Joseph Conrad
Amy Foster
Joseph Conrad

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Kennedy ist Landarzt und wohnt in Colebrook an der Küste von Eastbay. Die Anhöhe, die sich unmittelbar hinter den roten Dächern der kleinen Stadt erhebt, drängt die hübsche Hauptstraße gegen den gemauerten Wall, der sie gegen das Meer schützt. Jenseits des Mauerwalles dehnt sich in weitem, regelmäßigem Bogen der unfruchtbare, kiesbedeckte Strand, an dem sich das Dorf Brenzett dunkel gegen das Wasser abhebt, – ein Kirchturm in einem Haufen von Bäumen –, während noch weiter draußen die senkrechte Säule eines Leuchtturmes, in der Entfernung nicht größer als ein Bleistift aussehend, den äußersten noch sichtbaren Punkt des Landes bezeichnet. Das Land im Rücken Brenzetts ist niedrig und flach; doch ist die Bucht ziemlich gut gegen die Wogen geschützt, und gelegentlich macht auch ein größeres Schiff, von widrigen Winden aufgehalten oder vom Ungestüm der Wogen bedrängt, von dem Ankerplatze Gebrauch, der eine und eine halbe Meile in nördlicher Richtung von dem Gasthause zum »Schiff« in Brenzett entfernt liegt. Eine verfallene Windmühle, die in der Nähe ihre zerbrochenen Arme von einem Hügel erhebt, der nicht größer ist als ein Kehrichthaufen, und ein kurzer, dicker Martelloturm am Rande des Wassers, eine halbe Meile südlich von den Häuschen der Küstenwächter, sind den Führern kleinerer Fahrzeuge vertraute Dinge. Es sind dies die offiziellen Seezeichen für den Fleck zuverlässigen Grundes, der auf den Admiralitätskarten durch ein unregelmäßiges Oval von Punkten bezeichnet ist, mit einem winzigen Anker mitten darin und der Randschrift »Schlamm und Muscheln« um das Ganze.

Die Höhe des Hügellandes überragt den viereckigen Kirchturm von Colebrook. Der Abhang ist grün und von einer weißen Straße durchzogen. Steigt man diese Straße hinauf, so gewinnt man den Blick in ein breites und flaches Tal, eine weite grüne Mulde von Weideland und Hecken, die sich ins Binnenland erstreckt und in eine Fülle von purpurnen Schattierungen und ineinanderfließenden Linien ausläuft.

Über dieses Tal hinunter bis nach Brenzett und Colebrook und wieder hinauf bis Darnford, dem vierzehn Meilen entfernten Marktflecken, erstreckt sich die Praxis meines Freundes Kennedy. Er hatte seinen Beruf als Wundarzt in der Marine begonnen, war dann Begleiter eines berühmten Reisenden gewesen zur Zeit, wo es noch Kontinente mit unerforschtem Innern gab. Seine Veröffentlichungen über die ausländische Tier- und Pflanzenwelt machten ihm einen Namen in wissenschaftlichen Kreisen. Und jetzt hatte er eine Landpraxis inne aus eigener Wahl. Sein durchdringender Verstand hatte wie eine ätzende Flüssigkeit seinen Ehrgeiz zerstört – so erschien es mir wenigstens. Seine Begabung ist die echt wissenschaftliche, der das Forschen innerstes Bedürfnis ist und die in jedem Geheimnis der Natur ein Stück allgemeiner Wahrheit findet.

Es ist jetzt schon viele Jahre her, daß er mich bei meiner Rückkehr vom Ausland zu einem längeren Besuche einlud. Ich kam gerne, und da er seine Patienten nicht vernachlässigen konnte, um mir Gesellschaft zu leisten, so nahm er mich auf seine Rundfahrten mit – oft dreißig Meilen weit an einem Nachmittag. Ich erwartete ihn dann auf der Straße, indes das Pferd den Kopf nach den belaubten Zweigen streckte, und hoch oben auf dem Wagen sitzend, konnte ich gelegentlich Kennedys Lachen durch die halboffene Türe eines Hauses hören. Er hatte ein lautes, herzliches Lachen, das einem zweimal so großen Mann zu gehören schien, eine heitere, lebhafte Art, ein gebräuntes Gesicht und ein Paar graue, scharfblickende Augen. Er hatte die Gabe, die Leute zu offener Aussprache zu veranlassen, und hörte mit unermüdlicher Geduld ihre Geschichten an.

Eines Tages, als wir am Ausgange eines großen Dorfes in eine schattige Allee einbogen, erblickte ich zu unsrer Linken ein niedriges schwarzes Häuschen mit blitzenden Scheiben in den Fenstern, efeubewachsener Wand, einem kiesbedeckten Dache und einigen Kletterrosen an dem gebrechlichen Gitterwerke der kleinen Vorhalle. Kennedy ließ das Pferd langsamer gehen. Eine Frau, die im vollen Sonnenlichte stand, warf eben eine triefende Bettdecke über eine zwischen zwei alten Apfelbäumen gezogene Leine; und während der kurzgeschwänzte, langhalsige Braune eigensinnig nach der linken, mit einem dicken Hundslederhandschuh bedeckten Hand des Doktors stieß, rief dieser über die Hecke: »Wie geht's deinem Kind, Amy?«

Ich hatte Zeit, ihr stumpfes rotes Gesicht zu sehen. Es war rot, nicht von aufsteigender Röte, sondern als ob ihre flachen Wangen heftig geschlagen worden wären. Sie war von untersetzter Gestalt und trug das spärliche, staubig-braune Haar in einen festen Knoten am Hinterkopf zusammengedreht. Dabei sah sie ganz jung aus, und ihre Stimme klang leise und schüchtern.

»Gut; ich danke.«

Wir fuhren weiter. »Eine junge Patientin von dir?« bemerkte ich, worauf der Doktor murmelte: »Ihren Mann habe ich behandelt.«

»Sie scheint ein langweiliges Geschöpf zu sein,« bemerkte ich gleichgültig.

»Ganz recht,« sagte Kennedy. »Sie ist eine sehr passive Natur. Es genügt, die roten Hände an diesen kurzen Armen hängen zu sehen und in diese ausdruckslosen, vorstehenden braunen Augen zu blicken, um die Trägheit und Schwerfälligkeit ihres Innenlebens zu erkennen, eine Schwerfälligkeit, die es für alle Zeiten vor allen Überrumpelungen der Einbildungskraft zu sichern scheint. Und doch, wer von uns ist dagegen gesichert? Jedenfalls hat sie, so wie du sie gesehen hast, Einbildungskraft genug gehabt, um sich zu verlieben. Sie ist die Tochter eines gewissen Isak Foster, der von einem kleinen Pächter zum Schafhirten herabgesunken ist. Der Anfang seines Mißgeschicks datierte von seiner heimlichen Heirat mit der Köchin seines verwitweten Vaters – eines vermögenden, apoplektischen Viehzüchters, der ihn voll Zorn enterbte und heftige Drohungen gegen sein Leben ausstieß. Aber diese alte Geschichte, skandalös genug, um Gegenstand eines griechischen Trauerspieles zu sein, erwuchs aus der Gleichartigkeit der Charaktere von Vater und Sohn. Es gibt andre Trauerspiele, weniger skandalös und von feinerer Tragik, die aus unversöhnlichen Gegensätzen und aus jener Furcht vor dem Unverstandenen hervorgehen, das über uns allen schwebt – über uns allen . . .«

Der müde Braune fiel in Schritt, und der Rand der Sonnenscheibe, die rot und voll an einem wolkenlosen Himmel stand, berührte vertraulich das obere Ende einer umgepflügten Bodenerhebung in der Nähe der Straße, wie ich ihn unzähligemal den fernen Horizont des Meeres hatte berühren sehen. Die eintönige braune Farbe des aufgerissenen Feldes erglühte in rosigem Lichte, als ob die zerklüfteten Schollen in winzigen Blutperlen die Arbeit ungezählter Pflüger ausgeschwitzt hätten. Vom Rande eines Gehölzes her rollte ein mit zwei Pferden bespannter Wagen leicht auf dem Grate entlang und zeichnete sich, über die Horizontlinie hervorragend, in ungeheurer Größe auf der roten Sonnenscheibe ab, wie ein Wagen von Riesen, den zwei feierlich schreitende Rosse von märchenhaften Größenverhältnissen zogen. Die plumpe Gestalt des zu Häupten des Sattelpferdes stapfenden Mannes stellte sich auf dem Hintergrunde der Unendlichkeit in reckenhaften Umrissen dar. Das Ende seiner Fuhrmannspeitsche zitterte hoch oben im Blau des Himmels. Kennedy sprach weiter: »Sie ist die Älteste einer großen Kinderschar. Als sie fünfzehn Jahre alt war, kam sie auf den Neubarnshof in Dienst. Damals behandelte ich Frau Smith, die Frau des Pächters, und sah das Mädchen dort zum ersten Male. Frau Smith, eine feine Dame mit einer scharfen Nase, ließ sie jeden Nachmittag ein gutes Kleid anziehen. Ich weiß nicht, warum sie mir überhaupt auffiel. Es gibt Gesichter, die durch einen seltsamen Mangel an Bestimmtheit der Züge und des Ausdrucks unsre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wie wir etwa, im Nebel gehend, aufmerksam auf irgend eine unbestimmte Form sehen, die schließlich nichts Merkwürdigeres ist als ein Anschlagpfosten. Das einzig Eigentümliche, das ich an ihr bemerkte, war eine Art von einleitendem Stottern, das mit dem ersten gesprochenen Wort verschwindet. Wenn sie unfreundlich angefahren wurde, war sie imstande, vollständig den Kopf zu verlieren; aber sie hatte ein sehr gutes Gemüt. Man hatte nie ein abfälliges Wort gegen irgend ein menschliches Wesen aus ihrem Munde gehört, und jedes lebende Geschöpf durfte sich ihrer Fürsorge erfreuen. Sie war von großer Anhänglichkeit an Frau Smith, an Herrn Smith, an ihre Hunde, Katzen und Kanarienvögel, und Frau Smiths grauer Papagei übte mit seinen merkwürdigen Fähigkeiten einen förmlichen Zauber auf sie aus. Trotzdem lief sie, als dieser ausländische Vogel, von der Katze angegriffen, in menschlichen Lauten nach Hilfe schrie, mit zugehaltenen Ohren in den Hof hinaus und tat nichts, um das Unheil zu verhindern. Für Frau Smith war dies ein neuer Beweis ihrer Dummheit, über die sie oft seufzte, während andrerseits der Mangel an äußern Reizen bei Smiths bekanntem Leichtsinn ein großer Vorzug war. Ihre kurzsichtigen Augen konnten angesichts einer armen gefangenen Maus in Tränen schwimmen, und einmal hatten Knaben sie gesehen, wie sie im nassen Grase kniete, um einer Kröte Hilfe zu leisten. Wenn es wahr ist, was ein Deutscher gesagt hat, daß es ohne Phosphor kein Denken gibt, so ist es noch wahrer, daß ohne ein gewisses Maß von Einbildungskraft keine Herzensgüte denkbar ist. Das Mädchen hatte etwas Phantasie, mehr sogar, als man braucht, das Leiden andrer zu verstehen und von Mitleid bewegt zu werden. Sie verliebte sich auch unter Umständen, die darüber keinen Zweifel lassen; denn man muß Einbildungskraft haben, um sich überhaupt einen Begriff von Schönheit zu bilden, und mehr noch, um sein Ideal in einer fremdartigen Gestalt zu entdecken.

