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Auszüge aus einem Schriftstück im Familienbesitz.

Am 4. Mai 1799 wurde Seringapatam erobert. Ich stand damals in Indien im gleichen Regiment wie mein Vetter John Herncastle und nahm wie er an dieser Eroberung teil. In den folgenden Zeilen möchte ich meinen Verwandten in England Rechenschaft darüber ablegen, warum ich Herncastle seit jenem Ereignis nicht mehr meinen Freund nennen kann. Dabei versichere ich auf mein Ehrenwort, daß ich die Tatsachen wahrheitsgetreu berichte. Ob aber meine daraus gezogenen Folgerungen berechtigt sind, überlasse ich dem Leser.

Ehe jener Angriff auf Seringapatam begann, liefen in unserem Lager die wildesten Gerüchte über die Juwelen- und Goldschätze im Palast der Stadt um. Man sprach unter anderem von einem der berühmten Edelsteine Indiens, vom Monddiamanten. Er wurde im 11. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung in der heiligen Stadt Somnauth aufbewahrt, wo er in einem Tempel an der Stirn jener vierarmigen Gestalt strahlte, die den Mondgott darstellte. Sein Name wurde ihm teils wegen seiner eigenartigen Farbe gegeben, teils weil ein alter Aberglaube wissen wollte, daß sein Glanz stärker oder schwächer würde, jenachdem das Himmelsgestirn zu- oder abnähme. Bei der Plünderung des Tempels durch den mohammedanischen Eroberer Mahmoud von Ghizni retteten ihn, übrigens als einziges Heiligtum der Hindus, drei Brahmanen, die ihn nachts nach Benares brachten.

Hier erschien in der folgenden Nacht Vishnu, der Erhalter, den Dreien im Traum. Er befahl, den Monddiamanten von nun an bis zum Ende der Zeiten Tag und Nacht abwechselnd durch drei Priester zu bewachen. Der Gott sagte sichere Vernichtung dem vermessenen Sterblichen voraus, der Hand an den gelben Stein legen würde. Und Gleiches sollte die treffen, denen der Räuber den Diamanten hinterließ. Die Brahmanen aber ließen diese Prophezeiung in goldenen Lettern über die Tore des Heiligtums schreiben.

Ein Zeitalter folgte dem anderen, wechselvoll war das Schicksal des Diamanten, der später von einem Offizier in der Armee des Kaisers der Moguln geraubt wurde und schließlich in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts in den Besitz Tippoos, des Sultans von Seringapatam, kam. Auf sein Geheiß wurde er als Schmuck in einen Dolchgriff gesetzt und als einer der wertvollsten Schätze in seiner Waffenkammer aufbewahrt. Wo immer er aber auch war und wer ihn besaß, unablässig wachten über ihn im Verborgenen drei Priester Vishnu's, des Erhalters.

Unter dem Gefolge Tippoos waren drei Offiziere, die kein anderer kannte, die aber das Vertrauen ihres Herrn dadurch gewonnen hatten, daß sie sich dem muselmanischen Glauben anpaßten oder zum mindesten so taten. Berichte wollten wissen, daß es sich bei diesen drei Männern um die drei verkleideten Priester gehandelt hat.

Diese fantastische Geschichte machte damals auf niemanden sonst Eindruck außer auf meinen Vetter. In seiner großsprecherischen Art schwor er, wir würden den Diamanten an seinem Finger sehen, wenn die englische Armee Seringapatam erobert habe.

Am nächsten Tage, als die Stadt nach einem furchtbaren Blutbad in unseren Besitz kam, war ich auf dem Wege zur Schatzkammer des Palastes, in die unsere Soldaten eingebrochen waren und in der sie sich bereits mit Gold und Juwelen beladen hatten, als ich folgendes erlebte:

Ich hörte ein gellendes Schreien auf der anderen Seite des Hofes und rannte dorthin, da ich fürchtete, das Plündern sei erneut ausgebrochen.

Ich kam zu einer offenen Tür und sah die Leichen zweier Inder über der Schwelle liegen. Ihren Uniformen nach schienen es mir Offiziere des Palastes zu sein.

Ein erneuter Schrei aus dem Inneren des Hauses ließ mich in einen Raum stürzen, der offenbar als eine Art Waffenkammer diente. Ein dritter Inder, tödlich verwundet, sank gerade zu Füßen eines Mannes hin, der mir den Rücken zuwandte. Bei meinem Eintritt drehte er sich um, und ich sah John Herncastle, in der einen Hand eine Fackel, in der anderen einen bluttriefenden Dolch.

Im Licht der Fackel blitzte ein Stein, der am Ende des Dolchgriffes als Knauf aufgesetzt war und wie Feuer leuchtete. Der sterbende Inder sank in die Knie, deutete auf den Dolch in Herncastle's Hand und sagte in seiner Muttersprache: »Der Mondstein wird sich an dir und an den deinen rächen!« Dann fiel er tot zur Erde.

Ehe ich eine Bewegung machen konnte, drangen die Männer, die mir über den Hof gefolgt waren, in den Raum. Mein Vetter stürzte sich ihnen wie ein Wahnsinniger entgegen. »Wirf alle hinaus!« donnerte er mich an, »und stelle einen Posten an die Tür!«

Die Leute wichen zurück, als er sich ihnen mit der Fackel und dem Dolch näherte. Ich stellte zwei verläßliche Leute meiner eigenen Kompanie als Wache. Für den Rest der Nacht sah ich meinen Vetter nicht wieder.

Da am nächsten Morgen das Plündern noch im Gange war, ließ General Baird unter Trommelschlag bekannt machen, daß jeder auf frischer Tat ertappte Dieb, wer er auch sei, hängen würde. In der Menge, die dem Verlesen der Proklamation lauschte, trafen Herncastle und ich uns wieder.

Er streckte mir wie gewöhnlich mit einem »Guten Morgen« seine Hand hin. Ich zögerte, ihm die meine zu geben, und entgegnete stattdessen: »Erst sag' mir, wie der Inder in jener Waffenkammer zu Tode kam und was seine letzten Worte bedeuten sollten, als er auf den Dolch in deiner Hand wies?«

»Der Inder wird wohl an einer tödlichen Wunde gestorben sein«, sagte Herncastle, »und was seine letzten Worte bedeuteten, weiß ich genau so wenig wie du.« Ich sah ihn scharf an und entschied mich, ihm noch eine weitere Chance zu geben.

»Mehr hast du mir nicht zu sagen?« fragte ich ihn.

»Das ist alles.«

Da drehte ich ihm den Rücken und habe seither kein Wort mehr mit ihm gesprochen.

 

Obwohl ich selber der fantastischen indischen Sage über den Edelstein keinerlei Glauben beimesse, muß ich doch, ehe ich zum Schluß komme, zugeben, daß ich in dieser Angelegenheit von einer Art Aberglauben besessen bin. Ich für meine Person glaube nicht nur an Herncastle's Schuld, ich besitze auch genug Phantasie, um des festen Glaubens zu sein, daß er eines Tages den Besitz des Diamanten bereuen wird und daß andere, denen er ihn weitergibt, eines Tages bereuen werden, ihn angenommen zu haben.

 

Die Ereignisse werden von Gabriel Betteredge, Haushofmeister in Diensten von Julia, Lady Verinder, berichtet.

Heute morgen, am 21. Mai 1850, kam der Neffe meiner Lady, Mr. Franklin Blake, an und sagte mir folgendes: »Betteredge, ich habe unseren Notar in Familienangelegenheiten aufgesucht, und unter anderem sprachen wir auch über den indischen Diamanten, der vor zwei Jahren im Hause meiner Tante in Yorkshire verloren ging. Mr. Bruff ist mit mir der Ansicht, daß im Interesse der Wahrheit die ganze Geschichte schriftlich niedergelegt werden sollte, je eher, desto besser.«

Da ich vorerst nicht merkte, worauf er hinaus wollte, und da ich es um des lieben Friedens willen immer für richtig halte, die Ansicht eines Notars zu teilen, stimmte ich zu. Mr. Franklin fuhr fort: »In der Angelegenheit des Diamanten haben bereits, wie du weißt, unschuldige Leute unter Verdächtigungen gelitten. Genau so kann auch später aus mangelnder Kenntnis der Tatsachen, an die sie sich halten könnten, das Andenken unschuldiger Leute leiden. Kein Zweifel, diese seltsame Familiengeschichte muß festgehalten werden. Und mir scheint, Betteredge, daß Mr. Bruff und ich den rechten Weg dafür gefunden haben.«

Ich verstand noch immer nicht, was ich mit der ganzen Angelegenheit zu tun hätte.

»Gewisse Ereignisse sind niederzuschreiben«, fuhr Mr. Franklin fort, »und gewisse Leute, die in diese Ereignisse verwickelt waren, wissen darüber Bescheid.

Soweit ist es ganz einfach, und unser Gedanke ist nun, daß wir alle abwechselnd die Geschichte des Mond-Diamanten schreiben, genau so weit wie unsere persönlichen Erlebnisse das erlauben – und nicht weiter. Wir müssen zunächst zeigen, wie der Diamant in die Hand meines Onkels Herncastle kam, als er vor fünfzig Jahren in Indien diente. Diesen einleitenden Bericht habe ich in Gestalt eines alten Familienschriftstückes, in dem die erforderlichen Einzelheiten durch einen Augenzeugen berichtet werden, bereits bei mir. Dann müssen wir erzählen, wie der Diamant vor zwei Jahren in das Haus meiner Tante in Yorkshire kam und nach wenig mehr als zwölf Stunden verloren ging. Keiner weiß mehr als du, Betteredge, was damals im Hause vorging. Also nimm die Feder zur Hand und fang' an!«

Bescheiden erklärte ich, dieser Aufgabe keineswegs gewachsen zu sein, während ich bei mir dachte: wenn du dich richtig anstrengst, kannst du sie wohl lösen.

Mr. Franklin las mir, wie mir schien, meine Gedanken vom Gesichte ab. Er hielt meine Bescheidenheit für falsch und bestand darauf, daß ich mich tüchtig anstrengen sollte.

Zwei Stunden sind vergangen, seit Mr. Franklin mich verlassen hat. Kaum war er aus der Tür, so ging ich zu meinem Schreibtisch, um die Geschichte zu beginnen, und dort habe ich bisher hilflos gesessen, so schlau ich sonst auch bin.

Ich bin nicht abergläubisch. Ich habe in meinem Leben eine Menge Bücher studiert. In gewisser Weise bin ich ein belesener Mann. Obwohl die Siebzig hinter mir liegen, habe ich ein sehr gutes Gedächtnis, und meine Beine halten damit Schritt. Deshalb spricht kein Ignorant, wenn ich behaupte, daß ein Buch wie Robinson Crusoe nie zuvor geschrieben wurde und nie wieder geschrieben werden wird. Viele Jahre hindurch habe ich dieses Buch erprobt, meistens in Verbindung mit einem Pfeifchen, und ich habe in ihm den Freund in der Not gefunden, bei allem was dies irdische Leben von mir verlangte. War ich schlechter Laune – Robinson Crusoe. Wenn ich Trost brauchte – Robinson Crusoe. Früher, wenn meine Frau mich ärgerte, jetzt wenn ich ein bißchen zu tief ins Glas geschaut habe – Robinson Crusoe. Ich habe sechs kräftig gebundene Robinson Crusoes zerlesen. Am letzten Geburtstag der Lady bekam ich den siebenten geschenkt, worauf ich ein Tröpfchen zuviel trank. Robinson Crusoe brachte auch das wieder in Ordnung. Er kostete vier Schillinge und sechs Pence, in blauem Ledereinband, und ein Bild war auch noch darin.

 

Ein paar Zeilen zuvor sprach ich von meiner Lady. Nie wäre der Diamant in unser Haus gekommen, wo er dann verlorenging, wenn er nicht meiner jungen Herrin als Geschenk übergeben worden wäre. Und die junge Herrin hätte dies Geschenk nie bekommen können, wäre sie nicht von meiner Lady zur Welt gebracht worden. Beginnen wir also mit Lady Julia, so dürften wir weit genug in die Vergangenheit zurückgegangen sein.

Wer die vornehme Welt kennt, hat auch von den drei schönen Misses Herncastle gehört. Miss Adelaide, Miss Caroline und Miss Julia. Diese letztere war die jüngste und nach meiner Ansicht die beste der drei und, wie man bald sehen wird, konnte ich mir wohl ein Urteil darüber erlauben.

Im Alter von fünfzehn Jahren trat ich in die Dienste des alten Lords, ihres Vaters, als Page der drei jungen Damen. Bei ihnen blieb ich, bis Miss Julia den inzwischen verstorbenen Sir John Verinder heiratete.

»Sir John«, sagte die Lady eines Tages, »ich brauche Gabriel Betteredge«. »Meine Lady«, sagte Sir John, »ich auch«. Das war seine Art ihr gegenüber, und so trat ich dann in ihren Dienst. Mir war es gleich, wohin ich ging, wenn nur meine Herrin und ich zusammen bleiben konnten.

Da sich Lady Julia für die Arbeit auf den Ländereien und Gütern interessierte, tat ich es auch – und das um so lieber, als ich selbst das siebente Kind eines kleinen Bauern war. Meine Lady ließ mich unter dem Verwalter arbeiten. Ich tat meine Pflicht so gut ich konnte, fand Anerkennung und wurde dementsprechend auch befördert. Einige Jahre später sagte Lady Julia eines Tages: »Sir John, dein Verwalter ist ein alter Esel. Gib ihm eine anständige Rente und Betteredge seine Stelle.« Am nächsten Tage sagte Sir John: »Meine Lady, der Verwalter hat eine anständige Rente und Gabriel Betteredge seine Stelle bekommen.«

Man hört bis zum Überdruß von Eheleuten, die sich nicht vertragen. Hier ist ein Beweis für das Gegenteil. Das mag einige warnen, andere ermutigen.

Doch zurück zu meiner Geschichte. Nun wird man meinen, daß mir nichts mehr fehlte. Ich hatte eine Stellung, die Vertrauen verlangte und Ehre eintrug, und ein kleines, eigenes Häuschen. Morgens mein Rundgang durch die Landwirtschaft, nachmittags Rechnungen und abends die Pfeife und Robinson Crusoe. Konnte ich mir mehr wünschen, um glücklich zu sein? Bedenkt, was Adam sich wünschte, als er im Garten Eden so allein war. Und wenn man Adam deshalb nicht tadelt, dann bitte mich auch nicht.

Das Mädchen, auf das ich ein Auge warf, versorgte mich in meinem Häuschen. Sie hieß Selina Goby. Ich teile durchaus die Ansicht des verstorbenen Mr. Cobbet, wie man seine Frau aussuchen soll. Er meint, sie müsse ihr Essen gut kauen und ihre Füße fest aufsetzen; dann wäre alles in Ordnung. Insoweit war mit Selina Goby auch alles in Ordnung, und das war ein Grund, warum ich sie heiratete. Aber es war noch ein anderer vorhanden. Selina, als Jungfrau, verlangte so und so viel in der Woche für Wohnung und Arbeit. Selina, als meine Frau, konnte nichts für die Wohnung verlangen, und ihre Arbeit hatte ich außerdem umsonst. Sparsamkeit mit einem Schuß Liebe. So trug ich es auch pflichtgemäß meiner Herrin vor und sagte: »Ich habe mir lange schon Gedanken über Selina Goby gemacht, und ich glaube, Lady Julia, es ist immer noch billiger, wenn ich sie heirate, als wenn sie mir die Wirtschaft führt.«

Meine Lady fing an zu lachen und meinte, sie wisse nicht recht, ob sie mehr über meine Sprache oder über meine Grundsätze entrüstet sein solle. Mir war so, als bereite ihr irgend etwas Spaß. Den Grund konnte ich freilich nicht finden; denn ich gehöre nicht zu den hochgeborenen Leuten und verstand nur das eine, ich durfte nun zu Selina gehen, und das tat ich auch. Und was sagte sie? Natürlich: ja.

Als es dann hieß, ich müsse für die Feierlichkeit einen neuen Anzug haben, überfielen mich bange Vorahnungen. Ich habe mich mit anderen Männern über ihre Gefühle in der gleichen, interessanten Lage unterhalten. Sie alle haben mir gestanden, daß sie etwa eine Woche vor dem großen Ereignis die ganze Angelegenheit am liebsten wieder rückgängig gemacht hätten. Ich ging für meine Person sogar noch weiter. Ich versuchte nämlich, sie rückgängig zu machen. Natürlich nicht kostenlos. Ich war zu gerecht denkend, um zu erwarten, daß meine Zukünftige mich umsonst laufen lassen würde. Ein englisches Gesetz sieht in solchem Falle ein Entgelt des Mannes an die Frau vor. Als gehorsamer Diener dieses Gesetzes und nach sorgfältiger Überlegung bot ich Selina Goby ein Federbett und 50 Schillinge an, um die Angelegenheit rückgängig zu machen. Kaum glaubhaft aber wahr: sie war so dumm, beides zurückzuweisen.

Damit war die Sache für mich erledigt. Ich kaufte den neuen Anzug so billig wie möglich und sah zu, daß auch alles andere so billig wie möglich wurde. Wir waren kein glückliches Paar, aber auch kein unglückliches. Es ging so eben. Wie es dazu kam, weiß ich nicht, aber bei allem guten Willen schienen wir einander immer im Wege zu stehen. Wenn ich die Treppe hinauf wollte, kam meine Frau herunter. Und wenn meine Frau herunter wollte, kam ich hinauf. So sieht nach meiner Erfahrung eine Ehe aus.

Nach fünfjährigen Mißverständnissen auf der Treppe gefiel es einer allwissenden Vorsehung, uns von einander zu befreien, das heißt, der Tod raffte mein Weib dahin. Ich blieb mit meinem Töchterchen Penelope zurück. Bald danach starb Sir John, und meine Lady blieb mit ihrem Töchterchen, Miss Rachel, zurück. Nach allem, was ich über Lady Julia geschrieben habe, versteht es sich von selbst, daß sie sich Penelopes annahm, und als diese alt genug war, wurde sie Miss Rachels Zofe.

Ich selbst blieb Verwalter, jahrein, jahraus. Dann trat Weihnachten 1847 eine Wende in meinem Leben ein. Damals lud sich meine Lady zu einer Tasse Tee bei mir ein. Sie stellte fest, daß ich von dem Tage an, wo ich Page im Hause des alten Lord geworden war, nun länger als 50 Jahre in ihren Diensten stände. Sie überreichte mir eine schöne gestrickte Weste, die sie selbst gearbeitet hatte, um mich im bitteren Winter warm zu halten. Ich nahm dieses herrliche Geschenk an und konnte gar nicht genug Worte finden, um meiner Herrin für die mir angetane Ehre zu danken. Zu meinem größten Erstaunen stellte es sich aber heraus, daß die Weste gar kein Ehrengeschenk sondern ein Bestechungsgeld sein sollte. Meine Lady hatte nämlich eher als ich entdeckt, daß ich alt geworden war. Nun war sie zu mir gekommen, um mich – wenn ich so sagen darf – zu beschwatzen, ich solle meine harte Arbeit als Verwalter in Wind und in Wetter aufgeben und es mir für den Rest meiner Tage als Haushofmeister im Schloß bequem machen. So gut ich konnte, kämpfte ich gegen diese unwürdige Zumutung. Aber meine Herrin kannte meine Schwäche. Sie stellte es so dar, als täte ich ihr einen Gefallen. Der Streit endete damit, daß ich mich wie ein alter Esel benahm. Ich wischte mir mit der neuen Wollweste die Augen und versprach, es mir zu überlegen.

Später rauchte ich dann ein Pfeifchen und versuchte es wieder mit Robinson Crusoe. Ehe ich mich nur 5 Minuten mit diesem erstaunlichen Buch beschäftigt hatte, stieß ich auf eine tröstliche Stelle (Seite 158), wo es hieß: »Heute lieben wir, was wir morgen hassen.« Sofort sah ich meinen Weg klar vor mir. Heute wollte ich Gutsverwalter bleiben, morgen aber – frei nach Robinson Crusoe – würde ich genau umgekehrt denken. So schlief ich denn an jenem Abend als Gutsverwalter ein und wachte am nächsten Morgen als Haushofmeister der Lady Verinder auf. Alles ganz einfach und alles mit Hilfe von Robinson Crusoe!

Meine Tochter Penelope sieht mir gerade über die Schulter. Sie findet, ich hätte wunderschön geschrieben und alles wäre auch wahr. Aber sie hat einen Einwand zu machen. Sie meint, was ich bisher zuwege gebracht hätte, sei auch nicht im mindesten das, was man von mir verlange. Ich sollte die Geschichte des Diamanten aufschreiben und hätte statt dessen bisher meine eigene erzählt.

 

An einem Mittwoch morgen wurde ich zu ungewohnter Zeit in das Damenzimmer gerufen. Wir schrieben den 24. Mai 1848.

»Gabriel«, sagte meine Lady, »ich habe überraschende Neuigkeiten. Franklin Blake ist aus dem Ausland zurückgekehrt. Er war bisher bei seinem Vater in London und kommt morgen zu uns, um bis zu Rachels Geburtstag hier zu bleiben.«

Die älteste Schwester meiner Lady war mit dem berühmten Mr. Blake verheiratet, berühmt wegen seiner großen Reichtümer und seiner vielen Prozesse. Durch wie viele Jahre er unablässig die Gerichte dieses Landes mit dem Versuch befaßte, Titel und Besitztümer eines regierenden Herzogs an sich zu bringen, weil er meinte, auf beides Anspruch zu haben, die Taschen wievieler Notare er bis zum Platzen füllte und wieviele, sonst ganz harmlose Leute er aufeinander hetzte, während sie sich darüber stritten, ob er im Recht oder Unrecht sei – das alles kann ich nicht mehr zusammenrechnen. Zwei seiner drei Kinder starben, seine Frau starb, ehe sich die Gerichte entschließen konnten, ihm die Tür zu weisen und kein Geld mehr von ihm anzunehmen. Schließlich blieb in der Sache alles, wie es gewesen war. Mr. Blake aber entschied sich für das, was er als den einzig richtigen Weg ansah, sich an seinem Vaterland für die ihm widerfahrene, schlechte Behandlung zu rächen. Er wollte den Schulen seines Vaterlandes nicht die Ehre antun, sein Kind erziehen zu dürfen. Hinzu kam, daß Mr. Blake alle Jungen, einschließlich seines eigenen, herzlich zuwider waren. So kam es, wie es kommen mußte, und der junge Franklin wurde zunächst auf die vorzüglichen Schulen Deutschlands geschickt, denen sein Vater etwas zutraute.

Nachdem er gelernt hatte, was es dort zu lernen gab, versuchte er es mit den französischen und danach mit den italienischen Schulen. Soweit ich etwas davon verstehe, machten sie aus ihm eine Art »Universalgenie«. Er schriftstellerte ein wenig, malte etwas, sang, schauspielerte, komponierte, von allem etwas – und borgte sich, wie ich vermute, überall Geld, gerade so wie er sich früher Geld von mir geborgt hatte. Als er großjährig wurde, fielen ihm 700 Pfund im Jahr aus dem Vermögen seiner Mutter zu. Das Geld lief ihm durch die Hände wie durch ein Sieb. Je mehr er davon hatte, umsomehr brauchte er. In Mr. Franklins Tasche war ein Loch, und es war einfach nicht zu stopfen. Wohin er aber auch kam, stets nahm seine lebhafte, unbekümmerte Art für ihn ein. Er lebte Gott weiß wo. Wie er selbst immer zu sagen pflegte, war seine Adresse »Postamt Europa. Wird abgeholt«. Zweimal bereits hatte er sich entschlossen, nach England zurückzukehren und uns zu besuchen. Zweimal stand diesem Entschluß irgend ein fragwürdiges, weibliches Wesen im Wege und hielt ihn von der Durchführung ab. Sein dritter Versuch war erfolgreich, wie man ja bereits aus den Worten meiner Lady weiß. Am Donnerstag, den 25. Mai, sollten wir nun zum ersten Mal sehen, was aus diesem netten Jungen geworden war. Soweit ich nachrechnen konnte, war er 25 Jahre alt.

 

Donnerstag war ein wunderbarer Sommertag, und meine Lady und Miss Rachel, die Franklin erst zum Abendessen erwarteten, fuhren zum Lunch in die Nachbarschaft.

Als sie fort waren, wollte ich gerade meinen Korbstuhl in den hinteren Hof tragen, als ich ein Geräusch wie das leise Schlagen einer Trommel hörte. Offenbar kam es von der Terrasse vor dem Schloß her.

Als ich um das Haus bog, sah ich drei kaffeebraune Inder in weißen Anzügen, die zum Schloß hinaufsahen. Sie trugen kleine Handtrommeln. Hinter ihnen stand ein zart aussehender, blonder Knabe – offenbar ein Engländer – und trug einen Sack. Ich hielt die Burschen für wandernde Gaukler und vermutete, daß jenes Kind das Handwerkszeug ihres Berufes in seinem Sack trüge. Einer der drei sprach mich sogleich auf englisch an und bat um die Erlaubnis, Kunststücke in Gegenwart der Dame des Hauses vorführen zu dürfen. Ich erwiderte ihnen, die Dame des Hauses sei nicht da, und wies ihn und seine Genossen fort. Er machte eine formvollendete Verbeugung, und alle verschwanden. Darauf kehrte ich zu meinem Korbstuhl zurück, setzte mich in die Sonne und, um die Wahrheit zu sagen, ich fiel nicht gerade in Schlummer, aber immerhin in das, was damit sehr verwandt ist.

Meine Tochter Penelope schreckte mich wieder auf, indem sie auf mich zurannte, als brenne das Haus. Und was wollte sie? Die drei Inder sollten sofort verhaftet werden; denn sie wüßten, wer aus London zu Besuch käme, und sie führten gegen Mr. Franklin Böses im Schilde.

Diese Neuigkeit machte mich völlig wach. Penelope war gerade beim Pförtnerhaus gewesen, wo sie ein Schwätzchen mit der Tochter des Pförtners gehabt hatte. Dort hatten die beiden Mädchen die Inder fortgehen sehen, nachdem ich sie abgewiesen hatte. Der kleine Junge war hinterhergetrippelt. Irgendwie hatten die beiden es sich nun in den Kopf gesetzt, daß das Kind von den Fremden schlecht behandelt würde. Wahrscheinlich nur, weil es so hübsch und zart aussah. Jedenfalls hatten sie sich innen an der Hecke entlanggeschlichen, die unseren Besitz von der Straße trennt, und von dort aus das Verhalten der Fremden beobachtet. Folgendes war geschehen: die Männer sahen sich zunächst vorsichtig um und versicherten sich, daß sie allein waren. Dann starrten sie scharf in die Richtung unseres Hauses. Sie schnatterten durcheinander, stritten sich in ihrer eigenen Sprache und sahen sich an, als ob sie sich über irgend etwas nicht im klaren wären. Daraufhin wandten sie sich an den kleinen Jungen, als solle er ihnen helfen, und, schließlich sagte der Anführer, der englisch sprach, zu dem Kinde: »Streck mal die Hand aus!«

Das Kerlchen tat unwillig wie ihm geheißen wurde, worauf der Inder eine Flasche aus seinem Gewände zog und daraus eine schwarze Flüssigkeit in die Handfläche des Kindes goß. Er berührte nun die Stirn des Jungen und machte über seinem Kopf irgendwelche Zeichen in die Luft. Dann sagte er »Schau!« Der Junge wurde steif wie eine Statue und starrte auf die Tinte in seiner hohlen Hand.

Soweit erschien mir das, was Penelope berichtet hatte, lediglich Gaukelei und sinnlose Tintenverschwendung zu sein. Die Müdigkeit überkam mich wieder, als plötzlich die nächsten Worte Penelopes mich aufschreckten.

