Die Person hatte eine kleine Schüssel in der Hand getragen und hatte sich niedergekauert, um sie vor eine große Katze hinzusetzen, die hinter ihren Röcken auftauchte und gierig den Kopf in die Schüssel versenkte. Die Frau stand auf, kam auf Fräulein Haldin zu und fragte sie mit nervöser Schärfe:

»Was wollen Sie, wer sind Sie?«

Fräulein Haldin nannte ihren Namen und auch den von Peter Iwanowitsch. Die mädchenhafte ältliche Frau nickte und zwang ein kurzes Lächeln von Sympathie auf ihr Gesicht. Ihre schwarzseidene Bluse war alt und stellenweise sogar durchgewetzt. Der Rock von schwarzem Serge war kurz und abgetragen. Sie fuhr fort, sie aus nächster Nähe anzustarren; selbst ihre Wimpern und Augenbrauen schienen abgetragen. Fräulein Haldin sprach freundlich zu ihr, wie zu einem unglücklichen und überempfindlichen Wesen, und versuchte ihr klarzumachen, daß ihr Besuch für Madame de S. nicht so ganz unerwartet sein könne.

»Oh! Peter Iwanowitsch hat Ihnen eine Einladung überbracht? Wie hätte ich das wissen sollen? – Eine ›dame de compagnie‹ wird nicht um ihren Rat gefragt, wie Sie sich leicht denken können.« Die schäbige Frau lachte; ihre Zähne, die glänzend weiß und wunderbar ebenmäßig waren, schienen bei ihr ganz lächerlich und unangebracht, wie eine Perlenschnur etwa am Halse eines zerlumpten Landstreichers. »Peter Iwanowitsch ist vielleicht das größte Genie des Jahrhunderts, aber er ist auch der rücksichtsloseste Mann, der lebt. Wenn Sie also eine Verabredung mit ihm haben, so müssen Sie sich nicht wundern, wenn er vielleicht nicht hier ist.«

Fräulein Haldin erklärte, daß sie keine Verabredung mit Peter Iwanowitsch habe. Ihr Interesse für dieses merkwürdige Wesen war augenblicklich erwacht.

»Warum sollte er sich in Unkosten stürzen für Sie oder sonst jemand? Oh, diese Genies! Wenn Sie nur wüßten! Jawohl! Und ihre Bücher – ich meine natürlich die Bücher, die die Welt bewundert, die von göttlichem Geiste beseelten Bücher. Aber Sie haben noch nicht hinter die Kulissen gesehen. Warten Sie, bis Sie einmal einen halben Tag vor einem Tisch sitzen müssen, mit einer Feder in der Hand. Er kann Stunden und Stunden in seinem Zimmer auf und ab gehen. Ich wurde gewöhnlich so steif und gefühllos, daß ich immer fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren und mit einem Mal vom Stuhl herunterzufallen.«

Sie hielt die Hände gefaltet vor sich hin, und ihre Augen, die auf Fräulein Haldins Gesicht gerichtet waren, verrieten keinerlei Erregung. Fräulein Haldin vermutete, daß die Dame, die sich selbst eine »dame de compagnie« nannte, stolz darauf war, Peter Iwanowitsch als Sekretärin gedient zu haben. Daher machte sie eine freundliche Bemerkung.

»Sie können sich keine aufreibendere Stellung denken«, erklärte das Fräulein. »Es ist eben ein angloamerikanischer Journalist da, der Madame de S. interviewt. Sonst würde ich Sie hinaufführen«, fuhr sie in verändertem Ton fort und sah zur Treppe hin. »Ich fungiere auch als Zeremonienmeisterin.«

Es stellte sich heraus, daß Madame de S. keine Schweizer Dienstboten um sich duldete. Und tatsächlich wollte auch kein Dienstbote lange im Château Borel bleiben. Es gab ewig Schwierigkeiten. Fräulein Haldin hatte schon bemerkt, daß die Halle trotz Marmor und Stuckverkleidung eher eine staubige Scheune schien, mit Spinnweben in allen Ecken und Schmutzspuren auf dem schwarz und weiß eingelegten Boden.

»Mir obliegt auch die Sorge für dieses Tier«, erzählte die Dame de compagnie weiter und richtete ihre trüben Augen auf die Katze. »Das macht mir nichts aus. Tiere haben ihr Recht; obwohl ich, genau genommen, nicht einsehe, warum sie nicht ebensogut leiden sollten wie Menschen. Meinen Sie nicht? Aber natürlich leiden sie nicht so sehr. Das ist unmöglich. Nur fordert es in ihrem Fall mehr zu Mitleid heraus, weil sie sich nicht empören können. Ich war einmal eine Republikanerin. Ich vermute, Sie sind es auch?«

Fräulein Haldin gestand mir, daß ihr keine Antwort eingefallen sei. Sie habe nur leicht genickt und ihrerseits gefragt:

»Und Sie sind nicht mehr für die Republik?«

»Da ich mir nun zwei Jahre lang von Peter Iwanowitsch habe diktieren lassen, ist es schwer für mich, irgend etwas zu sein. Zunächst einmal müssen sie völlig reglos dasitzen. Die leiseste Bewegung, die Sie machen, bringt Peter Iwanowitsch aus dem Konzept. Sie wagen kaum zu atmen. Und nun gar Husten – Gott behüte! Peter Iwanowitsch stellte den Tisch um, gegen die Wand, weil ich mich anfangs nicht enthalten konnte, auf und zum Fenster hinauszusehen, während ich darauf wartete, daß er weiterdiktierte. Das war nicht erlaubt. Er sagte, ich gaffte so blöde. Desgleichen war es mir nicht erlaubt, mich über die Schulter nach ihm umzusehen. Da stampfte er sofort mit dem Fuß auf und brüllte: ›Sehen Sie auf das Papier hinunter.‹ Es scheint, daß mein Gesicht ihn verwirrte. Nun weiß ich ja, daß ich nicht schön bin und daß mein Ausdruck nicht hoffnungsfroh ist. Er sagte, daß diese dumme Erwartung ihn wütend mache. Das sind seine eigenen Worte.«

Fräulein Haldin war empört, gab mir aber doch zu, daß sie nicht eigentlich überrascht gewesen sei.

»Ist es möglich, daß Peter Iwanowitsch irgendeine Frau so roh behandeln sollte«, rief sie aus.

Die Dame de compagnie nickte wiederholt in diskreter Bejahung und versicherte dann, daß sie sich gar nichts daraus mache. Das Reizvolle dabei war, daß ihr das Geheimnis der Konzeption enthüllt wurde, daß sie sehen konnte, wie der berühmte Autor des revolutionären Evangeliums mühsam nach Worten suchte, als sei er im unklaren über das, was er eigentlich sagen wollte.

»Ich bin gern bereit, das blinde Werkzeug für höhere Zwecke abzugeben. Es hat nichts auf sich, sein Leben für die Sache hinzugeben. Nur – wenn man alle seine Illusionen zerstört sieht, so ist das fast mehr, als man tragen kann. Ich übertreibe wirklich nicht«, beharrte sie. »Mein innerster Glaube schien in mir einzufrieren – und das um so mehr, da Peter Iwanowitsch, wenn wir im Winter arbeiteten, bei seinem ewigen Auf- und Abgehen keine künstliche Heizung brauchte, um sich warm zu halten. Sogar wenn wir nach Südfrankreich reisen, gibt es bitter kalte Tage, besonders wenn man sechs Stunden hintereinander stillsitzen muß. Die Wände dieser Villen an der Riviera sind so papierdünn. Peter Iwanowitsch schien von alledem nichts zu merken. Es ist wahr, daß ich meine Frostschauer unterdrückte, aus Angst, ihn aus dem Konzept zu bringen. Gewöhnlich biß ich die Zähne zusammen, bis ich den Krampf in die Backen bekam. Wenn Peter Iwanowitsch sein Diktat unterbrach – und manchmal dauerten die Pausen sehr lange, oft nicht weniger als zwanzig Minuten –, da fühlte ich, während er hinter meinem Rücken auf und ab schritt und vor sich hinmurmelte, wie ich Zoll um Zoll abstarb, versichere ich Ihnen. Vielleicht hätte Peter Iwanowitsch meine üble Lage bemerkt, wenn ich meine Zähne hätte klappern lassen. Doch hätte auch das keinen praktischen Erfolg gehabt, glaube ich. Er ist unglaublich filzig in diesen Sachen.«

Die Dame de compagnie sah wieder in das Treppenhaus hinauf. Die große Katze war mit der Milch fertig und rieb nun ihr bärtiges Gesicht bettelnd am Kleide der Frau. Sie bückte sich, um das Tier vom Boden aufzunehmen.

»Geiz ist übrigens eher ein Vorzug als sonst etwas, müssen Sie wissen«, fuhr sie fort und hielt die Katze in beiden Armen. »Bei uns sind es die Geizigen, die Geld für edle Zwecke übrig haben – nicht die sogenannten großherzigen Naturen. Aber bitte glauben Sie nicht, daß ich eine Sybaritin bin. Mein Vater war Beamter im Finanzministerium, ohne jeden Einfluß. Daraus allein können Sie schon entnehmen, daß unser Heim alles eher als luxuriös war, wenn wir auch nicht buchstäblich unter der Kälte zu leiden hatten. Ich rannte meinen Eltern davon, sobald ich angefangen hatte, selbständig zu denken. Ein solches Denken ist nicht so leicht. Man muß dazu gezwungen und zur Wahrheit erweckt werden. Ich danke meine Errettung einer alten Äpfelfrau, die ihre Höhle unter dem Torweg des Hauses hatte, in dem wir wohnten. Sie hatte ein gütiges, runzliges Gesicht und die freundlichste Stimme, die sich denken läßt. Eines Tages sprachen wir zufällig über ein Kind, ein zerlumptes kleines Mädchen, das wir abends in der Straße Männer anbetteln gesehen hatten. Ein Wort gab das andere, und mir gingen nach und nach die Augen auf über die Schrecken, unter denen unschuldige Leute auf dieser Welt zu leiden haben, nur damit die Regierungen bestehen können. Sobald ich einmal das Verbrechen der oberen Klassen erkannt hatte, konnte ich nicht länger mehr bei meinen Eltern leben. Nicht ein einziges Wort des Mitleids war in unserem Heim zu hören, jahraus, jahrein; es wurde über nichts sonst gesprochen als über erbärmliche Bürointrigen, über Gehälter und Beförderung und wie man sich das Wohlwollen des Chefs erschleichen könnte. Der bloße Gedanke, eines Tages eben so einen Mann zu heiraten, wie mein Vater es war, machte mich schaudern. Ich sage nicht, daß irgend jemand da war, der mich hätte heiraten mögen; es war nicht die leiseste Aussicht dazu. War es aber nicht schon schändlich genug, von Regierungssold zu leben, während halb Rußland vor Hunger starb? Das Finanzministerium! Was für ein unsinniger Greuel ist es doch! Wozu braucht das verhungernde, unwissende Volk ein Finanzministerium? Ich küßte meine beiden alten Leute auf beide Backen und ging weg von ihnen, um in Kellern mit dem Proletariat zu leben. Ich versuchte, mich den gänzlich Hoffnungslosen nützlich zu machen. Ich vermute, Sie verstehen, was ich meine. Ich meine die Leute, die nichts in diesem Leben zu erwarten und keinen Fleck haben, wo sie hingehen können. Fühlen Sie nicht, wie entsetzlich das ist, nichts zu erwarten zu haben? Manchmal denke ich, daß es nur in Rußland solche Leute geben kann und ein so unerhörtes Maß von Elend. Ich also tauchte da hinein, und wissen Sie, man kann nicht viel dabei tun. Nein, wirklich nicht – wenigstens nicht, solange es Finanzministerien und ähnliche Greuel gibt, die im Wege stehen. Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, während ich dort versuchte, gegen die Pest anzukämpfen, hätte ich nicht einen Mann getroffen. Es war meine alte Freundin und Lehrmeisterin, das arme ehrwürdige Äpfelweib, das ihn ganz zufällig für mich entdeckte. Eines Abends kam sie in ihrer ruhigen Art und holte mich ab. Ich folgte ihr, wohin sie mich führte. Jener Teil meines Lebens lag ganz in ihren Händen, und ohne sie wäre mein Geist elend zugrunde gegangen. Der Mann war ein junger Arbeiter, ein Lithograph seines Zeichens, und er war in Schwierigkeiten gekommen, infolge jener Geschichte mit der Abstinenzpropaganda, Sie erinnern sich. Es wurden damals eine Menge Leute deswegen eingesperrt. Oh, das Finanzministerium! Was würde aus dem werden, wenn die Armen aufhören wollten, im Suff zu vertieren. Auf mein Wort, ich glaube fest, daß Finanzen und alles, was dazu gehört, eine Erfindung des Teufels sind; nur braucht man gar nicht an eine übernatürliche Quelle alles Bösen zu glauben. Menschen allein sind jeder Verruchtheit fähig. Oh, die Finanzen!«

Es klang nach Haß und Verachtung, wie sie das Wort »Finanzen« hervorzischte. Zu gleicher Zeit aber streichelte sie zärtlich die Katze, die in ihren Armen ruhte. Sie hob die Arme sogar ein wenig, neigte den Kopf und rieb ihre Wange gegen das Fell des Tieres, das die Liebkosung gänzlich unbeteiligt über sich ergehen ließ, wie es die Eigentümlichkeit seiner Art ist. Dann sah sie nach Fräulein Haldin und entschuldigte sich nochmals deswegen, daß sie sie nicht zu Madame de S. hinaufführe. Das Interview dürfe nicht unterbrochen werden. Der Journalist werde aber jeden Augenblick die Stufen herunterkommen. Es sei das beste, in der Halle zu warten; und außerdem seien ja alle diese Zimmer (sie blickte im Kreise auf die vielen Türen), alle diese Zimmer im Erdgeschoß seien nicht eingerichtet.

»Es ist wirklich nicht einmal ein Stuhl da, den ich Ihnen anbieten könnte«, fuhr sie fort. »Wenn Sie aber Ihre eigenen Gedanken meinem Geschwätz vorziehen, so will ich mich hier auf die unterste Stufe setzen und mich still verhalten.«

Fräulein Haldin beeilte sich, ihr zu versichern, daß sie im Gegenteil an der Geschichte des Lithographengesellen regen Anteil nähme. Er sei doch natürlich ein Revolutionär gewesen.

»Ein Märtyrer, ein einfacher Mensch«, sagte die Dame de compagnie mit einem leisen Seufzer und sah verträumt durch die offene Eingangstür. Dann wandte sie ihre trüben Augen Fräulein Haldin zu.