Wie sie zu dieser Anlage kam und wodurch sie gefördert wurde, ist ein unergründliches Geheimnis. Sie war im Dorfe geboren und war nie weiter davon weggekommen als nach Colebrook oder vielleicht nach Darnford. Vier Jahre war es, daß sie bei Smiths diente. Neubarns ist ein einzeln liegender Pachthof, eine Meile von der Landstraße entfernt, und es genügte ihr vollkommen, Tag für Tag dieselben Felder, dieselben Bodenerhebungen und -senkungen, dieselben Bäume und Hecken zu sehen, dieselben Gesichter der vier Taglöhner des Gutes – Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Sie zeigte nie ein Bedürfnis nach Unterhaltung, und es schien mir, als verstehe sie nicht zu lächeln. Manchmal an Sonntagnachmittagen zog sie ihr bestes Kleid an, dazu ein Paar derbe Stiefel, setzte einen großen grauen Hut mit schwarzer Feder auf (ich habe sie selbst in diesem Staate gesehen), nahm einen auffallend dünnen Sonnenschirm in die Hand, kletterte über zwei Zäune und trappte über drei Felder und etwa zweihundert Meter Wegs entlang – nie weiter. Dort stand Fosters Häuschen. Sie half ihrer Mutter den jüngeren Geschwistern den Tee zu geben, spülte das Geschirr, küßte die Kleinen und ging auf den Pachthof zurück. Das war alles – alle Abwechselung, alles Ausruhen, alle Erholung. Sie schien nie nach anderm zu verlangen. Und dann verliebte sie sich – schweigend, eigensinnig – vielleicht hilflos. Es kam langsam, aber es wirkte wie ein mächtiger Zauber; ihre Liebe war von der Art, wie die Alten sie auffaßten: ein unwiderstehlicher, verhängnisvoller Impuls – ein Besessensein! Ja, so war es: ein Gesicht, ein Bild hatte sich ihrer bemächtigt, hatte Besitz ergriffen von ihrem Denken und Fühlen, daß sie davor anbetete, wie die Heiden unter einem schönen Himmel – bis sie endlich aufgeweckt wurde aus dieser geheimnisvollen Selbstvergessenheit, dieser Verzauberung, dieser Verzückung, durch eine Furcht, die der unerklärlichen Angst eines Tieres glich.«

Die Sonne stand tief am westlichen Himmel, und das weite, von den Grabenböschungen des ansteigenden Bodens umrahmte Wiesenland nahm einen düstern Glanz an. Ein Gefühl durchdringender Wehmut, wie wir es beim Anhören einer traurigen Melodie empfinden, schien von den abendlich stillen Feldern auszugehen. Die Menschen, an denen wir vorüberkamen, gingen langsam, ohne ein Lächeln, mit niedergeschlagenen Augen, als ob die Last des Erdenelendes ihre Füße niederzöge, ihre Schultern beugte und ihre Blicke am Boden festhielte.

»Ja,« sagte der Doktor auf meine Bemerkung hierüber, »man könnte denken, die Erde stehe unter einem Fluche, weil von all ihren Kindern die, welche in engster Berührung mit ihr leben, plump und roh von Gestalt sind und so schwerfällig von Gang, als ob ihr Gemüt mit Ketten belastet wäre. Und doch hättest du gerade auf diesem Wege mitten unter diesen schwerfälligen Menschen einen jungen Mann wandeln sehen können – biegsam, geschmeidig und feingliedrig, schlank und gerade wie eine Tanne, – der etwas Aufwärtsstrebendes in seiner Erscheinung hatte, als ob er ein leichtes, fröhliches Herz in sich trage. Vielleicht war es nur der Gegensatz, aber wenn er an einem der hiesigen Dorfbewohner vorüberging, schienen mir die Sohlen seiner Füße den Staub der Straße nicht zu berühren. Er sprang über die Zäune, schritt diese Anhöhen mit langen, elastischen Schritten hinan, an denen man ihn schon in großer Entfernung erkannte, und hatte glänzende schwarze Augen. Er war so verschieden von der gesamten Menschheit hier, daß er mich mit seiner Freiheit der Bewegung, seinem sanften, etwas verwunderten Blick, seinem olivenfarbigen Teint und seiner anmutigen Haltung an ein Geschöpf des Waldes erinnerte. Er kam von dort.«

Dabei deutete der Doktor mit seiner Peitsche abwärts, und von der Höhe des Hügels sahen wir tief unter uns, jenseits der wogenden Baumwipfel eines Parkes an der Seite der Straße die weite Meeresfläche sich dehnen, dem Fußboden eines ungeheuren Gebäudes vergleichbar, eingelegt mit Bändern aus dunklen, krausen Wellen und silbernen Streifen, und am Rande des Himmels in einem breiten Gürtel kristallenen Wassers endigend. Das leichte Rauchwölkchen eines unsichtbaren Dampfers verschwamm auf dem klaren Horizonte wie die Trübung des Hauches auf einem Spiegel. Nahe am Ufer tauchten die weißen Segel eines Küstenfahrers hell und klar über dem dunklen Laube der Bäume auf, deren Zweige sie zuerst gefangen gehalten zu haben schienen.

»Und hat hier Schiffbruch gelitten?« fragte ich.

»Ja; er war ein Schiffbrüchiger, ein armer Auswanderer aus Mitteleuropa, der nach Amerika wollte und bei einem Sturm hier ans Land gespült wurde. Und für ihn, der nichts von der Welt wußte, war England ein unentdecktes Land. Es dauerte einige Zeit, ehe er nur dessen Namen erfuhr; und ich glaube, er hätte sich nicht gewundert, wilde Tiere oder wilde Menschen hier zu finden, als er im Dunklen über den Damm kroch und auf der andern Seite in einen Graben hinunterrollte, wo es abermals ein Wunder war, daß er nicht ertrank. Ohne zu sehen, wo er war, zappelte er wie ein Tier unter einem Netze und arbeitete sich schließlich aufs Feld hinaus. Er mußte wirklich zäher sein, als er aussah, sonst hätte er solche Püffe, solch gewaltsame Anstrengungen und solche Herzensangst nicht überlebt. In seinem gebrochenen Englisch, das merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Gestammel eines kleinen Kindes hatte, hat er mir später selbst erzählt, daß er seine Seele Gott befohlen habe, da er nicht glaubte, noch auf dieser Welt zu sein. Und wirklich, wie hätte er es wissen sollen? Auf allen vieren kämpfte er sich durch Regen und Sturm und kroch endlich unter einige Schafe, die sich im Schutze einer Hecke dicht zusammengekauert hatten. Blökend rannten sie in der Dunkelheit nach allen Richtungen davon, und freudig hieß er den ersten bekannten Laut an diesen Gestaden willkommen. Es muß etwa zwei Uhr nachts gewesen sein. Und das ist alles, was man von der Art seiner Landung weiß, obwohl er durchaus nicht ohne Begleitung ankam. Seine grauenvollen Genossen fingen nur erst später am Tage einzutreffen an . . .«

Der Doktor zog mit einem Zungenschlag die Zügel an, und wir trabten den Hügel hinunter. Dann bogen wir scharf in die Hauptstraße ein, rasselten über das Pflaster und waren zu Hause.

Spät am Abend raffte sich Kennedy aus einem Anfall trüber Laune, der ihn befallen hatte, auf und nahm seine Geschichte wieder auf. Seine Pfeife rauchend, durchschritt er das lange Zimmer von einem Ende zum andern. Eine Studierlampe konzentrierte all ihr Licht auf die Papiere auf seinem Schreibpulte. Ich saß am offenen Fenster und genoß nach einem windstillen, glühendheißen Tage doppelt den kühlen Hauch der nebeligen See, die in regungslosem Glanze im hellen Mondscheine vor mir lag. Kein Flüstern, kein Plätschern, keine noch so leise Bewegung des Kieses, kein Fußtritt, kein Seufzer kam von unten zu mir herauf, – kein Zeichen von Leben außer dem Dufte des das Fenster umrankenden Jasmins, und Kennedys Stimme, die hinter mir sprach, drang durch den weiten Fensterrahmen, um in der kühlen, weihevollen Stille zu verhallen.

»Die Berichte von Schiffbrüchigen der alten Zeit erzählen uns von vielen Leiden. Oft wurden dergleichen bedauernswerte Menschen nur vom Ertrinken gerettet, um an einer unfruchtbaren Küste Hungers zu sterben; andre erlitten einen gewaltsamen Tod oder gerieten in Sklaverei, in der sie jahrelang ein unsicheres Dasein unter Leuten führten, denen ihr fremdländisches Wesen ein Gegenstand des Argwohnes, der Abneigung oder der Furcht war. Wir lesen von diesen Dingen und finden sie sehr traurig. Es ist auch wirklich hart für einen Menschen, sich als verlorener, hilfloser Fremdling, dessen Sprache niemand versteht und dessen Herkommen niemand kennt, in einen unbekannten Erdwinkel versetzt zu sehen. Und doch scheint es mir, als ob unter allen Abenteurern, die je in allen wilden Weltteilen Schiffbruch gelitten, keiner sei, dem ein solch tragisches Schicksal bestimmt war, wie dem Manne, von dem ich rede, dem harmlosesten aller Abenteurer, den die See in dieser Bucht, beinahe im Angesicht dieses Fensters, ans Land warf.

Er wußte nicht, wie sein Schiff geheißen. Ja, wir entdeckten im Laufe der Zeit, daß er nicht einmal wußte, daß Schiffe überhaupt Namen haben – ›wie Christenmenschen‹; und als er eines Tages von der Spitze des Talfourdhügels das Meer in endloser Fläche vor sich liegen sah, schweiften seine Augen in einer Art wilder Überraschung darüber hin, als ob er nie zuvor so etwas gesehen hätte. Und so war es wohl auch. So viel ich ausfindig machen konnte, war er mit vielen andern an Bord eines Auswandererschiffes zusammengedrängt worden, das an der Mündung der Elbe lag, und war zu verwirrt gewesen, um auf seine Umgebung acht zu haben, zu müde, um irgend etwas zu sehen, zu niedergeschlagen, um für irgend etwas Interesse zu haben. Sie waren gleich zuerst ins Zwischendeck getrieben und dort eingeschlossen worden. Er beschrieb es als ein niedriges hölzernes Gelaß, mit Balken an der Decke, ähnlich wie die Häuser in seiner Heimat, nur daß man auf einer Leiter hinuntersteigen mußte. Das ›hölzerne Haus‹ war sehr groß, sehr kalt, feucht und dunkel, und hatte hölzerne Kasten, in denen die Leute, einer über dem andern, schlafen mußten, und es wurde fortwährend nach allen Richtungen hin und her gewiegt. Er kroch in einen der Schlafkasten und legte sich darin nieder, ohne die Kleider abzulegen, in denen er viele Tage vorher seine Heimat verlassen hatte; sein Bündel und seinen Stock behielt er an der Seite. Die Leute um ihn herum stöhnten, Kinder schrieen, Wasser träufelte auf ihn herab, alle Lichter erloschen, die Wände krachten, und alles wurde so stark geschüttelt, daß man in seinem kleinen Kasten nicht den Kopf aufzuheben wagte. Er wußte nicht, wo sein einziger Gefährte (ein junger Mann aus demselben Tale, sagte er) hingekommen war. Und während der ganzen Zeit hörte man von draußen das Getöse des Sturmes und schwere Schläge fielen – bumm! bumm! Er fühlte sich sterbenskrank, so sehr, daß er nicht einmal mehr regelmäßig seine Gebete sagen konnte. Übrigens wußte man gar nicht mehr, ob es Abend war oder Morgen. An jenem Ort schien es immer Nacht zu sein.