Die Inder sahen wiederum vorsichtig um sich, und dann sagte der Anführer zu dem Kinde: »Du siehst den englischen Herren, der aus der Fremde kommt.«

»Ich sehe ihn.«

»Wird der englische Herr heute auf dieser Straße und auf keiner anderen zu jenem Hause kommen?«

Der Junge bejahte, indem er den Wortlaut der an ihn gerichteten Frage wiederholte.

Nach einer kurzen Pause stellte der Inder eine zweite Frage. »Hat der englische Herr ›ES‹ bei sich?«

Der Junge zögerte erst ein wenig und bejahte dann.

Nun kam die dritte und letzte Frage. »Wird der englische Herr gegen Abend hier eintreffen, wie er es versprach?«

Der Junge erwiderte: »Ich weiß es nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich bin müde. In meinem Kopf schwimmt es. Alles ist so wirr. Ich kann heute nichts mehr sehen.«

Das war das Ende der Befragung. Der Anführer machte wiederum Zeichen über dem Kopf des Kindes, blies gegen seine Stirn und weckte es auf diese Weise auf. Daraufhin setzten sie alle ihren Weg zur Stadt fort, und die Mädchen sahen sie nicht wieder.

»Vater!« sagte Penelope und rang die Hände. »Was bedeutet dieses ›ES‹?«

Ich erwiderte: »Wir wollen Mr. Franklin fragen, mein Kind, wenn du bis dahin warten kannst.«

Zu meiner größten Überraschung nahm späterhin Mr. Franklin, genau wie Penelope es getan hatte, die Angelegenheit tatsächlich ernst. Wie ernst, das wird man verstehen, wenn ich sage, daß nach Franklins Ansicht mit diesem ›ES‹ der Monddiamant gemeint war.

 

Ehe ich noch mein Nickerchen fortsetzen konnte, stürzte schon wieder eins der Mädchen auf mich zu. Diesmal war es Nancy, das Küchenmädchen. Mein Stuhl stand genau in ihrem Wege, und ich bemerkte ihren mürrischen Gesichtsausdruck, als sie mich bat, sie vorbeizulassen. Durch meine Stellung im Hause bin ich für die Bedienten verantwortlich, und aus Grundsatz erlaube ich es niemals, daß irgendwer ein mürrisches Gesicht macht, ohne daß ich die Ursachen dafür weiß.

»Warum läufst du von deinem Essen weg, Nancy? Was ist schief gegangen?«

Nancy versuchte, sich ohne Antwort an mir vorbeizudrücken. Ich stand auf und nahm sie beim Ohrläppchen. Sie ist ein nettes, fülliges junges Ding, und in der Regel zeige ich auf diese Weise, daß ich etwas für ein junges Mädchen übrig habe. So fragte ich noch einmal: »Was ist denn nun schief gegangen?«

»Rosanna kommt wieder zu spät zum Essen«, sagte Nancy, »und nun soll ich sie holen. Immer muß ich die schwere Arbeit in diesem Hause tun. Lassen Sie mich in Frieden, Mr. Betteredge.«

Rosanna war unser zweites Hausmädchen. Es kam mir in den Sinn, daß ich im Augenblick nichts Besonderes vorhatte und ebensogut selber Rosanna holen konnte. Dabei würde ich ihr dann gleich einen Denkzettel verabreichen, in Zukunft pünktlicher zu sein. Und mir würde sie das bestimmt nicht übel nehmen.

»Wo ist Rosanna?«

»Am Strand natürlich«, sagte Nancy und wies mit dem Kopf in diese Richtung. »Heute morgen ist sie schon wieder ohnmächtig geworden und bat, an die frische Luft gehen zu dürfen. Ich kann sie nicht leiden!«

»Nun geh mal zum Essen, mein Kind«, sagte ich. »Ich kann sie sehr wohl leiden und werde sie holen.« Nancy sah erfreut aus. Wenn sie erfreut aussieht, sieht sie hübsch aus, und wenn sie hübsch aussieht, fasse ich sie gern einmal unters Kinn. Das ist keine Unmoral, sondern eine Angewohnheit. Nun gut, ich nahm meinen Stock und ging zum Strand.

Es tut mir leid, aber ich muß noch einmal einhalten. Die Geschichte des Strandes und die Rosannas muß erzählt werden, weil beide Geschichten eng mit dem Diamanten verknüpft sind. Bald werden wir dann aber auch, das verspreche ich, mitten im dichtesten Geheimnis sein.

Rosanna war der einzige neue Dienstbote im Hause. Vor etwa 4 Monaten war meine Lady in London gewesen und hatte eine Besserungsanstalt besucht, die auf Abwege geratene Mädchen davor bewahren wollte, nach der Entlassung aus dem Gefängnis rückfällig zu werden. Die Vorsteherin machte sie auf ein Mädchen aufmerksam, das Rosanna Spearman hieß, und erzählte ihr eine sehr traurige Geschichte, die ich lieber nicht wiederhole. Rosanna war eine Diebin gewesen. Da sie aber nicht zu denen gehörte, die erst große Aktiengesellschaften in der City gründen, um dann Tausende zu bestehlen, sondern da sie nur einige wenige bestohlen hatte, kam sie mit dem Gesetz in Konflikt. Dem Gesetz aber folgte das Gefängnis und die Besserungsanstalt. Die Ansicht der Vorsteherin über Rosanna ging dahin, daß das Mädchen außerordentlich tüchtig wäre und nur eine Gelegenheit brauche, um sich des Vertrauens würdig zu zeigen, falls ihr dieses von einer christlich denkenden Dame entgegengebracht würde. Meine Lady – und sie war wirklich christlich denkend – erwiderte darauf: »Rosanna Spearman soll diese Gelegenheit in meinen Diensten finden.«

Eine Woche später kam das Mädchen zu uns. Keine Seele außer Miss Rachel und mir erfuhr die Geschichte.

Obwohl Rosanna keineswegs kräftig war und gelegentlich unter den bereits erwähnten Ohnmachtsanfällen litt, arbeitete sie, ohne zu klagen, und tat ihre Arbeit sorgfältig und gut. Und doch gelang es ihr nicht, Freundschaft mit den anderen Mädchen zu schließen. Allenfalls noch mit meiner Tochter Penelope, die immer freundlich zu Rosanna war, ihr aber auch niemals näher kam.

Ich weiß nicht so recht, wodurch das Mädchen die anderen abstieß. Sicherlich konnte ihre Schönheit sie nicht neidisch machen. Sie war die unscheinbarste im ganzen Haus und hatte dazu noch das Unglück, einen Buckel zu haben. Mir scheint, daß die Dienstboten ihre Schweigsamkeit und Verschlossenheit besonders übel nahmen. Sie las oder arbeitete in ihren Mußestunden, während die anderen klatschten. Hatte sie Ausgang, so ging sie fast immer allein fort. Sie zankte sich nie, sie war nie beleidigt, sie hielt nur hartnäckig und höflich einen gewissen Abstand zwischen sich und den anderen. Dazu kam noch, daß sie irgendetwas an sich hatte, was nicht ganz zu einem Dienstboten paßte, eher zu einer Lady, so unscheinbar sie auch aussah. Vielleicht lag es an ihrer Stimme, vielleicht an ihrem Gesicht. Ich kann nur sagen, daß gleich am ersten Tage die anderen Mädchen dies gewisse Etwas übel nahmen und behaupteten, Rosanna spiele sich auf. Das war aber ganz und garnicht der Fall.

 

Unser Haus liegt hoch an der Küste von Yorkshire, ganz nahe am Meer. Es gibt wundervolle Spaziergänge nach allen Richtungen, mit Ausnahme einer einzigen. Der Weg, den ich meine, ist entsetzlich. Das muß ich zugeben. Er führt eine Viertelmeile durch eine melancholische Kiefernpflanzung und zwischen niedrigen Dünen hindurch nach der einsamsten und häßlichsten Bucht an der Küste. Dort laufen die Dünen zum Meer hinunter und enden in zwei felsigen Vorsprüngen, die dann im Wasser verschwinden. Sie werden Nord- und Südspitze genannt. Zwischen den beiden liegt der gefährlichste Flugsand an der Küste Yorkshires. Bei Flutwechsel geht irgendetwas in unbekannten Tiefen vor, was die ganze Oberfläche des Flugsandes beben und erzittern läßt. Es ist seltsam anzusehen und hat der Bucht bei den Leuten dieser Gegend den Namen ›Zitternde Sände‹ eingetragen. Eine große Sandbank, etwa eine kalbe Meile vom Strand entfernt und nahe der Mündung der Bucht, bricht die Gewalt der aus dem offenen Meer hereinkommenden Wogen. Die Wasser fluten dann ruhig und in sanfter Dünung in die Bucht hinein und bedecken lautlos den Sand.

Eine einsame und schauerliche Stätte. Kein Boot wagt sich je in diese Bucht. Die Kinder aus Cobb's Hole, unserm Fischerdorf, kommen nie hierher zum Spielen. Mir scheint, selbst die Vögel fliegen im weiten Bogen um die ›Zitternden Sände‹. Es ist kaum zu glauben, daß ein junges Mädchen, das unter Dutzenden netter Spaziergänge wählen kann, diesen Platz bevorzugt, um hier allein zu sitzen, zu arbeiten und zu lesen. Und doch war es Rosannas Lieblingsplatz, soweit sie nicht gelegentlich nach Cobb's Hole ging, um die einzige Freundin zu besuchen, die sie in der Nähe besaß. Von dieser werde ich später erzählen.

Als ich durch die Dünen zum Strande kam, saß Rosanna dort und blickte auf den Flugsand und aufs Meer. Sie hatte ihren kleinen Strohhut auf und trug ihren schlichten grauen Mantel, der so gut es ging, die entstellte Schulter verdecken sollte. Sie fuhr hoch, als ich neben sie trat, und wandte den Kopf weg. Sie weinte.

»Kind, sag mir mal«, fragte ich, »weswegen weinst du?«

»Wegen der Jahre, die hinter mir liegen, Mr. Betteredge«, sagte Rosanna ruhig. »Meine Vergangenheit überfällt mich bisweilen.«

»Aber mein liebes Mädchen«, erwiderte ich, »deine Vergangenheit ist doch ausgelöscht. Warum kannst du sie denn nicht vergessen?«

Wir schwiegen eine Weile. Dann mahnte ich: »Du kommst zu spät zum Essen, Rosanna, und ich will dich holen.«

»Sie, Mr. Betteredge?«

»Nancy sollte es eigentlich tun, aber ich glaube, mein Kind, du läßt dich lieber von mir als von ihr ausschelten.«

»Sie sind sehr freundlich Mr. Betteredge, aber ich möchte heute kein Essen. Lassen Sie mich doch noch etwas hier.«

»Warum bist du so gern hier?«

»Irgend etwas zieht mich hierher«, sagte das Mädchen und malte mit dem Finger Bilder in den Sand. »Ich wollte ja nicht mehr hierherkommen und kann doch nicht fortbleiben. Bisweilen« – sie sprach jetzt ganz leise, als ob sie vor ihren eigenen Gedanken erschrocken sei – »bisweilen, Mr. Betteredge, ist mir so, als warte hier mein Grab auf mich.«

»Es gibt Hammelbraten und Pudding«, sagte ich. »Nun geh schnell zum Essen. Düstere Gedanken kommen, wenn man mit leerem Magen grübelt, Rosanna.« Ich sprach streng, da ich als alter Mann böse darüber war, daß ein junges Mädchen von 25 Jahren von ihrem Ende sprach.

Sie schien mich garnicht zu hören, legte die Hand auf meine Schulter und hielt mich an ihrer Seite fest.

»Ich glaube, dieser Platz hier hat mich verzaubert«, sagte sie. »Nacht für Nacht träume ich davon. Ich denke daran, wenn ich bei meiner Stickarbeit sitze. Sie wissen, daß ich dankbar bin, Mr. Betteredge. Sie wissen, ich versuche mir Ihre Freundlichkeit und das Vertrauen, das Lady Julia in mich setzt, zu verdienen. Aber bisweilen frage ich mich, ob das Leben hier nicht zu ruhig und zu gut für ein Mädchen wie mich ist. Ich fühle mich einsam unter den anderen Dienstboten. Ich weiß, daß ich nicht so bin wie sie. Meine Lady weiß es nicht, und die Vorsteherin in der Besserungsanstalt wußte es nicht, was für ein entsetzlicher Vorwurf anständige Menschen an sich schon für ein Mädchen wie mich sein können. Schelten Sie mich nicht. Seien Sie gut. Ich tue doch meine Arbeit, nicht wahr? Bitte sagen Sie Lady Julia nicht, ich sei unzufrieden. Ich bin es nicht. Nur mein Herz ist bisweilen unruhig. Das ist alles.«

Die Flut wechselte gerade, und der grauenhafte Sand fing an zu zittern. Die weite braune Oberfläche hob sich langsam. Dann kräuselte sie sich und erbebte.

»Wissen Sie, wie es mit immer vorkommt?« sagte Rosanna. »Es sieht so aus, als ob darunter Hunderte Erstickter lägen, als ob sie alle kämpften, an die Oberfläche zu kommen, und doch alle weiter und weiter in die furchtbaren Tiefen sänken. Werfen Sie einmal einen Stein, Mr. Betteredge. Wir wollen sehen, wie der Sand ihn verschluckt.«

Das war ein durch und durch ungesundes Geschwätz; ein leerer Magen, der auf ein ruheloses Herz drückte. Eine Antwort, und zwar im Interesse des Mädchens eine recht scharfe, lag mir schon auf der Zunge, als ich plötzlich innehielt. Von den Dünen her hörte ich eine Stimme meinen Namen rufen. »Betteredge! Wo bist du?« »Hier!« rief ich zurück, ohne die mindeste Ahnung zu haben, wer mich eigentlich gerufen hatte. Rosanna sprang auf und drehte sich nach der Stimme um. Gerade wollte ich mich auch erheben, als mich eine plötzliche Veränderung im Gesicht des Mädchens betroffen innehalten ließ.

Es war von einem wunderschönen Rot überzogen, das ich nie zuvor an ihr gesehen hatte. Etwas wie eine sprachlose und atemberaubende Überraschung hatte sie ergriffen. »Wer ist es denn?«

Rosanna gab mir meine Frage zurück und sagte ganz leise, wie zu sich selbst: »Oh! Wer ist es denn?«

Ich drehte mich um. Aus den Dünen sah ich einen jungen Mann herunterkommen, mit einem wundervollen rehfarbenen Anzug bekleidet, eine Rose im Knopfloch und ein Lächeln auf dem Gesicht, so liebenswert, daß ich mich nicht gewundert hätte, wenn selbst die ›Zitternden Sände‹ als Antwort gelächelt hätten. Ehe ich noch aufstehen konnte, warf er sich neben mich in den Sand, legte den Arm um meinen Nacken und drückte mich so heftig an sich, daß mir fast der Atem wegblieb.

»Guter, alter Betteredge!« sagte er. »Ich schulde dir 7 Schillinge und 6 Pence. Jetzt weißt du doch, wer ich bin.«

Vier reichliche Stunden, ehe wir ihn erwartet hatten, war Franklin Blake angekommen. Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, bemerkte ich, wie Franklin überrascht von mir zu Rosanna hinsah. Das Rot auf ihrem Gesicht hatte sich noch vertieft. Dann drehte sie sich um und stürzte in einer Verwirrung, die ich mir garnicht erklären konnte, davon. Sie machte weder vor dem jungen Herrn einen Knicks, noch sagte sie etwas zu mir. Sie benahm sich ganz anders als sonst; denn für gewöhnlich konnte man sich einen höflicheren Dienstboten garnicht wünschen.

»Ein seltsames Mädchen«, sagte Mr. Franklin. Aber weder er mit all seiner überlegenen Erziehung im Auslande, noch ich in meinem hohen Alter, bei meiner Lebenserfahrung und meinem natürlichen Mutterwitz hatten auch nur die leiseste Ahnung, was Rosannas unverständliches Benehmen in Wirklichkeit bedeutete.

 

Als wir allein waren, machte ich einen dritten Versuch aufzustehen. Mr. Franklin hielt mich fest und sagte: »Dieser schauerliche Ort hat wenigstens einen Vorteil. Wir sind ungestört. Also bleib, Betteredge. Ich habe dir etwas zu sagen.«

»Willkommen in der alten Heimat, Mr. Franklin«, fing ich an.

»Ich hatte einen sehr triftigen Grund, früher zu kommen, als ich erwartet wurde«, unterbrach mich Franklin. »Ich vermute, Betteredge, daß man mir während der letzten drei oder vier Tage in London gefolgt ist und mich beschattet hat. Ich bin mit dem Morgenzug statt mit dem am Nachmittag gereist, weil ich einem dunkelhäutigen Mann entgehen wollte.«

Diese Worte überraschten mich aufs äußerste. Blitzartig brachten sie die Erinnerung an die drei Gaukler zurück. Und zugleich fiel mir Penelopes Ansicht ein, daß diese Männer gegen Franklin Blake Böses im Schilde führten.

»Wer beschattet Sie, Sir, und warum?«

»Erzähle mir einmal von den drei Indern, die heute beim Schloß waren«, sagte Mr. Franklin, ohne meine Frage zu beachten. »Es ist immerhin möglich, Betteredge, daß mein Unbekannter und deine drei Gaukler sich am Ende als Stücke des gleichen Legespiels herausstellen.«

»Woher wissen Sie denn etwas über die Gaukler, Sir?« fragte ich.

»Ich habe Penelope beim Hause getroffen, und sie hat mir davon erzählt. Was taten die Gaukler?«

Ich war ein wenig böse auf meine Tochter, weil sie mich nun zwang, ihre törichte Geschichte noch einmal zu erzählen. Während ich dies tat, verlor Franklin plötzlich seine Fröhlichkeit. Er zog die Augenbrauen zusammen und kraulte seinen Bart.

»›Hat der englische Herr ›ES‹ bei sich?‹ Ich nehme an, das ›ES‹ bedeutet dieses hier.« Damit zog Franklin ein kleines, versiegeltes Päckchen aus der Tasche. »Dieses hier ist aber der berühmte Diamant meines Onkels Herncastle, Betteredge.«

»Guter Gott, Sir!« entfuhr es mir. »Wie kommen Sie in den Besitz des Diamanten, der dem bösen Obersten gehörte?«

»Im Testament des bösen Obersten wurde der Diamant meiner Kusine Rachel als Geburtstagsgeschenk vermacht«, sagte Franklin Blake, »und mein Vater, der Testamentsvollstrecker des bösen Obersten, gab ihn mir, um ihn hierher zu bringen.«

»Der Diamant des Obersten Miss Rachel vermacht? Und Ihr Vater, Sir, der Testamentsvollstrecker des Obersten? Ich hätte jede Wette gemacht, Mr. Franklin, daß Ihr Vater den Obersten nicht mit einer Zange angefaßt haben würde!«

»Harte Worte, Betteredge! Was liegt gegen den Obersten vor? Er gehörte deiner Generation an und nicht meiner. Erzähle einmal, was du von ihm weißt, und ich werde dir erzählen, wie es dazu kam, daß mein Vater sein Testamentsvollstrecker wurde, und auch noch anderes. Ich habe in London über meinen Onkel Herncastle und seinen Diamanten einiges herausgefunden, was mir ganz und garnicht gefallen will, und du sollst mir das jetzt bestätigen. Gerade eben hast du ihn den »bösen Obersten« genannt. Grabe einmal in deiner Erinnerung nach, alter Freund, und sage mir den Grund!«

Da ich sah, daß er es ernst meinte, erzählte ich ihm alles. Ich erwähnte schon einmal den Vater meiner Lady. Er hatte fünf Kinder. Zunächst zwei Söhne. Dann, nachdem eine lange Zeit nichts erfolgt war, kamen die drei jungen Damen schnell nacheinander auf die Welt, so schnell wie es nur irgend möglich war. Der älteste der beiden Söhne, Arthur, erbte den Titel und die Ländereien. Der zweite, der Honourable John, erbte von einem Verwandten ein nettes Vermögen und ging in die Armee.

Es ist meine ehrliche Überzeugung, daß er einer der größten Schurken war, der je gelebt hat. Er begann seine Laufbahn zunächst in der Garde. Ehe er noch 22 Jahre alt war, mußte er sie aber aus irgendeinem Grunde verlassen. Man nimmt die Dinge sehr genau in der Armee, und man nahm sie zu genau für den Honourable John. Er ging dann nach Indien, um festzustellen, ob man sie dort ebenso genau nahm, und um sich ein wenig an der Front aufzuhalten. In puncto Tapferkeit – daß muß man sagen – war er eine Mischung von Bulldogge und Kampfhahn mit einem Schuß von »Wilden« dazwischen. Er nahm an der Eroberung von Seringapatam teil, wurde bald danach in ein anderes Regiment versetzt und schließlich in ein drittes. Dort bekam er zugleich mit seiner letzten Beförderung zum Oberstleutnant einen Sonnenstich und kehrte nach England zurück.

Damals war er wegen seines schlechten Charakters so berüchtigt, daß seine ganze Familie ihm das Haus verbot, vorweg meine Lady, die gerade geheiratet hatte und rund heraus erklärte, ihr Bruder dürfe sie nicht besuchen. Es genügt, wenn ich in diesem Zusammenhang den Schandfleck mit jenem Diamanten erwähne.

Angeblich war das Juwel auf eine Weise in seinen Besitz gekommen, zu der selbst er bei all seiner sonstigen Verwegenheit sich nicht zu bekennen wagte. Niemals versuchte er ihn zu verkaufen, niemals schenkte er ihn werter, niemals zeigte er ihn auch nur einer lebenden Seele. Einige meinten, er fürchte Schwierigkeiten mit den Militärbehörden. Andere Leute, die das wahre Wesen dieses Mannes völlig verkannten, glaubten, er fürchte für sein Leben, wenn er den Diamanten sehen ließ. Sicher war er nicht feige. Tatsächlich aber wurde sein Leben zweimal in Indien bedroht und zwar – wie man steif und fest glaubte – wegen des Monddiamanten. Als er nach England zurückkam und keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben wollte, schob man auch das wieder auf den Diamanten. Das Geheimnis seines Lebens stand dem Obersten überall im Wege und machte ihn zum Ausgestoßenen in seiner Familie. Die Männer nahmen ihn nicht in ihre Klubs auf, und die Frauen, die er heiraten wollte, wiesen ihn ab. Freunde und Verwandte waren auf einmal zu kurzsichtig, um ihn auf der Straße zu erkennen.

Ein anderer hätte unter den gleichen Schwierigkeiten gewiß versucht, sich die Welt günstiger zu stimmen. Es war aber nicht die Art des Honourable John, nachzugeben, selbst wenn er im Unrecht war und alle seine Standesgenossen sich gegen ihn wandten. Er hatte den Diamanten in Indien behalten und kalten Blutes die Gefahr einer Ermordung verachtet. Er behielt den Diamanten in England und verachtete kalten Blutes die öffentliche Meinung.

Ich selbst habe ihn nur ein einziges Mal nach seiner Rückkehr gesehen. Vor zwei Jahren etwa suchte der Oberst unerwartet meine Lady in London auf. Es war eineinhalb Jahre vor seinem Tode. Er kam am Abend von Miss Rachels Geburtstag, am Abend des 21. Juni. Wie üblich fand zu Ehren des Tages eine Gesellschaft statt. Einer der Diener sagte mir, ein Herr wünsche mich zu sprechen. Ich ging in die Halle und traf dort den Obersten, verlebt, verbraucht, schäbig und gealtert; dabei aber genau so unbeherrscht und bösartig wie immer.

»Gehen Sie zu meiner Schwester hinauf«, sagte er, »und melden Sie, ich möchte meiner Nichte zum Geburtstag gratulieren.«

Zuvor hatte er schon brieflich verschiedene Versuche gemacht, sich mit meiner Lady auszusöhnen. Nach meiner festen Überzeugung nur, um sie zu ärgern. Aber dies war das erste Mal, daß er in ihr Haus kam. Es lag mir auf der Zunge, ihm zu sagen, meine Herrin habe eine Gesellschaft. Aber sein verteufelter Blick schüchterte mich ein.

Meine Lady hatte ein klein wenig von dem berüchtigten Familientemperament. »Sage Oberst Herncastle«, wies sie mich an, »Miss Verinder habe keine Zeit, und ich wünschte nicht, ihn zu sehen.«

Ich versuchte noch, eine freundlichere Antwort von ihr zu erhalten. Völlig zwecklos. Das Familientemperament wandte sich sofort gegen mich. »Du weißt, Betteredge, daß ich dich immer um deinen Rat bitte, wenn ich ihn brauche. Jetzt bitte ich dich nicht darum.«

So ging ich mit meiner Antwort die Treppe hinunter, nahm mir aber die Freiheit, eine neue und verbesserte Ausgabe eigener Erfindung zu übermitteln. Und diese sah so aus: »Meine Lady und Miss Rachel bedauern, aber sie haben leider keine Zeit, Herr Oberst. Sie bitten um Entschuldigung, daß sie nicht die Ehre haben werden, mit Ihnen zu sprechen.«

Er lachte, aber nicht wie andere Leute von innen heraus, sondern in sich hinein. Ein leises, kicherndes, scheußliches und bösartiges Lachen. »Vielen Dank, Betteredge. Ich werde den Geburtstag meiner Nichte nicht vergessen.« Darauf machte er kehrt und verließ das Haus.

Der nächste Geburtstag kam. Wir hörten, er sei krank und bettlägerig. Sechs Monate später, also sechs Monate vor dem heutigen Tage, kam der Brief eines Geistlichen an meine Lady. Er brachte zwei sehr erfreuliche Familiennachrichten. Der Oberst habe auf dem Sterbebett seiner Schwester vergeben, und sein Ende sei erbaulich gewesen.

Das war im großen und ganzen, was ich Mr. Franklin zu erzählen hatte.

»Nun hast du dein Sprüchlein hergebetet, Betteredge. Jetzt bin ich an der Reihe. So wie ich die Dinge beurteile, hängen drei sehr ernste Fragen an dem Geburtstagsgeschenk meiner Kusine Rachel.

Erstens: Wurde in Indien gegen den Obersten ein Komplott geschmiedet, um den Diamanten wiederzuerlangen?

Zweitens: Folgten einige der Verschwörer dem Obersten, als er nach England zurückkehrte?

Drittens: Wußte der Oberst, daß die Verschwörer ihm oder dem Diamanten gefolgt waren?

Mit anderen Worten: Hat er also wissentlich seiner Schwester auf dem Wege über seine ahnungslose Nichte ein Vermächtnis von Sorgen und Gefahren hinterlassen? Darauf will ich hinaus, Betteredge. Aber ich will dir keinen Schreck einjagen.«

Er hatte gut reden. Er hatte mich wirklich erschreckt und wie immer in solchen Fällen, fühlte ich es im Magen. Im Vertrauen will ich es dem Leser sagen, wonach mir zu Mute war: nach ein paar Zügen aus meiner Pfeife und nach Robinson Crusoe.

 

Ich behielt aber meine Gefühle für mich und bat nur Mr. Franklin höflich, fortzufahren.