»Ich habe vier Monate mit ihm gelebt. Es war wie ein böser Traum.«

Als Fräulein Haldin sie forschend ansah, begann sie das verfallene Gesicht des Mannes zu beschreiben, seine fleischlosen Glieder, seine Verkommenheit. Das Zimmer, in das sie die Äpfelfrau geführt hatte, war eine winzige Mansarde, ein elendes Loch unter dem Dach eines schmutzigen Hauses. Der Mörtel war von den Wänden gefallen und bedeckte den Boden, und als die Tür aufging, wehte eine Unmenge schwarzer Spinnweben im Luftzuge. Er war wenige Tage vorher freigelassen worden – aus dem Gefängnis auf die Straße geworfen –, und Fräulein Haldin schien es, als sehe sie zum ersten Male einen Namen und ein Gesicht auf dem Körper dieses leidenden Volkes, dessen hartes Schicksal das Thema für so viele Unterredungen zwischen ihr und ihrem Bruder gebildet hatte, im Garten ihres Landhauses.

Er war mit einem Haufen anderer Leute in der Geschichte mit dem lithographierten Abstinenzaufruf verhaftet worden. Da die Polizei eine Unmenge verdächtiger Personen festgenommen hatte, so kam sie unglückseligerweise auf den Gedanken, sie könnte aus einigen davon irgendwelche Geständnisse in bezug auf revolutionäre Propaganda erpressen.

»Sie prügelten ihn so unbarmherzig während der Untersuchung«, fuhr die Dame de compagnie fort, »daß sie ihm einen innerlichen Schaden zufügten. Als sie mit ihm fertig waren, war er ein Todgeweihter. Er konnte nichts für sich tun. Ich fand ihn auf einer hölzernen Bettstatt liegen, ohne irgendwelches Bettzeug, den Kopf auf einem Bündel schmutziger Lumpen, die ihm ein alter Lumpensammler, der im Keller desselben Hauses wohnte, aus Barmherzigkeit geliehen hatte. Da lag er, unbedeckt, glühend vor Fieber, und es gab nicht einmal einen Wasserkrug im Zimmer, aus dem er seinen Durst hätte stillen können. Es gab überhaupt nichts – nur die Bettstelle und den kahlen Boden.«

»Gab es gar niemand in der großen Stadt, unter den Liberalen und Revolutionären, der ihm eine hilfreiche Hand hätte bieten können?« fragte Fräulein Haldin empört.

»Ja. Aber Sie kennen nicht die furchtbarste Seite von jenes Mannes Elend. Hören Sie: wie es scheint, mißhandelte man ihn so grauenhaft, daß zuletzt seine Standhaftigkeit nachgab und er irgendwelche Enthüllungen machte. Arme Seele, das Fleisch ist schwach, Sie wissen ja. Was es war, sagte er mir nicht. Ein gebrochener Geist lebte in dem verstümmelten Körper. Nichts, was ich auch sagte, konnte ihn wieder aufrichten. Als sie ihn herausließen, kroch er in jenes Loch und trug in stoischer Ruhe seine Reue. Er wollte niemand von seinen Bekannten in die Nähe kommen. Ich hätte gern irgendwo Hilfe für ihn gesucht, aber wo hätte ich damit anfangen können? Wo hätte ich irgend jemand finden sollen, der etwas übrig hatte oder überhaupt die Fähigkeit, zu helfen? Die Leute, die ringsum lebten, waren alle am Verhungern und betrunken, es waren die Opfer des Finanzministeriums. Fragen Sie mich nicht, wie wir lebten, ich könnte es Ihnen nicht sagen. Es war ein Wunder, daß wir dieses Elend durchhalten konnten. Ich hatte nichts zu verkaufen, und glauben Sie mir, meine Kleider waren in einem derartigen Zustande, daß ich unmöglich unter Tags ausgehen konnte. Es war einfach unanständig. Ich mußte warten, bis es dunkel war, bevor ich mich in die Straßen hinauswagte, um eine Brotkruste zu erbetteln, oder was ich sonst bekommen konnte, um ihn und mich am Leben zu erhalten. Oft bekam ich gar nichts, und dann kroch ich zurück und legte mich auf den Fußboden neben seinem Lager. Das ist nichts, und ich erzähle es Ihnen nur, damit Sie nicht glauben sollen, ich sei eine Sybaritin. Es war weit weniger grauenhaft als die Pflicht, Stunden um Stunden in einem kalten Arbeitszimmer vor einem Tisch zu sitzen und sich die Bücher von Peter Iwanowitsch diktieren zu lassen. Aber Sie werden ja selbst sehen, was das heißt, also brauche ich nichts weiter darüber zu sagen.«

»Es ist durchaus nicht gewiß, daß ich mir jemals von Peter Iwanowitsch werde diktieren lassen«, sagte Fräulein Haldin.

»Nicht«, rief die andere ungläubig, »nicht gewiß? Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich noch nicht entschlossen haben?«

Als Fräulein Haldin ihr versicherte, daß zwischen ihr und Peter Iwanowitsch niemals die Rede davon gewesen sei, preßte die Frau mit der Katze einen Augenblick die Lippen fest zusammen.

»Oh, Sie werden sich vor dem Tisch wiederfinden, bevor Sie überhaupt wissen, daß Sie sich entschlossen haben. Geben Sie sich keinen Illusionen hin, es ist grausam enttäuschend, Peter Iwanowitsch diktieren zu hören, und doch liegt auch ein eigener Zauber darin. Er ist ein Genie. Ihr Gesicht wird ihn sicher nicht irritieren; vielleicht helfen Sie sogar seiner Inspiration, machen es ihm leichter, seine Botschaft auszusprechen. Wenn ich sie ansehe, so fühle ich ganz genau, daß Sie die Art Frau sind, die schwerlich seinen Gedankenfluß hemmen wird.«

Fräulein Haldin hielt es für unnötig, allen diesen Vermutungen zu widersprechen.

»Aber dieser Mann, dieser Arbeiter – starb er unter Ihrer Pflege?« fragte sie nach einer kurzen Pause.

Die Dame de compagnie horchte nach dem Stiegenhaus hinauf, von wo jetzt zwei Stimmen leicht erregt durcheinander klangen, und gab eine Zeitlang keine Antwort. Als die laute Unterhaltung zu einem fast unhörbaren Murmeln herabgesunken war, wandte sie sich Fräulein Haldin zu.

»Ja, er starb, aber nicht geradezu in meinen Armen, wie Sie vielleicht glauben. Ich schlief nämlich gerade, als er seinen letzten Atemzug tat. So kann ich jetzt noch sagen, daß ich niemand sterben gesehen habe. Wenige Tage vor dem Ende fanden uns ein paar junge Leute in unserer bitteren Notlage auf. Es waren Revolutionäre, wie Sie wohl erraten haben. Er hätte sich ruhig auf seine politischen Freunde verlassen sollen, als er aus dem Gefängnis herauskam. Er war vorher beliebt und geachtet gewesen, und niemand wäre es im Traum eingefallen, ihm aus seiner Indiskretion vor der Polizei einen Vorwurf zu machen. Jedes Kind weiß, wie sie zu Werke gehen, und der stärkste Mann hat Anwandlungen von Schwäche bei körperlichem Schmerz. Es genügt ja Hunger allein, um einen auf merkwürdige Gedanken darüber zu bringen, was zu geschehen hat. Ein Arzt kam, und unser Los wurde erleichtert, soweit äußerliche Bequemlichkeiten in Betracht kamen, sonst aber war er nicht zu trösten, der arme Mann. Ich versichere Ihnen, Fräulein Haldin, daß er aller Liebe wert war, aber ich hatte nicht die Kraft, zu weinen. Ich war selbst halb tot. Doch es gab gütige Menschen, die sich meiner annahmen. Man gab mir ein Kleid, um meine Blöße zu bedecken – ich sagte Ihnen schon, daß ich nicht mehr anständig aussah –, und nach einiger Zeit brachten mich die Revolutionäre als Gouvernante in einer jüdischen Familie unter, die ins Ausland reiste. Natürlich konnte ich die Kinder unterrichten, ich hatte ja die sechste Klasse des Lyzeums absolviert. Aber der wahre Zweck war der, daß ich wichtige Papiere über die Grenze bringen sollte. Man vertraute mir ein Paket an, das ich an meinem Herzen trug. Die Gendarmen auf der Grenzstation hatten keinen Verdacht gegen die Gouvernante einer jüdischen Familie, die sich eifrig mit drei Kindern beschäftigte. Ich glaube nicht, daß die Juden wußten, was ich bei mir trug, denn ich war ihnen auf großen Umwegen durch Leute vorgestellt worden, die nicht der revolutionären Bewegung angehörten, und natürlich hatte man mir befohlen, mich mit einem sehr kleinen Gehalt zufrieden zu geben. Als wir Deutschland erreicht hatten, verließ ich diese Familie und übergab meine Papiere einem Revolutionär in Stuttgart. Hernach wurde ich in verschiedenen Angelegenheiten verwendet, aber das alles wollen Sie sicher nicht hören. Ich hatte nie das Gefühl, wirklich nützlich zu sein, aber ich lebe in der Hoffnung, einmal alle Ministerien gestürzt zu sehen, Finanzen und alles. Es war die größte Freude meines Lebens, als ich hörte, was Ihr Bruder getan hat.«

Wieder wandte sie ihre runden Augen dem Sonnenschein draußen zu, während die Katze in ihren gefalteten Armen ruhte, in olympische Beschaulichkeit und sphinxhaftes Nachsinnen versunken.

»Ja, ich freute mich«, hob sie wieder an. »Für mich hat der bloße Name Haldin einen heroischen Klang. Sie müssen in ihren Ministerien vor Angst gezittert haben, alle diese Leute mit den feindseligen Herzen. Da stehe ich und spreche mit Ihnen, und wenn ich an alle die Grausamkeiten, Bedrückungen und Ungehörigkeiten denke, die in diesem Augenblick geschehen, dann dreht sich mir der Kopf. Ich habe aus nächster Nähe Dinge mit angesehen, die unfaßbar scheinen müßten, wenn man nicht gezwungen wäre, seinen eigenen Augen zu trauen. Ich habe Dinge mit angesehen, daß ich mich selbst für meine Hilflosigkeit haßte. Ich haßte meine Hand, die keine Kraft hatte, meine Stimme, die sich nicht Gehör verschaffen konnte, sogar meinen Verstand, weil er sich nicht umnachten wollte. Oh, ich habe Dinge gesehen! Und Sie?«

Fräulein Haldin war gerührt, sie schüttelte leicht den Kopf.

»Nein, ich selbst habe noch nichts gesehen«, murmelte sie, »wir haben immer auf dem Lande gelebt, mein Bruder wünschte es so.«

»Das ist ein merkwürdiges Zusammentreffen, das zwischen Ihnen und mir«, fuhr die andere fort. »Glauben Sie an Zufall, Fräulein Haldin? Wie hätte ich erwarten können, Sie, seine Schwester, mit meinen eigenen Augen zu sehen? Wissen Sie, daß die Revolutionäre hier bis zum letzten Mann ganz gleich überrascht und erfreut waren, als die Nachricht hier eintraf? Niemand schien irgend etwas von Ihrem Bruder zu wissen. Peter Iwanowitsch selbst hatte nicht vorhergesehen, daß ein solcher Schlag geführt werden sollte. Ich glaube, Ihr Bruder hatte einfach den Geist über sich. Ich für meinen Teil glaube, daß solche Taten nur durch Inspiration zu vollbringen sind. Es ist ein großer Vorzug, die Inspiration zu haben, und die Möglichkeit. War er Ihnen irgendwie ähnlich? Freuen Sie sich nicht, Fräulein Haldin?«

»Sie müssen nicht zuviel von mir erwarten«, sagte Fräulein Haldin und versuchte, eine Anwandlung zum Weinen zu unterdrücken, die sie plötzlich überkam. Als ihr das gelungen war, fügte sie ruhig hinzu: »An mir ist nichts Heldenhaftes.«

»Sie glauben vielleicht, daß Sie selbst nicht imstande gewesen wären, so etwas zu tun?«

»Ich weiß nicht; das darf ich mich nicht einmal fragen, bevor ich nicht länger gelebt, mehr gesehen habe …«

Die andere bewegte zustimmend den Kopf. Das Schnurren der Katze erweckte in der leeren Halle einen lauten Widerhall. Von oben tönte kein Stimmenklang mehr. Fräulein Haldin brach das Schweigen.

»Können Sie mir eigentlich sagen, was die Leute hier über meinen Bruder sprachen? Sie sagen, sie seien überrascht gewesen. Ja, das glaube ich wohl; aber ist es ihnen nicht auch merkwürdig vorgekommen, daß es meinem Bruder nicht gelungen sein sollte, sich zu retten, nachdem der schwierigste Teil der Aufgabe – das ist, vom Tatort wegzukommen – gelungen war? Verschwörer sollten diese Sachen gut verstehen. Es ist meine aufrichtige Sorge, zu erfahren, wie es möglich war, daß die Flucht mißlang.«

Die Dame de compagnie war in die offene Eingangstür getreten und warf über die Schulter einen raschen Blick auf Fräulein Haldin, die in der Halle stehengeblieben war.

»Flucht mißlang«, wiederholte sie geistig abwesend. »Hatte er nicht sein Leben aufgeopfert? War er nicht einfach inspiriert? War es nicht ein Akt der Selbstverleugnung? Sind Sie dessen nicht gewiß?«

»Was ich ganz sicher weiß«, sagte Fräulein Haldin, »ist, daß es keine Verzweiflungstat war. Haben Sie gar keine Äußerung über die kläglichen Umstände seiner Gefangennahme gehört?«

Die Dame de compagnie stand in der offenen Tür und schien zu grübeln.

»Ob ich etwas gehört habe? Natürlich, hier wird ja alles besprochen. Hat nicht die ganze Welt über Ihren Bruder gesprochen? Ich für mein Teil gerate in eine Ekstase des Neides, sobald ich seine Heldentat auch nur erwähnen höre. Warum sollte ein Mann sich um sein Leben sorgen, dem die Unsterblichkeit gewiß ist?«

Sie hielt Fräulein Haldin den Rücken zugekehrt. Hinter einer großen, schmutzigen, weiß und goldenen Tür hervor, die man hinter der Balustrade des ersten Stockwerkes erblickte, hörte man jetzt eine tiefe Stimme dröhnen; es klang, als würden irgendwelche Aufzeichnungen verlesen. Die Stimme setzte mehrmals aus und brach endlich ab.

»Ich glaube, ich kann nun nicht länger bleiben«, sagte Fräulein Haldin, »ich kann ja an einem anderen Tag wiederkommen.«

Sie schien zu erwarten, daß ihr die Dame de compagnie den Ausgang freigebe; doch die Frau war augenscheinlich in die Betrachtung des Sonnenscheins und der Schatten versunken, die sich in die verlassene Öde des Parkes teilten. Sie verstellte Fräulein Haldin den Ausblick auf die Zufahrtsstraße. Plötzlich sagte sie:

»Das wird nicht nötig sein; da kommt eben Peter Iwanowitsch selbst. Aber er ist nicht allein; er ist selten allein jetzt.«

Als sie hörte, daß Peter Iwanowitsch komme, war Fräulein Haldin nicht ganz so erfreut, wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre. Sie hatte irgendwie den Wunsch verloren, den »heldenhaften Flüchtling« wie auch Madame de S. zu sehen, und der Grund für den leisen Widerwillen, der sie im letzten Augenblick befiel, mochte in dem Gefühl liegen, daß diese beiden Leute die Frau mit der Katze nicht gütig behandelt hatten.