Ehe er auf das Schiff gekommen, war er lange, lange Zeit mit der Eisenbahn gefahren. Er hatte aus dem Fenster gesehen, das ein merkwürdig klares Glas gehabt, und die Bäume, Häuser, Felder und Straßen schienen rund um ihn herum zu fliegen, bis es ihm ganz schwindelig wurde. Er gab mir zu verstehen, daß er auf seiner Reise ungezählte Mengen von Leuten gesehen habe – ganze Völker – alle in solchen Kleidern, wie die Reichen sie tragen. Einmal hatte man ihn aussteigen lassen, und er hatte die Nacht auf einer Bank in einem Backsteinhause geschlafen, mit seinem Bündel unter dem Kopfe; ein andres Mal hatte er viele Stunden lang auf einem steingeplatteten Fußboden sitzen müssen, wo er mit hinaufgezogenen Knieen, sein Bündel zwischen den Füßen, eingeschlummert war. Über ihm befand sich ein Dach, das aus Glas gemacht zu sein schien und so hoch war, daß die höchste Bergtanne, die er je gesehen, Platz gehabt hätte, darunter zu wachsen. Dampfmaschinen rollten zum einen Ende hinein und zum andern hinaus. Und Leute gab es, mehr als man an einem Festtage vor dem wundertätigen ›Heiligen Bilde‹ im Hofe des Karmeliterklosters in der Ebene drunten sehen konnte, wohin er vor seiner Abreise seine Mutter in einem hölzernen Wagen gefahren hatte. Sie war eine fromme alte Frau und wollte für ihn beten und ein Gelübde tun, daß er eine glückliche Reise haben möchte. Er konnte mir gar nicht beschreiben, wie groß und hoch und wie voll von Rauch und Dampf und Lärm und Eisengeklirr jene Halle mit dem Glasdach gewesen; aber es hatte ihm jemand gesagt, sie seien in Berlin. Dann wurde eine Glocke geläutet, und wieder kam eine Dampfmaschine herein und wieder wurde er weiter geführt und weiter durch ein Land, das seine Augen durch seine Flachheit ermüdete – es wies auch nicht eine Spur von einem Hügel auf. Noch eine Nacht brachte er in ein Gebäude eingeschlossen zu, das einem guten Stalle glich, mit einer Strohmatte auf dem Boden, und hütete sein Bündel unter einer Menge von Männern, von denen keiner ein Wort von dem verstand, was er sagte. Am Morgen wurden sie alle an das steinige Ufer eines ungewöhnlich breiten, schmutzigen Flusses hinuntergeführt, der nicht zwischen Hügeln, sondern zwischen Häusern floß, die ganz riesig waren. Es war eine Dampfmaschine da, die ging auf dem Wasser, und sie standen alle darauf, dicht zusammengedrängt; aber jetzt waren viele Frauen und Kinder dabei, die viel Lärm machten. Ein kalter Regen fiel, der Wind blies ihm ins Gesicht; er war durch und durch naß, und seine Zähne klapperten. Er und der junge Mann aus demselben Tale faßten sich bei der Hand.

Sie dachten, sie würden nun sofort nach Amerika gefahren werden, plötzlich aber stieß die Dampfmaschine gegen die Seite eines Dinges wie ein großes Haus auf dem Wasser. Die Wände waren glatt und schwarz und oben darauf erhoben sich, als ob sie aus dem Dach hervorwüchsen, kahle Bäume wie Kreuze und furchtbar hoch. So erschien es ihm damals, denn er hatte noch nie ein Schiff gesehen. Dies war das Schiff, das den ganzen Weg nach Amerika schwimmen sollte. Stimmen riefen, alles schwankte; eine Leiter tauchte auf und nieder. Auf Händen und Knieen stieg er hinauf in tödlicher Furcht, ins Wasser zu fallen, das große Wellen warf. Er wurde von seinem Kameraden getrennt, und als er in die Tiefe dieses Schiffes hinabstieg, da war es ihm plötzlich, als ob sein Herz stillstände.

Von da an hat er auch, wie er mir sagte, nie wieder etwas von den drei Männern gesehen, die im Sommer vorher durch alle kleinen Städte in den Vorbergen seines Landes gezogen waren. Sie kamen an Markttagen in einem Bauernwagen angefahren und errichteten ein Bureau in einem Gasthause oder im Hause irgend eines Juden. Es waren ihrer drei, von denen einer mit einem langen Barte ein ehrwürdiges Aussehen hatte; auch hatten sie rote Tuchkragen an ihren Röcken und goldene Litzen auf ihren Ärmeln, wie Regierungsbeamte. Sie saßen stolz hinter einem langen Tische, und im nächsten Zimmer, so daß die gewöhnlichen Leute nichts davon hören sollten, hatten sie eine kunstvolle telegraphische Maschine aufgestellt, durch die sie mit dem Kaiser von Amerika reden konnten. Die Väter umlagerten die Tür, die jungen Männer aus den Bergen aber drängten sich an den Tisch und taten viele Fragen, denn in Amerika sollte es Arbeit geben das ganze Jahr hindurch zu drei Dollars täglich, und gar keinen Militärdienst.

Aber der amerikanische Kaiser wollte nicht jeden nehmen. O nein! Ihn selbst hatte es Mühe genug gekostet, bis er angenommen worden war, und der ehrwürdige Mann in Uniform mußte mehrmals ins andre Zimmer gehen und den Telegraphen arbeiten lassen seinetwegen. Der amerikanische Kaiser mietete ihn schließlich für drei Dollars, da er jung und stark sei. Indessen zogen sich manche junge Leute wieder zurück, da ihnen die Entfernung zu groß war; außerdem konnten auch nur solche genommen werden, die etwas Geld hatten. Manche verkauften ihre Hütten und Felder, weil es einen Haufen Geld kostete, nach Amerika zu kommen; aber, wenn man nur erst dort war, bekam man drei Dollars am Tage, und wer gescheit war, mochte auch Stellen finden, wo man echtes Gold vom Boden auflesen konnte. Seines Vaters Haus wurde allmählich zu voll, denn zwei seiner Brüder waren verheiratet und hatten Kinder. Er versprach, zweimal im Jahre mit der Post Geld von Amerika nach Hause zu schicken. So verkaufte denn sein Vater eine alte Kuh, ein Paar scheckige Bergponies, die er selbst aufgezogen hatte, und ein gerodetes Stück schönes Weideland am sonnigen Abhang eines tannenbewachsenen Hügels an einen jüdischen Wirt, um die Besitzer des Schiffes zu bezahlen, das Leute nach Amerika brachte, wo sie in kurzer Zeit reich werden konnten.

Der Mann muß innerlich ganz das Zeug zu einem richtigen Abenteurer gehabt haben, denn wie viele von den größten Unternehmungen zur Eroberung der Welt begannen gerade so mit einem Verhandeln der väterlichen Kuh um der Fata Morgana oder des echten Goldes in weiter Ferne willen! Ich habe dir mehr oder weniger mit meinen eigenen Worten erzählt, was ich bruchstückweise im Laufe zweier oder dreier Jahre erfuhr, während deren ich selten die Gelegenheit eines freundschaftlichen Gespräches mit ihm versäumte. Wenn er mir diese Geschichte seines Abenteuers erzählte, kamen seine blendend weißen Zähne häufig zum Vorschein, und seine schwarzen Augen leuchteten. Seine Sprache war im Anfang die eines ängstlichen Kindes, als er aber des Englischen mächtig zu werden begann, wurde sie sehr geläufig, ohne je den singenden, weichen und zugleich vibrierenden Ton zu verlieren, der den gewöhnlichsten englischen Wörtern eine seltsam eindringliche Kraft verlieh, als wären es Wörter einer überirdischen Sprache. Und immer wieder kam er mit vielem ausdrucksvollem Kopfschütteln darauf zurück, wie ihm gewesen sei, als schmelze ihm das Herz im Leibe, sobald er den Fuß in jenes Schiff gesetzt habe. Danach schien ihn sein Gedächtnis verlassen zu haben, wenigstens in Bezug auf Tatsachen. Ohne Zweifel war er in hohem Grade seekrank und unsäglich unglücklich gewesen – dieser sanfte und leidenschaftliche Abenteurer, der das Gefühl äußerster Vereinsamung aufs bitterste empfinden mußte, wie er in seiner Auswandererkoje lag, denn er war eine sehr empfindsame Natur. Das nächste, was wir von ihm wissen, ist, daß er sich in Hammonds Schweinehürde an der Straße nach Norton verborgen hatte, sechs Meilen in der Luftlinie vom Meere entfernt. Er sprach nicht gerne von diesen Erfahrungen: sie schienen sich in seine Seele eingebrannt und sie mit finsterer Entrüstung erfüllt zu haben. Aus den Gerüchten, die noch lange Zeit nach seiner Ankunft die Gegend erfüllten, erfuhren wir, daß die Fischer von West-Colebrook durch starkes Klopfen gegen die Wände der Wasserbordhütten erschreckt wurden und eine Stimme hörten, die mit durchdringendem Tone fremdartige Worte in die Nacht hineinrief. Mehrere von den Männern gingen auch hinaus, um nachzusehen, aber ohne Zweifel war der Schiffbrüchige in plötzlichem Schrecken geflohen, als er sie sich untereinander in rauhem, ärgerlichem Tone durch die Dunkelheit hatte zurufen hören. Eine Art Wahnsinn muß ihm die Kraft verliehen haben, den steilen Nortoner Hügel zu erklimmen. Er war es ohne Zweifel, der früh am andern Morgen (in einer Ohnmacht vermutlich) von dem Brenzetter Boten am grasbewachsenen Straßenrande liegend gefunden wurde. Der Mann war abgestiegen, um näher zuzusehen, hatte sich aber, erschreckt durch die vollkommene Regungslosigkeit und durch ein sonderbares Etwas in dem Aussehen des Landstreichers, der so ruhig mitten im Regen schlief, schleunig wieder davongemacht. Als der Tag vorrückte, kamen einige Kinder in solcher Angst nach der Nortoner Schule gestürzt, daß die Lehrerin hinausging und ihre Entrüstung an einem ›schauerlich aussehenden Menschen‹ auf der Straße ausließ. Dieser entfernte sich einige Schritte mit geducktem Kopf, um dann plötzlich spornstreichs davonzurennen. Herrn Bradleys Milchwagenkutscher machte kein Geheimnis daraus, daß er mit seiner Peitsche nach einem haarigen zigeunerartigen Burschen geschlagen habe, der bei einer Biegung der Straße an den Wagen gesprungen sei und nach dem Zaum des Pferdes gegriffen habe. Und zwar einen tüchtigen Schlag gerade übers Gesicht habe er ihm versetzt, sagte er, daß er schneller in den Schmutz hinuntergefallen, als er aufgesprungen sei. Aber der Pony sei eine gute halbe Meile lang davongerannt, ehe er ihn habe beruhigen können. Mag sein, daß der arme Teufel in seinen verzweifelten Bemühungen, Hilfe zu finden, und in dem Bedürfnis, mit irgend jemand in Berührung zu kommen, den Wagen zum Stehen zu bringen versuchte. Später bekannten auch drei Knaben, daß sie mit Steinen nach einem sonderbaren Kerl geworfen hätten, der sich naß und schmutzig und, wie es schien, ganz betrunken, in der engen, tiefen Gasse bei den Kalkhütten herumgetrieben habe. Von alle dem sprach man tagelang in drei Dörfern. Folgt Frau Finns (der Frau von Smiths Fuhrknecht) unanfechtbares Zeugnis, daß sie ihn über die niedrige Mauer von Hammonds Schweinehürde habe steigen und gerade auf sie zuwanken sehen, während er laut schwatzte in einer Sprache, die einen zu Tode hätte ängstigen können. Da sie das Kind im Wagen bei sich hatte, rief ihm Frau Finn zu, fortzugehen, und als er trotzdem näherkam, schlug sie ihm mutig mit dem Regenschirm über den Kopf, worauf sie, ohne sich nur einmal umzusehen, wie der Wind mit dem Kinderwagen bis ans erste Haus des Dorfes lief. Atemlos hielt sie hier an und sprach mit dem alten Lewis, der Steine klopfend am Wege saß; und der alte Bursche nahm seine ungeheure schwarze Drahtbrille ab und stellte sich auf seine wackeligen Beine, um dahin zu sehen, wohin sie zeigte. Zusammen folgten ihre Blicke der Gestalt des Mannes, der über ein Feld lief; sie sahen ihn fallen, sich wieder aufraffen und, taumelnd und seine langen Arme über seinem Kopfe bewegend, in der Richtung gegen den Neubarnshof weiterlaufen. Von diesem Augenblick an ist er von dem Netze seiner verborgenen, rührenden Bestimmung umgarnt. Es besteht kein Zweifel über das, was von da an mit ihm geschah. Nun ist alles sicher verbürgt: Frau Smiths furchtbarer Schrecken; Amy Fosters einfältige Überzeugung, daß der Mann ›nichts Böses vorhatte‹, die sie dem nervösen Anfall ihrer Frau entgegensetzte; Smiths Aufregung (bei seiner Rückkehr vom Darnforder Markte), als er den Hund wie besessen bellen hörte, die Hintertür verschlossen, seine Frau in Krämpfen fand – alles wegen eines schmutzigen, elenden Landstreichers, der wahrscheinlich jetzt noch in seinem äußern Hofe lauerte. Wirklich? Er wollte ihn lehren, Frauen zu erschrecken.