Er tat es mit folgenden Worten: »Du erinnerst dich an die Zeit, als mein Vater versuchte, seinen Anspruch auf den Titel jenes unseligen Herzogtums geltend zu machen. Damals kehrte mein Onkel Herncastle zurück, und mein Vater fand heraus, daß sein Schwager gewisse Schriftstücke besaß, die ihm vielleicht bei seinem Prozeß dienlich sein konnten. Er besuchte den Obersten unter dem Vorwand, ihn in England willkommen zu heißen. Aber dieser ließ sich nicht täuschen. ›Du willst etwas von mir‹, sagte er, ›du hättest sonst nie durch diesen Besuch deinen guten Ruf aufs Spiel gesetzt.‹

Mein Vater gab sogleich zu, daß er die bewußten Schriftstücke haben wolle. Der Oberst bat um einen Tag Bedenkzeit. Dann kam seine Antwort in Gestalt eines sehr bemerkenswerten Briefes, den mir mein Freund, der Notar, zeigte. Darin hieß es zunächst: ›Ich möchte von Dir auch etwas haben und schlage einen Austausch vor. Mit anderen Worten, wir wollen uns gegenseitig einen Freundschaftsdienst erweisen. Das Kriegsglück hat mich in den Besitz eines der größten Diamanten der Welt gebracht. Jetzt sehe ich mich jedoch zu der Annahme veranlaßt, daß weder ich noch mein wertvolles Juwel in irgendeinem Haus oder an irgendeiner Stelle unseres Erdteils sicher sind, solange beide zusammen sich dort befinden. Unter diesen beunruhigenden Umständen habe ich beschlossen, meinen Diamanten einem anderen zu übergeben. Der Betreffende soll dabei keinerlei Gefahr laufen. Er kann den wertvollen Stein in das Safe eines Bankiers oder Juweliers geben. Seine persönliche Verantwortung in dieser Angelegenheit ist vorwiegend passiver Art. Er soll nämlich – entweder persönlich oder durch einen vertrauenswürdigen Bevollmächtigten – an bestimmten, vereinbarten Tagen und unter einer vereinbarten Adresse einmal im Jahr eine Nachricht von mir in Empfang nehmen. Diese hat lediglich die Tatsache zu konstatieren, daß ich noch am Leben bin. Geht das bewußte Datum vorüber, ohne daß die Nachricht kommt, so soll mein Schweigen als sicheres Zeichen dafür gelten, daß ich ermordet bin. In diesem Fall – aber auch nur in diesem – sollen bestimmte versiegelte Anweisungen, die sich mit der Verfügung über den Diamanten befassen und mit diesem zusammen aufbewahrt werden, geöffnet und unbedingt befolgt werden. Nimmst Du diesen Auftrag an, so stehen Dir dafür die Schriftstücke zur Verfügung, die Du für den Prozeß brauchst.‹

Das war der Brief.

Mein Vater fand zwar die ganze Angelegenheit lächerlich, war schließlich aber bereit, die ihm angetragene Verantwortung zu übernehmen. Er tat dies um so bereitwilliger, weil sie ihm keinerlei Mühe machte. So wanderten der Diamant und die versiegelte Anweisung ins Safe der Bank, und die Briefe des Obersten, die in bestimmten Zeitabständen mitteilten, daß er noch am Leben sei, wurden von dem Bevollmächtigten meines Vaters, unserm Familiennotar Mr. Bruff, in Empfang genommen und geöffnet. Mein Vater erhielt sie, sah aber seinen Schwager niemals wieder. Jahr für Jahr kamen an den vereinbarten Tagen die vereinbarten Briefe. Sie hatten alle ungefähr den gleichen, kurzen und geschäftsmäßigen Wortlaut: ›Sir. Ich bestätige hierdurch, daß ich noch am Leben bin. Wegen des Diamanten ist nichts zu veranlassen. John Herncastle.‹ Vor etwas sechs bis acht Monaten kam zum ersten Mal ein anderer Brief. Diesmal hieß es: ›Sir. Nach Ansicht des Arztes werde ich sterben. Kommen Sie und helfen Sie mir bei meinem Testament.‹ Mr. Bruff entsprach der Bitte und fand den Obersten in einem kleinen Vororthäuschen, wo er seit seiner Rückkehr nach England ganz für sich gelebt hatte. Hunde, Katzen und Vögel; außer der Aufwartung und dem Arzt jedoch kein menschliches Wesen. Das Testament war eine sehr einfache Angelegenheit. Der Oberst hatte den größten Teil seines Vermögens bei chemischen Versuchen vertan. Sein Testament enthielt drei Klauseln. Die erste sorgte für die Sicherstellung und den Unterhalt seiner Tiere. Die zweite begründete einen Lehrstuhl für experimentelle Chemie an einer Universität im Norden des Landes. Die dritte aber vermachte den Monddiamanten seiner Nichte als Geburtstagsgeschenk unter der Bedingung, daß mein Vater die Vollstreckung des Testamentes übernähme. Zunächst weigerte er sich. Bei näherer Überlegung jedoch gab er nach, teils weil er wußte, daß dieses Amt mit keiner Mühe verbunden war, teils weil Mr. Bruff ihm in Rachels Interesse zu bedenken gab, daß der Diamant schließlich doch etwas wert sein könne.«

»Gab der Oberst irgend einen Grund an, warum er gerade Miss Rachel den Diamanten vermachte?« forschte ich.

»Das tat er. Er schrieb ihn sogar in sein Testament hinein. Ich habe einen Auszug bei mir, den ich dir gleich zeigen werde. Nun sei aber nicht wieder so fahrig, Betteredge. Jedes Ding zu seiner Zeit. Du hast nun vom Testament des Obersten gehört. Jetzt sollst du erfahren, was sich nach seinem Tode zutrug. Nach dem Gesetz war es nötig, den Diamanten taxieren zu lassen, ehe das Testament rechtskräftig werden konnte. Alle Juweliere, die befragt wurden, bestätigten sofort die Behauptung des Obersten, daß er einen der größten Diamanten der Welt besitze. Es handelte sich um ein Phänomen auf dem Diamantenmarkt. Die Farbe war einzigartig schön, doch mitten in dem Stein war eine Blase. Aber selbst unter Berücksichtigung dieses Fehlers ging die niedrigste Schätzung seines Wertes auf 20 000 Pfund. Stelle dir nur das Erstaunen meines Vaters vor. Nun interessierte ihn die Angelegenheit auf einmal, und er sah sich dadurch veranlaßt, die versiegelte Anweisung zu öffnen, die zusammen mit dem Diamanten deponiert war. Mit den anderen Schriftstücken hat mir Mr. Bruff auch dieses Dokument gezeigt, und nach meiner Ansicht kann man aus ihm Schlüsse auf die Art der Verschwörung ziehen, die das Leben des Obersten bedrohte.«

»Dann glauben Sie also wirklich, Sir, daß eine Verschwörung bestanden hat?«

»Ich glaube durchaus, daß das Leben des Obersten bedroht war, wie er es ja auch immer behauptet hat. Im Falle seines gewaltsamen Todes, wenn also der normale Brief nicht zur vereinbarten Zeit ankam, sollte mein Vater den Monddiamanten nach Amsterdam schicken, ohne daß irgend jemand davon etwas wisse. Dort sollte er bei einem berühmten Diamantenschneider deponiert und in vier bis sechs einzelne Steine zerschnitten werden. Diese kleineren Steine waren dann zum höchstmöglichen Preise zu verkaufen, und der Erlös für die Gründung jenes Lehrstuhls zu verwenden, den der Oberst später in steinern Testament stiftete. Beachte einmal, daß die Unversehrtheit des Diamanten hier sehr geschickt davon abhängig gemacht wird, daß keine Gewalttat gegen das Leben des Obersten erfolgt. Anders ausgedrückt: Es genügt ihm nicht, den Feinden, die er fürchtet, zu sagen: ›Tötet mich ruhig. Ihr werdet dadurch doch dem Besitz des Diamanten nicht einen Schritt näher sein als zuvor. Denn er ist im bewachten Safe einer Bank, und dort kommt ihr nicht an ihn heran.‹ Er sagt vielmehr: ›Tötet mich ruhig. Aber dann wird der Diamant sofort nicht mehr das sein, was er gewesen ist. Seine Identität wird zerstört.‹ Was bedeutet das alles?«

Hier kam mir nun, wie mir schien, einer jener erstaunlichen Geistesblitze, wie ihn Ausländer so oft haben. »Ich weiß es«, sagte ich. »Es bedeutet, daß der Wert des Edelsteins herabgemindert wird, die Schurken also auf diese Weise genasführt werden!«

»Nichts dergleichen«, gab Franklin zur Antwort. »Danach habe ich mich bereits erkundigt. Wird der Diamant, der ja bekanntlich getrübt ist, geteilt, so wäre der Erlös tatsächlich höher, als er jetzt zu erzielen ist. Aus dem einfachen Grunde, weil vier bis sechs Edelsteine geschnitten werden können, die insgesamt mehr wert wären als der große, aber fehlerhafte einzelne Stein. Läge also der Verschwörung ein Diebstahl mit dem Ziel eines Geldgewinns zu Grunde, so würde der Diamant dank der Anweisungen des Obersten für einen Dieb fraglos nur noch begehrenswerter gemacht. Man hätte mehr Geld aus ihm herausschlagen können, und zugleich wäre er unendlich viel leichter auf dem Diamantenmarkt unterzubringen gewesen, nachdem er durch die Hand des Amsterdamer Diamantenschneiders gegangen war.«

»Guter Gott!« brach es aus mir hervor. »Was bezweckte dann aber das Komplott?«

»Es dürfte sich um ein Komplott derjenigen Inder handeln, die das Kleinod ursprünglich besessen haben. Wahrscheinlich hat irgend ein alter Aberglaube der Hindus etwas damit zu tun. Und nun wollen wir es einmal dahingestellt sein lassen, inwieweit ich der Wahrheit nahe gekommen bin. Eine einzige Frage interessiert uns im Augenblick: Sind die Verschwörer auch noch nach dem Tode des Obersten hinter dem Monddiamanten her, und war sich der Oberst selbst hierüber im klaren, als er ihn als Geburtstagsgeschenk seiner Nichte hinterließ?

Ich hatte anfangs nicht viel Lust, den Überbringer zu spielen. Dann gab mir aber Mr. Bruff zu bedenken, daß irgend jemand das Legat meines Vaters meiner Kusine bringen müsse, und ich könne dieser Jemand genau so gut sein wie irgend ein anderer. Ich holte also den Diamanten von der Bank ab, und dabei schien es mir so, als folge mir ein schäbig angezogener Mann mit dunkler Hautfarbe durch die Straßen. Ich ging zum Hause meines Vaters, um mein Gepäck zu holen. Dort fand ich einen Brief, der mich wider Erwarten in London festhielt. Also ging ich zur Bank zurück, und wieder glaubte ich, den gleichen Mann zu sehen. Als ich dann am folgenden Morgen den Diamanten zum zweiten Male von der Bank abholte, sah ich den Mann zum dritten Male, entschlüpfte ihm und fuhr mit dem Frühzug statt erst am Nachmittag, ehe er noch meine Spur wiedergefunden hatte. Und welche Nachricht wartet hier auf mich? Drei vagabundierende Inder sind beim Schloß gewesen. Meine Ankunft und ein Gegenstand, den ich bei mir führe oder den sie zum mindesten bei mir vermuten, erregt ihr besonderes Interesse. – Woran denkst du?« unterbrach sich Franklin plötzlich.

»Ich dachte gerade daran, Sir, daß ich am liebsten den Diamanten in den Flugsand dort werfen möchte. Dann wäre sofort die ganze Frage erledigt.«

»Wenn du den Wert des Edelsteins in Gold bei dir trägst, sag' es nur, Betteredge, und wir werfen ihn hinein.«

Er zog einen Briefumschlag aus seiner Tasche, öffnete ihn und gab mir das darin befindliche Schriftstück.

»Betteredge, vergiß nicht, wie Lady Verinder ihren Bruder, seit er aus Indien zurückkehrte, bis zu dem Augenblick behandelt hat, als er zu dir sagte, er werde den Geburtstag seiner Nichte nicht vergessen, und lies einmal dieses.«

Damit gab er mir den Auszug aus dem Testament des Obersten, der folgende Worte enthielt: ›Drittens und letztens übergebe und vermache ich meiner Nichte Rachel Verinder, der Tochter und dem einzigen Kinde meiner Schwester Julia Verinder, an dem meinem Tode folgenden Geburtstag den mir gehörenden gelben Diamanten, der im Fernen Osten als der Monddiamant bekannt ist, falls ihre Mutter, besagte Julia Verinder, Witwe, an diesem Tage noch am Leben sein sollte. Hiermit bitte ich meinen Testamentsvollstrecker, meinen Diamanten entweder selbst oder durch einen vertrauenswürdigen Vertreter seiner Wahl in das Gewahrsam meiner besagten Nichte zu bringen, und zwar an dem vorerwähnten Geburtstage und, falls möglich, in Anwesenheit meiner Schwester, besagter Julia Verinder. Diese soll eine beglaubigte Abschrift der dritten und letzten Klausel meines Testamentes erhalten. Daraus wird sie ersehen, daß ich ihr großmütig vergebe, ganz besonders aber, daß ich, wie es einem Sterbenden ziemt, die Beleidigung verzeihe, die man mir, dem Offizier und Gentleman, antat, als sie mir am Geburtstage ihrer Tochter durch ihren Diener das Haus verbieten ließ.‹ Ich gab Franklin das Schriftstück zurück und war fassungslos. »Nun hast du also gelesen«, sagte Mr. Franklin, »was der Oberst selbst zu sagen hatte. Und was ist deine Ansicht? Diene ich etwa blindlings seinem Racheinstinkt, wenn ich Rachel den Diamanten gebe, oder rechtfertige ich dadurch seinen Ruf als den eines reuigen Christen?«

»Es ist doch wohl nicht richtig, Sir, leichtfertig zu behaupten, er sei mit schrecklicher Rache im Herzen und einer grauenvollen Lüge auf den Lippen gestorben. Gott allein weiß die Wahrheit. Also fragen Sie mich nicht.«

Franklin drehte und wendete das Schriftstück zwischen den Fingern, als hoffe er, ihm auf diese Weise die Wahrheit zu entwinden. Gleichzeitig hatte sich sein Gesichtsausdruck auffallend geändert. Zuvor war es der eines frischen, fröhlichen jungen Mannes gewesen. Nun war er plötzlich ernst und nachdenklich geworden.

»Warum hinterließ mein Onkel den Diamanten Rachel? Warum hinterließ er ihn nicht meiner Tante?« meinte er.

»Das wenigstens läßt sich erraten, Sir. Oberst Herncastle kannte meine Lady gut genug, um zu wissen, daß sie sich geweigert hätte, ein Vermächtnis von ihm anzunehmen.«

»Und woher wußte er, daß sich nicht auch Rachel weigern würde?«

»Gibt es irgend eine junge Dame auf der Welt, Sir, die der Versuchung widerstehen könnte, ein Geburtstagsgeschenk wie den Monddiamanten anzunehmen?«

»Es spricht sehr für dich, Betteredge, daß du die Dinge subjektiv beurteilst. Aber noch ein weiteres Geheimnis, über das wir uns noch keine Rechenschaft geben können, steckt hinter dem Legat des Obersten. Wie sollen wir es uns erklären, daß er Rachel das Geburtstagsgeschenk nur unter der Bedingung übergibt, daß ihre Mutter noch am Leben ist?«

»Ich möchte einen Toten nicht verleumden, Sir«, antwortete ich. »Aber wenn er wirklich und absichtlich seiner Schwester auf dem Wege über ihr Kind ein Vermächtnis hinterlassen hat, das Sorge und Gefahr bedeutet, dann muß es ja notgedrungen ein Vermächtnis sein, das eine Schwester voraussetzt, die noch am Leben ist. Sonst würde sie die damit verbundenen Nöte nicht mehr zu spüren bekommen.«

»Sieh' einmal an. So also legst du seinen Beweggrund aus. Wiederum die subjektive Betrachtungsweise. Bist du eigentlich jemals in Deutschland gewesen, Betteredge?«

»Nein, Sir. Aber welches ist denn Ihre Deutung?«

»Es gibt eine völlig andere Erklärung, Betteredge, die sich auf eine subjektiv-objektive Auffassung gründet. Aber soweit ich sehen kann, hat die eine Deutung so viel für sich wie die andere.«

Damit legte er sich flach auf den Rücken und fragte, was nun geschehen solle.

»Müssen Sie das denn nicht wissen? Ich kann es doch ganz: gewiß nicht.«

Mr. Franklin sah nicht die Berechtigung meiner Frage, weil er im Augenblick überhaupt nichts anderes sehen konnte als den blauen Himmel über sich.

»Ich möchte natürlich meine Tante nicht beunruhigen. Andrerseits möchte ich sie aber auch nicht ungewarnt lassen, falls eine Warnung nötig werden sollte. Sag' mir einmal mit einem Wort, Betteredge, was du an meiner Stelle tun würdest.«

Ich entsprach diesem Wunsch und sagte: »Warten.«

»Ausgezeichnet. Die Frage ist nur, wie lange?«

»Wenn ich recht verstehe, Sir, muß irgend jemand diesen verfluchten Diamanten Rachel an ihrem Geburtstage übergeben. Das aber können Sie genau so gut wie irgend ein anderer sein. Gut und schön. Heute ist der 25. Mai, der Geburtstag ist am 21. Juni. Wir haben also noch fast vier Wochen vor uns. Wir wollen warten, was bis dahin geschieht, und meine Lady warnen oder es bleiben lassen, je nachdem, was sich ereignet.«

»Großartig, Betteredge … bis zu einem gewissen Grade«, war seine Antwort. »Aber was soll mit dem Diamanten bis zum Geburtstag geschehen?«

»Genau das gleiche, was Ihr Vater mit ihm gemacht hat, Sir«, entgegnete ich. »Ihr Vater legte ihn in den sicheren Schutz einer Bank in London, und Sie übergeben ihn einfach dem sicheren Schutz der Bank von Frizinghall.« Dies war die nächstgelegene Stadt, und die Bank von England war nicht sicherer. »An Ihrer Stelle«, fügte ich hinzu, »würde ich mit dem Diamanten, ehe die beiden Damen zurückkommen, nach Frizinghall reiten.«

Dieser Vorschlag brachte Franklin wie ein Blitz auf die Füße, und er zog mich mit in die Höhe. »Betteredge!« rief er, »du bist dein Gewicht in Gold wert. Los, sattle das beste Pferd im Stall!«

 

Als ich in mein Zimmer trat, stürzte Penelope herein und stellte mit der den Frauen eigentümlichen Neugier eine Frage. Was sei denn eigentlich mit Rosanna Spearman los?

Nachdem sie Franklin und mich bei den ›Zitternden Sänden‹ verlassen hatte, war Rosanna in einer völlig unverständlichen Erregung ins Haus zurückgekehrt. Sie war ohne jeden ersichtlichen Grund zunächst vergnügt und dann wieder traurig gewesen. In einem Atem hatte sie hundert verschiedene Fragen nach Franklin Blake gestellt. Gleich danach war sie dann wieder böse auf Penelope gewesen, weil diese gesagt hatte, sie verstünde nicht, wie ein fremder Herr sie überhaupt im mindesten interessieren könne. Zum Abschluß meinte meine Tochter, und ich fühlte, wie ernst es ihr damit war: »Vater, es gibt nur eine einzige Erklärung. Rosanna hat sich auf den ersten Blick in Mr. Franklin verliebt.«

Ich lachte, bis mir die Tränen die Wangen hinunterliefen. Penelope aber nahm meine Fröhlichkeit übel und sagte: »Ich habe bisher nicht gewußt, daß du so grausam sein kannst, Vater.« Sie sprach sehr leise und entfernte sich.

Der Abend kam, und der erste Gong zum Dinner ertönte bereits, als Mr. Franklin von Frizinghall zurückkam. Zu meiner großen Enttäuschung hatte sich garnichts ereignet. Weder auf dem Hin- noch auf dem Rückwege hatte er die Inder getroffen. Der Monddiamant war nun bei der Bank deponiert. Er trug die Quittung über ein Objekt von hohem Wert in der Tasche. Eigentlich empfand ich das als ein recht enttäuschendes Ergebnis, nachdem wir uns so sehr wegen des Edelsteins aufgeregt hatten.

Gegen Mitternacht ging ich wie üblich zusammen mit meinem Stellvertreter, dem Diener Samuel, um das Schloß herum, um abzuschließen. Als alle Türen mit Ausnahme derjenigen, die auf die Terrasse führte, zugemacht waren, schickte ich Samuel zu Bett und wollte noch einmal hinausgehen, um frische Luft zu schöpfen.

Die Nacht war still und etwas bedrückend. Der volle Mond stand am Himmel. Es war so friedlich und ruhig, daß ich bisweilen das Rauschen der See vernahm. Die Terrasse lag im Dunklen, aber das helle Mondlicht beschien den Kiesweg, der seitwärts an ihr vorbeiführte. Erst sah ich zum Himmel hinauf, dann sah ich zu jenem Kiesweg hin. Plötzlich bemerkte ich den Schatten eines Menschen, der vom Mondlicht über den Weg geworfen wurde. Betagt und ängstlich wie ich bin, rief ich nicht sogleich. Da ich aber leider auch betagt und unbeholfen bin, verriet mich der Schritt meiner Füße auf dem Kies. Ehe ich noch vorsichtig um die Hausecke biegen konnte, hörte ich leichtere Füße als die meinen, und wie mir schien mehr als zwei, eilig davonlaufen. Als ich dann die Stelle erreicht hatte, waren die Bösewichter, wer es auch immer gewesen sein mochte, in ein Gebüsch gelaufen und wurden meinem Blick durch dicke Bäume und Unterholz entzogen. Vielleicht wäre es mir gelungen, sie zu fassen, ehe sie den Park verließen, wenn ich vierzig Jahre jünger gewesen wäre. Ohne sonst irgend jemanden zu wecken, holten Samuel und ich ein paar Flinten und durchstreiften das ganze Gebüsch rund um das Haus. Als wir sicher waren, daß niemand sich auf unserm Grund und Boden versteckt hielt, gingen wir zurück. Dabei fiel mir auf dem Kiesweg ein Gegenstand ins Auge, der im Mondlicht blitzte. Es war eine kleine Flasche, die eine zähe, süßlich riechende Flüssigkeit, schwarz wie Tinte, enthielt. Samuel sagte ich nichts, erinnerte mich aber an das, was mir Penelope über die Gaukler berichtet hatte, und daß sie etwas Ähnliches wie Tinte in die Handfläche des Jungen gegossen hätten. Ich vermutete sofort, daß ich die drei Inder aufgeschreckt hatte. Sicher waren sie um das Haus herumgestrichen, um in dieser Nacht mit Hilfe ihrer heidnischen Tricks den Verbleib des Diamanten festzustellen.

 

Am nächsten Morgen – es war der 26. Mai – zeigte ich Franklin den Fund. Nach seiner Ansicht hatten sich die Inder nicht nur beim Haus herumgetrieben, sondern sie waren sogar töricht genug gewesen, an die Wirkung ihrer eigenen Zauberei zu glauben. Wie ich von Mr. Franklin erfuhr, gab es bei uns wie auch im Fernen Osten wirklich Leute, die solch seltsamen Hokuspokus machten und ihn mit einem französischen Namen bezeichneten, der so etwas wie ›Hellsichtigkeit‹ bedeutete.

»Verlaß' dich darauf«, schloß Mr. Franklin, »die Inder haben es für sicher gehalten, daß der Diamant hier aufbewahrt würde, und sie hatten ihren hellsichtigen Knaben mitgebracht, der sie zu ihm führen sollte, falls es ihnen gelungen wäre, gestern abend ins Haus zu dringen.«

»Glauben Sie, daß sie es noch einmal versuchen werden, Sir?«

»Das hängt davon ab, was der Junge wirklich zu Wege bringt. Sieht er den Diamanten durch die Eisenwände des Banksafe in Frizinghall hindurch, so werden wir zunächst durch keinen weiteren Besuch der Inder beunruhigt werden. Sieht er ihn aber nicht, so werden wir vielleicht noch einmal Gelegenheit haben, sie im Gebüsch zu fassen, ehe viele Nächte vergangen sind.«

Ich wartete vertrauensvoll auf diese Möglichkeit. Seltsamerweise kam sie niemals.

Am 29. fanden Miss Rachel und Mr. Franklin einen neuen Zeitvertreib gegen die Langeweile. Er machte den beiden viel Spaß, und ich erwähne ihn, weil er sehr viel mit den kommenden Ereignissen zu tun hat.

Das ›Universalgenie‹ Franklin befaßte sich mit allem und jedem, im Augenblick mit sogenannter ›Dekorationsmalerei‹. Nach seiner Angabe hatte er eine neue Mischung erfunden, um Farbe streichfertig zu machen. Er nannte es ein ›Bindemittel‹. Woraus es bestand, weiß ich nicht. Aber ich kann in zwei Worten sagen: Es stank!

Da Miss Rachel sich mit Begeisterung auf die neue Beschäftigung stürzte, ließ sich Franklin die Materialien aus London kommen. Dann mischte er sie, wobei ein Geruch entstand, daß selbst die Hunde, wenn sie ins Zimmer kamen, zu niesen begannen. Er band Miss Rachel ein Latzschürzchen vor und ließ sie ihr eigenes, kleines Zimmer ausmalen, das »Boudoir« genannt wurde, wahrscheinlich, weil sich kein passender englischer Name dafür finden ließ. Sie fingen mit der Innenseite der Tür an, wobei Franklin zunächst mit Bimsstein die Politur abkratzte, um einen sogenannten Untergrund zu schaffen. Und dann malte Miss Rachel darauf los.

Das nächste bemerkenswerte Datum war Sonntag, der 4. Juni. Am Abend dieses Tages sprachen wir im Bedientenraum zum ersten Male über eine Frage, die das Schloß sehr beschäftigte. Auch sie steht zu einem Ereignis in Beziehung, von dem wir noch hören werden. Wir hatten natürlich herausgefunden, wie gern Miss Rachel und Franklin beisammen waren. Uns fiel es weiter auf, wie gut die beiden zueinander paßten. Natürlich stellten wir Vermutungen über die Möglichkeit an, daß sie ihre Köpfe noch aus einem anderen Grunde zusammensteckten, als nur deswegen, weil sie eine Tür bemalten. Einige der Bedienten meinten, noch vor Sommers Ende würde es eine Hochzeit geben. Andere – und sie standen unter meiner Führung – gaben zwar zu, daß Miss Rachels Heirat wohl möglich sei; wir bezweifelten aber, ob der Ehemann Franklin Blake heißen würde.

Niemand, der Franklin sah, konnte darüber im unklaren sein, daß er verliebt sei. Die Schwierigkeit lag nur darin, Miss Rachels Neigung zu ergründen. Ich muß daher den Leser mit ihr näher bekannt machen. Am 21. Juni war ihr 18. Geburtstag. Sie war klein und zierlich, von reizender Figur. Ihr Haar war so schwarz, wie ich nur je welches gesehen habe, und ihre Augen paßten dazu. Zugegeben, die Nase war etwas klein. Mund und Kinn aber waren Leckerbissen für die Götter, um mit Mr. Franklin zu reden. Ihr Teint war von so warmer Tönung wie die Sonne selbst, und er hatte vor der Sonne das eine voraus, daß man ihn immer anschauen konnte.

Nun aber etwas über ihren Charakter. Ich kann nur sagen, sie hatte so viele Fehler wie jeder andere Mensch. Den Mädchen ihres Alters war sie insofern unähnlich, als sie immer dann ihren eigenen Kopf hatte, wenn es galt Althergebrachtes abzulehnen, falls sie es nicht für richtig hielt. Das war gut und schön, sofern es sich um Kleinigkeiten handelte. Aber in wichtigen Fragen trieb sie es nach Ansicht meiner Lady und nach meiner eigenen oft zu weit. Sie hatte ein eigenes Urteil, wie es im allgemeinen nur wenige, doppelt so alte Mädchen haben. Nie fragte sie um Rat; nie vertraute sie jemandem ihre Absichten an; nie kam sie zu irgend jemandem mit Geheimnissen oder Vertraulichkeiten, nicht einmal zu ihrer Mutter. Stets war Rachel in Leid und Freud ihres Lebens sich selbst genug. Immer wieder pflegte meine Lady zu sagen: Rachels bester Freund und Rachels ärgster Feind – beides ist Rachel selbst.

Am 12. Juni sandte meine Herrin einem jungen Manne in London eine Einladung zu Rachels Geburtstag. Dies war der Glückliche, dem sie nach meiner Meinung ihr Herz geschenkt hatte. Er war genau wie Franklin ihr Vetter und hieß Godfrey Ablewhite.