»Wollen Sie mich vorbei lassen«, sagte Fräulein Haldin endlich und berührte die Dame de compagnie leicht an der Schulter.

Die andere aber preßte die Katze an die Brust und rührte sich nicht.

»Ich weiß, wer mit ihm ist«, sagte sie, ohne sich auch nur umzudrehen.

Noch stärker als zuvor fühlte Fräulein Haldin den unerklärlichen Wunsch, das Haus zu verlassen.

»Madame de S. wird ja vielleicht noch eine Zeit beschäftigt sein, und was ich Peter Iwanowitsch zu sagen habe, ist eine einfache Frage, die ich ebensogut vorbringen kann, wenn ich ihn beim Weggehen im Park treffe. Ich glaube wirklich, ich muß gehen. Ich habe mich ziemlich lange hier aufgehalten und möchte eiligst zu meiner Mutter zurück. Wollen Sie mich vorbei lassen?«

Die Dame de compagnie wandte endlich den Kopf.

»Ich habe nie vermutet, daß Sie wirklich Madame de S. zu sehen wünschten«, sagte sie mit unerwartetem Scharfblick, »keinen Augenblick lang.« Es lag etwas Vertrauliches und Geheimnisvolles in ihrem Ton. Sie ging, von Fräulein Haldin gefolgt, durch die Tür auf die Terrasse hinaus, und dann schritten sie nebeneinander die moosbewachsenen Steinstufen hinunter. Auf dem Teil der Zufahrtsstraße, der vom Hauseingang aus zu übersehen war, war niemand zu erblicken.

»Sie sind jetzt von den Bäumen da drüben verborgen«, erklärte Fräulein Haldins neue Bekanntschaft. »Aber Sie werden sie gleich sehen. Ich weiß nicht, wer der junge Mensch ist, für den Peter Iwanowitsch eine solche Vorliebe gefaßt hat. Er muß einer von uns sein, sonst würde er hier nicht zugelassen werden, wenn die anderen kommen. Sie wissen, wen ich mit ›den anderen‹ meine. Aber ich muß gestehen, daß er mir gar keine mystischen Neigungen zu besitzen scheint. Ich könnte nicht behaupten, daß ich ihn schon durchschaut habe, denn natürlich bin ich ja niemals lange im Wohnzimmer. Es gibt immer etwas für mich zu tun, obwohl der ganze Betrieb hier lange nicht so umständlich ist wie in der Villa an der Riviera. Aber doch gibt es eine ganze Reihe Möglichkeiten, mich nützlich zu machen.«

Von links hinter der efeuumwachsenen Ecke der Ställe hervor tauchten Peter Iwanowitsch und sein Begleiter auf. Sie gingen sehr langsam und schienen sich angeregt zu unterhalten. Sie blieben einen Augenblick stehen, und man sah Peter Iwanowitsch gestikulieren, während der junge Mann regungslos zuhörte, mit schlaff herabhängenden Armen und leicht gesenktem Kopf. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und einen schwarzen Hut. Die runden Augen der Dame de compagnie waren auf die beiden Gestalten gerichtet, die ihren langsamen Gang wieder aufgenommen hatten.

»Ein ungemein höflicher junger Mann«, sagte sie. »Sie werden sehen, wie er sich verbeugen wird; und das wird gar nichts Ungewöhnliches sein. Er verbeugt sich ganz ebenso, wenn er mich allein in der Halle trifft.«

Sie stieg noch ein paar Stufen hinunter, Fräulein Haldin folgte ihr, und alles kam, wie sie es vorhergesagt hatte. Der junge Mann nahm seinen Hut ab, verbeugte sich tief und richtete sich wieder auf, während Peter Iwanowitsch rasch vortrat, die dicken schwarzen Arme herzlich ausgestreckt, Fräulein Haldins beide Hände faßte, sie schüttelte und sie hinter seinen schwarzen Brillengläsern anstarrte.

»Das ist recht, das ist recht«, rief er zweimal zustimmend aus, »Sie waren also in der Gesellschaft von …« Er blickte mit leichtem Stirnrunzeln nach der Dame de compagnie, die immer noch die Katze liebkoste. »Ich schließe daraus, daß Eleanor, Madame de S., verhindert ist. Ich weiß, daß sie heute jemand erwartete. Der Zeitungsmensch hat also vorgesprochen, was? Sie ist beschäftigt?«

Als ganze Antwort wandte die Dame de compagnie den Kopf weg.

»Das ist sehr unglücklich – ganz und gar unglücklich. Ich bedaure unendlich, daß Sie so …«, er senkte plötzlich die Stimme. »Aber wie ist das, Sie wollen doch nicht etwa schon weg, Natalia Viktorowna? Das Warten hat Sie gelangweilt, nicht wahr?«

»Nicht im geringsten«, wehrte Fräulein Haldin ab. »Ich bin nur einige Zeit hier gewesen und möchte nun eiligst zu meiner Mutter.«

»Die Zeit ist Ihnen lang geworden, was? Ich fürchte, unsere würdige Freundin hier« (dabei machte Peter Iwanowitsch eine ruckweise Kopfbewegung nach rechts), »unsere würdige Freundin hier hat nicht die Gabe, jemand die Wartezeit abzukürzen. Nein, sie hat gewiß nicht die Gabe; und in diesem Falle nützt der gute Wille allein gar nichts.«

Die Dame de compagnie ließ die Arme sinken, und die Katze befand sich plötzlich auf dem Boden. Das Tier blieb nach dem Sprung ganz reglos stehen, das eine Hinterbein nach rückwärts ausgestreckt. Fräulein Haldin war über die Behandlung der Gesellschaftsdame ehrlich entrüstet.

»Glauben Sie mir, Peter Iwanowitsch, daß die Augenblicke, die ich in der Vorhalle dieses Hauses verbracht habe, wirklich lehrreich und alles eher als uninteressant waren. Sie sind denkwürdig. Ich bedaure das Warten nicht, aber ich sehe, daß ich den Zweck meines Besuches erreichen kann, ohne Madame de S.s Zeit in Anspruch zu nehmen.« –

Hier unterbrach ich Fräulein Haldin. Der obenstehende Bericht beruht auf ihrer Erzählung, an deren dramatischer Färbung ich weit weniger Anteil habe, als man glauben möchte. Sie hatte ungemein ausdrucksvoll und anschaulich fast die Sprechweise der Schülerin der alten Äpfelfrau wiedergegeben, mit ihrem unversöhnlichen Haß gegen Ministerien und der liebevollen Dienstwilligkeit für die Armen. Fräulein Haldins warme und zarte Menschlichkeit hatte sich empört aufgelehnt angesichts des unverdienten Schicksals ihrer neuen Bekannten, dieser Gesellschaftsdame oder Sekretärin oder was sie war. Ich für meinen Teil entdeckte darin mit Vergnügen ein neues Hindernis für irgendwelche Intimität mit Madame de S. Ich hatte den eindeutigsten Widerwillen gegen die bemalte, aufgeputzte, starräugige Egeria von Peter Iwanowitsch. Ich weiß nicht, wie sie sich den Unsichtbaren gegenüber benahm. Aber das weiß ich, daß sie sich in den Angelegenheiten dieser Welt geizig, habgierig und rücksichtslos zeigte. Ich wußte davon, daß sie in einem unsauberen und verzweifelten Rechtsstreit über Geldangelegenheiten mit der Familie ihres verstorbenen Gatten, des Diplomaten, unrecht behalten hatte. Einige sehr hochstehende Persönlichkeiten (die sie in ihrer Wut unbedingt in ihre Angelegenheiten auf die skandalöseste Art hatte verwickeln wollen) hatten sich ihren Haß zugezogen. Ich halte es für durchaus glaubhaft, daß man sie um ein Haar aus Staatsgründen in irgendeinem Maison de Santé unschädlich gemacht hätte, einer Art Irrenhaus, um den richtigen Namen zu gebrauchen. Es scheint aber wiederum, daß sich gewisse hochstehende Persönlichkeiten dem widersetzten, aus Gründen, die …

Aber es hat keinen Zweck, auf Einzelheiten einzugehen.

Es mag wundernehmen, daß ein Mann in der Stellung eines Sprachlehrers über alles dies mit solcher Genauigkeit unterrichtet ist. Ein Schriftsteller sagt dies und das von seinen Personen, und wenn er es nur ernsthaft genug zu sagen versteht, so wird es niemand einfallen, ihn über die Gestalten seiner Phantasie zu fragen; sein eigener Glaube an sie spricht hinreichend aus irgendeinem beschreibenden Satz, einem poetischen Bild und aus der Gefühlsbetonung. Die Kunst ist groß! Ich aber habe keine Kunst, und da ich Madame de S. nicht erfunden habe, so fühle ich mich verpflichtet, zu erklären, wieso ich so viel über sie in Erfahrung bringen konnte.

Ich hatte mein Wissen von der russischen Frau eines meiner Freunde, des Professors an der Universität zu Lausanne, den ich schon erwähnte. Von ihr erfuhr ich auch die letzte Tatsache aus Madame de S.s Geschichte, mit der ich meine Leser zu belästigen gedenke. Sie erzählte mir mit großer Bestimmtheit, wie jemand, der sich auf seine Quellen verläßt, von dem Grund für Madame de S.s Flucht aus Rußland, einige Jahre zuvor. Es war nicht mehr und nicht weniger als dies: daß sie der Polizei in Verbindung mit der Ermordung des Kaisers Alexander verdächtig geworden war. Der Grund für diesen Verdacht war entweder irgendeine unbedachte Äußerung, die sie in Gesellschaft hatte fallen lassen, oder irgendein Gespräch, das in ihrem Salon belauscht worden war. Belauscht, wie wir glauben müssen, von einem Gast, von einem Freund vielleicht, der sich vermutlich beeilt hatte, den Angeber zu spielen. Wie dem auch sei – diese erlauschte Bemerkung schien es zu beweisen, daß sie vorher um das Ereignis gewußt hatte, und ich glaube, sie tat durchaus recht daran, die Untersuchung um einer solchen Anklage willen nicht abzuwarten. Einige meiner Leser mögen sich an ein kleines Buch aus ihrer Feder erinnern, das in Paris verlegt wurde, ein mystisches, giftiges, hohles und unglaublich zusammenhangloses Geschreibsel, worin sie ihr Vorwissen so gut wie zugibt, dessen übernatürliche Quelle unverhohlen andeutet und in gehässigen Andeutungen der Vermutung Ausdruck gibt, daß die Schuld für die Tat nicht den Terroristen, sondern einer Palastintrige beizumessen sei. Als ich meiner Freundin, der Professorsfrau, entgegenhielt, daß das Leben der Madame de S. mit seinen inoffiziellen Diplomatenstreichen, den Intrigen, Prozessen, mit Hofgunst, Ungnade und Landesverweisung, mit der ganzen Atmosphäre von Skandal, Okkultismus und Scharlatanismus weit eher in das achtzehnte Jahrhundert zu passen scheine als in den Rahmen unserer Zeit, da stimmte sie mir mit einem Lächeln bei, fügte aber kurz darauf nachdenklich hinzu: »Scharlatanismus? – Ja, in gewisser Beziehung; und doch, die Zeiten haben sich geändert. Es sind nun Kräfte am Werk, die es im achtzehnten Jahrhundert nicht gab. Ich sollte nicht überrascht sein, wenn sie gefährlicher wäre, als ein Engländer glauben möchte, und was mehr sagen will, sie wird als wirklich gefährlich angesehen, von gewissen Leuten – chez nous.«

»Chez nous« meinte in diesem Zusammenhang Rußland im allgemeinen und die russische politische Polizei im besonderen. – Ich habe den Bericht, den Fräulein Haldin mir in klaren Worten von ihrem Besuch auf dem Château Borel gab, unterbrochen, um diese Bemerkung meiner Freundin, der Professorsfrau, einzuflechten. Es lag mir daran, aus dem einfachen Grunde, weil ich das, was ich nun über Herrn Rasumoffs Besuch in Genf erzählen will, etwas glaubhaft machen wollte, – denn dies ist eine russische Geschichte für Leser aus dem Westen, die, wie ich schon bemerkt habe, den Sinn für gewisse zynische grausame Färbungen und sogar in höherem Grade für moralisches Elend verloren haben, weil alles dies in unserem Teile von Europa schwerlich mehr anzutreffen ist. Ich stelle dies fest, um eine Entschuldigung dafür zu haben, daß ich die Erzählung an dem Punkt abbrach, wo Fräulein Haldin mit den beiden Herren und der Gesellschaftsdame auf der Terrasse des Château Borel stand.

Alle die angeführten Bemerkungen meiner Freundin waren mir lebhaft gegenwärtig, als ich, wie gesagt, Fräulein Haldin ins Wort fiel. Ich rief voll innerster Befriedigung aus: »Sie haben also Madame de S. schließlich gar nicht gesehen?«

Fräulein Haldin schüttelte den Kopf. Ich fühlte eine lebhafte Genugtuung. Sie hatte Madame de S. nicht gesehen! Das war ausgezeichnet, ausgezeichnet! Ich wiegte mich in der Zuversicht, daß sie nun Madame de S. überhaupt nicht kennenlernen würde. Ich hätte keinen anderen Grund für diese Zuversicht angeben können als den einen, daß Fräulein Haldin dem wunderbaren Freund ihres Bruders von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden war. Als Begleiter und Führer dieses jungen Mädchens, das durch das elende Ende seines Bruders in seiner Unerfahrenheit hilflos dastand, schien er mir vor Madame de S. den Vorzug zu verdienen; denn, wie man es auch ansehen mochte, jenes nun vernichtete Leben war aufrichtig gewesen, von kühnen Gedanken getragen und von einem tiefen seelischen Leid durchsetzt, das in einem wahren Opfer sein Ende gefunden hatte. Nicht uns, die wir im Besitze einer hart erkämpften Freiheit satte Ruhe gefunden haben, nicht uns steht es an, ohne weitere Prüfung die Ausbrüche eines ungestillten Verlangens zu beurteilen.

Ich schäme mich nicht meines warmen Gefühles für Fräulein Haldin. Es war, wie man zugeben wird, ehrlich uneigennützig und trug seine Belohnung in sich selbst. Der tote Viktor Haldin erschien mir unter dem Einfluß dieses Gefühls nicht als ein finsterer Verschwörer, sondern als ein armer Enthusiast. Ich hatte wirklich nicht die Absicht, ihn zu verurteilen; die bloße Tatsache aber, daß er nicht entfloh, diese Tatsache, die seiner Mutter und seiner Schwester so viel Kummer machte, schien mir zu seinen Gunsten zu sprechen.