Smith ist ausgesprochen jähzornig, allein der Anblick eines sonderbaren, schmutzigen Geschöpfes, das mit gekreuzten Beinen in einem Haufen losen Strohs saß und sich wie ein Bär in einem Käfig hin und her wiegte, machte ihn stutzig. Und nun erhob sich der Landstreicher und stand schweigend vor ihm, eine einzige Masse von Schmutz und Schlamm. Smith, der mit dieser Erscheinung an dem stürmischen Abend allein war, das wütende Gebell seines Hundes in den Ohren, wurde von einem unbestimmten Grauen wie vor etwas Fremden, Unerklärlichen erfaßt. Als das sonderbare Wesen aber mit seinen schwarzen Händen die langen, verfilzten Locken, die ihm vor dem Gesichte hingen, auseinanderteilte, wie man die zwei Hälften eines Vorhangs auseinanderteilt, und ihn mit glänzenden, scheuen, schwarz und weißen Augen ansah, brachte ihn das Unheimliche dieser schweigenden Begegnung um seine ganze Fassung. Er hat später eingestanden (die Geschichte ist hier herum jahrelang ein beliebter Gesprächsgegenstand gewesen), daß er mehr als einen Schritt zurückgewichen sei. Plötzlich hervorgesprudelte sinnlose Worte überzeugten ihn sofort, daß er es mit einem entsprungenen Irrsinnigen zu tun habe. Und dieser Eindruck hat sich nie ganz bei ihm verwischt. Bis zum heutigen Tage hält Smith an der Überzeugung fest, daß der Mann geisteskrank gewesen.

Als das Geschöpf sich ihm näherte, wobei es in beängstigender Weise plapperte (Smith verstand nicht, daß er mit ›Gnädiger Herr‹ angeredet und bei Gott beschworen wurde, Nahrung und Obdach zu gewähren), sprach er fortwährend in bestimmtem, aber sanftem Tone mit ihm, und zog sich dabei Schritt für Schritt in den inneren Hof zurück, bis er es endlich, seinen Vorteil ersehend, mit einem plötzlichen Stoße kopfüber in den Holzschuppen warf, worauf er sofort den Riegel vorschob. Er mußte sich den Schweiß von der Stirne trocknen, obwohl es kalt war. Er hatte der Allgemeinheit gegenüber seine Pflicht getan, indem er einen herumziehenden und offenbar gefährlichen Geisteskranken eingeschlossen hatte. Smith ist durchaus kein hartherziger Mann, aber er hatte in seinem Kopfe nur für diese eine Idee Platz. Er besaß nicht genug Einbildungskraft, um sich zu fragen, ob der Mann nicht nahe daran sei, vor Kälte und Hunger umzukommen. Inzwischen machte der Irrsinnige großen Lärm in dem Schuppen. Frau Smith schrie oben in ihrem Schlafzimmer, wo sie sich eingeschlossen hatte; Amy Foster aber stand an der Küchentüre, schluchzte jämmerlich, rang die Hände und murmelte: ›Tun Sie ihm nichts. Bitte, bitte!‹ Smith hatte jedenfalls bei dem verschiedenartigen Lärm in Haus und Hof keinen sehr angenehmen Abend, und die wilde, aufgeregte Stimme, die hartnäckig zu schreien fortfuhr, vermehrte noch seinen Ärger. Es konnte ihm unmöglich in den Sinn kommen, diesen unbequemen Irrsinnigen mit dem Untergang eines Schiffes bei Eastbay in Verbindung zu bringen, von dem er gerüchtweise auf dem Markte in Darnford gehört hatte. Übrigens glaube ich, daß der eingeschlossene Mann in jener Nacht nicht weit davon entfernt war, geisteskrank zu werden. Ehe seine Aufregung sich legte und er bewußtlos wurde, warf er sich heftig im Dunkeln herum, wälzte sich auf schmutzigen Säcken und biß sich in die Fäuste vor Wut, Kälte, Hunger, Bestürzung und Verzweiflung.

Er war ein Bergbewohner von der östlichen Kette der Karpathen, und das Schiff, das am Abend vorher bei Eastbay untergegangen, war das Hamburger Auswandererschiff ›Herzogin Sophia-Dorothea‹ grauenvollen Andenkens.

Einige Monate später konnte man in den Zeitungen die Berichte über das schamlose Treiben der ›Auswanderungsagenten‹ unter der slawonischen Landbevölkerung in den entfernteren Provinzen Österreichs lesen. Der Zweck dieser Schurken war, sich in den Besitz der Heimstätten der armen, unwissenden Leute zu setzen, und sie standen im Bunde mit den ortsansässigen Wucherern. Sie führten ihre Opfer meist über Hamburg aus. Was das Schiff betrifft, so habe ich es hier von diesem Fenster aus beobachtet, wie es dicht bei dem Winde unter kleinen Segeln an einem düsteren Nachmittage in die Bai einlief und genau nach der Karte, in einiger Entfernung von der Brenzetter Küstenwächterstation vor Anker ging. Ich erinnere mich, daß ich, ehe es Nacht wurde, noch einmal hinaus sah auf die Umrisse der Masten und des Takelwerkes, die sich scharf und dunkel auf einem Hintergrunde zerrissener, schieferfarbener Wolken abhoben, wie ein zweiter, zierlicherer Turm links vom Kirchturm von Brenzett. In der Nacht erhob sich dann Sturm. Um Mitternacht konnte ich in meinem Bette seine schauerlichen Stöße hören und das Rauschen mächtiger Wasserfluten.

Um diese Zeit etwa glaubten die Küstenwächter die Lichter eines Dampfers über dem Ankergrunde zu sehen. In einem Augenblick waren sie wieder verschwunden, aber es ist klar, daß irgend ein anderes Schiff während jener fürchterlichen, schwarzen Nacht in der Bai Zuflucht gesucht, das deutsche Schiff mittschiffs gerammt hat (einen Riß hatte es, wie mir später einer der Taucher erzählte, ›daß man mit einer Themsebarke hätte hindurchfahren können‹) und sich dann unversehrt oder beschädigt – wer kann es sagen – wieder davongemacht hat – unerkannt, ungesehen, um auf geheimnisvolle Weise seinen Untergang zu finden. Von ihm hat man nie wieder etwas gehört. Ein Schrei der Entrüstung ging durch die Welt, die sich insgesamt aufmachte, das Schiff zu verfolgen – es hätte sich wahrlich nicht verbergen können, wenn es noch irgendwo auf der Meeresfläche existiert hätte.

Eine vollendete Tatsache ohne Schlüssel zu ihrem Verständnis, ein verstohlenes Schweigen wie über ein geschickt ausgeführtes Verbrechen, das war das Merkwürdige, Unheimliche bei jenem mörderischen Unglück, das, wie du dich erinnern wirst, zu trauriger Berühmtheit gelangt ist. Selbst die lautesten Hilferufe würden vom Sturme verweht worden sein, und augenscheinlich hatte man keine Zeit gehabt, Notzeichen zu geben. Der Tod ließ seinen Opfern nicht Zeit, Umstände zu machen. Das Hamburger Schiff füllte sich sofort mit Wasser und kenterte im Sinken, und als der Tag anbrach, sah man nicht einmal mehr eine Mastspitze über dem Wasser. Es wurde natürlich vermißt, und die Küstenwächter vermuteten zuerst, daß es in der Nacht seinen Anker gelichtet oder sein Ankertau gekappt habe und auf die offene See hinausgetrieben worden sei. Später, bei rückkehrender Flut, muß das Wrack seine Lage etwas verändert haben, so daß sich einige der Leichen vom Schiffe lösten, denn ein Kind – ein kleines, blondhaariges Kind in rotem Röckchen – wurde gegenüber vom Martelloturme ans Land gespült. Nachmittags konnte man drei Meilen am Strande entlang dunkle Gestalten mit bloßen Beinen in die schaumgekrönten Wellen stürzen sehen, aus denen sie bärtige Männer, Frauen mit herben Gesichtszügen, und Kinder – meist blondhaarige – heraustrugen, die, starr und triefend, auf Bretter, Hürden und Leitern gelegt wurden, um in langem Zuge am Gasthaus ›zum Schiff‹ vorüber nach der Kirche von Brenzett getragen zu werden, wo man sie unterhalb der nördlichen Mauer in einer Reihe niederlegte.