Die zweite Schwester meiner Lady hatte eine Enttäuschung in der Liebe erlebt. Als sie dann in einer Art Torschlußpanik doch noch heiratete, machte sie eine sogenannte Mesalliance. Es gab eine furchtbare Aufregung in der Familie, als die Honourable Caroline darauf bestand, den schlichten Mr. Ablewhite, den Bankier von Frizinghall, zu heiraten. Er war sehr wohlhabend und angesehen und besaß eine enorm zahlreiche Familie. Soweit sprach alles zu seinen Gunsten. Aber er hatte es gewagt, sich von unten herauf empor zu arbeiten – und das sprach zu seinen Ungunsten. Das Allheilmittel Zeit und die fortschreitende Aufklärung brachten die Sache jedoch wieder in Ordnung, und in der Tat konnte die Mesalliance sehr wohl einer Prüfung standhalten. Die Ablewhites lebten in einem schönen Haus etwas außerhalb Frizinghall als sehr ehrbare Leute, in der Nachbarschaft hoch angesehen.

Trotz all seiner Fröhlichkeit, Klugheit und seiner durchweg guten Charaktereigenschaften schienen mir die Chancen Mr. Franklins, Mr. Godfrey in der Wertschätzung meiner Lady zu überbieten, außerordentlich gering.

Godfrey sah bei weitem vorteilhafter aus. Er war über sechs Fuß groß. Dazu hatte er einen wunderhübschen Teint wie Milch und Blut und ein weiches, rundes und bartloses Gesicht. Von seinem Scheitel fiel langes, flachsblondes Haar nachlässig in den Nacken herunter. Von Beruf war er Rechtsanwalt, nach Veranlagung ein Liebling der Damen und aus freier Wahl ein barmherziger Samariter. Weibliche Mildtätigkeit unterstützte er, weiblicher Not wehrte er. Als Redner bei Wohltätigkeitsveranstaltungen verstand er es wie kaum jemand anderes, Tränen oder Geld herauszulocken. Eine stadtbekannte Persönlichkeit. Als ich das letzte Mal in London war, lud mich meine Herrin zweimal ein. Einmal ins Theater, um eine sehr berühmte Tänzerin zu sehen. Das andere Mal in die Exeter Hall, um Mr. Godfrey zu hören. Die Dame errang ihre Erfolge mit Hilfe einer Musikkapelle, der Herr mit Hilfe eines Taschentuchs und eines Glases Wasser. Er liebte alle Welt, und alle Welt liebte ihn. Wie gering, im Wettstreit mit solch einem Mann, waren doch Mr. Franklins Aussichten!

Am 14. kam Mr. Godfreys Antwort. Er nahm die Einladung meiner Herrin an und wollte Mittwoch, am Geburtstag, kommen und bis zum darauf folgenden Freitag bleiben.

Am 19. kam der Arzt zur Visite zu uns. Er sollte unserem zweiten Hausmädchen; Rosanna Spearman, etwas verschreiben. Hatte sie mich, wie man weiß, bereits damals an den ›Zitternden Sänden‹ in Erstaunen versetzt, so hatte sie das gleiche in der Zwischenzeit noch mehrmals getan. Zwar schien mir nach wie vor Penelopes Ansicht, sie sei in Franklin verliebt, abwegig. Aber ich muß zugeben, daß uns das, was wir beide sahen, gelinde gesagt rätselhaft erschien.

Eines Tages machte Penelope eine unliebsame Entdeckung, die wir an Ort und Stelle aus der Welt schafften. Sie überraschte nämlich Rosanna, wie sie von Franklins Toilettentisch heimlich eine Rose fortnahm, die ihm Miss Rachel für sein Knopfloch gegeben hatte. Stattdessen legte sie eine andere hin, die sie selbst gepflückt hatte. Späterhin war sie dann ein- oder zweimal mir gegenüber ungezogen, als ich ihr einen wohlgemeinten Wink gab, sich in ihrem Betragen mehr zusammenzunehmen. Schlimmer noch, daß sie auch nicht mehr allzu respektvoll bei den seltenen Gelegenheiten war, wo Miss Rachel zufällig mit ihr sprach.

Meiner Lady fiel die Veränderung ebenfalls auf, und sie fragte mich, was ich davon hielte. Ich versuchte, das Mädchen in Schutz zu nehmen, und entgegnete, daß sie nach meiner Ansicht nicht gesund sei. Schließlich wurde der Doktor geholt. Er meinte, es wären die Nerven, und bezweifelte, ob sie arbeitsfähig sei. Darauf bot ihr meine Lady an, sie solle zur Luftveränderung auf eine unserer Farmen gehen. Aber sie bat und flehte mit Tränen in den Augen, man möchte sie doch hier lassen. In einer dunklen Stunde gab ich meiner Lady den Rat, es noch einmal mit ihr zu versuchen. Hätte ich nur ein klein wenig in die Zukunft blicken können, ich hätte Rosanna Spearman sofort und mit eigener Hand aus dem Hause gebracht.

 

Der 21. Juni – es war der Geburtstag – begann mit wolkigem und wechselndem Wetter. Aber gegen Mittag wurde es klar. In der Leutestube begannen wir diesen glückbringenden Jahrestag wie gewöhnlich damit, daß wir Miss Rachel unsere kleinen Geschenke überreichten. Als Ältester hielt ich wie in jedem Jahre auch diesmal die übliche Rede. Dabei machte ich es wie die Königin, wenn sie das Parlament eröffnet: Ich sagte jedes Jahr fast das Gleiche. Zunächst blickte immer alles meiner Ansprache sehr gespannt entgegen, genau wie der der Königin, als habe man so etwas noch nie gehört. War dann die Rede zu Ende und nichts von der erwarteten Neuigkeit darin, dann murrten die Dienstboten zwar ein wenig, trösteten sich aber mit der Hoffnung auf das nächste Jahr, das schon etwas Neues bringen würde. Es ist doch leicht, dies Volk zu regieren, ob es nun im Parlament ist oder in der Küche.

Nach dem Frühstück hatten Mr. Franklin und ich eine private Zusammenkunft, und wir sprachen wieder über den Monddiamanten. Es war nun die Zeit gekommen, ihn aus der Bank in Frizinghall abzuholen und Miss Rachel zu übergeben. Wir vereinbarten, Franklin solle nach dem Lunch hinüberreiten und den Diamanten mitbringen, wobei Mr. Godfrey und seine beiden Schwestern ihm auf dem Heimweg sehr wahrscheinlich Gesellschaft leisten würden. Mr. Franklin aß hastig ein wenig und ritt nach Frizinghall.

Nachdem ich mich um den Wein gekümmert und noch, einmal mit den Dienern und Mädchen gesprochen hatte, die bei Tisch servieren sollten, zog ich mich zurück, um mich ein wenig zu sammeln, ehe die Gäste kämen. Ich wurde aus dem, was ich eine Träumerei, keineswegs aber ein Nickerchen nennen möchte, durch das Klappern von Pferdehufen aufgeschreckt und empfing an der Tür eine Kavalkade, die aus Mr. Franklin, seinen drei Verwandten und einem Bedienten bestand. Eigenartigerweise kam es mir so vor, als sei Mr. Godfrey nicht in gewohnt guter Laune, genau wie im Augenblick Mr. Franklin. Zwar schüttelte er mir wie immer freundlich die Hand und war höflich und erfreut, seinen alten Freund Betteredge so wohlauf zu sehen. Es lag aber etwas wie eine Wolke über ihm, was ich mir absolut nicht erklären konnte. Dagegen waren die beiden Misses Ablewhite so vergnügt, daß es für zwanzig andere gereicht hätte. Sie waren fast so groß wie ihr Bruder und platzten vor Gesundheit und guter Laune. Die Beine ihrer armen Pferde zitterten unter der schweren Last, und als sie aus dem Sattel sprangen, da plumpsten sie – ich kann es nicht anders beschreiben – auf die Erde, als seien sie aus Gummi. Alles, was die Misses Ablewhite sagten, fing mit einem langen ›Oh‹ an. Was sie taten, taten sie mit Aplomb. Ich nenne so etwas ›Dragoner‹.

In der Halle konnte ich unter vier Augen mit Mr. Franklin sprechen.

»Haben Sie den Diamanten bei sich, Sir?«

Er nickte und klopfte auf die Brusttasche.

»Haben Sie etwas von den Indern gesehen?«

»Nicht einen Schatten.« Dann fragte er nach meiner Lady und ging sogleich zu ihr, als er hörte, sie sei in dem kleinen Wohnzimmer. Als ich eine halbe Stunde später durch die Halle ging, blieb ich wie angewurzelt stehen; denn aus jenem kleinen Zimmer drangen plötzlich Schreie. Unter dem Vorwand, ich wolle nach Befehlen für das Essen fragen, ging ich hinein, um festzustellen, ob irgendetwas Ernstliches vorgefallen sei.

Folgendes Bild bot sich mir: Miss Rachel stand wie verzaubert am Tisch und hielt den unseligen Diamanten des Obersten in der Hand. Ihr zur Seite knieten die beiden Dragoner, die das Juwel mit den Augen verschlangen und jedesmal vor Begeisterung aufschrien, wenn es ihnen in einem neuen Blitzen entgegenfunkelte. Am anderen Ende des Tisches stand Mr. Godfrey und schlug wie ein großes Kind die Hände zusammen und sagte leise und in singendem Tonfall: »Exquisit! Exquisit!« Mr. Franklin saß in seinem Stuhl neben dem Bücherschrank, zupfte an seinem Schnurrbart und sah besorgt zum Fenster hinüber. Dort aber stand meine Lady, hielt den Auszug aus dem Testament des Obersten in der Hand und wandte den Übrigen den Rücken zu. Sie drehte sich um, als ich um Befehle bat, und sagte: »Komm in einer halben Stunde in mein Zimmer, ich habe dir etwas zu sagen.«

War das Vermächtnis des Monddiamanten für sie ein Beweis, daß sie ihren Bruder grausam und ungerecht behandelt hatte, oder war es ein Beweis, daß er noch schlimmer war als das Schlimmste, was sie bisher von ihm gedacht hatte? Das waren ernste Fragen für meine Lady, die irgendwie beantwortet werden mußten, während ihre Tochter das Geburtstagsgeschenk des Obersten in der Hand hielt, ohne über seinen Charakter auch nur das mindeste zu wissen.

Miss Rachel sagte zu mir: »Sieh mal, Gabriel!« Damit ließ sie das Juwel vor meinen Augen in einem Sonnenstrahl blitzen.

Lieber Gott! Es war ein unerhört schöner Diamant. Fast so groß wie ein Kiebitzei. Blickte man auf den Stein hinunter, so sah man in eine gelbe Tiefe, die die Augen derart anzog, daß sie für alles andere blind wurden. Dieser Edelstein schien unergründlich wie der Himmel selbst. Wir legten ihn in die Sonne, und dann verdunkelten wir das Zimmer. Jetzt leuchtete er plötzlich gespenstisch in einem Licht, wie das des Mondes, aus den Tiefen seiner eigenen Helligkeit. Der Diamant machte einen solchen Eindruck auf mich, daß ich ein ebenso langgezogenes ›Oh‹ ausstieß wie die Dragoner. Der einzige, der kaltes Blut behielt, war Mr. Godfrey. Er legte den Arm um seine beiden Schwestern, sah mitleidig von dem Diamantens zu mir hin und sagte: »Kohle, letzten Endes nichts als Kohle, lieber Freund.«

Nach einer halben Stunde meldete ich mich im Zimmer meiner Lady. Dort spielte sich im wesentlichen eine Wiederholung des Gespräches ab, das bei den ›Zitternden Sänden‹ zwischen Mr. Franklin und mir geführt worden war. Nur das, was ich über die Gaukler dachte, behielt ich ängstlich für mich. Es hatte sich ja auch nichts zugetragen, was mich berechtigt hätte, meine Lady in dieser Hinsicht zu beunruhigen. Als ich entlassen wurde, wußte ich, daß sie dem Obersten denkbar schwarze Motive unterschob und daß sie die Absicht hatte, den Monddiamanten bei erster Gelegenheit ihrer Tochter wieder fortzunehmen.

Als ich in den Flügel des Hauses zurückging, in welchem mein Zimmer lag, traf ich Mr. Franklin. Er fragte mich, ob ich seine Kusine Rachel gesehen hätte. Nein. Könnte ich ihm sagen, wo sein Vetter Godfrey sei? Nein. Aber ich begann zu vermuten, daß Vetter Godfrey nicht weit von Rachel entfernt sei, und Mr. Franklins Verdacht ging offenbar in die gleiche Richtung. Er zupfte an seinem Bart und schloß sich in der Bibliothek ein.

Nun wurde ich nicht mehr bei der Vorbereitung des Geburtstagsessens unterbrochen, bis es an der Zeit war, mich zum Empfang der Gäste anzuziehen.

Gerade hatte ich meine weiße Weste übergestreift, als Penelope hereinkam, weil sie angeblich das wenige Haar, das ich noch besaß, bürsten und meine weiße Krawatte schöner binden wollte. Mein Mädel war in bester Laune, und ich merkte, daß sie mir etwas sagen wollte. Sie küßte meinen Kahlkopf und flüsterte: »Eine Neuigkeit, Vater! Miss Rachel hat ihn abgewiesen.«

»Wer ist ›ihn‹?« fragte ich.

»Den Mann vom Damenkomitee, Vater«, sagte Penelope.

»Ein gräßlicher, falscher Bursche! Ich hasse ihn, weil er versucht, Mr. Franklin zu verdrängen.«

Hätte ich nur richtig Luft holen können, ich hätte ganz gewiß gegen diese unmanierliche Art, über einen hervorragenden Philanthropen zu sprechen, protestiert, aber meine Tochter verschönerte gerade in diesem Augenblick meine Krawatte, und die ganze Stärke ihres Gefühls teilte sich ihren Fingern mit. Nie in meinem ganzen Leben war ich dem Erwürgen so nahe.

»Ich sah, wie er mit ihr allein in den Rosengarten ging«, sagte Penelope, »und wartete hinter der Stechpalme auf ihre Rückkehr. Lachend, Arm in Arm waren sie in den Garten gegangen. Durch ein paar Schritte getrennt und todernst kamen sie zurück, und jeder sah zur Seite, so daß keine Mißdeutung möglich war. Ich habe mich so gefreut, Vater. Es gibt wenigstens noch eine Frau auf dieser Welt, die nichts von Mister Godfrey Ablewhite hält, und wäre ich nur eine Lady, ich würde die zweite sein! Gerade auf der anderen Seite der Stechpalme«, fuhr Penelope fort, »blieb Godfrey stehen. ›Es ist dir also lieber‹, sagte er, ›daß ich hier bleibe, als ob nichts geschehen wäre?‹ Blitzschnell drehte sich Miss Rachel nach ihm um und sagte: ›Du hast die Einladung meiner Mutter angenommen und mußt ihre Gäste willkommen heißen. Wenn du also keinen Skandal im Hause machen willst, mußt du natürlich bleiben!‹ Sie ging ein paar Schritte weiter und schien etwas milder zu werden. ›Wir wollen das Vergangene vergessen‹, sagte sie, ›und trotzdem Freunde bleiben.‹ Damit gab sie ihm die Hand. ›Schauderhaft! Höchst schauderhaft!‹ murmelte er und ging weiter. Wenn er sich selbst damit meinte, so hatte er völlig recht. Und das Ergebnis ist genau das, was ich immer vorausgesagt habe, Vater, Mr. Franklin ist der Auserwählte!«

 

Miss Rachel war als Königin des Tages der Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie trug zum geheimen Ärger meiner Lady ihr wunderbares Geschenk, den Monddiamanten. Als sie den Edelstein erhielt, war er ohne jede Fassung. Aber Mr. Franklin, das ›Universalgenie‹, hatte es mit Hilfe seiner geschickten Finger und etwas Silberdraht fertig gebracht, ihn als Brosche am Ausschnitt ihres Kleides zu befestigen. Die einzigen unter den Gästen, die etwas Ungewöhnliches über den Edelstein sagten, waren zwei Herren, die bei Tisch zur Rechten und Linken von Miss Rachel saßen. Der Gast zur Linken war Mr. Candy, der Arzt aus Frizinghall. Was er Miss Rachel über den Diamanten wissen ließ, kleidete er in eine geheimnisvolle Geschichte oder einen Scherz, wie es seine Gewohnheit war. Er forderte sie im ernsten Tone im Interesse der Wissenschaft auf, ihm den Diamanten mitzugeben, um ihn zu verbrennen.

»Erst werden wir ihn erhitzen, Miss Rachel«, sagte der Doktor, »dann werden wir ihn einem Strom kalter Luft aussetzen, und nach und nach – puff! – verdunsten wir ihn und ersparen der jungen Dame damit eine Unsumme von Angst, wie sie diesen wertvollen Edelstein sicher aufbewahren soll.«

Der andere Gast, der auf der rechten Seite meiner jungen Lady saß, war eine sehr bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, kein anderer als der berühmte indische Forschungsreisende Mr. Murthwaite, der unter Lebensgefahr und verkleidet in Gegenden vorgedrungen war, die vor ihm noch kein Europäer betreten hatte. Er sah müde aus, hatte aber ein klares, beobachtendes Auge. Ich möchte bezweifeln, ob er überhaupt mehr als sechs Worte sprach außer denen, die er an Miss Rachel wegen des Diamanten richtete, und ob er auch nur ein einziges Glas Wein trank. Nichts, abgesehen vom Monddiamanten, schien ihn zu interessieren. Dessen Ruhm aber war wohl an einem jener gefahrenumdrohten indischen Orte, den er auf seinen Fahrten erreicht hatte, bis zu ihm gedrungen. Er beobachtete ihn schweigend und so lange, daß Miss Rachel unruhig zu werden begann. Dann sagte er in seiner kühlen, unbewegten Art zu ihr: »Wenn Sie je nach Indien kommen, Miss Verinder, nehmen Sie bitte das Geburtstagsgeschenk Ihres Onkels nicht mit. Ein Hindu-Diamant ist bisweilen der Teil einer Hindu-Religion. Ich kenne eine gewisse Stadt, und in ihr einen bestimmten Tempel, wo Ihr Leben keine fünf Minuten mehr währen würde, wenn Sie, so wie Sie es jetzt tun, den Diamanten am Kleide trügen.«

Blicke ich heute im Lichte dessen, was später geschah, auf diesen Geburtstag zurück, so bin ich halb und halb geneigt zu glauben, daß der verfluchte Diamant die ganze Gesellschaft verhext hatte.

Ich versorgte die Gäste reichlich mit Wein, und doch entstanden so lange Gesprächspausen während des Essens, daß ich mich unbehaglich fühlte.

Mr. Godfrey, der doch in der Öffentlichkeit so beredt war, schien nicht geneigt, sich diesmal zu überanstrengen. Ob er mürrisch oder nach seiner Enttäuschung im Rosengarten verschüchtert war, das weiß ich nicht. Jedenfalls behielt er alles, was er zu sagen hatte, dem Ohr der neben ihm sitzenden Dame vor. Sie gehörte einem seiner Komitees an. Eine durchgeistigte Person, die sehr viel Schlüsselbein zeigte und eine feine Zunge für Champagner besaß.

Mr. Franklin war wunderbarer Laune. Ich vermutete, daß Penelope ihn über den Empfang unterrichtet hatte, der Mr. Godfrey im Rosengarten zuteil geworden war. Aber was er auch redete, in neun Fällen von zehn traf er den falschen Gesprächsstoff oder wandte sich an die falsche Adresse. Schließlich verletzte er einige Gäste und brachte alle in Verlegenheit. Als sich zum Beispiel das Gespräch dem ärztlichen Beruf zuwandte, äußerte er so schonungslos Ansichten, welche die Ärzte lächerlich machten, daß er tatsächlich den gutmütigen, kleinen Mr. Candy in Wut brachte. Der Streit zwischen den beiden fing damit an, daß Mr. Franklin zugeben mußte, er habe in der letzten Zeit nachts sehr schlecht geschlafen. Mr. Candy meinte, das könne nur daran liegen, daß seine Nerven völlig überreizt seien; er müsse sofort eine Arznei nehmen. Mr. Franklin erwiderte, für ihn sei es ein und derselbe Unsinn, ob er nun ein Medikament oder einen Kursus ›Wie finde ich mich im Dunkeln zurecht‹ nähme. Worauf Mr. Candy sehr geschickt zurückschlug und sagte, Mr. Franklin selbst irre ja, konstitutionell gesprochen, dauernd im Dunkeln, nämlich auf der Suche nach Schlaf. Und da eben käme das Medikament ins Spiel; denn nur ein solches könne ihm helfen, Schlaf zu finden. Schließlich verlor Mr. Candy in Verteidigung seines Berufes derart seine Selbstbeherrschung, daß meine Lady sich gezwungen sah, einzugreifen, um eine Fortführung des Streites zu verhindern. Der Teufel oder der Diamant hatte bei diesem Essen die Hand im Spiel, und es war für alle eine Erleichterung, als Lady Julia aufstand und den Damen das Zeichen gab, die Herren beim Wein allein zu lassen. Gerade hatte ich die Karaffen in einer Reihe vor dem alten Mr. Ablewhite hingestellt, als wir plötzlich von der Terrasse her einen Ton hörten, der mich im Augenblick ganz meine guten Manieren vergessen ließ.

Mr. Franklin und ich sahen uns an. Es war der Ton der indischen Trommel. Der Monddiamant war ins Schloß gekommen, und mit ihm kehrten die Gaukler zurück.

Ich sah sie um die Ecke der Terrasse biegen, humpelte hinaus und wollte sie fortjagen. Unglücklicherweise aber kamen mir die beiden Dragoner zuvor. Ehe man noch ›Du meine Güte‹ sagen konnte, machten die Schufte schon ihr ›Salaam‹, und die Dragoner küßten den hübschen, kleinen Jungen.

Mr. Franklin stand neben Miss Rachel, ich selbst hinter ihr. War unser Argwohn berechtigt, so hatten die Inder ihr Ziel erreicht. Denn Miss Rachel zeigte ihnen ahnungslos den Diamanten am Ausschnitt ihres Kleides. Ich kann nicht sagen, was für Tricke die Inder vorführten; denn ich hatte, wie ich zugeben muß, den Kopf verloren. Soweit ich mich erinnere, kam erst wieder durch das plötzliche Erscheinen des indischen Reisenden, Mr. Murthwaite, Ordnung in meine Gedanken. Er ging um den Kreis der Zuschauer herum, trat ganz leise hinter die Gaukler und redete sie plötzlich in ihrer eigenen Sprache an. Ich bezweifle, ob die Inder – wenn man sie mit einem Bajonett gestochen hätte – schneller herumgefahren wären als sie es jetzt taten. Einen Augenblick später verbeugten sie sich überaus höflich und aalglatt. Mr. Murthwaite wechselte mit ihnen noch ein paar Worte in der unbekannten Sprache und ging dann so ruhig wie er gekommen war. Daraufhin wandte sich der älteste Inder, der den Dolmetscher spielte, zu den Gästen. Ich bemerkte, daß das kaffeebraune Gesicht des Burschen aschgrau geworden war. Er verbeugte sich vor meiner Lady und teilte ihr mit, die Vorstellung sei beendet. Der Knabe ging mit dem Hut herum, die Damen zogen sich ins Wohnzimmer und die Herren zu ihrem Wein zurück. Ich selbst folgte mit den Dienern den Indern, bis sie die Besitzung verlassen hatten.

Als ich durch die Büsche zurückkam, traf ich Franklin und Mr. Murthwaite, die langsam unter den Bäumen auf und ab gingen. Der erstere winkte mich heran und stellte mich dem großen Mann vor.

»Dies ist Gabriel Betteredge, der älteste Diener und Freund unserer Familie, von dem ich gerade sprach. Wollen Sie ihm bitte noch einmal sagen, was Sie mir soeben erzählt haben.«

Mr. Murthwaite nahm seine Manila aus dem Mund und lehnte sich müde gegen einen Baumstamm.

»Mr. Betteredge, diese drei Inder sind so wenig Gaukler wie Sie und ich. Ich weiß, was indische Gaukelei wirklich ist. Was Sie heute abend gesehen haben, ist eine schlechte und ungeschickte Imitation. Wenn ich nicht völlig falsch unterrichtet bin, so sind diese Männer Brahmanen einer sehr alten Kaste. Ich hielt ihnen vor, daß sie verkleidet seien, und Sie haben gesehen, wie das auf sie wirkte, trotzdem die Hindus Meister im Verbergen ihrer Gefühle sind. Über ihrem Verhalten liegt ein Geheimnis, das ich nicht erklären kann. In doppeltem Sinne haben sie ihre Kaste preisgegeben. – Zunächst dadurch, daß sie über das Meer gekommen sind, und dann dadurch, daß sie sich als Gaukler verkleideten. Ein sehr ernster Beweggrund muß dahinter stecken.«

Ich war sprachlos. Dann brach Mr. Franklin das Schweigen: »Ich zögere etwas, Mr. Murthwaite, Sie mit Familienangelegenheiten zu behelligen, an denen Sie kein Interesse haben können und über die ich außerhalb unseres Kreises nicht gerne spreche. Aber nach Ihren Worten fühle ich mich im Interesse der Lady Verinder und ihrer Tochter verpflichtet, Ihnen etwas zu sagen, was möglicherweise den Schlüssel in Ihre Hand legen kann. Vergessen Sie bitte nicht, daß das, was ich Ihnen sagen will, vertraulich ist!«

Nach dieser Einleitung erzählte er dem indischen Forscher alles, was er mir bei den ›Zitternden Sänden‹ erzählt hatte. Selbst der unbewegliche Mr. Murthwaite war so interessiert, daß er seine Manila-Zigarre ausgehen ließ.

Als er geendet hatte, sagte Mr. Franklin: »Und was meinen Sie nach Ihrer Erfahrung zu alledem?«

»Meine Erfahrung sagt mir, daß Sie gerade noch mit dem Leben davon gekommen sind, Mr. Blake, und zwar öfter als ich selbst, und das will eine Menge heißen.«

»Ist die Angelegenheit wirklich so ernst?«

»Nach meiner Ansicht ja«, erwiderte Mr. Murthwaite, »nach Ihren Worten kann ich nicht bezweifeln, daß der Beweggrund, auf den ich gerade anspielte, darin liegt, den Monddiamanten wieder an seinen Platz an die Stirn der indischen Gottheit zurückzubringen. Diese Männer werden auf die Gelegenheit dazu mit der Geduld von Katzen warten und sie mit der Wildheit von Tigern ergreifen. In dem Lande, aus dem diese Männer kommen, ist die Tötung eines Menschen genau so nebensächlich, wie wenn unsereiner die Asche aus seiner Pfeife klopft. Wenn tausend Menschenleben zwischen ihnen und dem Monddiamanten ständen, und wenn sie der Ansicht wären, sie könnten diese Menschenleben ohne Gefahr der Entdeckung vernichten – sie würden sie alle vernichten. Die Opferung einer Kaste ist in Indien eine sehr ernste Angelegenheit, die Opferung eines Menschenlebens dagegen ganz und gar nicht.«

Hierauf äußerte ich die Ansicht, daß es sich also um eine Bande mordlustiger Diebe handele. Mr. Murthwaite aber meinte, es wäre ein wunderbares Volk. Mr. Franklin meinte garnichts, sondern sagte nur: »Die Inder haben jedenfalls den Monddiamanten an Miss Verinders Kleid gesehen. Was soll nun geschehen?«

Mr. Murthwaite antwortete: »Oberst Herncastle kannte seine Leute. Schicken Sie den Diamanten morgen nach Amsterdam und lassen Sie ihn zerschneiden. Machen Sie sechs Diamanten daraus, und das ist das Ende des heiligen Mondsteines – es ist das Ende der ganzen Verschwörung.«

Klavierklänge kamen aus dem Wohnzimmer. Mr. Murthwaite warf seine Zigarre fort, nahm Mr. Franklin beim Arm, und beide kehrten zu den Damen zurück. Als ich ihnen ins Haus folgte, sah ich, daß sich der Himmel schnell bezog.