Und nun mußte ich fürchten, das Mädchen unter den Einfluß des revolutionären Feminismus geraten zu sehen, wie er im Château Borel gepflegt wurde, und setzte also doppelt gern meine ganze Hoffnung auf jenen Freund des toten Viktor Haldin. Er war für mich nicht mehr als ein Name, wird man einwenden. Gewiß! Ein Name! und was mehr ist, der einzige Name; der einzige Name, der in dem Briefwechsel zwischen Bruder und Schwester zu finden war. Der junge Mann war hergekommen. Sie hatten einander getroffen und, durch einen glücklichen Zufall, ohne die direkte Vermittlung von Madame de S. Was wird daraus folgen? Was wird sie mir weiter erzählen? fragte ich mich.

Es war nur natürlich, daß meine Gedanken sich mit dem jungen Mann beschäftigten, der als der einzige in den phantastischen Gesprächen über eine glorreiche Zukunft, wie sie durch eine Revolution geschaffen werden sollte, Erwähnung gefunden hatte. Diese Gedanken drängten mir die Frage auf, warum der junge Mann bei den Damen nicht Besuch gemacht hatte. Er war schon mehrere Tage in Genf gewesen, bevor Fräulein Haldin zufällig in meiner Gegenwart durch Peter Iwanowitsch von ihm hörte. Es tat mir leid, daß dieser letztere bei ihrem Zusammentreffen zugegen gewesen war. Es wäre mir lieber gewesen, wenn es irgendwo außerhalb der Reichweite seiner Brillengläser stattgefunden hätte. Ich vermutete aber, daß er, da er die beiden jungen Leute gerade unter der Hand hatte, sie miteinander bekannt gemacht hatte.

Ich brach das Schweigen, um eine Frage hierüber anzubringen.

»Ich vermute, daß Peter Iwanowitsch …«

Fräulein Haldin ließ ihrer Entrüstung freien Lauf. Unmittelbar, nachdem Peter Iwanowitsch ihre Antwort erhalten hatte, sei er in der unbarmherzigsten Weise über die Dame de compagnie hergefallen.

»Hergefallen?« fragte ich erstaunt. »Wieso? warum?«

»Es war unerhört, es war schändlich«, fuhr Fräulein Haldin mit zornblitzenden Augen fort, »il lui a fait une scène – nur so, vor Fremden. Und weswegen? Sie würden nie darauf kommen. Wegen ein paar Eiern …«

Ich war verblüfft. »Eier, sagten Sie?«

»Für Madame de S. Die Dame befolgt eine besondere Diät oder so etwas dergleichen. Es scheint, daß sie sich tags zuvor bei Peter Iwanowitsch beklagt hatte, daß die Eier nicht richtig zubereitet würden. Nun erinnerte sich Peter Iwanowitsch plötzlich daran und fiel über die arme Frau her. Es war einfach widerwärtig; ich stand wie versteinert.«

»Wollen Sie damit sagen, daß der große Feminist sich erlaubte, eine Frau zu beschimpfen?« fragte ich.

»Oh, nicht das! Sie können sich keinen Begriff davon machen, was es war. Es war eine einfach ekelhafte Szene. Denken Sie nur, er lüftete zunächst einmal den Hut und machte seine Stimme sanft und flehend. ›Ach, Sie sind nicht gütig zu uns, Sie wollen nicht geruhen, sich zu erinnern …!‹ Mit solchen Worten und in diesem Ton. Das arme Geschöpf war ganz außer sich. Die Tränen schössen ihr in die Augen, und sie wußte nicht, wohin sie sehen sollte. Ich weiß nicht, ob ihr nicht Schimpfworte oder sogar Schläge lieber gewesen wären.«

Ich unterdrückte die Bemerkung, daß sie höchstwahrscheinlich beides schon erlebt haben dürfte, wenn niemand sonst zugegen war. Fräulein Haldin schritt neben mir her und hatte in ärgerlichem Schweigen den Kopf hochgeworfen. »Große Männer haben ihre überraschenden Eigenheiten«, bemerkte ich, da ich nichts Besseres zu sagen wußte. »Ganz genau wie Männer, die nicht groß sind. Aber so etwas kann ja nicht lange dauern. Wie zog sich denn schließlich der große Feminist aus der so bezeichnenden Situation?«

Fräulein Haldin sagte mir, ohne mich anzusehen, daß die Szene durch das Erscheinen des Interviewers unterbrochen wurde, der bei Madame de S. gewesen war. Er war rasch und unbemerkt herausgekommen, grüßte flüchtig und sagte im Vorübergehen: »Die Baronin hat mir für den Fall, daß ich beim Hinausgehen eine Dame treffen sollte, aufgetragen, sie zu bitten, gleich zu ihr zu kommen.«

Dann hastete er die Zufahrtsstraße hinunter. Die Dame de compagnie eilte dem Hause zu, und Peter Iwanowitsch folgte ihr eilig und verlegen. Fräulein Haldin fand sich auf einmal allein mit dem jungen Mann, der ganz zweifellos der neue Ankömmling aus Rußland sein mußte. Sie war neugierig zu wissen, ob ihres Bruders Freund nicht schon erraten habe, wer sie sei.

Ich bin in der Lage festzustellen, daß er es tatsächlich erraten hatte. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß Peter Iwanowitsch aus irgendeinem Grund es unterlassen hatte, die Anwesenheit der beiden Damen in Genf zu erwähnen. Rasumoff hatte es erraten. »Das treue Mädel!« Jedes von Haldins Worten war in Rasumoffs Gedächtnis eingegraben. Sie verfolgten ihn wie gespenstische Schatten; er konnte sie nicht bannen. Am lebendigsten war das, was er über die Schwester gesagt hatte. Er hatte das Mädchen seither lebhaft vor sich gesehen, und doch erkannte er sie nicht sofort. Während er mit Peter Iwanowitsch näher kam, beobachtete er sie. Ihre Augen hatten sich sogar getroffen. Er hatte, wie es ja unwillkürlich jeder tun mußte, den starken harmonischen Reiz ihrer ganzen Erscheinung empfunden, ihre Kraft, ihre Anmut, ihre ruhige Offenheit, – und hatte dann den Blick abgewendet. Er sagte sich, daß all dies nicht für ihn sei. Die Schönheit von Frauen und die Freundschaft von Männern waren nicht für ihn. Diese Erkenntnis machte er sich mit erzwungener Kälte nochmals klar und versuchte darüber hinwegzukommen. Erst als sie ihm die Hand entgegenstreckte, merkte er, wer sie war. In den Blättern seiner Beichte steht es verzeichnet, wie ihn dabei eine Aufwallung von Haß und Schmerz fast physisch im Halse würgte, als wäre ihre Erscheinung die Verkörperung eines gelungenen Verrats.

Er sah um sich. Die ziemlich hohe Vorderwand der Terrasse schützte sie vor den Blicken von Leuten, die sich vielleicht an der Haustüre herumtrieben; nicht einmal von den Fenstern des ersten Stockwerkes aus waren sie zu sehen. Durch die wuchernden Buschgruppen und die Kronen der Bäume, die die sanftgeneigten Rasenplätze umstanden, schimmerte da und dort kalt und ruhig ein Stückchen See. Ein glücklicher Zufall hatte den beiden Menschen zu einem ungestörten Alleinsein verholfen, und ich war neugierig zu erfahren, wie sie es ausgenützt hatten.

»Hatten Sie Zeit für mehr als ein paar Worte?« fragte ich.

Die Erregung, mit der sie mir von den anfänglichen Ergebnissen ihres Besuches erzählt hatte, war vollständig verschwunden. Sie ging nachlässig neben mir her und sah gerade vor sich hin. Ich bemerkte, daß sie leicht errötet war. Sie antwortete mir nicht.

Nach einer kurzen Pause bemerkte ich, es sei eigentlich nicht anzunehmen gewesen, daß man sie für längere Zeit vergessen würde, außer vielleicht die andern beiden hätten Madame de S. ohnmächtig vor Übermüdung angetroffen oder nervös überreizt nach dem langen Interview. In beiden Fällen wären ihre Dienste notwendig gewesen. Ich sah förmlich Peter Iwanowitsch vor mir, wie er, mit bloßem Kopfe vielleicht und fliegenden Armen, aus dem Hause schoß, quer über die Terrasse, während die schwarzen Rockschöße um die leichten grauen Hosenbeine flatterten. Ich gestehe, daß ich den Eindruck hatte, die beiden jungen Leute seien die wehrlose Beute des »heldenhaften Flüchtlings«, und daß es ihnen unmöglich sein würde, sich frei zu machen. Doch davon sagte ich Fräulein Haldin nichts, nur als sie verschlossen blieb, drang ich ein wenig in sie.

»Ja aber – Sie können mir doch wenigstens von Ihren Eindrücken erzählen?«

Sie sah mich an und wandte den Kopf wieder weg.

»Eindrücke?!« fragte sie leise, wie verträumt, und fügte dann rascher hinzu:

»Er kommt mir vor wie ein Mensch, der mehr unter seinen Gedanken zu leiden hat als unter einem harten Schicksal.«

»Unter seinen Gedanken, sagen Sie?«

»Und das ist natürlich genug bei einem Russen«, unterbrach sie mich, »bei einem jungen Russen! Viele unter ihnen sind unfähig zu einer Tat und doch auch unfähig, ruhig zu bleiben.«

»Und glauben Sie, er ist einer von diesen?«

»Nein, ich erlaube mir kein Urteil über ihn. Wie könnte ich das auch, so schnell? Sie haben mich nach meinem Eindruck gefragt. Ich erkläre meinen Eindruck. Ich – ich – kenne die Welt nicht, ebensowenig die Menschen darin; ich war zu einsam – ich bin zu jung, um mich auf mein Urteil verlassen zu können!«

»Verlassen Sie sich auf Ihren Instinkt!« rief ich. »Die meisten Frauen tun das und machen dabei nicht schlimmere Fehler als die Männer. In diesem Falle kann Ihnen ja der Brief Ihres Bruders zu Hilfe kommen.«

Sie holte tief Atem, daß es wie ein Seufzer klang.

»Fleckenlose, hochgesinnte und einsame Existenzen«, flüsterte sie, wie für sich selbst. Ich verstand die Worte aber doch deutlich.

»Ein hohes Lob«, gab ich leise zurück.

»Das höchste, das sich denken läßt.«

»So hoch, daß man eigentlich damit, wie mit der Glücklichpreisung, bis zum Lebensende warten soll. Immerhin steht es aber fest, daß ein gewöhnlicher oder gar unwürdiger Mensch eine so übertriebene Anerkennung wohl schwerlich herausgefordert hätte …«

»Oh«, unterbrach sie mich feurig, »und hätten Sie nur das Herz gekannt, aus dem dieses Urteil kam.«

Damit verstummte sie, und ich fand Zeit, über den Sinn der Worte nachzudenken, die, wie ich wohl spürte, die Gefühle des Mädchens für jenen jungen Mann günstig beeinflussen mußten. Sie klangen nicht wie eine zufällige Äußerung. Für mich mit meinem westeuropäischen Verstand und Begriffsvermögen schienen sie recht vage. Ich durfte aber nicht vergessen, daß ich neben Fräulein Haldin war wie ein Reisender in einem fremden Land. Es war mir ferner klargeworden, daß Fräulein Haldin nicht die Absicht hatte, auf den einzigen wesentlichen Teil ihres Besuches in Château Borel näher einzugehen. Ich war aber nicht verletzt, denn ich fühlte irgendwie, daß es nicht ein Mangel an Vertrauen war, was sie hemmte. Es war eine andere Hemmung, eine Hemmung, über die ich mir nicht klarwerden konnte. Und es lag wirklich gar keine Empfindlichkeit darin, als ich sagte:

»Ganz recht. Aber Sie müssen sich doch, wie jeder andere in der gleichen Lage, auf Grund dieses hohen Lobspruches, den ich durchaus nicht anfechten möchte, ein Bild von diesem ganz ausgezeichneten Freund gemacht haben. Und sagen Sie mir, bitte – waren Sie nicht enttäuscht?«

»Was meinen Sie? Seine persönliche Erscheinung?«

»Ich meine ja nicht gerade, ob er hübsch ist oder nicht …«

Wir kehrten am Ende der Allee um und machten ein paar Schritte, ohne einander anzusehen.

»Seine Erscheinung ist nicht alltäglich«, sagte Fräulein Haldin endlich.

»Nein, das habe ich mir schon gedacht, nach dem, was Sie mir von Ihrem ersten Eindruck erzählt haben. Schließlich müssen wir ja doch wieder auf das Wort zurückgreifen: ›Eindruck.‹ Was ich meine, ist dieses Unbeschreibliche, was Ihnen den Eindruck einer ›nicht alltäglichen Persönlichkeit‹ erweckte.«

Ich merkte, daß sie nicht zuhörte. Ihr Gesichtsausdruck war ganz eindeutig. Und wieder einmal hatte ich das Gefühl einer gänzlichen Verständnislosigkeit, die aber nicht durch mein Alter bedingt war, denn Alter sollte ja eher Einsicht mit sich bringen; es war mir einfach, als stünde ich auf einem anderen Planeten und könnte sie nur ganz von fern beobachten, und so verstummte ich und sah ihr zu, wie sie neben mir hinschritt.

»Nein«, rief sie plötzlich aus, »ein Mensch von so starken Gefühlen konnte mich nicht enttäuschen.«

»Aha, starke Gefühle«, murmelte ich und dachte dabei kritisch: »So plötzlich und unvermittelt!?«

»Was sagten Sie?« fragte Fräulein Haldin harmlos.

»Oh, nichts, ich bitte um Entschuldigung. ›Starke Gefühle‹. Ich bin nicht überrascht.«

»Und Sie wissen nicht, wie unhöflich ich mich gegen ihn benahm«, rief sie reuig aus.

Ich muß wohl förmlich verblüfft ausgesehen haben, denn sie errötete noch tiefer und sagte mir, sie schäme sich, zuzugeben, daß sie nicht genügend gefaßt gewesen sei; sie habe die Beherrschung über ihre Worte und Gesten nicht so behalten, wie die Situation es verlangt hätte. Sie habe die Festigkeit verloren, die beider Männer, des toten und des lebendigen, würdig gewesen wäre. Die Festigkeit, in deren Zeichen das Zusammentreffen von Viktor Haldins Schwester mit Viktor Haldins einzig bekanntem Freunde hätte stehen müssen. Er habe sie scharf angesehen, aber nichts gesagt, und sie war, wie sie zugab, von seinem Mangel an Verständnis peinlich berührt. Sie konnte nichts weiter herausbringen als: »Sie sind Herr Rasumoff.« Seine Stirn furchte sich leicht. Nach einer kurzen beängstigenden Pause machte er eine leichte zustimmende Verbeugung und wartete.