Nach dem offiziellen Berichte war das kleine Mädchen im roten Röcklein das erste, was von jenem Schiffe ans Land kam. Aber ich habe Patienten unter der Schifferbevölkerung von Westcolebrook, und von ihnen hörte ich unter der Hand, daß zwei Brüder, die ganz früh am Morgen nach ihren auf den Strand gezogenen Booten sehen wollten, in ziemlicher Entfernung von Brenzett einen gewöhnlichen Schiffshühnerstall fanden, der hoch und trocken am Strand lag mit elf ertrunkenen Enten darin. Die Familien der beiden Schiffer verzehrten die Enten, und das Hühnerbehältnis wurde mit dem Beile zu Brennholz kleingeschlagen. Es ist möglich, daß ein Mann, vorausgesetzt, daß er zur Zeit des Eintritts der Katastrophe auf Deck war, auf dem Hühnerstall ans Land geschwommen ist. Möglich sage ich, aber ich gebe zu, daß es unwahrscheinlich ist. Tage- – nein wochenlang – kamen wir nicht auf den Gedanken, daß wir die einzige lebende Seele unter uns hatten, die bei jenem Unglück dem Tode entronnen war. Der Mann selbst konnte uns sehr wenig sagen, selbst als er lernte, sich verständlich zu machen. Er erinnerte sich, daß er sich besser gefühlt hatte (wahrscheinlich, nachdem das Schiff vor Anker gegangen war), und daß die Finsternis, der Sturm und der Regen ihm den Atem benommen. Das sieht aus, als ob er in jener Nacht einige Zeit auf Deck gewesen wäre. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er bewußtlos gewesen, daß die Seekrankheit ihn geschüttelt und daß man ihn vier Tage lang im Zwischendeck eingeschlossen gehalten hatte, daß er überhaupt keinen Begriff von einem Schiff oder vom Meere hatte und deshalb nicht wissen konnte, was mit ihm geschah. Regen, Wind und Dunkelheit waren ihm bekannte Dinge; das Blöken der Schafe kannte er und deutlich erinnerte er sich seines Kummers über sein Elend und seine Verlassenheit, und seiner tief wehmütigen Verwunderung darüber, daß niemand seinen Jammer sehen oder verstehen wollte, seiner Bestürzung darüber, daß alle Männer zornig und alle Frauen grausam waren. Er war ihnen ja freilich wie ein Bettler genaht, sagte er; aber in seinem Lande, wenn man einem Bettler auch nichts gab, so sprach man doch freundlich mit ihm. Bei ihm zu Hause wurden die Kinder nicht gelehrt, mit Steinen nach denen zu werfen, die um Mitleid bitten. Smiths Handlungsweise erschreckte ihn zu Tode. Der Holzschuppen erschien ihm wie ein schauerliches Gefängnis. Was würde man weiter mit ihm anfangen? . . . Kein Wunder, daß ihm Amy Foster wie mit dem Glorienschein eines Engels des Lichtes umgeben erschien. Das Mädchen hatte nicht schlafen können im Gedanken an den armen Mann, und am Morgen, ehe ihre Herrschaft noch aufgestanden, schlüpfte sie zur Hintertür hinaus und über den Hof. Die Tür des Holzschuppens halb offen haltend, blickte sie hinein und reichte ihm einen halben Laib weißes Brot – ›solches wie es in meinem Lande die reichen Leute essen‹ – pflegte er zu sagen.

Langsam erhob er sich aus einem Haufen Abfall aller Art – steif, hungrig, elend, zitternd und furchtsam. »Kannst du das essen?« fragte sie in ihrer sanften, schüchternen Stimme. Er muß sie für eine ›gnädige Frau‹ gehalten haben. Mit wilder Gier verschlang er das Brot; Tränen fielen auf dessen Kruste. Plötzlich ließ er das Brot fallen, ergriff ihr Handgelenk und drückte einen Kuß auf ihre Hand. Sie erschrak nicht. Trotz seines verlotterten Zustandes hatte sie bemerkt, daß er hübsch war. Sie schloß die Tür und ging langsam zur Küche zurück. Viel später erst erzählte sie Frau Smith ihr Erlebnis, die beim bloßen Gedanken, daß jenes Geschöpf sie berühren könnte, schauderte.

Diese Handlung impulsiven Mitleids brachte ihn in seiner neuen Umgebung wieder in den Bereich menschlicher Beziehungen. Er hat dies nie vergessen – nie.

An demselben Morgen kam der alte Herr Swaffer (Smiths nächster Nachbar) zu ihm, um seinen Rat zu erteilen, und nahm den Fremdling schließlich mit sich nach Hause. Demütig, gesenkten Hauptes, auf schwankenden Füßen, zur Hälfte mit getrocknetem Schlamm überzogen, stand er vor den beiden Männern, die sich in einer ihm unverständlichen Sprache über ihn unterhielten. Frau Smith hatte sich geweigert, ihre oberen Gemächer zu verlassen, ehe der Verrückte fortgeschafft wäre; Amy Foster stand weit zurück in der dunklen Küche und lugte durch die offene Hintertür; er aber gehorchte den Zeichen, die man ihm machte, so gut er es vermochte. Allein Smith war voll Mißtrauen. ›Bedenken Sie wohl, Herr! Es kann alles nur Verstellung sein,‹ rief er wiederholt in warnendem Tone. Als Herr Swaffer seine Stute in Bewegung setzte, fiel das beklagenswerte Geschöpf an seiner Seite beinahe aus Schwäche über den hinteren Rand des hohen, zweiräderigen Karrens hinunter. Swaffer fuhr sofort mit ihm nach Hause. Und hier war es, daß ich auf den Schauplatz kam.

Als ich zufällig an seinem Hofe vorüberfuhr, winkte mir der alte Mann unter der Tür seines Hauses einfach mit dem Zeigefinger. Natürlich stieg ich aus.

›Ich hab' da etwas,‹ murmelte er, und ging mir voran nach einem kleinen Nebenhause, das in einiger Entfernung von den übrigen Gebäuden stand.

Da war es, daß ich den Schiffbrüchigen zum erstenmal sah, in einem langen, niedrigen Zimmer. Es war kahl und weiß getüncht, und hatte am einen Ende eine kleine viereckige Fensteröffnung, die mit einer zersprungenen, verstaubten Glasscheibe ausgefüllt war. Der Fremdling lag auf einem Strohlager ausgestreckt; man hatte ihm ein paar Pferdedecken gegeben und er schien den Rest seiner Kraft in dem Bemühen erschöpft zu haben, sich zu säubern. Kaum vermochte er zu sprechen. Sein rasches Atmen unter den bis ans Kinn hinaufgezogenen Decken, seine glänzenden, ruhelosen schwarzen Augen erinnerten mich an einen wilden Vogel, der sich in einer Schlinge gefangen hat. Während ich ihn untersuchte, stand der alte Swaffer schweigend an der Tür und strich sich mit den Fingerspitzen über seine glattrasierte Oberlippe. Ich gab einige Anweisungen, versprach, eine Flasche Arznei zu schicken, und tat natürlich einige Fragen.

›Smith hat ihn in seinem Hofe gefangen,‹ sagte der Alte auf seine bedächtige, ruhige Art, als ob der andre eine Art wildes Tier wäre: ›So bin ich dazu gekommen. Eine wirkliche Merkwürdigkeit, nicht wahr? Nun sagen Sie mir, Doktor – Sie sind ja schon überall in der Welt herumgekommen – meinen Sie nicht, 's könnt' so eine Art Hindu sein, was wir da haben?‹

Ich wußte nicht, was ich denken sollte. Sein langes schwarzes Haar, das über das Strohpolster ausgebreitet lag, stach stark ab von der grünlichen Blässe seines Gesichts. Sollte er vielleicht ein Baske sein? Er brauchte deshalb nicht notwendig Spanisch zu verstehen; doch versuchte ich, ihn mit den wenigen Brocken, die ich weiß, und auch mit einigen französischen Sätzen anzureden. Die geflüsterten Laute, die ich auffing, indem ich mein Ohr zu seinen Lippen neigte, waren mir vollständig fremd. An jenem Nachmittage kamen die beiden jungen Damen aus dem Pfarrhause (von denen die eine mit Hilfe eines Wörterbuches Goethe las, während die andre sich schon seit Jahren mit Dante abmühte) um Fräulein Swaffer zu besuchen, und probierten ihr Deutsch und Italienisch von der Tür aus an ihm. Sie zogen sich etwas erschrocken zurück – er hatte, sich auf seinem Strohlager umwendend, eine ganze Flut leidenschaftlicher Worte auf sie losgelassen. Sie gaben zu, daß seine Sprache wohllautend, weich, melodisch sei, fanden sie aber, vielleicht in Verbindung mit seinem Aussehen, aufregend und sonderbar, so ganz anders als alles, was man je gehört hatte. Die Dorfjungen kletterten auf die Bank vor dem Hause, um einen Blick durch das kleine viereckige Fenster zu tun. Jedermann wunderte sich, was Herr Swaffer mit ihm anfangen würde.

Er behielt ihn einfach.

Man würde Swaffer einen Sonderling heißen, wenn er nicht so große allgemeine Achtung genösse. Man wird dir sagen, daß er bis zehn Uhr nachts aufsitzt, um Bücher zu lesen, und ebenso, daß er einen Scheck über zweihundert Pfund ausstellt, ohne sich zweimal darüber zu besinnen. Er selbst könnte dir erzählen, daß die Swaffers schon dreihundert Jahre lang Landeigentümer zwischen hier und Darnford gewesen. Er muß jetzt fünfundachtzig Jahre alt sein, aber er sieht um kein Haar älter aus, als wie ich hierher kam. Er ist ein großer Schafzüchter, und treibt einen ausgedehnten Viehhandel. Bei jedem Wetter besucht er die Märkte meilenweit in der Runde. Tief über die Zügel herabgebeugt, das spärliche graue Haar in krausen Löckchen über dem Kragen seines warmen Rockes, eine grün karierte Decke um die Beine gewickelt, kutschiert er im Lande umher. Die Ruhe des vorgerückten Alters gibt seinem Wesen etwas Feierliches. Er ist glatt rasiert; seine Lippen sind dünn und ausdrucksvoll; etwas Strenges und Mönchisches in seinen Zügen verleiht seinem Gesichte eine gewisse würdevolle Erhabenheit. Man weiß von ihm, daß er beim schlechtesten Wetter schon meilenweit gefahren ist, um eine neue Art von Rosen in irgend jemandes Garten zu sehen, oder einen Riesenkohlkopf, den ein Landmann gezogen. Er liebt es sehr, von etwas ›Ausländischem‹, wie er sagt, zu hören oder es gezeigt zu bekommen. Vielleicht war es gerade das ›Ausländische‹ des Mannes, was den alten Swaffer beeinflußte. Vielleicht war es auch nur eine unerklärliche Laune. Alles was ich weiß, ist, daß ich nach drei Wochen Smiths Irrsinnigen in Swaffers Küchengarten graben sah. Man hatte entdeckt, daß er einen Spaten führen konnte. Er arbeitete barfuß, und das schwarze Haar floß ihm dabei über die Schultern. Wahrscheinlich hatte Swaffer ihm das gestreifte alte Baumwollhemd gegeben; außerdem trug er noch die heimatlichen, enganliegenden braunen Tuchhosen (in denen er ans Land gespült worden war), und den breiten ledernen, mit kleinen Messingscheiben verzierten Gürtel. Ins Dorf hatte er sich noch nie gewagt. Das Land, das er übersehen konnte, erschien ihm hübsch gehalten, wie die Gärten um das Haus eines Gutsbesitzers; die Größe der Wagenschuppen erfüllte ihn mit Erstaunen; die Straßen glichen Gartenwegen, und das Aussehen der Leute, besonders an Sonntagen, schien auf Reichtum schließen zu lassen. Er konnte nicht begreifen, was sie so hartherzig mache und ihre Kinder so dreist. Er holte sich sein Essen an der Hintertür, trug es sorgfältig in beiden Händen nach seinem Häuschen und machte, allein auf seinem Strohlager sitzend, das Zeichen des Kreuzes darüber, ehe er aß. Neben dem Lager knieend, sprach er in der frühen Dunkelheit der kurzen Tage das Gebet des Herrn, ehe er sich zum Schlafen niederlegte. So oft er den alten Swaffer sah, verneigte er sich erst tief und blieb dann gerade aufgerichtet stehen, während der alte Mann ihn, mit den Fingern über der Oberlippe, stillschweigend betrachtete. Er verneigte sich auch vor Fräulein Swaffer, die den einfachen Haushalt ihres Vaters führte, – einer breitschulterigen, starkknochigen Frau von fünfundvierzig Jahren. Sie hatte graue, ernstblickende Augen und trug die Tasche ihres Kleides stets voll Schlüssel. Sie war ›kirchlich‹, wie die Leute sagten (während ihr Vater einer der Vorsteher der Baptistenkapelle war), und trug ein kleines stählernes Kreuz am Gürtel. Sie kleidete sich in düsteres Schwarz zum Andenken an einen der unzähligen Bradleys in der Umgegend, mit dem sie vor etwa fünfundzwanzig Jahren verlobt gewesen war – einen jungen Landwirt, der am Vorabend vor dem Hochzeitstage auf einer Jagd den Hals gebrochen hatte. Sie hatte die starren Züge der Schwerhörigen, sprach sehr selten, und ihre Lippen, dünn wie die ihres Vaters, überraschten manchmal durch einen eigentümlichen ironischen Zug.