Ich ging in mein kleines Zimmer, setzte mich schweißgebadet auf meinen Stuhl und fragte mich hilflos, was nun zu geschehen habe. Dann steckte ich mir eine Pfeife an und wandte mich für einen Augenblick Robinson Crusoe zu. Als ich nur fünf Minuten gelesen hatte, fand ich diese erstaunliche Stelle (S. 161): ›Furcht vor einer Gefahr bringt zehntausendmal mehr Schrecken als die Gefahr selbst, der man ins Auge sieht. Die Bürde der Angst ist um vieles schwerer als das Unheil, vor dem wir uns ängstigen.‹ Wer nun noch nicht an Robinson Crusoe glaubt, bei dem muß nicht alles stimmen.

Meine zweite Pfeife war schon weit geraucht, als mir Penelope über die Lage im Wohnzimmer berichtete, wo sie den Tee serviert hatte. Es war ihr aufgefallen, daß meine Lady beim Whist zum erstenmal Fehler gemacht hatte. Der große Forscher hatte in einer Ecke geschlafen. Sie hatte belauscht, wie Mr. Franklin sich über Mr. Godfrey lustig machte, und zwar auf Kosten seiner Wohltätigkeitsvereine. Schließlich hatte sie noch den Arzt, Mr. Candy, vermißt. Er verschwand geheimnisvoll aus dem Zimmer und kam dann ebenso geheimnisvoll wieder. Im ganzen aber lagen die Dinge offenbar günstiger, als wir nach dem Verlauf des Abendessens hätten erwarten können. Eine Stunde blieb nun noch, dann würde es Zeit sein, daß die Wagen vorfuhren, und wir würden die Gäste los sein.

Als es so weit war, begann es zu regnen, als wolle es nie wieder aufhören. Alle Gäste mit Ausnahme des Doktors, dessen offener Einspänner wartete, fuhren in geschlossenen Wagen ganz bequem nach Haus. Ich warnte Mr. Candy, er würde wohl völlig durchnäßt werden. Aber er antwortete nur: »Ich wundere mich, daß Sie so alt geworden sind, ohne zu wissen, daß die Haut eines Doktors wasserdicht ist.« Mit diesen Worten fuhr er als letzter im Regen davon und lachte über seinen eigenen kleinen Witz.

Und nun habe ich die Geschichte der Nacht zu berichten.

 

Als die letzten Gäste fort waren, ging ich in die Halle und traf dort Samuel. Meine Lady und Miss Rachel kamen gefolgt von den beiden Herren aus dem Wohnzimmer. Mr. Franklin setzte sich sofort wieder in einen Sessel. Er sah todmüde aus. Als meine Lady sich umwandte, um ihnen gute Nacht zu sagen, blickte sie scharf nach der Erbschaft des bösen Obersten, die am Kleid ihrer Tochter glänzte.

»Rachel«, fragte sie, »wo willst du heute Nacht den Diamanten lassen?«

Miss Rachel besann sich auf eine indische Vitrine, die in ihrem Wohnzimmer stand, und entschloß sich, den indischen Diamanten in die indische Vitrine zu legen, um wie sie sagte zwei wunderbaren, einheimischen Erzeugnissen die Möglichkeit zu geben, sich gegenseitig zu bewundern.

»Aber Liebling, deine indische Vitrine ist ja nicht zu verschließen«, entgegnete meine Lady.

»Guter Gott, Mama! Leben wir hier in einem Hotel? Sind denn Diebe im Hause?«

Meine Lady erkannte, daß mit ihr an diesem Abend nicht vernünftig zu reden war.

»Komm' morgen früh doch gleich in mein Zimmer, Rachel«, sagte sie. »Ich muß dir dann etwas sagen.« Damit ging sie langsam fort.

Miss Rachel sagte als nächste gute Nacht, gab Godfrey die Hand und wandte sich dann an Franklin, der immer noch müde und schweigsam in seinem Winkel saß.

Was zwischen ihnen gesprochen wurde, kann ich nicht sagen. Aber ich beobachtete, da ich nahe unserm großen, eichengerahmten Spiegel stand, der ihr Bild wiedergab, wie sie verstohlen aus dem Ausschnitt ihres Kleides das Medaillon hervorholte, das Franklin ihr zum Geburtstag geschenkt hatte. Nur einen kurzen Augenblick zeigte sie es ihm, ehe sie in ihr Schlafzimmer ging.

Franklin sah mich und sagte: »Betteredge, ich bin halb und halb geneigt zu glauben, daß ich Mr. Murthwaite doch zu ernst genommen habe, als wir uns im Gebüsch unterhielten. Es sollte mich wundern, wenn er uns nicht eine seiner abenteuerlichen Geschichten zum besten gegeben hat. Willst du heute Nacht die Hunde losmachen?«

»Ich werde ihnen das Halsband abnehmen, Sir!« antwortete ich, »und dann bleibt es ihnen ja überlassen, sich etwas in der Nacht umzusehen, falls sie einen Grund dafür wittern.«

»Schon gut!« entgegnete Franklin. »Wir werden sehen, was morgen zu geschehen hat. Ich halte es ganz und gar nicht für richtig, meine Tante ohne irgend einen dringenden Grund zu beunruhigen. Gute Nacht!«

Er sah so abgespannt aus, als er seine Kerze ergriff, um die Treppe heraufzugehen, daß ich es wagte, ihm einen Tropfen Brandy anzubieten. Dabei unterstützte mich Mr. Godfrey, der vom anderen Ende der Halle auf uns zukam. Auch er redete Mr. Franklin in freundlichstem Ton zu, doch noch irgend einen Schlaftrunk zu nehmen.

Franklin lehnte ab, und die beiden gingen nach oben, wo ihre Zimmer nebeneinander lagen. Auf dem Absatz jedoch rief er mir zu: »Vielleicht hätte ich doch gern etwas während der Nacht. Lass' mir Brandy und Wasser in mein Zimmer bringen.«

Ich schickte Samuel mit beidem hinauf und ging selbst nach draußen, um den Hunden das Halsband abzunehmen. Es goß noch in Strömen, und der Boden war völlig durchweicht. Samuel und ich gingen durch das Haus und verschlossen alles wie gewöhnlich. Bei dieser Gelegenheit prüfte ich selbst Türen und Fenster und überließ nichts meinem Vertreter. Das Haus war unter sicherem Verschluß, als ich zwischen Mitternacht und ein Uhr meine alten Knochen zur Ruhe legte. Die Sonne ging auf, als ich endlich in Schlaf fiel.

Gegen halb acht wachte ich auf und öffnete das Fenster. Es war ein schöner, sonniger Tag. Um acht ging ich gerade vor die Tür, um die Hunde wieder anzuketten, als ich plötzlich ein Rascheln von Röcken hinter mir auf der Treppe hörte.

Ich drehte mich um und sah Penelope auf mich zustürzen. Sie benahm sich wie eine Irrsinnige und schrie: »Vater! Komm herauf um Gottes willen! – Der Diamant ist fort!«

»Fort? Bist du verrückt?« fragte ich.

»Fort, keiner weiß wie! Komm herauf und sieh selbst!« Sie zerrte mich hinter sich her in das Boudoir unserer jungen Lady, von dem aus man in ihr Schlafzimmer kam. Und auf der Schwelle der Schlafzimmertür stand Miss  Rachel, fast so weiß im Gesicht wie der Morgenrock, den sie trug. Und da standen die beiden Türen der Vitrine sperrangelweit offen. Eins der Schubfächer war so weit wie es nur ging herausgezogen.

»Siehst du!« sagte Penelope, »ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Miss Rachel gestern Abend den Diamanten in dieses Fach legte.« Ich ging zu der Vitrine hin. Das Fach war leer.

»Ist das wahr, Miss?«

Mit einem Blick und einer Stimme, die beide gar nicht ihr zu gehören schienen, antwortete Miss Rachel genau wie meine Tochter: »Der Diamant ist fort!« und ging dann in ihr Schlafzimmer, dessen Tür sie verschloß.

Meine Lady trat herein, da sie meine Stimme im Zimmer ihrer Tochter gehört und sich gewundert hatte, was wohl passiert sei. Die Mitteilung von dem Verlust des Diamanten schien sie zu versteinern. Sie ging sofort zu Miss Rachels Schlafzimmer, und diese ließ sie eintreten.

Mr. Godfrey kam als erster aus seinem Zimmer. Als er von dem Geschehenen hörte, hob er völlig verwirrt die Hände hoch, was nicht gerade für seine Geistesgegenwart sprach. Als dann aber später Mr. Franklin erfuhr, was passiert sei, schien auch er genau so hilflos wie sein Vetter. Und dabei hatte ich so viel Vertrauen in seinen klaren Kopf gesetzt und mit seinem Rat gerechnet. Auffallenderweise hatte er in der letzten Nacht sehr gut geschlafen, und er meinte selbst, dieser ungewohnte Luxus habe ihn ganz benommen gemacht. Als er dann eine Tasse Kaffee getrunken hatte, wurden seine Gedanken klarer, und er nahm sofort und entschlossen die Angelegenheit in die Hand.

Zunächst ließ er die Dienstboten kommen und befahl ihnen, alle Türen und Fenster des Untergeschosses, mit Ausnahme der Eingangstür, die ich selbst geöffnet hatte, genau so zu lassen, wie Samuel und ich am vorigen Abend alles für die Nacht verwahrt hatten. Dann schlug er seinem Vetter und mir, vor, wir sollten uns ganz genau vergewissern, ehe wir weitere Schritte unternähmen, daß der Diamant nicht vielleicht doch irgendwohin gefallen sei, wo wir ihn nicht sehen könnten.

Wir fanden nichts. Auch eine Befragung von Penelope ergab nichts Neues. Darauf regte Mr. Franklin an, wir wollten Miss Rachel befragen. Er ließ Penelope an die Schlafzimmertür klopfen. Meine Lady kam heraus und schloß die Tür hinter sich, die in der nächsten Minute wieder von der Innenseite verschlossen wurde.

Lady Julia sah tiefbetrübt und bestürzt aus. »Der Verlust des Diamanten«, sagte sie, »scheint Rachel völlig überwältigt zu haben. Eigenartigerweise schreckt sie sogar davor zurück, mit mir darüber zu reden. Unter keinen Umständen ist sie im Augenblick zu sprechen.«

Diese Nachricht erhöhte unsere Bestürzung. Inzwischen hatte meine Lady sich ein wenig gefaßt und fuhr nun in ihrem gewohnt ruhigen Tone fort: »Wir werden vermutlich nicht darum herumkommen, zur Polizei zu schicken.«

»Und das nächste wird wohl sein«, fügte Mr. Franklin hinzu, »daß die Polizei die indischen Gaukler festnimmt, die gestern Abend hier eine Vorstellung gaben.«

Meine Lady und Mr. Godfrey, die nicht so viel wußten wie Franklin und ich, sahen überrascht in die Höhe, aber schon fuhr Franklin fort: »Ich habe jetzt keine Zeit, die Sache zu erklären. Ich kann nur so viel sagen: die Inder haben ganz bestimmt den Diamanten gestohlen. Schreibe mir doch bitte einen Empfehlungsbrief an einen der Richter in Frizinghall, Tante, in dem nichts weiter steht, als daß ich deine Wünsche und Interessen vertrete. Ich will sofort damit losreiten. Die Möglichkeit, die Diebe zu fangen, kann davon abhängen, daß wir nicht eine einzige Minute unnötig verschwenden.«

Er legte Feder, Tinte und Papier vor meine Lady hin, die – so schien es mir jedenfalls – den gewünschten Brief ein wenig widerwillig schrieb. Wäre eine Möglichkeit gewesen, von dem Verlust des Edelsteins, der 20 000 Pfund wert war, einfach keine Notiz zu nehmen, ich glaube, sie hätte sie mit größter Freude ergriffen.

Als ich mit Mr. Franklin zu den Ställen ging, fragte ich ihn, wie um alles in der Welt die Inder ins Haus gelangen konnten. »Einer von ihnen mag bei dem Durcheinander im Augenblick des Abschieds in die Halle geschlüpft sein. Er hat sich vielleicht unter dem Sofa versteckt, während meine Tante und Rachel sich darüber unterhielten, wo der Diamant in der Nacht aufbewahrt werden sollte. Dann brauchte er nur zu warten, bis es im Hause still war, und der Diamant in der Vitrine lag seinem Zugriff offen.«

Dies schien wirklich die einzig vernünftige Erklärung. Aber wie hatte der Dieb es fertig gebracht, aus dem Haus herauszukommen. Ich hatte am Morgen die Eingangstür verschlossen und verriegelt vorgefunden, genau wie ich sie in der Nacht gelassen hatte. Und genau so waren auch die anderen Türen und Fenster immer noch geschlossen und gesichert. Und dann die Hunde? Angenommen, der Dieb hatte sich aus einem der obersten Fenster heruntergelassen, wie war er dann den Hunden entgangen? Hatte er etwa vergiftetes Fleisch bei sich gehabt? Im gleichen Augenblick stürmten die Hunde um die Ecke des Hauses auf mich zu, kugelten auf dem nassen Rasen übereinander und waren so prachtvoll gesund und vergnügt, daß ich sie nur mit Mühe zur Vernunft bringen und an die Kette legen konnte. Je mehr ich nachdachte, umso unbefriedigender schien mir Franklins Erklärung.

Wir frühstückten; denn was auch immer in einem Hause passiert, Raub oder Mord, frühstücken muß man immer. Danach schickte meine Lady zu mir, und ich mußte ihr notgedrungen alles erzählen, was ich bezüglich der Inder und ihrer Verschwörung bisher vor ihr verborgen hatte. Sie schien sich weit mehr um ihre Tochter zu sorgen, als um die heidnischen Schufte und ihr Komplott.

»Du weißt ja, wie merkwürdig Rachel ist und wie sie sich bisweilen so ganz anders als andere Mädchen benimmt. Nie in meinem ganzen Leben habe ich sie so eigenartig und zurückhaltend gesehen wie jetzt. Es ist fast, als habe der Verlust des Edelsteins ihr den Kopf verdreht. Wer hätte gedacht, daß dieser gräßliche Diamant sie in so kurzer Zeit ganz in seine Gewalt bringen würde?«

Kurz vor elf Uhr kam Mr. Franklin zurück. Er war fortgaloppiert, jetzt ging das Pferd im Schritt. Als er uns verließ, war er ein Mann von Eisen, als er wiederkam, war er wie mit Baumwolle ausgestopft.

»Nun«, fragte meine Lady, »kommt die Polizei?«

»Ja! Sie versprachen mir, mit einem Einspänner zu folgen. Inspektor Seegrave vom hiesigen Polizeirevier und zwei seiner Leute. Eine bloße Formsache! Der Fall ist hoffnungslos.«

»Was! Sind die Inder entkommen, Sir?«

»Die armen Inder hat man ungerechtfertigt ins Gefängnis gesteckt«, erwiderte Mr. Franklin. »Sie sind so unschuldig wie neugeborene Kinder. Meine Idee, daß einer von ihnen sich im Hause verborgen hielt, und all meine übrigen Ideen sind in Rauch aufgegangen. Es hat sich erwiesen, daß dies unmöglich war.«

Franklin hatte den ganzen Fall dem Richter unterbreitet, und der Richter hatte sofort nach der Polizei geschickt. Die ersten Nachforschungen ergaben, daß die Inder überhaupt nicht versucht hatten, die Stadt zu verlassen. Ferner erwies es sich, daß alle drei und der Knabe gesehen worden waren, wie sie gestern Abend zwischen 10 und 11 Uhr nach Frizinghall zurückkehrten. Stellte man Zeit und Entfernung in Rechnung, so mußten sie also unmittelbar nach der Vorstellung auf unserer Terrasse nach ihrem Gasthaus gegangen sein. Um Mitternacht hatte die Polizei jenes Haus zufällig kontrolliert und sie und den kleinen Jungen dort angetroffen. Bald nach Mitternacht hatte ich aber das Schloß sicher verwahrt. Es konnte also kaum einen klareren Beweis zu Gunsten der Inder geben als diesen. Nach Ansicht des Richters lag bisher nicht einmal ein Verdacht gegen sie vor. Immerhin war es möglich, daß im Verlauf der Untersuchung noch etwas Neues über die Gaukler zutage kam. Der Richter versprach daher, er wolle sie hinter Schloß und Riegel zu unserer Verfügung halten, indem er sie als Strolche und Vagabunden behandelte. Das konnte er aber nur für eine Woche tun.

So war uns also ganz offensichtlich der indische Schlüssel zum Geheimnis des verlorenen Diamanten in den Händen zerbrochen. Waren aber die Gaukler unschuldig, wer um alles in der Welt hatte dann den Mondstein aus Miss Rachels Schubfach genommen?

Zehn Minuten später kam zu unserer größten Erleichterung Inspektor Seegrave. Für eine Familie in unserer Lage war der Beamte der Polizei in Frizinghall das Tröstlichste, was man sich wünschen konnte. Er war groß und stattlich und hatte etwas Militärisches an sich. Auf seinem Gesicht aber stand geschrieben: ›Ich bin der Mann, den Sie brauchen!‹

Zunächst ging er durch den ganzen Besitz, durch Haus und Park. Das Ergebnis bewies ihm, daß keine Diebe von außen hinein gelangt sein konnten, und daß infolgedessen der Raub von irgend jemandem im Schloß begangen sein mußte. Man kann sich den Zustand der Dienstboten vorstellen, als ihnen diese offizielle Feststellung zu Ohren kam. Der Inspektor entschied sich zuerst einmal dafür, das Boudoir zu untersuchen und danach die Dienstboten zu vernehmen. Gleichzeitig stellte er einen seiner Leute auf die Treppe, die zu den Schlafzimmern des Gesindes führte, und befahl ihm, niemanden heraufzulassen. Daraufhin verlor die schwächere Hälfte des Menschengeschlechts schlagartig den Kopf. Sie stürzten aus ihren Ecken hervor, fegten alle die Treppe herauf zu Miss Rachels Zimmer, stürzten sich auf Inspektor Seegrave und verlangten. von ihm, er solle die von ihm Verdächtigte sofort nennen, wobei sie alle gleicherweise schuldbewußt aussahen.

Der Inspektor erwies sich der Lage gewachsen. Er sah sie mit entschlossenem Blick an und schüchterte sie mit seiner militärischen Stimme ein.

»Nichts da, ihr Mädchen! Alles wieder nach unten! Ich kann euch hier nicht gebrauchen. – Nun seht mal!« Plötzlich wies der Inspektor auf eine kleine verschmierte Stelle an der neugemalten Tür von Miss Rachels Zimmer, an der äußeren Kante gerade unter dem Schloß. »Nun seht mal, was für ein Unheil bereits eure Röcke angerichtet haben! Raus!«

Rosanna stand ihm und jener Spur an der Tür am nächsten. Sie gab den anderen ein Beispiel des Gehorsams und schlüpfte sofort hinaus an ihre Arbeit. Die übrigen folgten, worauf der Beamte die Untersuchung des Raumes beendete, ohne etwas zu finden. Dann fragte er mich, wer den Diebstahl zuerst entdeckt hätte. Das war meine Tochter. Also ließ er meine Tochter kommen. Der Herr Inspektor ging gleich anfangs etwas zu scharf mit Penelope ins Zeug. »Na, junge Frau, aufgepaßt und die Wahrheit gesagt!« Penelope wurde sogleich zornig. »Lügen habe ich nicht gelernt, Herr Polizist, und wenn mein Vater daneben steht und sich mit anhört, wie ich der Falschheit und des Diebstahls bezichtigt werde, wie mir mein Zimmer vor der Nase zugeschlossen und mein guter Name schlecht gemacht wird, was doch wirklich das einzige ist, was ein armes Mädchen besitzt, dann ist er nicht der gute Vater, für den ich ihn bisher gehalten habe.«

Ein Wort zur rechten Zeit von mir brachte den Vertreter des Gesetzes und Penelope auf einen etwas freundschaftlicheren Fuß. Meine Tochter hatte gesehen, wie Miss Rachel, ehe sie gleich darauf zu Bett ging, den Diamanten in das Fach der Vitrine legte. Um acht Uhr am nächsten Morgen hatte sie Miss Rachel den Tee gebracht und dabei das Fach offen und leer gefunden. Darauf hatte sie das Schloß alarmiert, und das war alles.

Dann wollte der Inspektor Miss Rachel selbst sprechen. Penelope übermittelte seine Bitte durch die Tür, und die Antwort kam auf dem gleichen Wege: ›Ich habe der Polizei nichts zu sagen und kann jetzt niemanden sprechen.‹

Der erfahrene Beamte sah bei dieser Antwort ebenso überrascht wie beleidigt aus. Ich sagte ihm, die junge Dame sei krank, und bäte ihn, später mit ihr zu sprechen.

Wir gingen nach unten und trafen auf dem Weg durch die Halle Mr. Franklin und Mr. Godfrey. Sie wurden beide aufgefordert, durch ihre Aussagen zur Aufklärung der Angelegenheit beizutragen. Aber keiner der beiden wußte etwas Besonderes. Hatten sie während der letzten Nacht irgendwelche verdächtigen Geräusche gehört? Nein, nur das Trommeln des Regens. Hatte ich, Betteredge, der ja länger als sie beide wach gelegen hatte, auch nichts gehört? Nichts!

Nach seiner Befragung flüsterte mir Franklin zu: »Dieser Mann wird uns nicht das mindeste nützen. Inspektor Seegrave ist ein Esel.«

Als Mr. Godfrey dann entlassen war, flüsterte er: »Offenbar ein äußerst fähiger Mann. Betteredge, ich habe das größte Vertrauen zu ihm.«

Nun ging der Inspektor noch einmal in das Boudoir, wohin meine Tochter und ich ihm unmittelbar folgten. Er wollte herausfinden, ob während der Nacht irgendein Möbelstück von seinem gewohnten Platz entfernt worden war. Während wir noch zwischen Tischen und Stühlen rumorten, tat sich plötzlich die Tür des Schlafzimmers auf. Nachdem Miss Rachel bislang niemanden eingelassen hatte, trat sie nun zu unserem Erstaunen in unsere Mitte. Sie nahm ihren Gartenhut von einem Stuhl und ging dann geradewegs auf Penelope zu.

»Hat Mr. Franklin Blake dich heute morgen mit einer Nachricht zu mir geschickt?«

»Ja, Miss.«

»Er wollte mich sprechen, nicht wahr?«

»Ja, Miss.«

»Wo ist er jetzt?«

Da ich von der Terrasse unter uns Stimmen hörte, blickte ich aus dem Fenster und sah die beiden Herren dort auf- und abgehen. Ich antwortete daher an Stelle meiner Tochter: »Mr. Franklin ist gerade auf der Terrasse, Miss.«

Ohne ein weiteres Wort und ohne den Inspektor zu beachten, der sie anzusprechen versuchte, bleich wie der Tod und völlig gedankenverloren, wie ich es garnicht an ihr kannte, verließ sie das Zimmer. Ich sah, wie sie geradewegs auf Mr. Franklin zuging, ohne von Godfrey Notiz zu nehmen, der daraufhin die beiden sich selbst überließ. Sie redete heftig auf ihn ein. Das ganze dauerte nur kurze Zeit und schien Mr. Franklin, nach seinem Gesicht zu urteilen, unsagbar in Erstaunen zu versetzen. Während sie noch beisammen standen, trat meine Lady auf die Terrasse. Miss Rachel sah sie, sagte noch ein paar Worte zu Franklin und stürzte, ehe ihre Mutter nähergekommen war, ins Haus zurück. Ich konnte von meinem Fenster aus beobachten, wie sehr meine Lady und Mr. Franklin durch dieses eigentümliche Betragen überrascht waren. Nun trat auch Godfrey wieder zu ihnen. Mr. Franklin ging zwischen den beiden und erzählte ihnen vermutlich, was geschehen war; denn nach ein paar Schritten blieben meine Lady und Mr. Godfrey plötzlich stehen, als wären sie vom Donner gerührt. Während ich noch aus dem Fenster blickte, wurde die Tür zum Boudoir aufgerissen, und Miss Rachel, in höchster Erregung, mit zornig blitzenden Augen und hochroten Backen, eilte auf ihr Schlafzimmer zu. Noch einmal versuchte der Inspektor, sie etwas zu fragen. Aber, schon in ihrer Schlafzimmertür, drehte sie sich nach ihm um und rief heftig: »Ich habe Sie nicht kommen lassen! Ich habe nichts mit Ihnen zu tun! Mein Diamant ist verloren, weder Sie noch irgend jemand sonst wird ihn je wiederfinden!«

Mit diesen Worten schloß sie uns die Tür vor der Nase zu, und Penelope, die dicht daneben stand, hörte, wie sie im nächsten Augenblick zu weinen anfing.

Erst in heller Wut, im nächsten Augenblick in Tränen. Was hatte das alles zu bedeuten?

Hielt ich mich an das, was sie an ihrer Schlafzimmertür gesagt hatte, so konnte ich nur zu dem Schluß kommen, sie sei tödlich beleidigt, weil wir nach der Polizei geschickt hatten. Warum aber sollte sie etwas dagegen einzuwenden haben, daß gerade diejenigen Leute ins Haus kamen, deren Aufgabe es war, das Verlorene wiederzufinden? Und woher, um Himmelswillen, konnte sie wissen, daß der Diamant niemals wiedergefunden werden würde?

Wie die Dinge im Augenblick lagen, konnte ich von niemandem im Haus eine Antwort auf diese Fragen erhoffen. Mr. Franklin schien es für eine Ehrensache zu halten, nicht einmal gegenüber einem so alten Bedienten wie mir, die Worte zu wiederholen, die Miss Rachel auf der Terrasse gesprochen hatte. Mr. Godfrey, der als Gentleman und Verwandter wahrscheinlich von Franklin ins Vertrauen gezogen war, achtete selbstverständlich dieses Vertrauen.

Meine Lady, die sicher auch in das Geschehen eingeweiht war und allein Zugang zu Miss Rachel hatte, gab ganz offen zu, daß sie aus ihr nicht klug würde. Der ganze Einfluß ihrer Mutter konnte nur diese Worte aus ihr herauslocken: »Du machst mich verrückt, wenn du von dem Diamanten sprichst.«

Nun waren wir also an einem toten Punkt angekommen, sowohl was Miss Rachel wie auch den Monddiamanten anging. Unser erfahrener Beamter wollte nun wissen, ob alle Bedienten den Platz kannten, an dem der Diamant während der Nacht gelegen hatte. Seine Nachforschungen im Boudoir waren ergebnislos geblieben. »Zunächst einmal wußte ich davon, Sir«, sagte ich. »Soweit ich weiß, kann aber auch jeder andere im Hause darüber unterrichtet gewesen sein, wo sich das Juwel in der letzten Nacht befand.«.

Weiterhin wollte er dann näheres über den Ruf der Dienstboten wissen. Ich dachte sofort an Rosanna Spearman, aber ich war nicht dazu befugt und beabsichtigte auch nicht, einen Verdacht auf das arme Mädchen zu lenken, dessen Ehrlichkeit für mich über jeden Zweifel erhaben war. So sagte ich denn: »Alle unsere Leute haben einen ausgezeichneten Ruf, und alle haben das Vertrauen verdient, das ihre Herrin in sie gesetzt hat.«

Nun wurden die Dienstboten nacheinander befragt. Sie alle bewiesen, daß sie nichts über den Verbleib des Diamanten wissen konnten. Trotzdem war aber die Aussage, soweit die Mägde in Frage kamen, sehr weitschweifig, zumal jede ihrem Zorn über die Anordnung, die Schlafzimmer nicht betreten zu dürfen, mehr oder weniger temperamentvoll Luft machte. Während er die anderen wieder nach unten schickte, wurde Penelope geholt und zum zweiten Mal befragt.