Bei dem Gedanken, daß da der Mann vor ihr stand, den ihr Bruder so hoch geschätzt hatte, der Mann, der seinen Wert erfaßt, mit ihm gesprochen, ihn verstanden, seinen Herzensergüssen gelauscht, ihn vielleicht ermutigt hatte – bei diesem Gedanken zitterten ihre Lippen, und Tränen schossen ihr in die Augen; sie machte einen Schritt auf ihn zu, streckte die Hände impulsiv aus und sagte, mühsam bestrebt, ihre Bewegung zu unterdrücken: »Können Sie nicht erraten, wer ich bin?« Er nahm die gebotene Hand nicht. Er wich sogar ein wenig zurück, und Fräulein Haldin glaubte, daß er die Situation unangenehm empfinde. Fräulein Haldin verstand und verzieh ihm das und richtete ihren Vorwurf gegen sich selbst. Sie hatte sich unwürdig benommen, wie ein rührseliges französisches Mädchen. Ein Gefühlsausbruch dieser Art konnte einem Mann von ruhigem, selbstbeherrschtem Wesen nicht sympathisch sein.

Ich dachte mir, daß er wirklich unglaublich ruhig sein mußte oder vielleicht sehr schüchtern Frauen gegenüber, da er auf das Entgegenkommen eines Mädchens wie Natalie Haldin keine herzlichere Antwort gefunden hatte. Diese hochgesinnten und einsamen Existenzen (die Worte fielen mir plötzlich ein) machen einen jungen Menschen scheu und einen alten wild – oft wenigstens.

»Nun?« fragte ich, um Fräulein Haldin zum Weitersprechen zu ermuntern.

Sie war mit sich selbst immer noch sehr unzufrieden. »Es wurde immer schlimmer mit mir«, sagte sie mit einem Ausdruck von Entmutigung, der mir an ihr ganz fremd war. »Ich benahm mich so rührselig wie nur möglich, gerade daß ich nicht in Tränen ausbrach. Ich bin nur froh, daß ich wenigstens das nicht tat. Aber ich konnte ganz lange Zeit kein Wort hervorbringen.«

Sie hatte vor ihm gestanden, sprachlos, bemüht, ein Schluchzen zu unterdrücken, und als sie endlich ein paar Worte herausstammeln konnte, da war es nur der Name ihres Bruders »Viktor – Viktor – Haldin«. Dann brach ihr abermals die Stimme.

»Natürlich«, bemerkte sie zu mir, »schmerzte ihn das. Er war ganz niedergeschlagen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß er meiner Ansicht nach ein Mensch von tiefem Gefühl ist – es ist unmöglich, daran zu zweifeln. Sie hätten sein Gesicht sehen sollen. Er schwankte, er lehnte sich an die Terrassenmauer. Ihre Freundschaft muß einfach eine Seelenverbrüderung gewesen sein. Ich war ihm dankbar für seine Rührung, da ich mich dadurch meines eigenen Mangels an Selbstbeherrschung weniger schämte. Und dann gewann ich dadurch auch wie mit einem Schlag die Sprache wieder. Dies alles währte nicht länger als ein paar Sekunden. ›Ich bin seine Schwester‹, sagte ich, ›vielleicht haben Sie von mir gehört.‹«

»Und hatte er das?« warf ich ein.

»Ich weiß nicht. Aber wie sollte er nicht? Und doch … aber was tut das zur Sache? Ich stand da vor ihm, zum Greifen nahe, und sah doch nicht wie eine Betrügerin aus. Ich weiß nur, daß er mir beide Hände entgegenstreckte, ich möchte fast sagen, mir sie entgegenschwang mit der denkbar größten Wärme und Herzlichkeit, und daß ich sie faßte und drückte mit dem freudigen Gefühl, wieder etwas von dem zurückgewonnen zu haben, was ich seit dem Tode meines Bruders für immer verloren glaubte – ein wenig von der Erinnerung, der Begeisterung und dem Rückhalt, den mir mein lieber Toter geboten hatte …«

Ich verstand sehr wohl, was sie meinte. Wir schlenderten langsam weiter. Ich vermied es, sie anzusehen, und wie um auf meine eigenen Gedanken zu antworten, sagte ich:

»Es war zweifellos eine enge Freundschaft – wie Sie sagen. Und schließlich hat der junge Mann ja Ihren Namen sozusagen mit beiden Händen willkommen geheißen. Danach haben Sie sich wohl verstanden. Ja, Sie mußten einander rasch verstehen.«

Sie antwortete nicht gleich.

»Herr Rasumoff scheint ein Mann von wenig Worten zu sein, ein verschlossener Mann – selbst wenn er tief bewegt ist.«

Da ich den redseligen Baß von Peter Iwanowitsch, dieses Oberpatrons aller revolutionären Veranstaltungen, nicht vergessen oder auch nur verzeihen konnte, so hielt ich die Eigenschaft, die Fräulein Haldin Herrn Rasumoff zuschrieb, für einen durchaus erfreulichen Charakterzug, da sie meiner Ansicht nach auf Aufrichtigkeit schließen ließ.

»Und dann hatten wir auch nicht viel Zeit«, sagte sie.

»Nein, natürlich, die hatten Sie nicht.« Mein Mißtrauen, fast möchte ich sagen, meine Furcht vor dem Feministen und seiner Egeria war so unauslöschlich, daß ich mich nicht zurückhalten konnte, in wirklicher Angst, wenn auch lächelnd, zu fragen:

»Sie sind aber doch glücklich entwischt?«

Sie verstand, und ich lächelte gleichfalls über meine Verlegenheit.

»O ja, ich bin entwischt, wenn Sie es so nennen wollen. Ich ging schnell weg. Es war nicht nötig, zu laufen. Ich bin weder verschreckt noch bezaubert, wie die arme Frau, die mich so merkwürdig empfing.«

»Und Herr – Herr Rasumoff …«

»Er blieb natürlich da. Ich glaube, er ging ins Haus, nachdem ich ihn verlassen hatte. Sie erinnern sich, daß er mit einer warmen Empfehlung an Peter Iwanowitsch hierher kam – vielleicht mit wichtigen Nachrichten an ihn betraut.«

»Ach ja, von dem Priester, der …«

»Vater Zosim, jawohl, oder auch von andern vielleicht.«

»Sie haben ihn also verlassen; aber haben Sie ihn seither gesehen, wenn ich fragen darf?«

Fräulein Haldin antwortete zunächst nicht auf diese so direkte Frage und sagte dann ruhig:

»Ich habe erwartet, ihn heute hier zu sehen.«

»Haben Sie? Sie treffen sich also in diesem Garten? Dann tue ich wohl am besten, wenn ich Sie sofort allein lasse?«

»Nein, warum denn? Und wir treffen uns nicht in diesem Garten. Ich habe Herrn Rasumoff seit jenem ersten Mal nicht wiedergesehen, nicht einmal. Ich habe ihn aber erwartet …«

Sie machte eine Pause. Ich fragte mich erstaunt, warum der junge Revolutionär nicht mehr Eifer zeigte.

»Bevor wir uns trennten, sagte ich Herrn Rasumoff, daß ich täglich um diese Zeit eine Stunde hier spazierengehe. Ich konnte ihm nicht erklären, warum ich ihn nicht aufforderte, uns sofort zu besuchen. Mutter muß auf einen solchen Besuch vorbereitet werden, und dann, sehen Sie, weiß ich ja selbst nicht, was Herr Rasumoff uns zu sagen haben kann; auch muß ich ihm erst mitteilen, wie es mit meiner armen Mutter steht. So sagte ich ihm nur in Eile, daß ich einen Grund hätte, ihn nicht gleich zu uns zu bitten, daß ich aber täglich hier zu treffen sei … Das ist ein öffentlicher Ort, es sind aber niemals viel Leute um diese Stunde hier. Ich dachte, es würde ganz gut passen, und dann ist es so nahe bei unserer Wohnung. Ich bin nicht gern weit von Mutter weg. Unser Mädchen weiß, wo ich bin, für den Fall, daß ich plötzlich gebraucht werden sollte.«

»Jawohl, von diesem Gesichtspunkt aus ist es durchaus passend«, stimmte ich bei.

Ich war tatsächlich der Ansicht, daß die Bastionen ein durchaus passender Ort seien, wenn das Mädchen es noch nicht für angebracht hielt, den jungen Mann ihrer Mutter vorzustellen. Ich sah ringsum auf die trostlos banalen Anlagen und dachte, daß hier also ihre Bekanntschaft beginnen und sich weiter entwickeln würde, unter dem Austausch edler Entrüstungen und hochgespannter Gefühle, zu hoch vielleicht, als daß ein nichtrussischer Verstand sie erfassen könnte. Achtzig Millionen ihrer Landsleute knirschten zwischen den mahlenden Mühlsteinen, und diese beiden Flüchtlinge würden hier unter diesen Bäumen eng aneinander hinschreiten. Ja, es war ein Platz, wie geschaffen zu Spaziergängen und Herzensergüssen. Während wir nochmals vor den großen eisernen Toren kehrtmachten, fiel mir sogar ein, daß die beiden, wenn sie müde wurden, reichlich Gelegenheit zum Ausruhen finden würden. Eine Unmenge von Tischen und Stühlen war zwischen dem Gartenrestaurant und dem Musikstand verteilt. Es sah aus wie eine Anhäufung von bemaltem Treibholz zwischen den Bäumen. Mitten darin bemerkte ich ein einsames Schweizer Liebespaar, dessen Geschick ganz zweifellos von der Wiege bis zum Grabe gesichert erschien, durch die vollkommen demokratischen Institutionen einer Republik, die man förmlich in einer Hand halten konnte. Der Mann, farblos und ungeschlacht, trank Bier aus einem glitzernden Glas, die Frau, ländlich und gemütsruhig, lehnte in ihrem groben Stuhl und sah müßig um sich.

Auf dieser Erde ist die Logik nun einmal selten zu finden. Nicht nur bei Gedanken, sondern auch bei Gefühlen. Zu meiner lebhaften Überraschung entdeckte ich in mir eine Abneigung gegen diesen unbekannten jungen Menschen. Es war eine Woche her, daß sie sich getroffen hatten. War er so unempfindlich oder schüchtern oder ganz stumpf? Ich konnte es nicht herausbringen.

»Glauben Sie«, fragte ich Fräulein Haldin, nachdem wir wieder ein Stück in der großen Allee hinuntergegangen waren, »daß Herr Rasumoff Ihre Absicht verstanden hat?«

»Daß er verstanden hat, was ich meinte?« fragte sie erstaunt zurück. »Er war tief bewegt, das weiß ich; trotz meiner eigenen Erregung konnte ich es sehen. Aber ich sprach deutlich. Er hörte mich an; er schien sogar förmlich an meinen Lippen zu hängen …« Unbewußt hatte sie den Schritt beschleunigt. Auch ihre Worte kamen schneller.

Ich wartete ein wenig, bevor ich nachdenklich bemerkte: »Und doch ließ er alle diese Tage vorübergehen.«

»Wie können wir wissen, was er hier zu tun hat? Er reist wirklich nicht zu seinem Vergnügen. Seine Zeit gehört vielleicht gar nicht ihm – nicht einmal seine Gedanken vielleicht.«

Sie ging plötzlich sehr langsam und fügte leise hinzu: »Oder sogar sein Leben.«

Dann verstummte sie und blieb stehen. »Ich halte es für durchaus möglich, daß er Genf am selben Tag, wo er mich gesehen hat, verlassen mußte.«

»Ohne Ihnen etwas zu sagen«, rief ich ungläubig aus.

»Ich ließ ihm keine Zeit dazu. Ich verabschiedete mich ganz plötzlich. Gegen Schluß benahm ich mich recht aufgeregt, das tut mir leid. Wenn ich ihm selbst die Gelegenheit zu irgendwelchen vertraulichen Mitteilungen gegeben hätte, so hätte er immer noch das Recht gehabt, mich für nicht ganz vertrauenswürdig zu halten. Ein aufgeregtes tränenreiches Mädchen erweckt nicht den Eindruck, als ob man ihr etwas anvertrauen könnte. Doch selbst wenn er Genf für eine Zeit verlassen haben sollte, so bin ich doch ganz sicher, daß wir uns wieder treffen werden.«

»Oh, Sie sind sicher … das scheint wirklich so. Doch mit welchem Recht?«

»Weil ich ihm gesagt habe, daß ich dringend jemand brauchte, einen Landsmann, der meinen Glauben teilt und dem ich mich in einer bestimmten Sache anvertrauen könnte.«

»Ich verstehe. Ich frage Sie nicht, was er Ihnen geantwortet hat. Ich gestehe, daß Ihnen das ein Recht gibt, zu glauben, daß Herr Rasumoff nicht allzulange auf sich warten lassen wird. Heute ist er aber nicht gekommen?«

»Nein«, sagte sie ruhig. »Heute nicht.« Und wir standen eine Zeitlang nebeneinander, wie Leute, die sich nichts mehr zu sagen haben und ihre Gedanken weitab schweifen lassen, bevor sie selbst ihre eigenen Wege gehen. Fräulein Haldin sah auf die Uhr an ihrem Armband und machte eine brüske Bewegung. Sie war scheinbar schon über die Zeit ausgeblieben.

»Ich bin nicht gern von Mutter weg«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Nicht, daß sie eben sehr krank wäre; aber wenn ich nicht bei ihr bin, so fühle ich mich merkwürdig beunruhigt.«

Frau Haldin hatte seit länger als einer Woche ihres Sohnes mit keinem Worte mehr gedacht. Sie saß wie gewöhnlich in dem Lehnstuhl beim Fenster und blickte schweigend auf den hoffnungslos langweiligen Boulevard des Philosophes hinaus. Wenn sie sprach, so waren es immer nur wenige teilnahmslose Worte über gleichgültige, alltägliche Dinge.

»Für jemand, der weiß, worüber die Ärmste grübelt, sind Gespräche dieser Art weit schmerzlicher noch als ihr Schweigen, obwohl das auch schlimm ist. Ich kann es kaum ertragen und wage es doch nicht zu brechen.«

Fräulein Haldin seufzte und schloß einen Knopf ihres Handschuhs, der aufgegangen war. Ich wußte recht gut, wie bitter sie unter diesen Zuständen leiden mußte. Die unerträgliche Lage, ihre Ursachen und ihre Begleitumstände hätten die Gesundheit eines westeuropäischen Mädchens untergraben. Aber russische Naturen haben eine ganz merkwürdige Widerstandskraft gegen die harten Prüfungen des Lebens. Wie das Mädchen da vor mir stand, aufrecht und geschmeidig, in einer kurzen Jacke über dem schwarzen Kleid, die ihre Gestalt noch schlanker und ihr frisches, doch farbloses Gesicht noch bleicher erscheinen ließ, erregte sie meine staunende Bewunderung.