Dies waren die Leute, denen der Fremdling Treue und Gehorsam schuldete, und ein Gefühl überwältigender Verlassenheit schien sich von dem bleiernen Himmel jenes sonnenlosen Winters auf ihn zu senken. Alle Gesichter waren ernst und trüb. Er konnte mit niemand reden und hatte keine Hoffnung, je jemand zu verstehen. Es war, als sei er von Gesichtern aus der andern Welt – von toten Gesichtern – umgeben, sagte er mir noch nach Jahren. Wahrhaftig, es war ein Wunder, daß er nicht verrückt wurde. Er wußte nicht, wo er war. Irgendwo weit weg von seinen Bergen – irgendwo jenseits des Wassers. Ob dies wohl Amerika war?

Wenn nicht das stählerne Kreuz an Fräulein Swaffers Gürtel gewesen wäre, so hätte er nicht gewußt, wie er mir später bekannte, ob er in einem christlichen Lande sei oder nicht. Er sah es oft verstohlen an und fühlte sich dadurch getröstet. Es war auch gar nichts hier so wie in seinem Lande! Die Erde und das Wasser waren anders; man sah keine Bilder des Erlösers an den Wegen. Selbst das Gras war anders und die Bäume – alle Bäume, ausgenommen die drei alten norwegischen Tannen auf dem kleinen Rasenplatze vor Swaffers Haus, die ihn an sein Heimatland erinnerten. Man fand ihn einmal abends, die Stirne gegen den Stamm eines dieser Bäume gedrückt, schluchzend und mit sich selbst redend. Sie seien ihm in jener Zeit wie Brüder gewesen, behauptete er. Alles andre war ihm neu und fremd. Denke dir ein Dasein, das von der täglichen äußeren Umgebung verdüstert, bedrückt wurde, wie durch die Schreckbilder eines Alps! Wenn er nachts nicht schlafen konnte, dachte er immer wieder an das Mädchen, das ihm das erste Stück Brot gegeben, das er in diesem fremden Lande gegessen hatte. Sie war weder grausam noch zornig gewesen und hatte sich nicht vor ihm gefürchtet. Er erinnerte sich ihres Gesichtes als des einzigen verständlichen unter all diesen Gesichtern, die so verschlossen, so rätselhaft und stumm waren wie die Gesichter der Toten, die im Besitze eines Wissens sind, das über das Verständnis der Lebenden hinausgeht. Ich möchte wissen, ob es das Andenken an ihr Mitleid gewesen, was ihn hinderte, sich den Hals abzuschneiden. Aber halt! Ich bin ein alter sentimentaler Kerl, der vergißt, daß die Liebe zum Leben so stark im Menschen ist, daß nur die Kraft ungewöhnlicher Verzweiflung sie zu überwinden vermag.

Er verrichtete die ihm aufgetragene Arbeit mit einem Geschick, das Swaffer überraschte. Nach einiger Zeit entdeckte man, daß er beim Pflügen helfen, die Kühe melken, die Farren im Viehhofe füttern konnte und auch bei den Schafen zu gebrauchen war. Er fing auch an, und zwar sehr rasch, einzelne Wörter aufzufassen, und eines schönen Tages rettete er ein Enkelkind des alten Swaffer vor einem unzeitigen Tode.

Swaffers jüngere Tochter ist an Willcox verheiratet, einen Rechtsanwalt und Stadtschreiber von Colebrook. Regelmäßig zweimal im Jahre kommen die jungen Leute auf einige Tage zu dem alten Manne. Ihr einziges Kind, damals noch nicht drei Jahre alt, lief in seinem weißen Schürzchen allein aus dem Hause, trippelte mit den kleinen Füßchen über den Rasen des terrassenförmig angelegten Gartens und fiel, mit dem Kopfe voran, über eine niedrige Mauer in den Pferdeweiher im Hofe unten.

Unser Mann war mit dem Knechte und dem Pfluge auf dem zunächst beim Hause liegenden Felde und ließ eben das Gespann eine Wendung machen, um eine neue Furche zu beginnen, da sah er durch die Lücke eines Zaunes, was für jedermann sonst nichts als das Flattern von etwas Weißem gewesen wäre. Aber er hatte geradblickende, rasche, weitsehende Augen, die nur angesichts der ungeheuren See sich zu senken und ihre erstaunliche Kraft zu verlieren schienen. Er war barfuß und sah so ›ausländisch‹ aus, als das Herz des alten Swaffer es nur wünschen konnte. Die Pferde stehen lassend, stürzte er zum unaussprechlichen Ärger des Knechts fort und in langen Sätzen über das gepflügte Feld, und plötzlich erschien er vor der ahnungslosen Mutter, warf ihr das Kind in die Arme und ging davon.

Der Weiher war nicht sehr tief; hätte unser Held jedoch nicht so gute Augen gehabt, so wäre das Kind umgekommen – erstickt in dem dicken Schlamm auf dem Grunde. Der alte Swaffer ging langsam aufs Feld hinaus, wartete, bis der Pflug auf seine Seite herüberkam, sah sich den Mann gründlich an und ging, ohne ein Wort zu sagen, ins Haus zurück. Von jener Zeit an aber richtete man ihm seine Mahlzeiten auf dem Küchentische an, wobei die schwarzgekleidete Fräulein Swaffer mit dem undurchdringlichen Gesichte sich zuerst unter die Tür des Wohnzimmers stellte, um ihn ein großes Kreuz machen zu sehen, ehe er zu essen anfing. Ich glaube, es war auch von dieser Zeit an, daß Swaffer anfing, ihm regelmäßig Lohn zu zahlen.

Ich kann seine Entwickelung nicht Schritt für Schritt verfolgen. Er schnitt sich die Haare kurz, und man sah ihn im Dorfe und auf der Straße zu seiner Arbeit gehen, wie jeden andern Mann. Die Kinder riefen ihm nicht mehr nach. Er lernte gesellschaftliche Unterschiede kennen, verwunderte sich aber immer wieder über die kahle Armseligkeit der Kirchen bei so viel allgemeiner Wohlhabenheit. Auch konnte er nicht verstehen, warum sie an Wochentagen geschlossen waren – war doch nichts darin zu stehlen. Wollte man etwa die Leute hindern, zu oft zu beten? Das Pfarrhaus beschäftigte sich in jener Zeit viel mit ihm, und ich glaube, die jungen Damen versuchten, ihn für den Übertritt vorzubereiten. Sie konnten ihn jedoch nicht von seiner Gewohnheit, das Kreuz zu machen, abbringen, wenn er auch so weit ging, daß er die Schnur ablegte, an der ein paar Messingmünzen von der Größe eines Sechspencestückes, ein zierliches Metallkreuz und eine Art Skapulier hingen, die er bisher um den Hals getragen hatte. Er hing sie an der Wand neben seinem Bette auf, und man konnte ihn noch jeden Abend in unverständlichen Worten das Gebet des Herrn sagen hören, langsam und inbrünstig, wie er es seinen alten Vater an der Spitze der ganzen knieenden Familie jeden Abend seines Lebens hatte tun sehen. Und obwohl er Drillichhosen bei der Arbeit trug und einen vom Matrosenschneider gefertigten Pfeffer- und Salzanzug am Sonntag, wandten sich doch häufig Fremde auf der Straße um und sahen ihm nach. Seine fremdländische Art hatte einen besonderen, unverwischbaren Charakter. Endlich gewöhnten sich die Leute an seinen Anblick. An ihn selbst aber gewöhnten sie sich nie. Sein rascher, schwebender Gang, seine dunkle Gesichtsfarbe, sein aufs linke Ohr gesetzter Hut, seine Gewohnheit, an warmen Abenden den Rock über die eine Schulter zu hängen, wie ein Husar seinen Dolman, die Gepflogenheit, über die Zäune zu springen, nicht in der Eile nur, sondern als ob es so sein müßte – all diese Eigentümlichkeiten boten den Dorfbewohnern, man darf es wohl sagen, ebenso viele Ursachen zum Spott und zu Kränkungen. Sie mochten sich nicht in der Mittagspause platt auf den Rücken ins Gras legen und den Himmel anstarren. Ihnen fiel es nicht ein, in den Feldern herumzulaufen und klagende Melodieen zu singen. Oft habe ich seine hohe Stimme hinter dem Rücken einer höher gelegenen Schafweide hervor gehört – eine Stimme hell und klar, wie die einer Lerche, aber mit einem schwermütigen Klange darin – während unsere Felder sonst nur den Gesang der Vögel hören. Ich selbst war davon überrascht, betroffen. Ach, er war in der Tat anders als alle andern: rein von Gemüt und voll guten Willens, womit er nirgends auf Verständnis stieß, war dieser Schiffbrüchige, der wie ein auf einen andern Planeten verpflanzter Mann durch eine ungeheure Entfernung von seiner Vergangenheit und durch eine völlige Unwissenheit von seiner Zukunft getrennt war. Seine rasche, feurige Rede stieß die Leute förmlich zurück. Einen ›aufgeregten Teufel‹ nannten sie ihn. Eines Abends – er hatte etwas Whisky getrunken – brachte er die ganze Wirtshausgesellschaft in Aufruhr, indem er ein Liebeslied seiner Heimat sang. Sie schrieen ihn nieder, was ihn bitter kränkte; aber Preble, der lahme Wagner, und Vincent, der dicke Grobschmied, und auch die andern Honoratioren wollten ihr Abendbier in Frieden trinken. Bei einer andern Gelegenheit versuchte er, ihnen zu zeigen, wie man tanzen müsse. Der Staub stieg in Wolken von dem sandigen Boden auf; der Tänzer sprang bolzgerade in die Höhe, schlug die Absätze zusammen, kauerte gegenüber von dem alten Preble auf einem Fuße nieder, schoß das andre Bein hervor, sprang mit lautem Jubelgeschrei wieder auf, drehte sich auf einem Fuße herum, schnippte mit den Fingern über seinem Kopfe – doch ein fremder Kärrner fing an zu fluchen und zog sich mit seinem Bierglas in der Hand ins Nebenzimmer zurück. Als er aber gar auf einen Tisch sprang und zwischen den Gläsern zu tanzen fortfuhr, da mischte sich der Wirt ein. Er wünsche keine ›Komödiantenkunststücke‹ in seinem Gastzimmer, erklärte er. Herrn Swaffers Ausländer wurde vom Tisch heruntergezogen; doch da er ein Glas oder zwei getrunken hatte, wollte er sich zur Wehre setzen. Da wurde er mit Gewalt hinausgebracht und trug ein blaues Auge davon.