Der kurze Zornesausbruch meiner Tochter im Boudoir und die Tatsache, daß sie sich für verdächtigt hielt, schien auf Inspektor Seegrave einen schlechten Eindruck gemacht zu haben. Offenbar beschäftigte ihn auch ein wenig der Gedanke, daß Penelope die letzte gewesen war, die den Diamanten in der Nacht gesehen hatte. Nach der zweiten Befragung kam mein Mädel gänzlich aufgeregt zu mir. Kein Zweifel, der Polizeibeamte hatte ihr ziemlich unverblümt zu verstehen gegeben, daß er sie für die Täterin hielt. Ich konnte es kaum glauben, daß der Inspektor ein solcher Esel sei, selbst wenn ich mich Franklins Ansicht anschloß. Natürlich sagte ich nichts, aber der Blick, den er meiner Tochter zuwarf, gefiel mir ganz und gar nicht. Der Teufel mochte ihn holen.

Der nächste und letzte Schritt der Untersuchung brachte die Dinge zu einer Krisis. Der Beamte unterhielt sich in meiner Gegenwart mit meiner Lady. Zunächst setzte er sie von seiner Ansicht in Kenntnis, daß der Diamant von einer Person im Hause gestohlen sein müsse. Dann bat er um die Erlaubnis, die Zimmer der Bedienten sofort durchsuchen zu dürfen. Meine gute Herrin, die so vornehm und edeldenkend war, weigerte sich, uns wie Diebe behandeln zu lassen. Ich fühlte mich veranlaßt, ihr zu sagen: »Wir danken Ihnen von ganzem Herzen, meine Lady, möchten Sie aber doch bitten, in dieser Angelegenheit nur das zu tun, was richtig ist. Wir wollen unsere Schlüssel ausliefern. Wenn Gabriel Betteredge ein Beispiel gibt«, wandte ich mich dann an den Inspektor, »so werden die übrigen Dienstboten diesem Beispiel folgen. Das verspreche ich. Hier haben Sie meine Schlüssel.«

Meine Lady ergriff meine Hand und dankte mir mit Tränen in den Augen. Du lieber Gott, was hätte ich in diesem Augenblick nicht dafür gegeben, hätte ich Inspektor Seegrave niederschlagen dürfen. Auch die anderen Bedienten lieferten ihre Schlüssel ab, wie ich es vorausgesagt hatte. Als die Untersuchung beendet war, und natürlich nirgendwo der Diamant oder auch nur eine Spur von ihm entdeckt worden war, zog sich Inspektor Seegrave in mein kleines Zimmer zurück, um mit sich zu Rate zu gehen. Ich selbst wurde zu Franklin in die Bibliothek gerufen. Gerade als ich die Hand auf deren Türklinke legen wollte, wurde die Tür plötzlich von innen geöffnet, und wer beschreibt mein Erstaunen, als Rosanna Spearman herauskam.

Ich hielt sie an und warf ihr sofort vor, sie habe gegen die Hausordnung verstoßen. War nämlich am Morgen die Bibliothek gereinigt, so hatte kein Dienstbote während des übrigen Tages etwas darin zu suchen.

»Was hast du zu dieser Tageszeit in der Bibliothek zu tun«, forschte ich.

»Mr. Franklin Blake hat in seinem Zimmer einen Ring verloren«, entgegnete Rosanna, »und ich war in der Bücherei, um ihm den Ring zurückzugeben.«

Das Gesicht des Mädchens war bei dieser Antwort von einer tiefen Röte bedeckt, und als sie weiterging, warf sie den Kopf zurück und sah so selbstbewußt aus, daß ich keine Erklärung dafür finden konnte.

Als ich die Bibliothek betrat, schrieb Mr. Franklin an einem Tisch. Er fragte mich nach einer Fahrgelegenheit zur Bahn.

»Fahren Sie nach London, Sir?«

»Ich will nach London telegraphieren. Ich habe meine Tante davon überzeugt, daß wir irgend jemanden hinzuziehen müssen, der klüger ist als Inspektor Seegrave, und sie hat mir erlaubt, an meinen Vater zu telegraphieren. Dieser kennt den Chef der Polizei und wird durch ihn schon den richtigen Mann herausfinden, der das Geheimnis des Diamanten entschleiern kann.« Franklins Stimme wurde leiser. »Da wir gerade von Geheimnissen sprechen, nicht ein Wort davon zu irgend jemandem. Aber entweder ist Rosanna Spearman nicht ganz richtig im Kopf, oder sie weiß, wie ich fürchte, mehr über den Monddiamanten, als sie wissen dürfte. Sie brachte den Ring, der mir im Schlafzimmer heruntergefallen war, hierher. Ich bedankte mich und dachte natürlich, sie würde nun gehen. Statt dessen stand sie mir am Tisch gegenüber und sah mich ganz merkwürdig an, halb erschrocken und halb vertraulich, ich wurde mir darüber nicht ganz klar. ›Eine seltsame Angelegenheit mit diesem Diamanten, Sir‹, sagte sie auffallend abrupt und hastig. Wahrhaftig, Betteredge, ich glaube, sie ist nicht richtig im Kopf. Denn nun fuhr sie fort: ›Man wird den Diamanten doch wohl niemals finden, Sir? – – Nein! Auch nicht den Täter, dafür verbürge ich mich.‹ Weiß Gott, sie nickte und lächelte mich an. Ehe ich sie noch fragen konnte, was denn das alles bedeuten solle, hörten wir deinen Schritt vor der Tür. Vielleicht war sie erschrocken, daß du sie hier finden würdest. Jedenfalls wechselte sie die Farbe und stürzte aus dem Zimmer. Was um alles in der Welt hat das nur zu bedeuten?«

Auch in diesem Augenblick konnte ich es noch nicht über mich bringen, ihm die Geschichte des Mädchens zu erzählen. Es wäre fast gleichbedeutend damit gewesen, daß ich sie ihm gegenüber als die Diebin bezeichnete. So sagte ich nur: »Es wird wohl das beste sein, Sir, wenn ich bei erster Gelegenheit im Vertrauen ein paar Worte mit Lady Julia spreche. Sie nimmt £in lebhaftes Interesse an Rosanna, und vielleicht war das Mädchen letzten Endes nur etwas unbesonnen und töricht. Immer, wenn etwas im Hause schief geht, Sir, sehen die Dienstmädchen die Angelegenheit leicht zu düster an. Ist irgend jemand krank, verlassen Sie sich darauf, die Mädchen prophezeien sofort seinen Tod. Ist ein Edelstein verloren gegangen, dann prophezeien sie, daß er nie wieder gefunden wird.«

Diese Ansicht schien Mr. Franklin sehr zu erleichtern.

Auf meinem Weg nach den Ställen warf ich einen Blick in den Gesinderaum. Dort saßen alle beim Essen, aber Rosanna Spearman war nicht anwesend. Als ich nach ihr fragte, erfuhr ich, sie sei plötzlich krank geworden und hätte sich oben in ihrem Zimmer hingelegt.

»Das ist ja merkwürdig. Als ich sie zum letzten Male traf, sah sie völlig gesund aus«, bemerkte ich.

Penelope folgte mir. »Sprich nicht so, wenn die anderen dabei sind, Vater. Du bringst sie nur noch mehr gegen Rosanna auf. Dem armen Ding bricht wegen Mr. Franklin noch das Herz.«

Das freilich ließ das Verhalten des Mädchens in einem anderen Licht erscheinen.

Als ich mit dem Wagen zur Eingangstür kam, fand ich dort nicht nur Mr. Franklin, sondern auch Godfrey und Inspektor Seegrave.

Der letztere war anscheinend nach seinen langen Überlegungen zu einem völlig neuen Entschluß gekommen. Während er noch immer bei seiner ersten Auffassung blieb, irgendeine Person im Hause habe den Edelstein gestohlen, war seine neue Theorie nunmehr die, daß der Dieb mit den Indern zusammengearbeitet hatte. Er war klug genug, nicht die arme Penelope zu nennen. Jedenfalls wollte er nun seine Erkundungen auf die Gaukler im Gefängnis von Frizinghall ausdehnen. Mr. Franklin hatte sich erboten, den Inspektor zur Stadt mitzunehmen, und wollte von dort aus nach London telegrafieren. Mr. Godfrey Ablewhite, dessen Vertrauen zu Mr. Seegrave noch immer unerschüttert war und der großes Interesse daran hatte, bei der Befragung der Inder zugegen zu sein, begleitete den Beamten mit dessen Einverständnis nach Frizinghall. Einer der beiden Polizisten sollte im Hause bleiben, falls sich irgendetwas Unerwartetes ereignete. Ehe er die Zügel des Gefährtes ergriff, führte mich Franklin ein paar Schritte außer Hörweite der anderen.

»Ich werde mit dem Telegramm nach London warten, bis das Ergebnis der Untersuchung gegen die Inder vorliegt. Ich bin überzeugt davon, daß dieser Esel von einem Polizeibeamten noch immer im Dunkeln tappt und nur versucht, Zeit zu gewinnen. Der Gedanke, einer der Dienstboten könne mit den Indern unter einer Decke stecken, ist ein toller Unfug. Bleib' hier im Haus, Betteredge, bis ich zurückkehre, und versuche, etwas über Rosanna Spearman herauszubekommen. Du sollst nichts tun, was du mit deiner Selbstachtung nicht vereinbaren kannst. Du sollst auch nicht etwa grausam zu dem Mädchen sein. Ich möchte nur, daß du aufmerksamer als gewöhnlich Obacht gibst. Vor meiner Tante wollen wir die Sache so lange verheimlichen wie nur möglich, aber es handelt sich um eine wichtigere Angelegenheit, als du vielleicht glaubst.«

»Es handelt sich um 20 000 Pfund, Sir.«

»Es handelt sich darum, Rachel zu beruhigen. Ich mache mir sehr viel Sorgen um sie.«

Er ließ mich plötzlich stehen, als wünsche er keine Fortsetzung der Unterhaltung. Ich glaube, ich verstand, weshalb er das tat. Weitere Worte hätten mir nämlich verraten können, was Rachel auf der Terrasse zu ihm gesagt hatte.

So fuhren die drei nach Frizinghall, und der Tag verlief recht traurig und trostlos. Miss Rachel blieb weiter auf ihrem Zimmer. Lady Julia sorgte sich so sehr um ihre Tochter, daß ich es nicht über das Herz bringen konnte, sie durch den Bericht über das, was sich zwischen Rosanna und Franklin zugetragen hatte, noch trauriger zu stimmen. Ich selbst fühlte mich nicht einmal dazu aufgelegt, im Robinson Crusoe zu lesen.

Eine halbe Stunde vor dem Essen kamen die beiden Herren aus Frizinghall zurück. Der Inspektor wollte am nächsten Tage zurückkehren. Sie hatten Mr. Murthwaite in seiner Wohnung, die nahe bei der Stadt lag, aufgesucht. Auf Franklins Bitte war er so freundlich gewesen, seine Sprachkenntnisse bei der Unterhaltung mit den zwei Indern zur Verfügung zu stellen, die kein Englisch konnten. Eine sorgfältige und langwierige Vernehmung hatte zu nichts geführt. Es lag auch nicht der Schatten eines Verdachtes dafür vor, daß die Gaukler mit einem unserer Dienstboten unter einer Decke gesteckt hatten. Daraufhin hatte Mr. Franklin das bewußte Telegramm nach London gesandt, und bis zum nächsten Morgen ereignete sich nichts.

Ein oder zwei Tage später jedoch sollte sich das Dunkel ein wenig lüften.

 

Am Freitag morgen erfuhren wir zwei Neuigkeiten. Der Laufjunge des Bäckers behauptete, er habe am vorhergehenden Nachmittag Rosanna Spearman getroffen, wie sie tief verschleiert den Fußweg durchs Moor nach Frizinghall ging. Es war an sich auffallend, daß irgend jemand Rosanna verkennen sollte; denn die hohe Schulter machte das arme Ding auffällig genug. Und doch mußte er sie verkannt haben; denn Rosanna hatte ja den ganzen Donnerstag nachmittag krank in ihrem Zimmer gelegen. Die zweite Nachricht brachte der Postbote. Der würdige Mr. Candy hatte sich in der Nacht nach dem Fest erkältet und lag mit Fieber danieder. Die letzten Berichte wußten zu melden, daß er ein wenig wirr im Kopfe sei, und daß der arme Mann in seinem Delirium – wie er es so oft tat, wenn er bei klaren Sinnen war – Unsinn rede. Uns allen tat der kleine Doktor leid, Franklin aber schien seine Krankheit in erster Linie um Miss Rachels willen zu bedauern. Er schien der Ansicht, sie würde bald den besten, erreichbaren ärztlichen Rat dringend benötigen, wenn sich die Spannung wegen des Monddiamanten nicht bald lösen sollte.

Das Frühstück war noch nicht lange vorüber, als ein Telegramm des älteren Mr. Blake eintraf. Der tüchtige Mann, der uns helfen sollte, hieß Sergeant Cuff, und wir konnten ihn aus London bereits mit dem Morgenzug erwarten.

Bei diesem Namen fuhr Mr. Franklin auf. Offenbar hatte er von dem Anwalt seines Vaters in London über diesen Sergeanten Cuff ein paar bemerkenswerte Anekdoten gehört; denn er sagte: »Ich beginne zu hoffen, daß das Ende unserer Nöte in Sicht ist. Wenn nur die Hälfte der Geschichten wahr ist, die man sich erzählt, so hat Sergeant Cuff in England nicht seinesgleichen, wenn es sich um die Entschleierung eines Geheimnisses handelt.«

Wir wurden immer aufgeregter und ungeduldiger, je näher die Ankunft dieses berühmten und tüchtigen Mannes rückte. Inspektor Seegrave kehrte zur verabredeten Zeit zurück, erfuhr von der erwarteten Ankunft des Sergeanten und schloß sich mit Feder, Tinte und Papier in einem Zimmer ein, um seinen Bericht zu entwerfen. Ich hätte den Sergeanten gern selbst vom Bahnhof abgeholt, aber kein Wagen war verfügbar, da sogar die Pony-Chaise für Mr. Godfrey gebraucht wurde. Dieser hatte die Zeit seiner Abreise bis zum letzten Zug verschoben, um noch die Ansicht des klugen Londoner Polizeibeamten über den Fall zu hören. Aber Freitag abend mußte er wieder in London sein.

Ich ging bis zum Pförtnerhaus. Dort stieg gerade ein ergrauter Herr aus einem Einspänner, so erbarmungswürdig dürr, daß es aussah, als hätte er nirgendwo auch nur eine Unze Fleisch auf den Knochen. Er war von Kopf bis Fuß würdig in Schwarz gekleidet, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, über das sich eine gelbe Haut spannte, so ausgetrocknet und verschrumpelt wie ein Herbstblatt. Die Augen waren von einem hellen Grau und hatten die sehr beunruhigende Eigenart, einen anzuschauen, als erwarteten sie mehr von einem, als man selbst zu sagen wußte. Sein Gang war leise, er sprach mit melancholischer Stimme, und die langen, mageren Finger waren wie Klauen ineinandergehakt. Er hätte alles sein können – ein Pfarrer, ein Leichenbestatter, oder was sonst – nur nicht das, was er wirklich war.

»Gehört dieses Haus Lady Verinder?«

»Ja, Sir.«

»Ich bin Sergeant Cuff.«

»Bitte kommen Sie hier entlang, Sir.«

Während wir zum Hause gingen, nannte ich ihm meinen Namen und erwähnte meine Stellung in der Familie, um ihm die Möglichkeit zu geben, mit mir über die Angelegenheit zu sprechen, für die meine Lady seine Dienste in Anspruch nehmen wollte. Und doch redete er kein Wort darüber. Stattdessen bewunderte er die Anlagen und bemerkte, wie scharf und erfrischend er die Seeluft empfände. In meinem Innern wunderte ich mich, wie es wohl der berühmte Cuff zu seinem großen Ruf gebracht hätte. Bis wir zum Hause kamen, fühlten wir uns wie zwei Hunde, die zum ersten Mal an die gleiche Kette gelegt worden sind. Wir umschritten das Schloß, gingen nach dem rückwärtigen Garten, und ich schickte einen Dienstboten, um meine Lady zu suchen. Während des Wartens schaute Sergeant Cuff durch die immergrüne Hecke, entdeckte den Rosengarten und ging geradewegs dorthin. Zum ersten Mal fiel mir an ihm etwas auf, was einem Interesse ähnlich sah. Er wiegte seinen ergrauten Kopf und sagte mit einem Anflug von Freude und melancholischer Stimme: »Sehr schön, Sie haben hier die richtige Süd-Südwestlage. Und so muß ein Rosengarten auch aussehen. Ein Kreis in der Mitte eines Vierecks. Ja, ja. Auch Wege zwischen den Beeten. Aber es dürfen doch keine Kieswege sein. Rasen, mein Herr Gärtner, Rasen und kein Kies. Kies ist viel zu schwer.«

Da schienen wir ja den richtigen Mann gefunden zu haben, um Miss Rachels Diamanten und den Dieb zu entdecken.

»Sie scheinen Rosen gern zu haben, Sergeant.«

»Ich habe nicht viel Zeit, irgend etwas gern zu haben. Bleibt mir aber ein Augenblick dafür, so gehört er meistens den Rosen, Mr. Betteredge. Wenn Sie einmal nachprüfen wollen, so werden Sie feststellen, daß die Vorliebe eines Menschen in fast allen Fällen seiner eigentlichen Beschäftigung so diametral wie möglich entgegengesetzt ist. Verzeihung, da kommt eine Dame. Ist das Lady Verinder?«

Er hatte sie entdeckt, ehe ich oder der Gärtner sie gesehen hatten, obwohl wir doch wußten, woher sie kommen würde, und er nicht. Ich begann, ihn doch für klüger zu halten, als er mir zunächst erschienen war.

Das Erscheinen und der Auftrag des Sergeanten verwirrten meine Lady ein wenig. So lange ich sie auch kannte, jetzt zum ersten Mal wußte sie nicht, was sie bei einer Unterhaltung mit einem Fremden sagen sollte. Aber Sergeant Cuff gab ihr sofort die Fassung wieder. Er fragte, ob schon irgend jemand sonst in Sachen des Diebstahls tätig gewesen sei, und bat, als dies bestätigt wurde, zunächst einmal mit dem anderen Beamten sprechen zu dürfen. Darauf zogen sich die beiden zurück und blieben ewig lange miteinander allein. Als sie wieder herauskamen, war der Inspektor aufgeregt, der Sergeant aber gähnte.

Seegrave wandte sich gewichtig an mich und sagte: »Der Sergeant möchte gern Miss Verinders Wohnzimmer sehen. Bitte kümmern Sie sich um den Herrn Sergeanten.«

Ich führte den Beamten die Treppe hinauf. Er prüfte sehr vorsichtig die indische Vitrine und das ganze Boudoir. Dabei stellte er Fragen, die er ständig an mich und nur gelegentlich an den Inspektor richtete. Schließlich kam er auch zu der bewußten Tür und ihrer Bemalung. Fragend legte er einen mageren Finger auf die verschmierte Stelle unter dem Schloß.

»Schade. Wie kam das zustande?«

Auch diese Frage richtete er an mich. Ich erwiderte, daß sich gestern morgen die Mägde ins Zimmer gedrängt hätten, und daß einer ihrer Röcke das Unheil anrichtete. Inspektor Seegrave habe sie dann hinausgeschickt, ehe noch mehr geschah.

»Sehr richtig«, fiel der Inspektor in militärischem Tone ein. »Ich habe sie hinausgeschickt. Die Röcke sind schuld, Sergeant.«

»Und haben Sie gesehen, wessen Rock es gewesen ist?«

Cuff sprach immer noch mit mir und nicht mit seinem Kollegen.

»Nein, Sir.«

»Aber Sie haben es vermutlich bemerkt?« wandte er sich jetzt an den Inspektor. Dieser sah etwas erschrocken aus, machte aber gute Miene zum bösen Spiel. »Mit einer solchen lächerlichen Kleinigkeit kann ich mein Gedächtnis nicht belasten, Sergeant.« Sergeant Cuff sah Mr. Seegrave mit dem gleichen Blick an wie die Kieswege im Rosengarten und gab uns nun in seiner melancholischen Art den ersten Vorgeschmack seiner Fähigkeiten. Er sagte nämlich: »Ich hatte in der letzten Woche eine private Untersuchung zu führen, Herr Inspektor. An einem Ende ein Mord und am anderen ein Tintenfleck auf einem Tischtuch, und niemand wußte, woher er kam. So lange ich nun schon meine Erfahrungen auf den schmutzigen Wegen dieser schmutzigen, kleinen Welt gesammelt habe, ist mir so etwas wie eine lächerliche Kleinigkeit noch nie begegnet.

Ich werde nun einen weiteren Schritt tun. Wir müssen den Rock sehen, der diese Farbe verwischt hat, und wir müssen ganz genau wissen, wann diese Farbe noch feucht war. – Wann waren gestern vormittag die Bedienten in diesem Zimmer? Um elf Uhr, stimmts? Ist jemand im Haus, der uns sagen kann, ob gestern morgen um 11 Uhr diese Farbe feucht oder trocken war?«

»Der Neffe unserer Lady, Mr. Franklin Blake, weiß Bescheid«, sagte ich.

Eine halbe Minute später betrat Franklin das Zimmer. »Jene Tür, Sergeant, wurde unter meiner Aufsicht, mit meiner Hilfe und mit einem Bindemittel meiner eigenen Erfindung von Miss Verinder gemalt. Dieses Bindemittel – welche Farben man auch mit ihm zusammen verwendet – trocknet in zwölf Stunden.«

»Erinnern Sie sich noch, wann das jetzt verschmierte Stück gemalt wurde, Sir?« fragte der Sergeant.

»Sehr genau! Es war das letzte Stückchen, das noch zu tun blieb. Wir wollten es gern am letzten Mittwoch fertig bekommen, und ich selbst beendete die Arbeit um drei Uhr nachmittags oder kurz danach.«

»Heute ist Freitag. Wir wollen mal zurückrechnen. Um drei Uhr am Mittwoch nachmittag wurde jene Malerei beendet. Das Bindemittel trocknet in zwölf Stunden, also um drei Uhr Donnerstag morgen. Um elf Uhr hielt dann der Inspektor hier die Untersuchung ab. Elf weniger drei bleibt acht. Diese Farbe war bereits acht Stunden trocken, Herr Inspektor, als nach Ihrer Vermutung die Röcke der Mädchen mit ihr in Berührung kamen.«

Das war die erste Niederlage für Mr. Seegrave. Hätte er nicht meine arme Penelope verdächtigt, so hätte er mir leid getan. Cuff fuhr fort und wandte sich an Mr. Franklin, da er wohl seinen Kollegen als hoffnungslosen Fall aufgegeben hatte. »Es ist durchaus möglich, Sir, daß Sie uns den Schlüssel in die Hand gegeben haben.«

Als diese Worte gesprochen wurden, öffnete sich die Tür des Schlafzimmers, und unerwartet trat Miss Rachel in unsere Mitte.

Ohne Notiz davon zu nehmen oder sich nur darum zu kümmern, daß der Sergeant ihr vollständig fremd war, wandte sie sich an ihn: »Sagten Sie, daß er Ihnen den Schlüssel in die Hand gegeben hat?«

»Miss Verinder«, flüsterte ich hinter dem Sergeanten.

»Dieser Herr, Miss«, sagte der Sergeant und musterte aufmerksam mit seinen stahlgrauen Augen das Gesicht vor ihm, »hat möglicherweise den Schlüssel in unsere Hände gelegt.«

Sie drehte sich einen Augenblick um und versuchte Franklin anzusehen. Ich sage absichtlich, versuchte; denn ehe ihre Augen sich trafen, blickte sie schon wieder weg. Sie schien merkwürdig verstört zu sein, errötete und wurde dann wieder blaß. Mit der Blässe aber kam ein neuer Ausdruck in ihr Gesicht, ein Ausdruck der mich bestürzte.

»Nach Beantwortung ihrer Frage, Miss«, fuhr der Sergeant fort, »bitte ich nun etwas fragen zu dürfen. An der Farbe ihrer Tür ist eine verwischte Stelle. Wissen Sie zufällig, wann sie gemacht wurde oder wer sie machte?«

Statt jeder Antwort fuhr Miss Rachel fort zu fragen, als ob er garnicht gesprochen oder sie ihn garnicht gehört hätte. »Sind Sie auch ein Polizeibeamter?«

»Ich bin Sergeant Cuff von der Kriminalpolizei!«

»Glauben Sie wirklich, den Rat eines jungen Mädchens nötig zu haben?«

»Ich würde mich freuen, ihn zu hören.«

»Tun Sie ihre Pflicht allein und erlauben Sie Mr. Franklin Blake nicht, Ihnen zu helfen!«

Sie sprach diese Worte so hastig und leidenschaftlich, mit so erstaunlicher Abneigung gegen Franklin im Ton und Blick, daß ich mich zum ersten Mal in meinem Leben für Miss Rachel schämte.

Sergeant Cuff's unbeweglicher Blick ließ ihr Gesicht nicht einen Augenblick los. »Vielen Dank, Miss«, sagte er. »Wissen Sie zufällig etwas über jenen Fleck? Haben Sie ihn etwa selbst gemacht?«

»Ich weiß garnichts darüber.«

Damit wandte sie sich um und schloß sich wieder im Schlafzimmer ein. Dieses Mal hörte ich sie bitterlich weinen, sobald sie wieder allein war.

Ich brachte es nicht fertig, den Sergeanten anzusehen, sondern blickte Mr. Franklin an, der mir zunächst stand. Er schien sogar über das Geschehene noch tiefer bestürzt als ich.

»Ich habe dir ja gesagt, in welcher Sorge ich um sie bin und nun siehst du weshalb.«

»Miss Verinder scheint über den Verlust des Diamanten reichlich niedergeschlagen zu sein«, bemerkte der Sergeant. »Nur zu verständlich; ein wertvolles Juwel.«

Wie ein kalter Schauer, über den ich mir keine Rechenschaft geben konnte, lief es mir in diesem Augenblick über den Rücken. Heute weiß ich, daß mir damals zum ersten Male der Verdacht kam, Sergeant Cuff sähe den Fall in einem neuen und furchtbaren Licht, und zwar nur deswegen, weil ihm etwas Besonderes an Miss Rachel aufgefallen war, als er sich zum ersten Mal mit ihr unterhielt.

»Wir wollen vergessen, was geschehen ist, und in unserer Arbeit fortfahren. Wir wissen nun, wann die Farbe trocken war. Jetzt müssen wir herausfinden, wann die Tür zum letzten Mal ohne diesen Schmierfleck gesehen wurde.« Er wandte sich an Franklin. »Sie sind ein kluger Mensch – und Sie verstehen, was ich meine?«

Mr. Franklin faßte sich und sagte: »Ich glaube, daß ich Sie verstehe. Je mehr wir die Frage der Zeit einengen, um so mehr engen wir die ganze Untersuchung ein.«

»Ganz recht, Sir. Haben Sie sich nach jenem Mittwoch nachmittag Ihre Arbeit noch einmal genau betrachtet?«

Franklin schüttelte den Kopf. »Ich glaube kaum.«

»Und Sie?« Cuff wandte sich an mich.

»Ich auch nicht, Sir.«

»Wer war am Mittwoch abend als letzter in diesem Zimmer?«

»Soviel ich weiß, Miss Rachel, Sir.«

»Möglicherweise deine Tochter, Betteredge«, fiel Franklin ein und klärte Sergeant Cuff darüber auf, daß meine Tochter Miss Verinders Zofe sei.

»Mr. Betteredge, lassen Sie doch bitte ihre Tochter heraufkommen.«

Der Sergeant führte mich außer Hörweite ans Fenster und fuhr dort flüsternd fort: »Ihr Inspektor hat mir einen recht vollständigen Bericht über die Art erstattet, in der er den Fall bisher behandelt hat. Unter anderem hat er, wie er selbst zugibt, das Gesinde gegen sich aufgebracht. Es ist nun sehr wichtig, die Dienstboten wieder zu beruhigen. Sagen Sie Ihrer Tochter und den übrigen zweierlei. Bisher hätte ich keinerlei Beweise, daß der Diamant überhaupt gestohlen worden ist. Ich weiß nur, daß er verloren ging. Ich sähe meine Aufgabe, soweit die Dienstboten in Frage kommen, in erster Linie darin, sie um ihre Mitarbeit bei den Nachforschungen zu bitten.«

»Sergeant, würden Sie den Frauen vielleicht auch erlauben, die Treppe hinauf- und herunterzulaufen und ihre Schlafzimmer zu betreten, wie es ihnen gerade einfällt?«

»Mit großem Vergnügen.«

»Das wird sie alle beruhigen, von der Köchin bis zum Küchenmädchen.«

Penelope kam und schien Gnade vor den Augen des Sergeanten zu finden. Er war nicht mehr ganz so trübselig.