»Ich kann keinen Augenblick länger bleiben! Sie sollten bald kommen und nach Mutter sehen. Sie wissen, daß sie Sie »l'ami« nennt. Das ist ein ausgezeichneter Name, und sie meint ihn aufrichtig so. Und jetzt – au revoir – ich muß laufen.«

Sie sah flüchtig den breiten Gehweg hinunter – auf einmal aber legte sie mit einer hastigen Bewegung ihre Hand, die sie mir zum Gruß hingestreckt hatte, auf meine Schulter; ihre roten Lippen waren leicht geöffnet, doch nicht zu einem Lächeln, sondern eher in einem Ausdruck plötzlichen Vergnügens. Sie sah nach dem Eingangstor und stieß kurz hervor:

»Da! ich wußte es. Da kommt er!«

Ich wußte, daß sie nur Herrn Rasumoff meinen konnte. Ein junger Mann kam in Eile die Allee herauf. Sein Anzug war dunkelbraun, und er trug einen Stock. Als ich ihn zuerst erblickte, hatte er den Kopf auf die Brust gesenkt, wie in tiefen Gedanken. Während ich ihn noch ansah, hob er ihn mit einem scharfen Ruck und zögerte plötzlich. Ich bin sicher, daß er das tat, obwohl dieses Zögern kaum merklich war und sofort überwunden wurde. Dann kam er weiter auf uns zu und sah uns ruhig an. Fräulein Haldin machte mir ein Zeichen, dazubleiben, und ging ihm einige Schritte entgegen.

Ich wandte den Kopf, um ihre Begegnung nicht mit anzusehen, und sah auch nicht wieder hin, bis ich Fräulein Haldin bei der Vorstellung seinen Namen nennen hörte. Herr Rasumoff wurde in leisem, herzlichem Ton davon unterrichtet, daß ich nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer, sondern auch ein fester Halt sei »in unserem Kummer und Schmerz«.

Natürlich blieb es auch nicht unerwähnt, daß ich Engländer sei. Fräulein Haldin sprach rascher, als ich sie je zuvor sprechen gehört hatte, und die Ruhe ihrer Augen wirkte durch den Gegensatz noch eindrucksvoller.

»Ich habe ihm mein Vertrauen geschenkt«, fügte sie hinzu und sah während der ganzen Zeit Herrn Rasumoff an. Dieser junge Mensch ließ zwar seinen Blick auf Fräulein Haldin ruhen, sah aber sicherlich nicht in ihre Augen, die doch auf ihn warteten. Hernach sah er uns abwechselnd an, während die schwache Andeutung eines erzwungenen Lächelns und ein leises Stirnrunzeln auf seinem Gesicht kamen und gingen; ich bemerkte es, obwohl jemand, der ihn nicht so angestrengt beobachtet hätte wie ich, beides entgangen wäre. Ich weiß nicht, ob es auch Natalie Haldin aufgefallen war, meiner Aufmerksamkeit aber konnten selbst die schattenhaftesten seiner Bewegungen nicht entgehen. Das versuchte Lächeln mißlang, das Stirnrunzeln wurde unterdrückt und das Gesicht zur Ausdruckslosigkeit gezwungen; und doch stellte ich mir vor, daß er bei sich dachte:

»Ihr Vertrauen! Diesem ältlichen Menschen – diesem Ausländer!«

Ich stellte mir das vor, weil auch er mir ausländisch genug vorkam. Im ganzen aber hatte ich einen günstigen Eindruck. Er sah intelligent aus und sogar gewissermaßen distinguiert und stach damit auffallend genug von dem Durchschnitt der Studenten und den sonstigen Bewohnern der »Petite Russie« ab. Seine Gesichtszüge waren durchgebildeter, als man es bei Russen gewöhnlich trifft. Seine Kinnlinie war scharf, seine Wangen glatt rasiert und bleich. Seine Nase sprang energisch vor. Er trug den Hut tief in die Augen gezogen, das dunkle Haar war im Nacken leicht gewellt. Unter dem schlecht sitzenden braunen Anzug erriet man kräftige Gliedmaßen. Bei einer leichten Beugung zeichneten sich breite Schultern ab. Im ganzen war ich nicht enttäuscht. Nachdenklich – kräftig – schüchtern …

Bevor Fräulein Haldin noch zu sprechen aufgehört hatte, fühlte ich den Druck seiner Hand auf meiner, einen muskelfesten Druck, nur überraschend heiß und trocken. Kein Wort und nicht einmal ein Murmeln begleitete diesen kurzen Händedruck.

Ich gedachte, die beiden sich selbst zu überlassen, Fräulein Haldin aber berührte leicht meinen Vorderarm mit einem leisen Nachdruck, der mir eindeutig einen Wunsch verriet. Man mag darüber lächeln, aber ich war nur zu gern bereit, in Natalie Haldins Nähe zu bleiben, und schäme mich nicht einzugestehen, daß es für mich dabei nichts zu lächeln gab. Ich blieb. Nicht wie ein Jüngling es getan hätte, selig und von ihrer Nähe sozusagen berauscht; ich war nüchtern, stand mit beiden Füßen fest auf dem Boden und war entschlossen, ihre Absicht zu ergründen. Sie hatte sich an Rasumoff gewendet.

»Gut, dies ist der Ort. Ja, ich hatte geahnt, daß Sie hierher kommen würden. Ich bin jeden Tag spazierengegangen … Entschuldigen Sie sich nicht, ich verstehe. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie heute gekommen sind, aber trotzdem kann ich jetzt nicht bleiben. Es ist unmöglich. Ich muß ganz schnell nach Hause. Jawohl, obgleich Sie jetzt vor mir stehen, muß ich fort. Ich war zu lange weg … Sie wissen, wie es ist?«

Diese letzten Worte waren an mich gerichtet. Ich bemerkte, daß Herr Rasumoff mit der Zungenspitze über die Lippen fuhr, wie man es wohl im Fieber zu tun pflegt. Er nahm ihre schwarzbehandschuhte Hand, die sich über der seinen schloß und sie festhielt – sie für mich ganz merkbar festhielt, trotzdem er Miene machte, sie zurückzuziehen.

»Ich danke Ihnen nochmals dafür, daß Sie mich verstanden«, fuhr sie herzlich fort. Er unterbrach sie, wie mir schien, etwas barsch. Mir gefiel es nicht, daß er zu diesem freimütigen Geschöpf nur so unter dem Hutrand hervor sprach. Seine Stimme klang schwach und rasselnd, als wäre ihm die Kehle ausgetrocknet.

»Wofür haben Sie mir zu danken? Ich Sie verstehen? … wieso habe ich Sie verstanden? … merken Sie sich lieber gleich, daß ich gar nichts verstehe. Ich wußte nur, daß Sie mich in diesem Garten zu sehen wünschten. Ich konnte nicht früher kommen, ich war verhindert, und sogar heute, wie Sie sehen … zu spät.«

Sie hielt immer noch seine Hand.

»Immerhin kann ich Ihnen dafür danken, daß Sie mich nicht gleich für ein schwaches und rührseliges Mädchen gehalten haben. Ich brauche zweifellos Halt, ich weiß so wenig. Aber man kann sich auf mich verlassen. Wirklich, man kann.«

»Sie wissen wenig«, wiederholte er nachdenklich. Er hatte den Kopf erhoben und sah nun gerade in ihr Gesicht, während sie seine Hand hielt. So standen sie eine ganze Weile. Dann ließ sie seine Hand los.

»Ja, Sie kamen spät. Es war nett von Ihnen, daß Sie überhaupt kamen und damit rechneten, ich könnte zufällig länger als gewöhnlich hiergeblieben sein. Ich habe mich mit diesem guten Freund hier unterhalten. Wir haben von Ihnen gesprochen. Jawohl, Kyrill Sidorowitsch, von Ihnen. Er war gerade bei mir, als ich zum ersten Male von Ihrer Anwesenheit in Genf hörte. Er kann Ihnen erzählen, wie tröstlich ich damals diese Nachricht empfand. Er weiß auch, daß ich mir vorgenommen hatte, Sie aufzusuchen. Aus diesem einzigen Grund habe ich auch die Einladung von Peter Iwanowitsch angenommen …«

»Peter Iwanowitsch hat Ihnen von mir gesprochen«, unterbrach er sie mit dieser unsicheren, rauhen Stimme, die mir die Vorstellung einer ausgetrockneten Kehle erweckte.

»Nur ganz wenig. Er hat mir nur Ihren Namen gesagt, und daß Sie hier angekommen seien. Warum hätte ich weiter fragen sollen? Was hätte er mir mehr sagen können, das ich nicht schon aus meines Bruders Brief gewußt hätte? Drei Zeilen! Doch wieviel haben sie für mich bedeutet! Ich will sie Ihnen eines Tages zeigen, Kyrill Sidorowitsch. Doch jetzt muß ich gehen. Unser erstes Gespräch soll nicht nur fünf Minuten dauern, darum fangen wir besser gar nicht an …«

Ich war ein wenig abseits gestanden und hatte sie beide im Profil gesehen. In diesem Augenblick fiel es mir auf, daß Herrn Rasumoffs Gesicht älter erschien als seine Jahre.

Das Mädchen wandte sich plötzlich zu mir: »Wenn meine Mutter in meiner Abwesenheit aufwachte (ich bin ja heute viel länger weg als sonst), so würde sie mich vielleicht fragen. Sie scheint mich in letzter Zeit mehr zu vermissen. Sie würde wissen wollen, was mich aufgehalten hat, und sehen Sie, es wäre mir schmerzlich, es ihr verheimlichen zu müssen.«

Ich verstand sie recht gut. Und aus demselben Grunde wehrte sie auch ab, als Herr Rasumoff scheinbar Miene machte, sie zu begleiten.

»Nein, nein, ich gehe allein, aber Sie können mich hier treffen, sobald Sie wollen.« Dann sagte sie leiser und bedeutsam zu mir: »Mutter sitzt vielleicht eben jetzt beim Fenster und sieht auf die Straße hinaus. Sie darf von Herrn Rasumoffs Gegenwart gar nichts erfahren, bis ein Punkt aufgeklärt ist.« Nach einer kurzen Pause fügte sie etwas lauter und doch immer noch zu mir gewendet hinzu: »Herr Rasumoff versteht meine Schwierigkeit nicht ganz, aber Sie wissen ja, was es ist.«

5

Mit einem kurzen Kopfnicken für uns beide und einem ernsten, freundlichen Blick für den jungen Mann verließ uns Fräulein Haldin. Wir setzten die Hüte wieder auf und sahen ihrer aufrechten, geschmeidigen Gestalt nach, die sich rasch entfernte. Ihr Gang war nicht das unsichere Gleiten, mit dem manche Frauen geziert tun, sondern ein freies, gesundes und kräftiges Vorwärtsschreiten. Die Entfernung zwischen uns vergrößerte sich schnell. Schließlich entschwand sie unserem Blick. Erst da bemerkte ich, daß Herr Rasumoff den Hut wieder tief ins Gesicht gezogen hatte und mich von Kopf bis zu Fuß musterte. Ich kann wohl sagen, daß ich für diesen jungen Russen eine recht unerwartete Erscheinung sein mußte. In seinem Gesicht, in seiner ganzen Haltung glaubte ich einen Ausdruck wahrzunehmen, der mir aus Neugier und Verachtung gemischt schien, durch Mißtrauen gedämpft, – als hätte er den Atem angehalten, während ich weggesehen hatte. Seine Augen begegneten aber den meinen fest genug. Ich sah dabei zum erstenmal, daß sie von hellem Braun und von dicken schwarzen Wimpern eingefaßt waren. Sie waren das Jüngste in seinem Gesicht. Durchaus nicht unangenehme Augen. Er stand auf seinen Stock gelehnt und schwankte leicht, als gäbe er dem Wind nach. Mir wurde es plötzlich klar, daß Fräulein Haldin eine bestimmte Absicht gehabt hatte, als sie uns beide allein ließ, – daß mir eine Aufgabe anvertraut worden war, da ich durch einen Zufall eben bei der Hand gewesen war. Daher bemühte ich mich, mich so liebenswürdig wie möglich zu zeigen. Ich suchte nach irgendeiner passenden Einleitung und fand mit einemmal in Fräulein Haldins letzten Worten den Schlüssel zur Lösung meiner Aufgabe.

»Nein«, sagte ich ernst, wenn auch mit einem Lächeln, »man kann nicht von Ihnen erwarten, daß Sie verstehen.«

Seine glattrasierten Lippen zuckten ein wenig, bevor er mit unterdrücktem Spott antwortete:

»Aber haben Sie nicht eben gehört? Die junge Dame hat mir dafür gedankt, daß ich sie so gut verstanden habe.«

Ich sah ihn scharf an. Lag in dieser Antwort ein verborgener und unerklärlicher Hohn? Nein, das war es nicht. Es hätte Verdruß sein können. Aber was hätte ihn verdrießen sollen? Er sah aus, als habe er in der letzten Zeit nicht gut geschlafen. Ich konnte fast körperlich fühlen, wie sein müder, unbeweglicher Blick auf mir lastete, der Blick eines Menschen, der regungslos im Dunkeln liegt, ganz und gar in quälenden Gedanken befangen. Ich wußte ja jetzt, wie recht ich damit hatte, und kann nur ehrlich versichern, daß das wirklich mein erster Eindruck von ihm war. Sein Blick war aus irgendeinem unbestimmten Grunde unangenehm. Jetzt allerdings, während ich dies niederschreibe und alles weiß, könnte ich leicht eine Erklärung dafür finden, damals aber, als ich gar nichts wußte, war dies mein Eindruck. Ich versuchte die leichte Verlegenheit, in die er mich versetzte, dadurch zu vertreiben, daß ich einen halb vertraulichen Plauderton anschlug.

»Dieses ganz reizende und durchaus bewundernswerte junge Mädchen (ich bin, wie Sie ja sehen, alt genug, um in meinen Ausdrücken offenherzig sein zu können), dieses junge Mädchen also hat nur aus ihrem eigenen Gefühl heraus gesprochen. Sie haben das ja sicherlich erfaßt?«

Er machte eine so unvermittelte Bewegung, daß er fast schwankte:

»Müssen das verstehen! Können das nicht verstehen! Ich kann doch wohl anderes zu tun haben? Und das Mädchen ist reizend und bewundernswert. Gut – und wenn schon! Ich denke doch, daß ich das auch allein sehen kann?«

Dieser Ausbruch wäre beleidigend gewesen, wenn seine Stimme nicht erstickt geklungen hätte; so merkte ich zu sehr die peinliche Anstrengung, die ihm das Sprechen verursachte, als daß ich hätte beleidigt sein können.