Ich glaube, er fühlte die Feindseligkeit seiner menschlichen Umgebung. Aber er war zäh – zäh sowohl an Geist als an Körper. Nur die Erinnerung ans Meer flößte ihm Grauen ein, jenes unbestimmte Gefühl der Furcht, wie es ein böser Traum zurückläßt. Seine Heimat war weit weg, und es verlangte ihn jetzt nicht mehr, nach Amerika zu gehen. Ich hatte ihm oft erklärt, daß es keinen Ort auf Erden gibt, wo man das echte Gold auf dem Boden liegend findet und wo es jeder haben kann, der sich die Mühe nimmt, es aufzuheben. Wie konnte er denn aber, so fragte er mich mehr als einmal, je heimkehren mit leeren Händen, nachdem man zu Hause eine Kuh, zwei Ponies und ein Stück Land verkauft hatte, um ihm das Fortgehen zu ermöglichen? Seine Augen füllten sich dann wohl mit Tränen, er wandte sich ab vom Glanze des unendlichen Meeres und warf sich mit dem Gesichte nach unten ins Gras. Manchmal jedoch setzte er seinen Hut mit der Miene eines Eroberers auf und rühmte sich, meiner Weisheit zum Trotz, daß er sein Teil echten Goldes gefunden habe. Das war Amy Fosters Herz; ›ein goldenes Herz und weich gegen das Elend der Armen‹, sagte er im Tone fester Überzeugung.

Er hieß Janko. Nach seiner Erklärung bedeutete dies so viel wie ›Hänschen‹. Da er aber auch sehr oft erzählte, daß er ein Bergländer sei – ein Wort, das in dem Dialekt seiner Heimat wie ›Gurall‹ lautete – so erhielt er dies Wort als Zunamen. Und das ist die einzige Spur von ihm, die in künftigen Zeiten gefunden werden wird. So steht es im Trauungsregister – Janko Gurall – in der Handschrift des Pfarrers. Das krumme Kreuz, das der Schiffbrüchige gemacht und dessen Zeichnung ihm jedenfalls der feierlichste Akt der ganzen Zeremonie zu sein schien, ist alles, was noch übrig ist, um das Gedächtnis seines Namens zu erhalten.

Seine Bewerbung hatte schon einige Zeit gedauert – sie hatte zur selben Zeit begonnen, wo er in der Gemeinde, ob auch erst unsicher, Fuß gefaßt hatte. Er fing damit an, daß er in Darnford ein grünes Atlasband für Amy Foster kaufte. So machte man es in seinem Lande. Man kaufte an einem Markttage in der Bude eines Juden ein Band. Ich glaube nicht, daß das Mädchen wußte, was es damit machen sollte, aber er schien zu meinen, daß man seine ehrenwerten Absichten nicht mißverstehen könne.

Erst als er seine Absicht, sich zu verheiraten, erklärte, erkannte ich völlig, wie – soll ich sagen: verhaßt? – er aus hundert nichtigen Gründen der ganzen Bevölkerung war. Jedes alte Weib im Dorfe ereiferte sich über ihn. Smith, der ihn in der Nähe seines Hofes traf, schrie, er werde ihm den Hals umdrehen, wenn er ihn noch einmal da finde. Aber Janko drehte seinen kleinen schwarzen Schnurrbart mit solch kriegerischer Miene und rollte seine großen schwarzen Augen so wild gegen Smith, daß dieser seiner Drohung keine Folge gab. Doch sagte Smith dem Mädchen, sie müsse toll sein, daß sie sich mit einem Menschen einlasse, der ohne Zweifel nicht richtig sei im Kopfe. Trotzdem, wenn sie ihn in der Dämmerung von jenseits des Obstgartens ein paar Takte einer eigentümlichen, traurigen Melodie pfeifen hörte, so ließ sie alles fallen, was sie gerade in der Hand hatte – ja sie verließ Frau Smith mitten in einem Satze – und eilte, seinem Rufe zu folgen. Frau Smith nannte sie ein schamloses Ding, doch Amy sagte kein Wort und ging ihres Weges, als ob sie taub gewesen wäre. Ich glaube, sie und ich waren die einzigen, die seine Schönheit erkannten. Er war sehr hübsch und höchst anmutig in seiner Haltung; etwas Wildes, Urwüchsiges war in seinem Aussehen, etwas, das an ein Geschöpf des freien Waldes erinnerte. Ihre Mutter klagte und jammerte über Amy, so oft das Mädchen an seinem Ausgehtage zu ihr kam. Der Vater war ärgerlich, tat aber, als merke er nichts, und Frau Finn erklärte Amy geradezu, daß dieser Mann ihr noch etwas Schlimmes zufügen werde. So ging es weiter. Man konnte sie zusammen auf der Straße sehen, sie ehrbar und schwerfällig in ihrem Putze einherstapfend – in grauem Kleide, die schwarze Feder auf dem Hute, plumpe Stiefel an den Füßen und an den Händen weiße baumwollene Handschuhe, die das Auge schon in einer Entfernung von hundert Ellen auf sich zogen; und ihn, den Rock malerisch über die eine Schulter geworfen, leicht und stattlich an ihrer Seite schreitend und zärtliche Blicke auf das Mädchen mit dem goldenen Herzen werfend. Ich möchte wohl wissen, ob er sah, wie wenig schön sie war. Vielleicht vermochte er unter den von allem, was er je gesehen, so völlig verschiedenen Erscheinungen nicht zu urteilen, oder war sein Herz ganz und gar von der göttlichen Eigenschaft ihres Mitleids hingerissen.

Indessen befand sich Janko in großer Verlegenheit. In seinem Lande bittet man einen alten Mann, den Heiratsvermittler zu machen. Er wußte nicht, was er tun sollte. Da, eines Tages, mitten unter den Schafen auf dem Felde (er war jetzt, wie Foster, Swaffers Unterschäfer), nahm er seinen Hut vor dem Vater ab und erklärte sich in aller Bescheidenheit. ›Ich glaube, sie ist dumm genug, dich zu nehmen‹, war alles, was Foster sagte. ›Und dann‹, pflegte er zu erzählen, ›setzt er seinen Hut auf, sieht mich finster an, als ob er mich erwürgen wolle, pfeift dem Hunde und – fort ist er, und ich kann sehen, wie ich ohne ihn fertig werde‹. Natürlich verzichteten ihre Eltern nicht gerne auf den Lohn, den das Mädchen verdiente; Amy gab nämlich all ihr Geld ihrer Mutter. Aber Foster empfand auch sonst große Abneigung gegen diese Heirat. Er gab zu, daß der Bursche sehr gut mit den Schafen umzugehen verstehe, behauptete aber entschieden, daß er nicht zum Heiraten tauge. Oft schon habe er ihn an den Hecken entlang gehen sehen, wobei er wie ein Narr vor sich hin gemurmelt habe, und außerdem betrügen sich diese Ausländer oft recht sonderbar gegen Frauen, sagte er. Am Ende wollte er sie gar irgendwohin entführen – oder lief er noch selbst davon – wer konnte es wissen? Es war jedenfalls eine unsichere Sache. Er redete seiner Tochter vor, daß der Mensch sie irgendwie schlecht behandeln könnte. Doch sie gab keine Antwort. Es war, als habe es der Mann ihr angetan, sagte man im Dorfe. Die Leute redeten viel über die Geschichte; ja, es herrschte eine förmliche Aufregung, während die beiden fortfuhren, ›miteinander zu gehen‹, trotz allen Widerspruches. Und jetzt geschah etwas Unerwartetes.

Ich weiß nicht, ob der alte Swaffer es je begriff, wie sehr er von seinem ausländischen Dienstboten im Lichte eines Vaters betrachtet wurde. Jedenfalls lag etwas Patriarchalisches in ihrem Verhältnis, wenigstens wie Janko es auffaßte. Eines Abends bat er in aller Form um eine Unterredung – auch mit dem ›Fräulein‹ – (er nannte das strenge, taube Fräulein Swaffer einfach ›Fräulein‹) – und ersuchte um die Erlaubnis, Amy Foster zu heiraten. Swaffer hörte ihn schweigend an und entließ ihn mit einem Kopfnicken; dann schrie er die Neuigkeit in Fräulein Swaffers bestes Ohr. Sie zeigte keine Überraschung und bemerkte nur sarkastisch, daß ihn jedenfalls kein andres Mädchen nehmen würde.

Wenige Tage später hörte man, daß Herr Swaffer Janko ein Häuschen (dasselbe, was du heute früh gesehen hast) und einige Morgen Landes geschenkt – ihm zum freien Eigentum übermacht habe. Willcox fertigte die Urkunde aus, und ich erinnere mich, daß er mir erzählte, mit wie großem Vergnügen er es getan habe. Es hieß darin: ›In Erwägung, daß er meinem geliebten Enkelkinde, Berta Willcox, das Leben gerettet hat.‹ Übrigens gebührt die Ehre für diese Freigebigkeit vollständig Fräulein Swaffer.

Nun konnte natürlich keine Macht der Erde das Paar verhindern, Hochzeit zu machen.

Amys Bezauberung dauerte fort. Die Leute sahen sie am Abend das Haus verlassen, um ihrem Janko entgegenzugehen. Mit weit offenen Augen blickte sie wie gebannt die Straße hinauf, auf der er kommen mußte – frei und leicht sich in den Hüften wiegend, ein Liebeslied seiner Heimat summend. Als der Knabe geboren war, feierte er das Ereignis mit einem Trunk in der Schenke, versuchte wieder zu singen und wurde wieder hinausgeworfen. Die Leute beklagten seine Frau, daß sie einen solchen Hanswurst geheiratet habe. Er aber machte sich nichts daraus. Jetzt gebe es einen Menschen (sagte er mir voll Stolz), dem er in der Sprache seines Landes vorreden und vorsingen, den er später auch tanzen lehren könne.

Doch ich weiß nicht, wie es kam: sein Schritt schien mir weniger elastisch, sein Körper schwerfälliger, sein Auge weniger scharf zu sein. Ohne Zweifel nur Einbildung; aber es will mir jetzt scheinen, als wäre das Netz seines Schicksals damals schon fester um ihn gezogen gewesen.

Eines Tages begegnete ich ihm auf dem Fußwege über den Talfourdhügel. Da sagte er mir, die Frauen seien so komisch. Übrigens hatte ich schon von häuslichen Verstimmungen munkeln hören. Die Leute sagten, Amy Foster fange nun an zu merken, was für eine Art Mann sie geheiratet habe. Eines Tages hatte sie ihm das Kind aus den Armen gerissen, als er mit ihm auf den Stufen vor der Haustür gesessen und ihm leise ein Liedlein vorgesungen hatte, wie es die Mütter in seinen Bergen ihren Kindern singen. Sie schien zu glauben, er tue dem Kinde Schaden. Die Frauen sind wirklich komisch. Sie hatte auch Einspruch erhoben, als er am Abend laut beten wollte. Warum? Er wollte, daß der Knabe ihm später das Gebet nachbeten sollte, wie er es seinem Vater nachgebetet hatte, als er noch ein Kind war – in seinem Vaterlande. Und ich sah, wie er sich danach sehnte, daß sein Knabe groß werden möchte, so daß er jemand hätte, mit dem er in der Sprache reden könnte, die uns so eigentümlich und leidenschaftlich klang. Warum seine Frau sich nicht mit dem Gedanken befreunden konnte, wußte er nicht, sagte aber, es werde wohl vorübergehen. Dabei nickte er verständig mit dem Kopfe und schlug sich leicht auf die Brust, um anzuzeigen, daß sie ein gutes Herz habe: nicht hart und grausam, sondern offen für andrer Leid, barmherzig gegen die Armen.