Hier folgt die Aussage meiner Tochter, wie sie der Sergeant aus ihr herauslockte: ›Lebhaftes Interesse an der Tür genommen, beim Mischen der Farben geholfen, auf das Stück unter dem Schloß geachtet, weil es das letzte war. Einige Stunden später dieses Stück noch unberührt gesehen. Auch um 12 Uhr nachts noch. Zu dieser Zeit der jungen Dame im Schlafzimmer gute Nacht gesagt. Gehört, wie die Uhr im Boudoir schlug, als gerade die Hand auf die Klinke der gemalten Tür gelegt. Wußte, daß die Farbe frisch war, und gab sich deshalb auch besondere Mühe, nicht daran zu kommen. Kann beschwören, die Röcke zusammengerafft zu haben, so daß eigentlich die Farbe nicht berührt sein kann. Kann aber nicht beschwören, ob nicht das Kleid aus Versehen beim Hinausgehen die Tür doch berührt hat. Erinnert sich an das Kleid, weil es neu und ein Geschenk von Miss Rachel war. Auch Vater erinnert sich daran. Konnte und wollte es holen, und holte es. Das Kleid durch den Vater als dasjenige erkannt, das seine Tochter in jener Nacht trug. Den Rock geprüft – eine lange Arbeit, weil er so weit war. Keine Spur eines Farbflecks gefunden. Ende von Penelopes Aussage. Gezeichnet Gabriel Betteredge.‹

Als nächstes fragte mich nun der Sergeant nach den großen Hunden, die vielleicht mit einem Wedeln des Schwanzes das Unheil angerichtet haben konnten. Als er hörte, daß dies unmöglich sei, ließ er sich eine Lupe kommen und untersuchte damit die fragliche Stelle auf Fingerabdrücke.

Bei diesem Stand der Untersuchung fiel es Sergeant Cuff auf, daß auch noch ein gewisser Inspektor Seegrave im Zimmer war. Er faßte also das bisherige Ergebnis zum Nutzen seines Kollegen wie folgt zusammen: »Ihre lächerliche Kleinigkeit, Herr Inspektor, ist doch etwas bedeutsamer geworden, seit Sie sie zuletzt bemerkt hatten. Von jenem Fleck ausgehend sind im augenblicklichen Stadium der Untersuchung nach meiner Ansicht drei Feststellungen zu treffen: Erstens müssen wir herausfinden, ob in diesem Haus irgend ein Kleidungsstück mit dem Farbfleck ist. Zweitens, wem dieses Stück gehört. Drittens, wie die fragliche Person es rechtfertigen kann, daß sie zwischen Mitternacht und drei Uhr im Zimmer gewesen ist und die Farbe verschmiert hat. Kann diese Person keine befriedigende Auskunft geben, so brauchen Sie nicht weit nach der Hand zu suchen, die den Diamanten genommen hat. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich den Fall selbst bearbeiten und möchte Sie nicht länger Ihrem normalen Dienst in der Stadt entziehen. Lassen Sie einen Ihrer Leute zu meiner Verfügung und gestatten Sie mir, Ihnen einen guten Morgen zu wünschen.«

»Ich habe bisher absichtlich meine Meinung nicht geäußert«, entgegnete der Inspektor, und der militärische Tonfall seiner Stimme übte immer noch seine Wirkung. »Wenn ich nun den Fall in Ihren Händen lasse, so darf ich noch etwas sagen. Herr Sergeant, man kann ein Gebirge aus einem Maulwurfshaufen machen! Guten Morgen.«

»Man kann auch einen Maulwurfshaufen aus einem Nichts entstehen lassen; nämlich dann, wenn man den Kopf zu hoch trägt.«

Nachdem er so die Freundlichkeit seines Kollegen zurückgegeben hatte, drehte sich Cuff um und ging zum Fenster. Mr. Franklin und ich warteten, was sich nun wohl ereignen würde.

Der Sergeant stand, Hände in den Taschen, am Fenster, sah hinaus und pfiff die Melodie der ›Letzten Rose‹ leise vor sich hin.

Nach ein paar Minuten trat er tief in Gedanken, die Augen auf Miss Rachels Zimmertür geheftet, in die Mitte des Zimmers. Dann nickte er mit dem Kopf, als wolle er sagen, ›das genügt mir‹.

Er wandte sich zu mir um und bat mich, ihm eine kurze Unterredung mit meiner Lady zu verschaffen. Im Hinausgehen vernahm ich noch, wie Franklin den Sergeanten etwas fragte. Ich blieb auf der Schwelle stehen, um auch die Antwort zu hören.

»Können Sie schon erraten, wer den Diamanten gestohlen hat?«

»Niemand hat den Diamanten gestohlen«, erwiderte Sergeant Cuff.

Bei dieser erstaunlichen Beurteilung des Falles stutzten wir beide und baten ihn dringend, uns zu sagen, was er meine. »Gedulden Sie sich noch ein wenig, dann sind alle Steinchen beieinander.«

 

Ich fand meine Lady in ihrem Zimmer. Sie fuhr ärgerlich auf, als ich den Wunsch des Sergeanten übermittelte. »Muß ich ihn denn sprechen? Kannst du es nicht für mich tun, Gabriel? Ich fürchte, meine Nerven sind ein wenig erschüttert. Dieser Polizeibeamte aus London hat etwas an sich, wovor ich zurückschrecke, ich weiß nicht weshalb. Ich habe eine Ahnung, als bringe er Unglück und Unruhe ins Haus. Sehr töricht und mir garnicht ähnlich, aber es ist nun einmal so.« Ich wußte wirklich nicht recht, was ich hierzu sagen sollte. Je mehr ich von Sergeant Cuff sah, um so besser gefiel er mir.

»Wenn ich ihn sprechen muß, hilft es wohl nichts. Führe ihn herein, Gabriel, und bleibe hier.«

Sergeant Cuff und ich gingen sofort in das Zimmer meiner Herrin, und Cuff begann: »Ich habe mir bereits eine Meinung über den Fall gebildet, möchte Sie jedoch mit Erlaubnis Euer Gnaden zunächst für mich behalten. Eins ist sicher, der Diamant ist aus dem Schubfach der Vitrine verschwunden. Und etwas anderes ist fast sicher, Flecken von der Schramme an der Tür müssen sich an irgendeinem Kleidungsstück befinden, das einer Person im Hause gehört. Dieses Kleidungsstück müssen wir finden, ehe wir weitergehen können.«

»Diese Entdeckung führt dann, wie ich annehme, zur Entdeckung des Diebes?«

»Ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden; ich sage nicht, daß der Diamant gestohlen ist. Im Augenblick sage ich nur, daß er vermißt wird. Die Auffindung des beschmutzten Kleidungsstückes kann zu seiner Auffindung führen.«

»Verstehst du das?« fragte meine Lady mich.

»Sergeant Cuff versteht es, meine Lady«, antwortete ich.

»Und wie gedenken Sie, das beschmutzte Kleid zu finden?«

»Der Inspektor hat der Untersuchung schon eine Unmenge Schaden dadurch zugefügt, daß er die Bedienten merken ließ, er habe sie im Verdacht. Tue ich das nun ein zweites Mal, so weiß der Himmel, was für Schwierigkeiten sie mir in den Weg legen können – besonders die Frauen. Ich stimme völlig mit Ihnen überein, meine Lady, daß man die Gefühle des Gesindes berücksichtigen muß, aber es ist mir ebenso klar, daß die Schränke des Gesindes durchsucht werden müssen. Für diese Zwickmühle weiß ich eine Lösung, wenn Euer Gnaden einwilligen. Ich möchte vorschlagen, den Fall den Dienstboten auseinanderzusetzen.«

Ich unterbrach ihn. »Sofort werden sich die Frauen wieder verdächtigt fühlen.«

»Das werden die Frauen nicht, Mr. Betteredge, falls ich Ihnen nochmals sagen darf, daß ich die Schränke jeder einzelnen Person im Hause durchsuchen werde, das heißt von allen denjenigen, die Mittwochnacht im Hause schliefen – von Ihrer Herrin angefangen. Eine reine Formalität.«

Ich sah ein, daß er recht hatte, und meine Herrin dachte ebenso. Sie sagte nur: »Sind Sie ganz sicher, daß diese Untersuchung notwendig ist?«

»Es ist soweit ich sehe der kürzeste Weg zum Ziel, meine Lady.«

»Sie sollen mit den Bedienten sprechen, und zwar mit meinen Schrankschlüsseln in der Hand.«

Sergeant Cuff hielt sie mit einer unerwarteten Frage auf. »Sollten wir uns nicht besser erst versichern, daß auch die anderen Damen und Herren im Hause einwilligen werden?«

Überrascht antwortete meine Herrin: »Die einzige Dame im Hause außer mir ist Miss Verinder. Die einzigen Herren sind Mr. Franklin Blake und Mr. Ablewhite, meine Neffen. Ich habe nicht die geringste Sorge, daß einer der drei sich weigern könnte.«

Godfrey und Franklin stellten Schlüssel und Gepäck bereitwillig dem Sergeanten zur Verfügung. Anschließend verabschiedete sich Godfrey sehr höflich und mit einem Gruß an Miss Rachel von meiner Lady. Nun brauchte erstere nur noch ihrem Beispiel zu folgen, dann konnten wir das Gesinde zusammenrufen und die Suche nach dem beschmutzten Kleidungsstück beginnen.

Die unerklärliche Abneigung, die meine Lady dem Sergeanten gegenüber empfand, schien ihr das Zusammensein mit ihm unerfreulicher als je zu machen. Sie sagte zu ihm: »Ich nehme an, daß im Augenblick alles geschehen ist, was Sie von mir wünschten.«

»Verzeihung, Euer Gnaden. Ehe wir beginnen, hätte ich gerne noch, wenn es sich machen läßt, das Wäschebuch. Das beschmutzte Stück ist vielleicht aus Leinen, und wenn die Durchsuchung zu nichts führt, möchte ich gerne alles Leinen im Hause, und was zur Wäscherei geschickt wurde, überprüfen. Fehlt etwas, so kann man zum mindesten annehmen, daß der Farbfleck darauf ist, und daß es gestern oder heute vom Eigentümer absichtlich beiseitegeschafft wurde. Inspektor Seegrave lenkte leider schon die Aufmerksamkeit der weiblichen Dienstboten auf die verschmierte Stelle. Dies kann einer von seinen vielen Fehlern gewesen sein.«

Rosanna brachte das Wäschebuch. Das Mädchen war an diesem Morgen erbarmungswürdig blaß und hohlwangig zum Frühstück erschienen, hatte sich aber hinreichend erholt, um ihre Tagesarbeit zu tun. Sergeant Cuff blickte unser zweites Hausmädchen aufmerksam an – musterte ihr Gesicht, als sie eintrat; ihre entstellte Schulter, als sie hinausging.

Der große Cuff öffnete das Wäschebuch, übersah den Inhalt in einer halben Minute vollständig und schloß es wieder. »Ich wage Euer Gnaden mit einer letzten Frage zu bemühen: Ist das junge Mädchen, das uns dieses Buch brachte, so lange wie die anderen Dienstboten bei Ihnen?«

»Warum fragen Sie das?«

»Als ich sie zum letzten Mal sah, war sie wegen Diebstahls im Gefängnis.«

Nun half es nichts mehr. Wir mußten ihm die Wahrheit sagen. Meine Herrin unterstrich besonders Rosannas gute Führung, und wie sehr die Vorsteherin des Besserungshauses sie geschätzt habe.

»Sie haben sie doch nicht etwa im Verdacht, hoffe ich?«

»Ich sagte Euer Gnaden bereits, daß ich niemanden im Hause des Diebstahls verdächtige – – – bis jetzt.«

Nach dieser Antwort erhob sich meine Lady, um nach oben zu gehen und Miss Rachel um die Schlüssel zu bitten. Wir warteten und warteten – keine Schlüssel kamen. Sergeant Cuff sagte nichts zu mir, sondern wandte sein melancholisches Gesicht dem Fenster zu, steckte seine mageren Finger in die Tasche und flötete die ›Letzte Rose‹ leise vor sich hin.

Schließlich kam Samuel nicht mit den Schlüsseln, sondern mit einem Zettel für mich. Zwei oder drei Zeilen, von Lady Julia in Eile geschrieben, standen darauf und teilten mir mit, daß Miss Rachel es glatt abgelehnt habe, ihren Schrank durchsuchen zu lassen.

»Neues über Miss Verinders Schlüssel?«

»Meine junge Lady weigert sich, ihren Schrank durchsuchen zu lassen.«

»Aha!« sagte der Sergeant, und dieses ›aha‹ klang so, als ob er diese Antwort erwartet habe. Halb ärgerte, halb erschreckte er mich. Ich konnte den Grund nicht angeben, aber er tat es.

»Müssen wir die Durchsuchung nun aufgeben?«

»Ja, die Durchsuchung muß aufgegeben werden, weil Ihre junge Herrin sich ihr nicht unterwerfen will wie die übrigen. Wir müssen alle Schränke im Hause durchsuchen oder garkeinen.«

»Sie scheinen nicht allzu enttäuscht zu sein«, sagte ich.

»Nein, ich bin nicht sehr enttäuscht.«

»Warum Ihnen wohl Miss Rachel Schwierigkeiten macht? Liegt es nicht in ihrem Interesse, Ihnen zu helfen?«

»Warten Sie ein wenig, Mr. Betteredge, warten Sie ein wenig.«

Ein hellerer Kopf als der meine hätte vielleicht erkannt, worauf er hinaus wollte. Jemand, der Miss Rachel nicht so gern hatte wie ich, hätte es vielleicht auch herausgefunden. Ich kann nur so viel sagen, ich verstand nicht, was er bezweckte.

»Und was nun?«

»Kommen Sie mit in den Garten. Wir wollen uns ein wenig die Rosen ansehen«, sagte der Sergeant.

 

Man gelangte am schnellsten aus dem Salon meiner Lady in den Garten, wenn man den schmalen Weg durch die Büsche ging.

Je mehr Sergeant Cuff mir vorenthielt, was er wirklich dachte, um so hartnäckiger versuchte ich, dahinter zu kommen. Als wir in jenen Weg einbogen, bemühte ich mich, ihn auf andere Weise zu überlisten.

»So wie die Dinge liegen, wüßte ich an Ihrer Stelle nicht mehr ein noch aus.«

»Wären Sie an meiner Stelle, so hätten Sie sich längst ein Urteil gebildet, und so wie die Dinge liegen, wäre jeder Zweifel, den Sie bisher vielleicht noch in Ihre eigenen Schlußfolgerungen gesetzt haben, völlig behoben. Gleichgültig im Augenblick, was diese Schlußfolgerungen sind, Mr. Betteredge, ich habe Sie jedenfalls nicht mit nach draußen genommen, damit Sie hier eine Vernehmung mit mir anstellen. Ich nahm Sie mit, um einiges von Ihnen zu erfahren. Ohne Zweifel hätten Sie es mir auch im Hause sagen können, aber Türen und Lauscher haben nun einmal eine Neigung, sich zu treffen. In meinem Beruf pflegt man eine gesunde Vorliebe für frische Luft zu haben.«

Wer konnte diesen Mann überlisten?

Ich gab es auf und wartete geduldig der Dinge, die da kommen sollten.

Der Sergeant fuhr fort: »Wir wollen uns nicht mit den Beweggründen Ihrer jungen Herrin beschäftigen. Wir wollen nur feststellen, daß es schade ist, wenn sie mir ihre Hilfe versagt. Dadurch macht sie die Untersuchung schwieriger, als sie sonst gewesen wäre. Nun müssen wir versuchen, das Rätsel der beschädigten Farbe auf andere Weise zu lösen. Und glauben Sie mir, es ist zugleich das Rätsel des verschwundenen Diamanten. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Ich habe mich entschlossen, mit den Dienstboten zu sprechen und ihre Gedanken und Handlungen statt ihrer Schränke zu durchforschen. Vorher möchte ich Sie jedoch noch einiges fragen. Sie pflegen ja die Augen offen zu halten. Haben Sie nach dem Verlust des Diamanten irgend etwas Auffälliges an einem der Dienstboten bemerkt? Dabei mache ich natürlich das erforderliche Zugeständnis an Furcht und Bestürzung. Ist etwa Jemand von ihnen nicht in der gewohnten, guten Laune? Zum Beispiel unerwartet niedergedrückt oder plötzlich krank geworden?«

Ich dachte an Rosannas unerwartete Erkrankung beim gestrigen Essen, fand aber keine Zeit mehr zu einer Antwort, da sich die Augen des Sergeanten plötzlich seitwärts auf die Büsche richteten. Ich hörte, wie er leise ›hallo‹ sagte.

»Was ist los?« fragte ich.

»Ein Anfall von Rheumatismus im Rücken«, sagte der Sergeant laut, als wolle er, daß uns ein dritter hören solle. »Wir werden bald einen Wetterumschlag bekommen.«

Ein paar weitere Schritte brachten uns an die Ecke des Hauses. Scharf rechts einbiegend gingen wir auf die Terrasse und von dort die Freitreppe in den Garten hinunter. Dort auf dem Rasenplatz, wo wir uns nach allen Seiten umsehen konnten, blieb der Sergeant stehen.

»Nun zu dieser Person, der Rosanna Spearman. Es ist ja nicht sehr wahrscheinlich, daß sie bei ihrem Aussehen einen Liebhaber hat. Aber um des Mädchens willen muß ich Sie fragen, ob das arme Ding sich nicht vielleicht doch wie alle übrigen einen Freund zugelegt hat.«

Was um alles in der Welt meinte er bloß, wenn er unter den gegenwärtigen Umständen eine solche Frage an mich richtete? Ich starrte ihn wortlos an.

»Ich sah, wie sich Rosanna Spearman in den Büschen versteckt hielt, als wir vorbeigingen«, sagte der Sergeant.

»Als Sie ›hallo‹ sagten?«

»Jawohl, als ich ›hallo‹ sagte. Ist ein Liebhaber im Spiel, so bedeutet das Versteckspiel nicht viel. Falls nicht, ist es unter den augenblicklichen Umständen eine höchst verdächtige Angelegenheit, und es ist meine schmerzliche Pflicht, entsprechend vorzugehen.«

Was um Himmels willen sollte ich ihm nur sagen? Ich wußte, daß der Weg durch die Büsche Mr. Franklins Lieblingsweg war. Ich wußte auch, daß er ihn auf seinem Heimweg von der Bahn wählen würde. Und ich wußte schließlich, daß Penelope gerade dort immer wieder das arme Mädchen getroffen und mir erklärt hatte, Rosanna bezwecke, Franklins Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Hatte meine Tochter recht, so konnte Rosanna sehr wohl auf Mr. Franklins Rückkehr gewartet haben, als der Sergeant sie beobachtete. Aus reinem Mitleid mit der Armen – wahrhaftig, aus reinem Mitleid – gab ich dem Sergeanten die erforderliche Erklärung und erzählte ihm, Rosanna sei toll genug gewesen, ihr Herz an Franklin Blake zu hängen.

Sergeant Cuff lachte niemals. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn ihn irgend etwas belustigte, kräuselten sich seine Mundwinkel ein wenig. Jetzt kräuselten sie sich.

»Sollten Sie nicht lieber sagen, sie ist toll genug gewesen, häßlich und nur ein Dienstbote zu sein? Sich in einen Herrn von Mr. Blake's Erziehung und Erscheinung zu verlieben, will mir keineswegs als das Verrückteste an ihrem Verhalten erscheinen. Jedenfalls bin ich froh, daß die Angelegenheit geklärt ist. Gewiß, Mr. Betteredge, ich behalte sie für mich. Ich bin gern nachsichtig gegenüber menschlicher Schwäche, obwohl ich in meinem Beruf nicht viel Gelegenheit habe, diese Tugend zu üben. Nach Ihrer Ansicht hat Mr. Franklin Blake keine Ahnung von der Neigung des Mädchens? Oh ja! Er hätte sie schnell genug bemerkt, wenn sie hübsch gewesen wäre. Die häßlichen Mädchen haben es in dieser Welt schwer. Wir wollen hoffen, daß es ihnen in der nächsten vergolten wird.

Fiel Ihnen irgend etwas Ungewöhnliches an irgend einem der Dienstboten auf, als der Verlust des Diamanten entdeckt wurde?«

Bisher war ich mit Sergeant Cuff recht gut ausgekommen, aber die Schlauheit, mit der er diese letzte Frage unterschlüpfen ließ, warnte mich. Offen gestanden, der Gedanke, ihm womöglich dabei zu helfen, daß er sich an meine Kollegen heranschlängelte, war mir schrecklich.

»Mir fiel nichts anderes auf, als daß wir alle den Kopf verloren hatten. Ich auch.«

»So, das ist alles, was Sie mir zu sagen haben?«

»Das ist alles«, entgegnete ich – wie ich mir schmeichle – mit unbeweglichem Gesicht.

Sergeant Cuffs traurige Augen sahen mich fest an.

»Mr. Betteredge, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen die Hand schüttle? Sie gefallen mir außerordentlich.«

Weshalb er gerade diesen Augenblick wählte, mir einen Beweis seiner Wertschätzung zu geben, überschritt mein Begriffsvermögen. Ich empfand richtig ein wenig Stolz auf die gelungene Täuschung und darüber, daß ich dem berühmten Cuff endlich einmal ›über‹ gewesen war.

Wir gingen zum Haus zurück, und ich führte den Sergeanten in mein Zimmer. Dann rief ich die Bedienten in der Halle zusammen. Rosanna Spearman war in ihrem Auftreten nicht anders als sonst. In ihrer Art war sie so gewitzt wie der Sergeant in seiner, und ich vermute, daß sie belauscht hatte, was er mir, kurz ehe er sie entdeckte, über die Dienstboten im allgemeinen sagte.

Ich schickte nun, wie der Sergeant es gewünscht hatte, das Gesinde einzeln zu ihm hinein. Die Köchin betrat als erste den Gerichtssaal, mit anderen Worten mein Zimmer. Sie blieb nur kurze Zeit. Bericht beim Herauskommen: »Sergeant Cuff ist niedergeschlagen, aber er benimmt sich wie ein Gentleman.« Die Zofe meiner Lady folgte. Blieb viel länger. Bericht: »Wenn Sergeant Cuff einem achtbaren Mädchen nicht glaubt, kann er seine Meinung für sich behalten.« Penelope ging als nächste. Blieb nur ein paar Augenblicke. Bericht: »Dieser Cuff ist zu beklagen. Er muß als junger Mann Pech in der Liebe gehabt haben, Vater.« Das erste Hausmädchen folgte. Blieb genau wie die Zofe längere Zeit. Bericht: »Ich bin nicht bei meiner Lady in Dienst getreten, um mir von einem gewöhnlichen Polizisten ins Gesicht sagen zu lassen, daß er die Wahrheit meiner Aussage bezweifelt.« Als nächste kam Rosanna Spearman. Blieb am längsten von allen. Kein Bericht. Todesschweigen und aschfahles Gesicht. Samuel folgte Rosanna. Blieb ein oder zwei Minuten. Bericht: »Wer Sergeanten Cuff die Stiefel geputzt hat, sollte sich schämen.« Als letzte kam Nancy, das Küchenmädchen. Bericht: »Sergeant Cuff hat ein weiches Herz. Der macht sich nicht über ein Mädchen lustig, das hart arbeiten muß, Mr. Betteredge.«

Als ich dann, nachdem alles vorüber war, in den Gerichtssaal hineinging, fand ich den Sergeanten bei seinem alten Spiel. Er schaute aus dem Fenster und pfiff die ›Letzte Rose‹.

»Etwas herausgefunden, Sir?«

»Wenn Rosanna Spearman um Ausgang bittet, lassen Sie das arme Ding gehen, aber lassen Sie es mich zuvor wissen.«

Ich hätte besser meinen Mund darüber halten sollen, wie Rosanna zu Mr. Franklin stand. Es war völlig klar. Das unglückliche Mädchen wurde von Sergeant Cuff verdächtigt.

»Ich hoffe, Sie sind nicht der Überzeugung, daß Rosanna am Verlust des Diamanten beteiligt ist«, wagte ich zu sagen.

Die Mundwinkel kräuselten sich in einem melancholischen Lächeln, und er sah mir fest ins Gesicht, so wie er es im Garten getan hatte.

»Ich denke, es ist besser, Mr. Betteredge, daß ich es Ihnen nicht sage. Sie könnten zum zweiten Male den Kopf verlieren, verstehen Sie?«

Mir kamen Zweifel, ob ich vorhin wirklich dem berühmten Cuff ›über‹ gewesen war, und es war eine rechte Erleichterung für mich, als die Köchin zu mir schickte, Rosanna habe um Urlaub gebeten. Aus dem üblichen Grunde. Sie habe Kopfschmerzen und brauche frische Luft. Auf einen Wink des Sergeanten stimmte ich zu.

»Auf welchem Wege verlassen die Dienstboten das Haus?« fragte er mich. Ich zeigte es ihm, worauf er sagte: »Verschließen Sie die Tür Ihres Zimmers und sagen Sie, wenn irgend jemand nach mir fragt, ich wäre drinnen und arbeitete.«

Wieder kräuselten sich seine Mundwinkel, und er verschwand.

Eine verzehrende Neugierde trieb mich, selbst auf Entdeckungen auszugehen. Es war klar, daß der Verdacht Cuffs gegen Rosanna entstanden sein mußte, als er die Dienstboten vernahm. Nun hatte diese Befragung nur bei zweien, mit Ausnahme von Rosanna selbst, eine nennenswerte Zeit gedauert. Diese beiden waren die Zofe und das erste Hausmädchen, zugleich aber auch die beiden, die ihre Kollegin von Anfang an schlechter als alle anderen behandelt hatten. Als ich zu diesem Schluß gekommen war, schaute ich in die Gesindestube hinein. Da ich dort alle gerade beim Tee fand, lud ich mich gleich zu dieser Mahlzeit ein. In weniger als einer halben Stunde wußte ich so viel wie der Sergeant selbst. Die Zofe und das Hausmädchen hatten, wie es schien, am Vortage nicht an Rosannas Krankheit geglaubt. Diese beiden Teufelinnen – um Vergebung, aber wie soll man sonst ein paar bösartige Weiber nennen? – hatten sich am Donnerstagnachmittag zu verschiedenen Zeiten die Treppe hinauf gestohlen, die Klinke an Rosannas Tür niedergedrückt und letztere verschlossen gefunden. Sie hatten geklopft, keine Antwort. Sie hatten gehorcht und keinen Ton gehört. Als das Mädchen dann zum Tee heruntergekommen war und, da es ihr immer noch nicht gut ging, wieder ins Bett geschickt wurde, hatten die beiden Teufelinnen noch einmal die Tür probiert. Sie war verschlossen. Sie hatten durchs Schlüsselloch geschaut. Es war verstopft. Um Mitternacht hatten sie ein Licht unter der Tür gesehen und um vier Uhr morgens ein Feuer knistern gehört. Dies alles hatten sie Sergeant Cuff erzählt, der sie als Dank für ihre Bemühungen säuerlich und argwöhnisch betrachtet und ihnen deutlich gezeigt hatte, daß er ihnen kein Wort glaubte.