Ich schwieg und schwankte zwischen der offensichtlichen Tatsache und meiner feineren Empfindung. Es stand mir frei, ihn auf dem Fleck zu verlassen; doch hielt mich das Bewußtsein zurück, daß mich Fräulein Haldin mit ihrem Abschiedsblick mit einer Aufgabe betraut hatte. Nach einer kurzen Überlegung sagte ich:

»Wollen wir ein paar Schritte zusammen gehen?«

Er zuckte so heftig mit den Schultern, daß er wieder taumelte. Wir begannen zu gehen, und er blieb ein wenig zurück, so daß ich ihn eigentlich nicht sehen konnte, wenn ich nicht den Kopf zurückwandte. Ich wollte ihn durch irgendein Zeichen von Neugier nicht weiter reizen, weil ich mir sagte, daß gerade Neugier diesem jungen Menschen doppelt peinlich sein mußte, der eben erst seinem von politischen Leidenschaften durchwühlten Vaterland entflohen war. Ich wollte ihn nicht durch ausgesprochene Neugier weiter reizen. Das mußte diesem jungen und verschlossenen Mann widerwärtig sein, der eben erst den höllischen Schatten entronnen war, die das tragische und gütige Gesicht seines Landes verhüllten. Dieser Schatten streckte sich quer durch Europa, begleitete alle seine Landsleute und lag auch über ihm und schien sein Gesicht zu verdunkeln. »Zweifellos«, sagte ich mir, »ist er ein Fanatiker, vielleicht sogar ein verzweifelter Revolutionär; aber er ist jung, vielleicht ist er selbstlos und menschlich, des Mitleids fähig …«

Ich hörte, wie er sich geräuschvoll räusperte, und wurde sofort ganz Ohr.

»Das übersteigt alles«, waren seine ersten Worte. »Das übersteigt alles. Ich finde Sie da aus einem Grunde, den ich nicht verstehen kann, im Besitze von irgend etwas, das zu verstehen man von mir nicht erwarten kann! Ihr Vertrauter! Ein Ausländer! Spricht von einem staunenswerten russischen Mädchen! Ist dieses bewundernswerte Mädchen eine Närrin, möchte ich jetzt einmal wissen? Wo wollen Sie hinaus? Was für Absichten verfolgen Sie?«

Er konnte sich kaum verständlich machen. Seine Kehle schien ausgetrocknet wie ein Stück Zunder. Es klang so erbärmlich, daß ich durchaus keine Mühe hatte, meine Entrüstung niederzuhalten.

»Wenn Sie ein wenig länger gelebt haben werden, Herr Rasumoff, so werden Sie darauf kommen, daß keine Frau eine Närrin ist. Ich bin kein Feminist wie der berühmte Autor da, Peter Iwanowitsch, den ich übrigens, um die Wahrheit zu sagen, stark im Verdacht habe …«

Er unterbrach mich mit einem erstaunten Flüstern, das mich förmlich erschreckte.

»Im Verdacht? Sie haben Peter Iwanowitsch im Verdacht? Sie!«

»Ja, in gewisser Hinsicht«, versuchte ich meine Bemerkung abzuschwächen. »Wie ich schon gesagt habe, Herr Rasumoff, wenn Sie lange genug gelebt haben, dann werden Sie unterscheiden lernen zwischen dem vornehmen Zutrauen einer Natur, der alles Niedrige fremd ist, und der geschmeichelten Leichtgläubigkeit mancher Frauen, obwohl auch die Leichtgläubigen, so dumm sie auch sein mögen und so unglücklich sie sicher sind, doch niemals Närrinnen sind. Es ist mein fester Glaube, daß keine Frau je völlig getäuscht werden kann. Die Verlorenen unter ihnen sind mit offenen Augen in den Abgrund gesprungen; man weiß nur nicht alle Begleitumstände.«

»Meiner Seele«, rief er aus, »was geht es mich an, ob Weiber närrisch sind oder verrückt? Es ist wirklich ganz gleich, wie Sie darüber denken! Ich, ich interessiere mich nicht für sie. Ich lasse sie sein. Ich bin kein Romanheld. Woher wissen Sie, daß ich irgend etwas über Frauen lernen will? … Was soll das alles?«

»Sie meinen den Zweck dieser Unterredung, zu der ich Sie allerdings gewissermaßen gezwungen habe?«

»Gezwungen! Zweck!« wiederholte er und hielt sich andauernd einen kleinen Schritt hinter mir. »Sie wollten augenscheinlich über Frauen reden. Das ist ein Thema. Aber mir liegt nichts daran. Ich habe nie … tatsächlich, ich hätte über andere Themen nachzudenken.«

»Hier handelte es sich nur um eine einzige Frau, ein junges Mädchen, – die Schwester Ihres toten Freundes, – Fräulein Haldin. Sie könnten doch wirklich etwas über sie nachdenken. Was ich zuerst sagen wollte, war, daß hier eine Situation vorliegt, die zu verstehen man von Ihnen nicht erwarten kann.«

Ich hörte ein paar Augenblicke seinen unsicheren Schritten zu.

»Ich denke mir, daß es eine nützliche Vorbereitung für Ihr nächstes Zusammentreffen mit Fräulein Haldin sein könnte, wenn ich Ihnen davon spreche. Ich glaube, sie selbst hat irgend etwas Derartiges beabsichtigt, als sie uns allein ließ. Ich halte mich für ermächtigt, zu sprechen. Die eigentümliche Lage, die ich schon erwähnt habe, hat sich aus dem ersten Kummer und Schmerz über Viktor Haldins Hinrichtung ergeben. Die Begleitumstände seiner Verhaftung waren irgendwie eigenartig. Sie wissen ganz zweifellos die volle Wahrheit …«

Ich fühlte mich oberhalb des Ellbogens am Arm gepackt und im nächsten Augenblick herumgerissen, so daß ich Herrn Rasumoff ins Gesicht sah.

»Sie springen da vor mir aus dem Boden heraus mit solchem Gerede. Wer zum Teufel sind Sie? Das ist ja unerträglich! Warum? Wozu? Was wissen denn Sie, was eigenartig ist und was nicht? Was haben denn Sie sich um irgendwelche verdammten Begleitumstände zu kümmern oder überhaupt um irgend etwas, was in Rußland vorgeht?«

Er stützte sich mit der anderen Hand schwer auf seinen Stock, und als er meinen Arm losließ, da hatte ich das Gefühl, daß er kaum imstande sei, sich auf den Füßen zu halten.

»Setzen wir uns an irgendeinen der freien Tische hier«, schlug ich vor, mit dem Versuch, diesen unerwarteten, heftigen Gefühlsausbruch zu übersehen. Ich muß gestehen, daß er mich nicht unberührt gelassen hatte. Der Mann tat mir leid.

»Was für Tische? Wovon sprechen Sie? oh, – die freien Tische? Die Tische da? Gewiß. Ich will mich an einen der freien Tische setzen.«

Ich führte ihn vom Wege weg mitten in das Gewimmel der Tische vor dem Gartenrestaurant. Das Schweizer Liebespaar war weggegangen. Wir saßen allein zwischen dem Treibholz, sozusagen. Herr Rasumoff ließ sich in einen Stuhl fallen, warf seinen Stock zu Boden, stemmte die Ellbogen auf den Tisch, nahm die Kappe in die Hand und starrte mich hartnäckig und unverwandt an, während ich dem Kellner winkte und Bier bestellte. Ich konnte mich über diese stillschweigende Musterung nicht gut beschweren, weil ich ja wirklich sagen mußte, daß ich ihn etwas unvermittelt angefallen hatte – »aus dem Boden herausgesprungen war«, wie er es genannt hatte.

Während wir auf den Kellner warteten, erwähnte ich, daß ich in St. Petersburg geboren war und die russische Sprache schon als Kind erlernt hatte. An die Stadt erinnerte ich mich nicht, da ich sie als neunjähriger Junge endgültig verlassen hatte, in späteren Jahren aber hatte ich meine Bekanntschaft mit der Sprache erneuert. Er hörte mir zu, ohne auch nur die Augen im geringsten zu bewegen. Er mußte seine Stellung ändern, als das Bier kam; er stürzte das erste Glas hinunter und schien dadurch etwas aufgefrischt. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, kreuzte die Arme über der Brust und fuhr fort, mich unverhohlen anzustarren. Es fiel mir auf, daß sein glattrasiertes, fast schwarzes Gesicht eigentlich recht beweglich schien, und die völlige Ausdruckslosigkeit war vielleicht nur eine erzwungene Gewohnheit, die für einen Revolutionär, einen Verschwörer, wohl am Platze schien, der ewig auf der Hut sein mußte, sich vor den zahllosen geheimen Spionen nicht zu verraten.

»Aber Sie sind doch ein Engländer – ein englischer Literaturprofessor«, murmelte er mit etwas freierer Stimme. »Ich habe von Ihnen gehört. Man hat mir erzählt, daß Sie schon jahrelang hier leben.«

»Ganz richtig. Mehr als zwanzig Jahre; und ich habe Fräulein Haldin bei ihren englischen Studien geholfen.«

»Sie haben englische Gedichte mit ihr gelesen«, sagte er, gänzlich unbeteiligt jetzt, förmlich ein anderer, ganz verschieden von dem Mann, der eben erst mit schweren und unsicheren Schritten neben mir hergegangen war.

»Jawohl, englische Dichter«, sagte ich. »Die Aufregung aber, von der ich sprach, wurde durch eine englische Zeitung verursacht.«

Er fuhr fort, mich anzustarren. Ich glaube, er wußte nichts davon, daß die Geschichte der mitternächtlichen Verhaftung von einem englischen Journalisten herausgebracht und der Welt bekanntgegeben worden war. Als ich ihm das erklärte, murmelte er verächtlich: »Das kann ebensogut alles erlogen sein.«

»Ich sollte meinen, daß Sie selbst darüber am besten urteilen können«, gab ich leicht verwirrt zurück. »Ich muß gestehen, daß es mir in der Hauptsache wahr scheint.«

»Wie wollen Sie Lüge und Wahrheit auseinander halten?« fragte er in seiner neuen ausdruckslosen Art.

»Ich weiß nicht, wie Sie das in Rußland tun«, hob ich an, durch sein Benehmen etwas verärgert. Er unterbrach mich.

»In Rußland und überhaupt überall – in einer Zeitung zum Beispiel; die Farbe der Druckerschwärze und die Form der Buchstaben sind überall die gleichen.«

»Es gibt aber doch auch andere Anzeichen, nach denen man sich richten kann, der ganze Ton der Notiz, die allgemeine Wahrscheinlichkeit der Tatsache, die Überlegung des Beweggrundes und so weiter. Ich vertraue der Genauigkeit eines Spezialkorrespondenten nicht blindlings, – aber warum hätte der eine sich die Mühe nehmen sollen, einen bis ins einzelne gehenden Bericht über Tatsachen zu erfinden, die für die Welt ohne Interesse waren?«

»Da haben wir's ja«, brummte er, »was mit uns geschieht, ist ohne Interesse – eine kurze Sensation, um die Zeitungsleute zu unterhalten –, und dieses Europa, das mit souveräner Verachtung auf uns herabblickt. Es ist ekelhaft, nur daran zu denken. Aber warten Sie ein wenig zu.« Nach dieser Art von Drohung an Westeuropa verstummte er. Ich gab mir den Anschein, als bemerkte ich den Ärger in seinem Blick nicht, und betonte, daß es – ob der Journalist nun gut oder schlecht unterrichtet war – für die Freunde der beiden Damen nur auf die Wirkung ankomme, die die wenigen Druckzeilen hervorgerufen hätten – auf die Wirkung allein; und er sei doch sicher zu diesen Freunden zu zählen, – schon mit Rücksicht auf seinen toten Kameraden und treuen Kampfgefährten. In diesem Augenblick hatte ich den Eindruck, als wollte er heftig losbrechen; er verblüffte mich aber nur durch ein konvulsivisches Zusammenzucken des ganzen Körpers. Dann beruhigte er sich, kreuzte die Arme fester über der Brust und setzte sich zurück, mit einem Lächeln, in dem eine leichte Andeutung von Verachtung und Bosheit lag.

»Jawohl, ein Kamerad und treuer … ganz recht«, sagte er.

»Ich wagte es, Sie daraufhin anzureden, und ich kann mich nicht irren. Ich war gegenwärtig, als Peter Iwanowitsch Ihre Ankunft hier Fräulein Haldin anzeigte, und ich sah ihre Freude und Dankbarkeit, als Ihr Name genannt wurde. Später zeigte sie mir den Brief ihres Bruders und las mir die wenigen Worte vor, in denen er von Ihnen spricht. Was hätten Sie ihm sein können, wenn nicht ein Freund?«

»Ganz natürlich. Das ist allgemein bekannt, ein Freund, ganz recht … fahren Sie fort. Sie sprachen von irgendeiner Wirkung.«

Ich sagte mir selbst: »Er kehrt die Unempfindlichkeit eines überzeugten Revolutionärs heraus, eines Menschen, der sich einer zerstörenden Idee verschrieben und die landläufigen Empfindungen abgeschworen hat … Er ist jung, und seine Aufrichtigkeit zwingt ihn zur Pose vor einem Fremden, einem Ausländer, einem alten Mann. Jugend muß sich selbst bestätigen …«

So kurz ich konnte, setzte ich ihm den Geisteszustand auseinander, in den die arme Frau Haldin durch die Nachricht von ihres Sohnes frühzeitigem Ende geraten war.

Er hörte – das fühlte ich – mit reger Aufmerksamkeit zu. Sein starrer Blick senkte sich langsam, verließ mein Gesicht und blieb schließlich auf dem Boden vor seinen Füßen haften.

»Sie können sich die Gefühle der Schwester vorstellen. Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich nur ein wenig Englisch mit ihr gelesen und möchte mich in Ihren Augen nicht durch den Versuch lächerlich machen, von ihr zu sprechen. Aber Sie haben sie gesehen. Sie ist eines der seltenen menschlichen Geschöpfe, bei denen nichts zu erklären ist. So denke ich wenigstens. Die beiden Frauen hatten nur diesen Sohn, diesen Bruder, als Bindeglied mit der weiteren Welt, mit der Zukunft. Natalie hat in ihm die Grundlage für jedes tätige Leben verloren. Können Sie sich da wundern, daß sie sich mit dem regsten Interesse dem einzigen Mann zuwendet, den ihr Bruder in seinen Briefen erwähnt hat? Ihr Name ist eine Art Vermächtnis.«

»Was kann er von mir geschrieben haben?« rief er halblaut und wie verzweifelt.

»Nur ein paar Worte. Es kommt nicht mir zu, Herr Rasumoff, sie Ihnen zu wiederholen; aber glauben Sie meiner Versicherung, daß diese Worte eindrucksvoll genug sind, sowohl seine Mutter wie seine Schwester dazu zu bestimmen, daß sie blindlings der Schärfe Ihres Urteiles vertrauen und der Wahrheit von allem, was Sie ihnen zu sagen haben könnten; es ist für Sie einfach unmöglich, an den beiden fremd vorüberzugehen.«

Ich unterbrach mich und lauschte eine Zeitlang den Schritten der wenigen Leute, die in der breiten Hauptallee auf und ab gingen. Während ich sprach, war sein Kopf auf die Brust und auf die gekreuzten Arme herabgesunken. Nun fuhr er auf.