Nachdenklich trennte ich mich von ihm. Ich begann zu fürchten, seine Besonderheit, seine Fremdartigkeit möchten jene träge Natur mit Abneigung erfüllen, die sie zuerst so unwiderstehlich angezogen. Ich hätte gerne gewußt . . .«

Der Doktor trat ans Fenster und sah hinaus auf die kühle Pracht der See, die im Nebelschleier unermeßlich erschien, als ob sie die ganze Erde umschlösse mit all den im Banne von Liebe und Furcht stehenden Herzen.

»Nach den Gesetzen der Physiologie war es möglich,« sagte er, sich plötzlich wegwendend. »Es war möglich.«

Dann schwieg er, um nach einer kleinen Pause fortzufahren: »Wie dem auch sei, das nächste Mal, wo ich ihn sah, war er krank – auf der Lunge. Er war zäh, wahrscheinlich aber doch nicht so gut akklimatisiert, als ich gedacht hatte. Es war ein böser Winter, auch sind dergleichen Bergbewohner häufig Anfällen von Heimweh unterworfen, und in einem Zustande geistiger Niedergeschlagenheit ist der Mensch für Krankheiten empfänglicher als sonst. Ich fand ihn halb angekleidet auf einem Lager im Wohnraume, dessen ganze Mitte von einem mit dunklem Wachstuch überzogenen Tisch eingenommen wurde. Eine Korbwiege stand auf dem Boden, über dem Feuer hing ein siedender Kessel und einige Kinderwäsche hing zum Trocknen auf dem Kamingitter. Es war warm im Zimmer, doch geht dessen Tür unmittelbar in den Garten hinaus, wie du vielleicht bemerkt hast.

Der Kranke fieberte stark und sprach fortwährend leise vor sich hin. Amy saß auf einem Stuhle und sah ihn über den Tisch hinüber mit ihren braunen, glanzlosen Augen starr an. ›Warum liegt er nicht oben in seinem Bett?‹ fragte ich. Sie fuhr auf und stammelte verlegen, daß sie nicht oben bei ihm sitzen könne.

Ich gab ihr einige Anweisungen, und indem ich mit ihr das Zimmer verließ, sagte ich noch einmal, daß er in seinem Bett droben sein sollte. Sie rang die Hände. ›Ich kann nicht. Ich kann nicht. Er sagt immerfort etwas – ich weiß nicht, was.‹ Ich dachte an all das Gerede über den Mann, mit dem man ihr die Ohren gefüllt hatte, und sah sie scharf an. Ich blickte in ihre kurzsichtigen, nichtssagenden Augen, die einmal in ihrem Leben eine lockende Gestalt gesehen hatten, jetzt aber, indem sie mich anstarrten, gar nichts zu sehen schienen. Doch konnte ich bemerken, daß sie sich ängstigte.

›Was fehlt ihm denn?‹ fragte sie unsicher. ›Er sieht doch gar nicht so krank aus. Ich habe noch nie jemand in einem solchen Zustande gesehen . . .

›Meinst du vielleicht,‹ fragte ich entrüstet, ›er verstelle sich?‹

›Ich kann mich des Gedankens beim besten Willen nicht erwehren, Herr Doktor,‹ sagte sie eigensinnig. Plötzlich schlug sie die Hände zusammen und blickte scheu nach rechts und links. ›Und dann das Kind! Ich fürchte mich so. Grad eben wollte er, daß ich ihm das Kind gebe. Ich kann nicht verstehen, was er zu ihm sagt.‹

›Kannst du nicht eine Nachbarin bitten, daß sie für die Nacht zu dir kommt?‹ fragte ich.

›Entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich glaube, es mag niemand gern kommen,‹ murmelte sie in dumpfer Ergebung.

Ich empfahl ihr eindringlich die größte Sorgfalt und mußte dann gehen, denn es gab viele Kranke in jenem Winter. ›Ach, wenn er nur nicht wieder plaudert!‹ rief sie noch, als ich schon im Gehen war.

Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich nichts merkte – aber ich merkte wirklich nichts. Und doch sehe ich sie jetzt noch vor mir, wie sie, als ich mich in meinem Wagen umwandte, noch zögernd an der Tür stand, ganz still und so, als ob sie daran dächte, auf der schmutzigen Straße zu entfliehen.

Gegen Abend wurde das Fieber stärker.

Der Kranke warf sich herum, stöhnte und murmelte hie und da ein Wort der Klage. Seine Frau aber saß an dem Tisch, der zwischen ihr und seinem Lager stand, beobachtete jede Bewegung und lauschte auf jeden Ton, während das Grauen, das unvernünftige Grauen vor dem Manne, den sie nicht verstehen konnte, immer vollständiger Besitz von ihr ergriff. Sie hatte die Korbwiege dicht an sich herangezogen. Es war jetzt für nichts andres mehr Raum in ihr, als für den Instinkt der Mutter und für jene unerklärliche Furcht.

Plötzlich wachte der Kranke auf und verlangte einen Trunk Wasser für seine ausgetrocknete Kehle. Sie rührte sich nicht. Sie hatte ihn nicht verstanden, obwohl er vielleicht geglaubt, Englisch zu sprechen. Er wartete, sah sie an, glühend vor Fieber, verblüfft über ihr Schweigen und ihre Unbeweglichkeit, und schrie endlich: ›Wasser! Gib mir Wasser!‹

Sie sprang auf ihre Füße, riß das Kind in die Höhe und stand still. Er sprach zu ihr, aber seine leidenschaftlichen Vorstellungen vermehrten nur ihre Furcht vor dem sonderbaren Manne. Ich glaube, er sprach eine ganze Weile zu ihr, bittend, klagend, befehlend – sie sagt, sie habe es ertragen, so lange sie gekonnt habe. Endlich ergriff ihn wilde Wut. Er setzte sich auf und schrie ein Wort – ein einziges Wort. Dann stand er auf, als ob er gar nicht krank gewesen wäre, wie sie sagt. Als er aber in fieberhafter Erregung und Entrüstung um den Tisch herum zu ihr zu gelangen suchte, da öffnete sie einfach die Tür und lief mit dem Kinde im Arme davon. Zweimal hörte sie ihn mit schrecklicher Stimme die Straße hinunter nach ihr rufen – und floh . . .

O! du hättest das Gespenst der Furcht sehen sollen, das hinter dem trüben, erloschenen Blick dieser Augen lauerte, das sie an jenem Abend drei und eine halbe Meile weit bis vor die Tür von ihres Vaters Haus gejagt hat! Ich sah es am andern Tage.

Und ich war es auch, der ihn fand, das Gesicht nach unten, den übrigen Körper in einer Wasserlache liegend, gerade vor dem weidengeflochtenen Pförtchen.

Ich war in jener Nacht zu einem Schwerkranken im Dorfe gerufen worden und kam bei Tagesanbruch auf meinem Heimwege an dem Hause vorüber. Die Tür stand offen. Mein Kutscher half mir, ihn hineintragen und wir legten ihn aufs Sofa. Die Lampe rauchte, das Feuer war ausgegangen; die Kälte der stürmischen Nacht schien uns von den kahlen, mit schmuckloser gelber Tapete beklebten Wänden entgegenzudringen. ›Amy!‹ rief ich laut, und meine Stimme schien sich in der Öde des Häuschens wie in einer Wüste zu verlieren. Er öffnete die Augen. ›Fort!‹ sagte er deutlich. ›Ich hatte sie nur um Wasser gebeten – nur um ein wenig Wasser . . .

Er war mit Schmutz bedeckt. Ich deckte ihn zu und blieb schweigend bei ihm stehen, dann und wann ein mühsam hervorgebrachtes Wort erlauschend. Er sprach nicht mehr in seiner Muttersprache. Das Fieber hatte ihn verlassen und damit auch die Lebenswärme. Und wieder erinnerte er mich mit seiner keuchenden Brust und seinen glänzenden Augen an ein wildes Geschöpf, das sich in einem Netze gefangen, an einen Vogel in der Schlinge. Sie hatte ihn verlassen. Sie hatte ihn verlassen – krank – hilflos – durstig. Der Speer des Jägers war ihm bis in die innerste Seele gedrungen. ›Warum?‹ schrie er in verzweiflungsvollem Tone. Ein Windstoß und ein Regenschauer antworteten ihm.

Und als ich mich wegwandte, um die Tür zu schließen, sagte er das Wort ›Barmherziger‹ und verschied.

Ich konstatierte Herzschwäche als unmittelbare Todesursache. Sein Herz mußte ihm in der Tat versagt haben, sonst hätte er wohl auch diese schreckliche Nacht überstanden. Ich drückte ihm die Augen zu und fuhr davon. Nicht sehr weit von dem Häuschen begegnete ich Foster, der mit energischem Schritt, seinen Hund hinter sich, zwischen den triefenden Hecken daherkam.

›Wissen Sie, wo Ihre Tochter ist?‹ fragte ich ihn.

›Ob ich's weiß!‹ schrie er. ›Ich will ihm den Kopf waschen. Ein armes Weib so zu ängstigen!‹

›Er wird sie nicht mehr ängstigen. Er ist tot,‹ sagte ich.

Er schlug mit seinem Stock auf den Schmutz der Straße.

›Und da ist jetzt das Kind!‹

Dann, nach einer Weile tiefen Nachdenkens: ›Ich weiß nicht, ob es nicht so am besten ist.‹

Das sagte er. Und sie sagt jetzt gar nichts, spricht kein Wort von ihm. Nie. Ist sein Bild so vollständig aus ihrer Seele verschwunden, wie seine biegsame, kräftige Gestalt und seine fröhliche Stimme von unsern Feldern? Sie hat ihn nicht mehr vor Augen, ihre Einbildungskraft in Liebe oder Furcht zu erregen; und sein Gedächtnis scheint aus ihrem schwachen Geiste wie ein Schatten verschwunden zu sein, der über eine weiße Wand hingleitet. Sie wohnt in dem kleinen Hause und arbeitet für Fräulein Swaffer. Für jedermann ist sie Amy Foster und das Kind ist ›Amy Fosters Junge‹. Sie nennt ihn Johnny – was Hänschen bedeutet.

Es ist nicht möglich zu sagen, ob dieser Name sie an irgend etwas erinnert. Ob sie je der Vergangenheit gedenkt? Ich habe sie in einem leidenschaftlichen Ausbruch mütterlicher Zärtlichkeit sich über das Bettchen des Knaben beugen sehen. Der kleine Kerl lag auf dem Rücken, etwas scheu vor mir, aber ganz still, mit seinen großen schwarzen Augen und dem verschüchterten Ausdruck darin an ein gefangenes Vögelein erinnernd. Und während ich ihn ansah, war es mir, als sähe ich den andern wieder, seinen Vater, den die See auf geheimnisvolle Weise ans Land geworfen hatte, damit er in dem größeren Unglück der Verlassenheit und Verzweiflung umkomme.«

 

Ende.

 


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