»Muß ich also wirklich hingehen und der alten Frau etwas vorlügen?«

Es war kein Ärger; es war etwas anderes, Packenderes, das nicht so einfach zu erklären war. Ich erfaßte das rein gefühlsmäßig, während ich ziemlich aufgeregt seinen Ausruf zu deuten versuchte.

»Lieber Gott, würde denn die Wahrheit nicht ausreichen? Ich hoffte, Sie würden ihnen etwas Tröstliches zu sagen haben. Ich denke jetzt an die arme Mutter. Euer Rußland ist ein grausames Land.«

Er rückte ein wenig in seinem Stuhl.

»Ja«, wiederholte ich, »ich dachte, Sie würden irgend etwas Authentisches zu erzählen haben.«

Es war befremdend zu sehen, wie seine Lippen zuckten, bevor er sprach.

»Wie nun, wenn es nicht wert ist, erzählt zu werden?«

»Nicht wert – von welchem Gesichtspunkt aus? Ich verstehe Sie nicht.«

»Von jedem Gesichtspunkt aus.«

Ich entgegnete etwas hart: »Ich sollte denken, daß alles, was die Einzelheiten dieser mitternächtlichen Verhaftung aufklären könnte …«

»Die ein Journalist zur Unterhaltung des zivilisierten Europas aufgetischt hat«, unterbrach er mich verächtlich.

»Gut, aufgetischt … aber sind sie nicht wahr? Ich kann mir Ihr Benehmen nicht deuten. Entweder der Mann ist ein Held für Sie, oder …«

Er brachte sein Gesicht mit weit aufgerissenen Nüstern plötzlich so nahe an das meine, daß ich mich sehr zusammennehmen mußte, um nicht zurückzuprallen.

»Sie fragen mich! Ich stelle mir vor, daß Ihnen das alles Spaß macht. Sehen Sie her! Ich bin ein Arbeitsmensch. Ich studierte. Jawohl, ich studierte sehr viel. Da sitzt Verstand, da drinnen.« (Dabei klopfte er sich mit dem Finger an die Stirn.) »Glauben Sie denn nicht, daß auch ein Russe einen gesunden Ehrgeiz haben kann? Jawohl, ich hatte sogar Aussichten – gewiß! Ich hatte welche. Und nun sehen Sie mich hier im Ausland; alles verloren, vorbei, geopfert. Sie sehen mich hier – und fragen! Sie sehen mich doch – oder nicht? Wie ich hier vor Ihnen sitze?«

Er warf sich heftig zurück. Ich versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben.

»Jawohl, ich sehe Sie hier; und stelle mir vor, daß Sie der Haldinaffäre wegen hier sind.«

Er änderte seine Haltung.

»Sie nennen das die Haldinaffäre – was?« bemerkte er gleichgültig.

»Ich habe kein Recht, Sie irgend etwas zu fragen«, sagte ich, »das würde ich mir nie anmaßen. In diesem Fall aber können Ihnen die Mutter und die Schwester des Mannes, der in Ihren Augen ein Held sein muß, nicht gleichgültig sein. Das Mädchen ist ein offenherziges und großmütiges Geschöpf, das die edelsten – nun gut – Illusionen hat. Sie müssen ihr alles sagen, oder Sie dürfen ihr nichts sagen. Aber kommen wir nun zu der Frage, derentwegen ich Sie aufgehalten habe – zuallererst haben wir es mit dem krankhaften Zustand der Mutter zu tun. Vielleicht könnte man mit Hilfe Ihrer Autorität irgend etwas erfinden, um diese in ihrer Mutterliebe schwer leidende Seele zu heilen.«

Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Ausdruck müder Gleichgültigkeit, den er zur Schau trug, erkünstelt sei.

»O ja, vielleicht könnte man«, murmelte er nachlässig.

Er führte die Hand zum Munde, um ein Gähnen zu verbergen. Als er sie wieder wegzog, lag ein leises Lächeln auf seinen Lippen.

»Verzeihen Sie mir, das war eine lange Unterredung, und ich habe in den letzten zwei Nächten nicht viel geschlafen.« Diese unerwartete und etwas verschämte Entschuldigung hatte nur den einen Vorzug, völlig wahr zu sein. Er hatte tatsächlich keine Nachtruhe mehr gefunden seit dem Tage, an dem er der Schwester von Viktor Haldin im Park des Château Borel gegenübergetreten war. Die Ängste und vielfachen Schrecken der Schlaflosigkeit sind in dem Dokument aufgezeichnet, das mir später vor Augen kommen sollte und das die Hauptquelle dieser Erzählung bildet. Im Augenblick sah er unsagbar müde aus, ganz schlaff, wie ein Mann, der irgendeine Krise durchgemacht hat.

»Ich hatte eine Menge wichtiger Dinge zu schreiben«, fügte er hinzu.

Ich stand sofort auf, und er folgte meinem Beispiel, ohne Hast und ein wenig schwerfällig.

»Ich muß mich entschuldigen, daß ich Sie so lange aufgehalten habe«, sagte ich.

»Warum entschuldigen? Man kann sich ja doch nicht gut vor Abend zu Bett legen. Und Sie haben mich nicht aufgehalten. Ich hätte Sie ja jederzeit verlassen können.«

Ich war nicht bei ihm geblieben, um mich nun irgendwie beleidigt zu zeigen.

»Es freut mich, daß ich Sie hinlänglich interessieren konnte«, sagte ich ruhig. »Das Verdienst liegt ja nicht bei mir, denn das alltäglichste Interesse für die Mutter Ihres Freundes mußte genügen … Was nun Fräulein Haldin selbst angeht, so neigte sie eine Zeitlang zu der Ansicht, daß ihr Bruder irgendwie an die Polizei verraten worden sei.«

Zu meiner größten Überraschung setzte sich Herr Rasumoff plötzlich wieder hin. Ich starrte ihn an und muß sagen, daß er meinen starren Blick ebenso lange Zeit zurückgab, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Irgendwie«, murmelte er, als hätte er nicht verstanden oder könnte seinen Ohren nicht trauen.

»Irgendein unvorhergesehenes Ereignis, ein blanker Zufall kann das bewirkt haben«, fuhr ich fort, »oder, wie sie sich mir gegenüber charakteristisch ausdrückte, die Narrheit oder Schwäche eines unglücklichen Mitverschworenen.«

»Narrheit oder Schwäche«, wiederholte er bitter.

»Sie ist wirklich großmütig«, bemerkte ich nach einer Pause. Der Mann, den Viktor Haldin so bewundert hatte, schlug den Blick nieder. Ich wandte mich und ging fort, augenscheinlich ohne von ihm bemerkt zu werden. Ich trug ihm die übellaunige Barschheit, mit der er mich behandelte, nicht nach. Das Gefühl, das ich von dieser Unterredung mitnahm, war das der Hoffnungslosigkeit. Bevor ich noch aus dem Bereich der Tische und Stühle herausgekommen war, hatte er mich schon eingeholt.

»Hm, ja«, hörte ich ihn wieder neben mir sagen. »Aber was glauben Sie?«

Ich sah mich nicht einmal um.

»Ich glaube, daß ihr Leute unter einem Fluch steht.«

Er gab keinen Laut. Erst als wir auf das Pflaster vor dem Tore gekommen waren, hörte ich ihn wieder.

»Ich möchte gern ein wenig mit Ihnen gehen.«

Alles in allem zog ich diesen rätselhaften jungen Mann seinem gefährlichen Landsmann, dem großen Peter Iwanowitsch, vor. Ich sah aber auch keinen Grund, besonders liebenswürdig zu sein.

»Ich gehe jetzt auf dem kürzesten Wege von hier aus nach dem Bahnhof, um einen Freund aus England zu treffen«, sagte ich, als ganze Antwort auf sein unerwartetes Anerbieten. Ich hoffte, daß er mir irgendeinen weiteren Aufschluß geben würde. Während wir auf dem Bürgersteig standen und auf eine Straßenbahn warteten, bemerkte er finster:

»Mir gefällt das, was Sie eben gesagt haben.«

»So?«

Wir traten zusammen auf den Fahrdamm hinaus.

»Das große Problem«, fuhr er fort, »ist, das Wesen dieses Fluches ganz zu erfassen.«

»Das ist gar nicht so schwer, glaube ich.«

»Das meine ich auch«, stimmte er mir bei, und diese Bereitwilligkeit, die merkwürdig genug schien, machte ihn nicht im geringsten weniger rätselhaft.

»Ein Fluch ist ein böser Zauber«, versuchte ich ihn von neuem, »und das wichtige, das große Problem ist es, die Mittel zu finden, ihn zu brechen.«

»Jawohl, die Mittel zu finden.«

Auch das war eine Zustimmung. Er schien aber dabei an etwas anderes zu denken. Wir hatten den offenen Platz vor dem Theater überquert und gingen nun eine breite, schwach beleuchtete Straße gegen eine der kleineren Brücken zu hinunter. Er hielt sich an meiner Seite, ohne längere Zeit hindurch ein Wort zu reden.

»Sie denken nicht daran, Genf rasch zu verlassen?« fragte ich.

Er schwieg so lange, daß ich zu fürchten begann, ich sei indiskret gewesen und würde überhaupt keine Antwort erhalten. Als ich ihn aber ansah, war ich wieder versucht zu glauben, daß meine Frage ihm etwas wie wirkliche Angst verursacht hätte. Ich merkte das daran, wie er heimlich und doch mit großer Kraft seine Hände arbeiten ließ. Schließlich aber hatte er sein endloses Zögern doch so weit überwunden, daß er mir erklären konnte, er habe keine derartige Absicht. Er wurde fast mitteilsam – wenigstens im Vergleich zu seiner früheren barschen Kurzangebundenheit. Auch der Ton war liebenswürdiger. Er erzählte mir, daß er die Absicht habe, zu studieren und auch zu schreiben. Er ging sogar so weit, mir zu sagen, daß er in Stuttgart gewesen sei. Stuttgart war, wie ich wußte, eine der revolutionären Zentralen. Das leitende Komitee einer der russischen Parteien (ich kann nur nicht sagen welcher) hatte in jener Stadt seinen Sitz. Dort war er mit der Tätigkeit der Revolutionäre außerhalb Rußlands in Fühlung getreten.

»Ich bin nie zuvor im Ausland gewesen«, erklärte er mit merkwürdig dumpfer Stimme. Nach einem leichten Zögern – das aber wesentlich verschieden war von der quälenden Unentschlossenheit, die meine erste einfache Frage, ob er in Genf zu bleiben gedächte, erweckt hatte – machte er mir ein unerwartetes Geständnis.

»Die Sache ist die, daß ich von den Leuten mit einer Art Mission betraut worden bin.«

»Die Sie hier in Genf aufhalten wird.«

»Jawohl, hier in dieser ekelhaften …«

Ich freute mich meiner Fähigkeit, Tatsachen zusammenzuhalten, als ich den Schluß zog, daß die Mission irgend etwas mit der Person des großen Peter Iwanowitsch zu tun haben müsse. Ich behielt aber diese Vermutung natürlich für mich, und Herr Rasumoff sagte längere Zeit hindurch nichts weiter. Erst als wir fast auf der Brücke angekommen waren, stieß er unvermittelt hervor:

»Könnte ich den kostbaren Artikel irgendwo sehen?«

Ich mußte einen Augenblick nachdenken, bevor ich verstand, was er meinte.

»Er wurde zum Teil in der hiesigen Presse abgedruckt. Die Exemplare hängen an verschiedenen Stellen aus. Die Nummer der englischen Zeitung habe ich Fräulein Haldin gegeben, am Tage, nachdem ich sie bekommen hatte. Es hat mir weh genug getan, sie wochenlang auf einem Tisch neben dem Lehnstuhl der armen Mutter liegen zu sehen. Dann verschwand sie. Ich fühlte mich förmlich erlöst, kann ich Ihnen sagen.«

Er war kurz stehengeblieben.

»Ich hoffe«, fuhr ich fort, »daß Sie Zeit finden werden, die Damen recht oft zu sehen, – daß Sie sich Zeit nehmen werden!«

Er stierte mich so merkwürdig an, daß ich kaum weiß, wie ich seinen Ausdruck beschreiben soll. Ich konnte es in diesem Zusammenhang durchaus nicht verstehen. Was hat er nur? fragte ich mich. Was für merkwürdige Gedanken gingen ihm durch den Kopf? Welche Vision all der Schrecken, die in jenem hoffnungslosen Land zu sehen sind, mochte sein überreiztes Hirn ihm plötzlich vorgespiegelt haben? War es irgend etwas, was mit dem Schicksal von Viktor Haldin zusammenhing? Dann hoffte ich aufrichtig, daß er es für immer für sich selbst behalten würde. Ich war, aufrichtig gesagt, so erschüttert, daß ich meine Bewegung zu verbergen versuchte, indem ich, Gott verzeihe mir, mich zu einem Lächeln und zu einem leicht scherzenden Ton zwang.

»Sicher«, rief ich aus, »wird Ihnen das nicht zu schwer fallen.«

Er wandte sich von mir ab und lehnte sich über die Brüstung der Brücke. Ich wartete einen Augenblick lang und sah auf seinen Rücken. Dabei fühlte ich aber wirklich keinen Wunsch, ihm nochmals ins Gesicht zu sehen. Er rührte sich nicht, er dachte nicht daran, sich zu rühren. Ich ging langsam meinen Weg zum Bahnhof weiter, und am Ende der Brücke sah ich über die Schulter zurück. Nein, er hatte sich nicht gerührt. Er lehnte sich leicht über die Brüstung, als fühlte er sich gebannt durch die lautlose Strömung des blauen Wassers unter dem Brückenbogen. Der Fluß fließt dort schnell, sehr schnell; manche Leute werden schwindlig vom Hinsehen. Ich selbst kann nicht längere Zeit hinuntersehen, ohne daß mich die Angst befällt, ich könnte von einer geheimen Kraft hinuntergerissen werden. Es gibt Gehirne, die der Suggestion unbezwinglicher Gewalt und unaufhaltsamer Bewegung nicht widerstehen können.

Augenscheinlich hatte es einen Reiz für Herrn Rasumoff. Ich verließ ihn, während er weit über das Brückengeländer hing. Die Art, wie er sich mir gegenüber benommen hatte, war nicht als bloße Flegelei aufzufassen. Es lag mehr unter seiner Geringschätzung und Ungeduld. Vielleicht, so dachte ich mit einer plötzlichen Annäherung an die verborgene Wahrheit, vielleicht war es derselbe Grund, der ihn mehr als eine Woche, fast zehn Tage, von Fräulein Haldin ferngehalten hatte. Was es aber war, konnte ich nicht sagen.


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