Da ich mittlerweile einige Kenntnis von den seltsamen Wegen des großen Cuff hatte und vermutete, daß er Rosanna heimlich folgen wolle, schien es mir klar, daß er die Zofe und das Hausmädchen nicht wissen lassen wollte, wie sehr sie ihm geholfen hatten. Hätte er ihre Aussage als vertrauenswürdig behandelt, so wären sie imstande gewesen, sich aufzuspielen und Rosanna zu warnen.

Ich ging in den schönen Sommernachmittag hinaus. Das arme Mädchen tat mir schrecklich leid und mich quälte die Wendung, die die Dinge genommen hatten. Etwas später traf ich Mr. Franklin auf meinem Weg zu den Büschen. Wir gingen ein paar Minuten schweigend nebeneinander. Dann fragte er, was aus Sergeant Cuff geworden sei. Ich konnte ihn unmöglich mit der Entschuldigung abspeisen, der Sergeant sei in meinem Zimmer und überlege.

Ich erzählte ihm alles, was passiert war, und erwähnte noch besonders, was die Zofe und das Hausmädchen über Rosanna gesagt hatten.

Mr. Franklin erfaßte die Lage sofort und sagte: »Hast du mir nicht heute morgen gesagt, einer der Lieferanten habe behauptet, gestern Rosanna auf dem Fußweg nach Frizinghall getroffen zu haben, als wir glaubten, sie sei krank in ihrem Zimmer?«

»Ja, Sir.«

»Wenn die Zofe meiner Tante und das andere Mädchen die Wahrheit gesprochen haben, so kannst du dich darauf verlassen, daß jener Mann sie tatsächlich getroffen hat. Die Krankheit des Mädchens war nur ein Vorwand, um uns zu täuschen. Sie hatte irgend einen schuldhaften Grund, heimlich in die Stadt zu gehen. Das Kleid mit dem Farbfleck gehört ihr, und das Feuer, das man um vier Uhr morgens in ihrem Zimmer knistern hörte, war angezündet, um das Kleid zu vernichten. Rosanna Spearman hat den Diamanten gestohlen. Ich werde meiner Tante sofort erzählen, welche Wendung die Dinge genommen haben.«

»Bitte jetzt noch nicht, Sir«, sagte eine melancholische Stimme hinter uns.

Wir fuhren beide herum und standen Auge in Auge dem Sergeanten Cuff gegenüber.

»Warum nicht?« fragte Mr. Franklin.

»Weil Ihre Gnaden Miss Verinder weitererzählen wird, Sir, was Sie Ihrer Gnaden sagen wollen.«

»Und wenn schon, was ist dann?« Mr. Franklin sprach diese Worte so hitzig und leidenschaftlich, als ob der Sergeant ihn tödlich beleidigt hätte.

»Halten Sie es für klug, Sir, in diesem Augenblick eine solche Frage an mich zu richten?«

Einen Augenblick war Stille; dann trat Mr. Franklin ganz dicht an den Sergeanten heran. Die beiden sahen sich in die Augen. Mr. Franklin sprach zuerst, und seine Stimme wurde plötzlich so leise wie sie zuvor laut gewesen war.

»Vermutlich wissen Sie, Mr. Cuff, daß Sie sich auf sehr dünnem Eise bewegen?«

»Es ist nicht das erste Mal, oh nein, beileibe nicht, daß ich mich auf sehr dünnem Eise befinde«, antwortete der andere so unbeweglich wie immer.

»Ich verstehe Sie also recht; Sie verbieten mir, meiner Tante die Geschehnisse zu berichten?«

»Sie müssen sich klar darüber sein, Sir, daß ich den Fall sofort niederlege, falls Sie Lady Verinder oder irgend jemandem sonst die Geschehnisse berichten, ehe ich Ihnen die Erlaubnis dazu gebe.«

Mr. Franklin mußte nachgeben. Er wandte sich zornig ab und verließ uns.

Ich hatte das alles zitternd mit angehört. Ich wußte nicht mehr, wen ich verdächtigen oder was ich überhaupt noch denken sollte. In meiner Bestürzung waren mir zwei Dinge klar: Einmal, daß meine junge Lady die Ursache der scharfen Worte war, die die beiden gewechselt hatten. Zum anderen, daß die beiden sich völlig verstanden, ohne ein einziges vorangegangenes Wort der Erklärung.

Der Sergeant wandte sich an mich: »Mr. Betteredge, Sie haben in meiner Abwesenheit etwas sehr Törichtes getan, nämlich auf eigene Rechnung ein wenig Detektiv gespielt. In Zukunft haben Sie die Güte, so etwas nur mit mir zusammen zu tun.«

Er nahm meinen Arm und führte mich den Weg entlang, den er gekommen war. Wohl wahr, ich hatte diesen Vorwurf verdient, und trotz allem würde ich ihm nicht dabei helfen, Rosanna Spearman Fallen zu stellen. Dieb oder kein Dieb, gesetzlich oder ungesetzlich, mir war es gleich – mir tat sie leid.

»Was wollen Sie von mir?«

»Nur ein paar Auskünfte über die Umgegend«, sagte der Sergeant.

Ich konnte nicht gut etwas gegen eine Verbesserung der geographischen Kenntnisse des Sergeanten einwenden.

»Führt in jener Richtung vom Hause aus ein Weg zum Strand?« fragte der Sergeant und deutete auf die Kiefernpflanzung.

»Ja, es gibt einen Weg.«

»Zeigen Sie ihn mir!«

Seite an Seite gingen Sergeant Cuff und ich durch die Dämmerung in Richtung der ›Zitternden Sände‹.

Der Sergeant hing seinen eigenen Gedanken nach, bis wir die Kiefernpflanzung erreicht hatten. Dort erst sprach er wieder mit mir. »Mr. Betteredge, Rosanna Spearman befindet sich nicht in der geringsten Gefahr, auch nicht, wenn ich sie darauf festnageln würde, daß sie am Verschwinden des Diamanten beteiligt ist, ja selbst dann nicht, wenn ich Beweise hätte, so greifbar wie Ihre Nase.«

»Meinen Sie, meine Lady würde keinen Strafantrag stellen?«

»Ich meine, Ihre Lady kann ihn nicht stellen. Rosanna ist lediglich das Instrument in den Händen eines anderen.«

Er sprach sehr ernsthaft, das konnte man nicht verkennen.

»Können Sie mir den anderen nicht nennen?«

»Können Sie es denn nicht, Mr. Betteredge?«

»Nein.«

Sergeant Cuff stand unbeweglich und betrachtete mich interessiert und mit melancholischen Blicken.

»Ich habe schon einmal gesagt, ich bin gern nachsichtig gegenüber menschlichen Schwächen. Im Augenblick bin ich besonders nachsichtig gegen Sie, Mr. Betteredge, und Sie sind besonders nachsichtig gegen Rosanna, aus demselben anerkennenswerten Grunde. Oder stimmt es nicht? Wissen Sie übrigens zufällig, ob sie kürzlich eine neue Wäscheausstattung bekommen hat?«

Ich konnte mir beim besten Willen nicht denken, was er mit dieser erstaunlichen und unerwarteten Frage meinte. Da ich aber keinerlei Nachteil für Rosanna darin erblickte, wenn ich die Wahrheit sagte, antwortete ich, das Mädchen wäre mit einer ziemlich bescheidenen Ausstattung zu uns gekommen, und meine Lady hätte ihr vor noch nicht vierzehn Tagen als Belohnung für ihre gute Führung eine neue geschenkt. Die gute Führung unterstrich ich.

»Es ist doch eine elende Welt«, sagte der Sergeant. »Das menschliche Leben ist wie ein Ziel, nach dem das Unglück unentwegt schießt und immer ins Schwarze trifft. Ohne diese Wäscheausstattung hätten wir ein neues Nachthemd oder einen Unterrock unter Rosannas Sachen gefunden und sie auf diese Weise festgenagelt. Sie können mir doch folgen, nicht wahr? Sie selbst haben die Dienstboten ausgefragt und wissen, welche Entdeckungen zwei von ihnen vor Rosannas Tür gemacht haben. Sicherlich wissen Sie auch, was das Mädchen vorhatte. Sie können es nicht raten? Du meine Güte, es ist doch so ins Auge fallend, wie jene Lichtung dort im Walde. Am Donnerstagmorgen um elf zeigte Inspektor Seegrave allen Mägden den Fleck an der Tür. Rosanna läuft, sobald sie kann, in ihr Zimmer, findet die Farbe auf Nachthemd oder Unterrock, stellt sich krank und schlüpft in die Stadt, um Stoff für einen neuen Unterrock oder ein neues Nachthemd zu kaufen. Donnerstag nacht schneidert sie es allein in ihrem Zimmer, steckt ein Feuer an – keineswegs um das alte zu verbrennen, vielmehr um das Ersatzstück zu trocknen und zu plätten. Dann versteckt sie das beschmutzte Kleidungsstück – wahrscheinlich an ihrer eigenen Person – und ist gerade jetzt dabei, es an jenem einsamen Strand vor uns an einer passenden Stelle loszuwerden. Ich bin heute abend ihrer Spur bis zum Fischerdorf nachgegangen. Sie führte zu einem Häuschen, das wir möglicherweise aufsuchen müssen. Dort hielt sie sich längere Zeit auf und kam wieder heraus, wobei sie, wie ich glaube, etwas unter ihrem Mantel verbarg. Ein Mantel, von einer Frau getragen, ist ein Wahrzeichen der Barmherzigkeit. Er deckt eine Menge Sünden zu. Später sah ich sie dann an der Küste entlang nach Norden gehen. Folgt man in dieser Gegend einem Menschen und der Betreffende blickt sich zufällig um, so ist nirgendwo das kleinste Versteck.

Ich hatte nun die Wahl, Rosanna als verdächtig festzunehmen oder sie im Augenblick ihr kleines Spiel weitertreiben zu lassen. Aus Gründen, mit denen ich Sie nicht belästigen möchte, entschloß ich mich, jedes Opfer zu bringen, statt bereits heute Nacht eine gewisse Persönlichkeit zu warnen, deren Namen wir nicht nennen wollen. Ich ging ins Schloß zurück und bat Sie, mich auf einem anderen Weg zum Nordende des Strandes zu führen. Sand ist einer der besten Detektive, das wissen Sie ja. Der Sand erzählt uns vielleicht, falls das Tageslicht lange genug dauert, was Rosanna vorgehabt hat.«

Sergeant Cuff ging zum Strand hinunter. Ich folgte ihm, wobei mir das Herz bis zum Halse schlug, und wartete in geringer Entfernung, was nun geschehen würde.

Das letzte Abendlicht schwand gerade, und über dem ganzen einsamen Fleckchen herrschte Totenstille. Eine schreckliche Ruhe. Es war gerade Gezeitenwechsel, und während ich dort stand, fing die weite braune Oberfläche des Flugsandes an, sich zu kräuseln und zu zittern. Nichts sonst regte sich in dieser schrecklichen Gegend.

»Ein unheimlicher Platz, Mr. Betteredge. Wohin man auch blickt, am ganzen Strand keine Spur von Rosanna Spearman.«

Er führte mich weiter zum Wasser hin, und nun sah ich selbst, daß sich nur seine und meine Fußspuren in den Sand eingedrückt hatten.

»In welcher Richtung von hier aus liegt eigentlich das Fischerdorf«, fragte Sergeant Cuff.

»Cobb's Hole liegt fast genau im Süden.«

»Ich beobachtete heute Abend, wie das Mädchen von Cobb's Hole aus an der Küste entlang nach Norden ging. Infolgedessen muß sie ungefähr hierher gegangen sein. Liegt Cobb's Hole auf der anderen Seite jener Landzunge? Und können wir bei niedrigem Wasser am Strande entlang dort hinkommen?«

Diese beiden Fragen bejahte ich.

»Entschuldigen Sie, aber wir müssen forsch ausschreiten«, sagte der Sergeant. »Ich möchte die Stelle, wo sie vom Strande abbog, noch vor Dunkelheit finden.«

Wir waren ungefähr ein paar hundert Meter auf Cobb's Hole zu gegangen, als Sergeant Cuff sich plötzlich in die Knie fallen ließ.

»Fußspuren einer Frau, Mr. Betteredge! Wir wollen sie mal Rosannas Fußspuren nennen. Sehr unklare Spuren, sehen Sie – absichtlich unklar, wie mir scheint. Ich möchte Ihnen nicht wehe tun, aber ich fürchte, Rosanna ist schlau. Es sieht so aus, als ob sie dahin gehen wollte, woher wir gerade gekommen sind, ohne eine Spur im Sande zu hinterlassen. Wollen wir einmal annehmen, daß sie von hier aus bis zu jenem Felsvorsprung durchs Wasser watete und auf dem gleichen Wege zurückkam und dann auf dem Strande weiterging, wo sie diese beiden Spuren ihres Hackens hinterließ? Es scheint auch mit meiner Auffassung übereinzustimmen, daß sie beim Verlassen des Häuschens etwas unter ihrem Mantel verbarg. Nein! Nichts, was sie vernichten wollte – denn in diesem Falle wären ja all diese Vorsichtsmaßnahmen, das Ziel ihres Weges vor einem Verfolger zu verbergen, unnötig gewesen. Mir scheint, die bessere Lösung ist die, daß sie etwas verstecken wollte. Vielleicht können wir herausfinden, was dieses »Etwas« war, wenn wir zu der Hütte gehen.«

Bei diesem Vorschlag kühlte sich mein Detektivfieber plötzlich ab.

»Mich brauchen Sie doch nicht. Was könnte ich schon dabei helfen?« bemerkte ich.

»Doch. Gehe ich allein zu dem kleinen Haus, so verstummen die Leute bei meiner ersten Frage. Gehe ich aber mit Ihnen, so werde ich von einem, mit Recht hoch geachteten Nachbarn eingeführt, und ein Redestrom ist das Ergebnis.«

Ich versuchte durch die Frage, zu welchem Häuschen er gehen wollte, Zeit zu gewinnen. Nach der Beschreibung des Sergeanten erkannte ich es. Ein Fischer Yolland mit seiner Frau und zwei erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, wohnte dort. Rosanna hatte diese Leute durch die Tochter kennengelernt, die einen Klumpfuß hatte und bei uns als ›hinkende Lucy‹ bekannt war.

Als wir zum Haus kamen, waren der Fischer und sein Sohn mit dem Boot hinausgefahren, und die hinkende Lucy, die immer kränklich und müde war, hatte sich oben zu Bett gelegt. So empfing uns die gute Mrs. Yolland allein in der Küche.

Ich setzte mich still in eine Ecke und war gespannt, wie der Sergeant das Gespräch wohl auf Rosanna Spearman lenken würde. Nach einer Viertelstunde aber war Mrs. Yolland bereits überzeugt, sie spräche mit Rosannas bestem Freund. Der große Cuff zeigte eine erstaunliche Geduld, versuchte es in seiner trübseligen Art auf alle mögliche Weise und schoß einen Pfeil nach dem anderen ab – wie die Dinge lagen, ziellos – um so vielleicht zufällig ins Schwarze zu treffen. Alles sprach zu Rosannas Gunsten, nichts gegen sie. Das war und blieb das Ergebnis. Er machte einen letzten Versuch, als wir schon auf die Uhr gesehen hatten und bereits aufgestanden waren.

»Ich sage Ihnen jetzt guten Abend, liebe Frau. Aber beim Abschied möchte ich noch einmal betonen, daß Rosanna Spearman an mir einen aufrichtigen Freund hat. Freilich, da wo sie jetzt ist, wird sie niemals vorankommen. Ich kann ihr nur raten, sich zu verändern.«

»Sie wird sich ja auch verändern«, rief Mrs. Yolland.

Rosanna Spearman wollte uns verlassen? Hier spitzte ich die Ohren. Sergeant Cuff setzte sich auch sofort wieder hin und bat um einen kleinen Tröster aus der Flasche Genever. Ich aber ging weiter zur Tür. Und doch ging ich nicht.

»Sieh mal an, sie will also fortgehen?« sagte der Sergeant. »Und was hat sie vor? Es ist doch gar zu traurig; das arme Wesen hat ja keine Freunde in der Welt, außer Ihnen und mir.«

»Oh ja, die hat sie!« rief Mrs. Yolland. »Wie ich Ihnen schon sagte. Sie kam heute abend hierher, plauderte ein wenig mit meiner Tochter Lucy und mir, und dann bat sie, ob sie nicht allein nach oben in Lucys Zimmer gehen dürfe. Dort bewahren wir nämlich immer Feder und Tinte auf. ›Ich möchte einen Brief an Freunde schreiben‹, sagte sie, ›und oben im Schloß kann ich es nicht tun, weil die anderen Dienstboten herumschnüffeln und spionieren.‹ Ich kann Ihnen nicht sagen, an wen sie den Brief schrieb, aber er muß furchtbar lang gewesen sein. Also Freunde hat sie irgendwo, das können Sie mir glauben, und zu diesen Freunden wird sie auch gehen, darauf können Sie sich verlassen.«

»Bald?« fragte der Sergeant.

»Sobald es nur geht«, erwiderte Mrs. Yolland. Bei diesen Worten kam ich von der Tür zurück und griff in das Gespräch ein.

»Sie müssen sich wegen Rosannas irren.«

»Irren?« fuhr Mrs. Yolland auf. »Bitte sehr, erst vor einer Stunde hat sie von mir und in diesem Zimmer ein paar Sachen gekauft, Mr. Betteredge, die sie für eine Reise braucht. Und da fällt mir etwas ein, was mir wegen Rosannas Geld auf dem Herzen liegt. Wird einer von Ihnen beiden sie sehen, wenn Sie ins Schloß zurückgehen?«

»Mit größtem Vergnügen werde ich dem armen Kind etwas bestellen«, entgegnete Sergeant Cuff, ehe ich noch ein Wort sagen konnte.

Mrs. Yolland brachte aus ihrer Tasche ein paar Münzen zum Vorschein.

»Darf ich Sie bitten, Rosanna dies hier mit meinen Grüßen zurückzugeben? Sie bestand darauf, mir die paar Sachen, die ihr heute abend zu gefallen schienen, zu bezahlen. Geld ist in unserem Hause sehr willkommen, das stelle ich nicht in Abrede. Und doch ist mir nicht ganz wohl, weil ich die Ersparnisse des armen Mädchens angenommen habe. Also sagen Sie ihr bitte, sie möchte die Sachen als Geschenk ansehen, und lassen Sie nicht das Geld auf dem Tisch liegen. Die Zeiten sind so hart, und das Fleisch ist so schwach – ich könnte in Versuchung kommen, es wieder in die Tasche zu stecken.«

»Nun kommen Sie schon«, sagte ich zu Cuff. »Ich kann nicht länger warten, ich muß zum Schloß zurück.«

»Ich werde sofort nachkommen«, meinte der Sergeant.

Zum zweiten Mal ging ich zur Tür, und zum zweiten Male konnte ich ums liebe Leben die Schwelle nicht überschreiten. Ich hörte, wie der Sergeant sagte: »Gewiß haben Sie ihr nicht viel für die Sachen berechnet?«

»Keinesfalls. Kommen Sie und urteilen Sie selbst«, sagte, Mrs. Yolland.

Sie führte den Sergeanten in einen Winkel der Küche. Dort lag ein Haufen aller möglichen Gegenstände. Mrs. Yolland bückte sich zu diesem Gerümpel hinab und brachte einen alten polierten Zinnkasten hervor, der einen Deckel mit einer Schlaufe daran hatte, um ihn aufzuhängen – ein Gegenstand, wie man ihn an Bord eines Schiffes benutzt, um Seekarten oder dergleichen trocken aufzubewahren. »Als Rosanna heute abend kam, kaufte sie genau so einen Kasten und meinte, er wäre gerade das richtige, um Stulpen und Kragen hineinzutun, damit sie nicht im Koffer zerknüllt würden. Einen Schilling, neun Pence, Mr. Cuff. Nicht einen halben Penny mehr.«

»Lächerlich billig«, sagte der Sergeant und seufzte schwer. Dann wog er den Kasten in der Hand, und es war mir so, als hörte ich ein paar Takte der ›Letzten Rose‹, während er ihn betrachtete. Kein Zweifel, er hatte wieder eine Entdeckung zu Ungunsten Rosannas gemacht, und ausgerechnet bei ihren Freunden, dort, wo ich gedacht hatte, ihr Ruf sei ungefährdet. Und ich war schuld daran.

»Nun ist's aber genug«, sagte ich. »Wir müssen nun wirklich gehen.«

Ohne im geringsten auf mich zu achten, tauchte Mrs. Yolland erneut in dem Gerümpel unter und kam diesmal mit einer Kette zum Vorschein, wie man sie gebraucht, um Hunde festzumachen.

»Drei davon haben wir besessen. Rosanna hat zwei genommen. ›Wofür sie denn ein Paar Hundeketten gebrauche?‹ – ›Zusammengebunden passen sie fein um meinen Koffer‹, entgegnete sie. – ›Aber Bindfaden ist doch am billigsten‹, sagte ich. ›Aber eine Kette ist am sichersten.‹ Ein merkwürdiges Mädchen, Mr. Cuff. Stets ein wenig absonderlich. Nun, ich tat ihr den Gefallen. Drei Schillinge und sechs Pence, so wahr ich ein ehrliches Weib bin, Mr. Cuff.«

»Jede der beiden?«

»Beide zusammen, drei Schillinge, sechs Pence.«

»Verschenkt, meine liebe Frau«, sagte der Sergeant und schüttelte den Kopf. »Glatt verschenkt.«

»Hier ist das Geld. Der Zinnkasten und die beiden Ketten waren alles, was sie kaufte und mitnahm.«

»Ich kann es nicht über mein Gewissen bringen, liebe Frau, das Geld zurückzugeben. Sie haben ihr wirklich die Sachen so gut wie geschenkt.«

»Seien Sie mal ehrlich, ist das wirklich Ihre Ansicht, Sir?« sagte Mrs. Yolland und strahlte mit einem Male.

»Gar kein Zweifel«, erwiderte der Sergeant. »Fragen Sie doch einmal Mr. Betteredge.«

Was sie aber von mir zu hören bekamen, war ein »Gute Nacht«.

Diesmal ging ich nicht nur zur Türe, sondern sogleich auf die Straße hinaus. Ehe ich drei Schritte getan hatte, hörte ich den Sergeanten hinter mir.

»Vielen Dank für die Einführung, Mr. Betteredge. Ich verdanke der Frau des Fischers eine ganz neue Sensation. Mrs. Yolland hat mir ein Rätsel aufgegeben.« Der Sergeant fuhr fort: »Statt mich auf die Spur zu setzen, ist es Ihnen vielleicht bei Ihrem Interesse für Rosanna ein Trost zu wissen, daß Sie es waren, der mich von der Fährte abgebracht hat. Was das Mädchen heute nacht vorhatte, ist natürlich ganz klar. Sie hat die beiden Ketten zusammengebunden und sie an der Schlaufe des Zinnkastens festgemacht; dann hat sie diesen ins Wasser oder in den Flugsand versenkt. Das Ende der Kette machte sie irgendwo unter dem Felsen fest, und sie wird den Kasten solange an seiner Verankerung in Sicherheit lassen, bis das augenblickliche Verfahren vorüber ist. Später kann sie ihn dann heimlich wieder herausholen. Soweit ist alles völlig klar. Aber«, hier hörte ich zum ersten Male etwas wie Ungeduld in der Stimme des Sergeanten, »das Rätsel ist nur – was zum Teufel hat sie in dem Zinnkasten verborgen?« Ich dachte bei mir selbst – den Monddiamanten! Ich sagte jedoch nur: »Können Sie es nicht raten?«

»Der Diamant ist es nicht. All meine Lebenserfahrung hätte getrogen, wenn Rosanna Spearman wirklich den Diamanten hat.«

Bei diesen Worten fing wohl wieder das teuflische Detektivfieber an, in mir zu brennen. Ich sagte überstürzt: »Das befleckte Kleidungsstück!«

Sergeant Cuff blieb plötzlich im Dunkeln stehen und legte die Hand auf meinen Arm.

»Kommt jemals etwas, was man in den Flugsand wirft, wieder an die Oberfläche?«

»Niemals, ob es leicht oder schwer ist.«

»Weiß Rosanna Spearman das?«

»Genau so gut wie ich.«

»Dann«, sagte der Sergeant, »weiß ich beim besten Willen nicht, was sie anderes zu tun hatte, als einen Stein in das schmutzige Kleid zu binden und alles beides in den Flugsand zu werfen. Es ist auch nicht der leiseste Grund dafür vorhanden, warum sie es versteckt haben sollte. Und doch muß sie es versteckt haben.«

Als wir zurückkehrten, trafen wir als ersten den Polizisten Joyce, den Inspektor Seegrave zurückgelassen hatte. Der Sergeant fragte, ob Rosanna zurückgekehrt sei.

»Ja.«

»Wann?«

»Vor fast einer Stunde.«

»Was hat sie dann getan?«

»Sie ist nach oben gegangen, um Hut und Mantel abzulegen, und ißt nun mit den übrigen zusammen friedlich ihr Abendbrot.«

Ohne etwas zu äußern, ging der Sergeant weiter zur Rückseite des Hauses. Da er den Eingang in der Dunkelheit verfehlte, wanderte er bis zu einem Gatter weiter, das in den Garten führte, trotzdem ich ihn warnte. Dort fand ich ihn, wie er gespannt zu einem Fenster hinaufstarrte. In jenem Stockwerk lagen die Schlafzimmer, und das Fenster gehörte zu Miss Rachels Zimmer. Man sah ein Licht hin und her huschen, als ginge etwas Besonderes vor. Als ich eben ins Haus gehen wollte, hörte ich vom Gatter her die ›Letzte Rose‹. Sergeant Cuff hatte eine neue Entdeckung gemacht, und diesmal steckte das Fenster meiner jungen Lady dahinter.

»Fällt Ihnen da oben irgend etwas auf?« fragte ich.

Sergeant Cuff entgegnete statt einer Antwort: »Sie sind doch hier in Yorkshire sehr fürs Wetten, nicht wahr?«

»Und wenn schon?«

»Stammte ich aus Yorkshire, Mr. Betteredge, ich würde glatt einen Sovereign wetten, daß Ihre junge Lady sich plötzlich entschlossen hat, das Haus zu verlassen. Und sollte ich diese Wette gewinnen, so würde ich sofort einen weiteren darauf wetten, daß ihr dieser Gedanke in der letzten Stunde gekommen ist.«

Die erste Vermutung ließ mich auffahren. Die zweite verband sich in meinem Kopfe irgendwie mit dem Bericht des Polizisten, daß Rosanna Spearman während der letzten Stunde vom Strand zurückgekommen sei.

Samuel war der erste, den ich im Korridor traf. Ehe ich ihn etwas fragen konnte, sagte er schon: »Ihre Gnaden warten auf Sie und den Sergeanten Cuff.«

»Und seit wann?« ertönte des Sergeanten Stimme hinter mir.

»Seit einer Stunde, Sir.«

Da hatten wir es wieder. Rosanna war zurückgekommen; Miss Rachel hatte einen ungewöhnlichen Entschluß gefaßt; meine Lady hatte den Sergeanten sprechen wollen – und das alles innerhalb der letzten Stunde. Ich ging nach oben, ohne den Sergeanten anzusehen oder ein Wort zu sprechen, aber meine Hand zitterte, als ich an die Tür meiner Herrin klopfte.

 

Im Zimmer von Lady Julia brannte nur die Leselampe, deren Schirm heruntergeschraubt war und ihr Gesicht beschattete. »Herr Sergeant, müssen Sie es für Ihre Untersuchung unbedingt vorher wissen, wenn eine der im Hause wohnenden Personen verreisen will?« begann meine Herrin.

»Unbedingt, meine Lady.«

»Dann muß ich Ihnen sagen, daß Miss Verinder beabsichtigt, ihre Tante, Mrs. Ablewhite, in Frizinghall zu besuchen. Sie will morgen früh fahren.«

»Darf ich Euer Gnaden fragen, wann Miss Verinder Sie von dieser Absicht in Kenntnis gesetzt hat?«

»Vor etwa einer Stunde.«

»Meine Lady, ich habe kein Recht, Miss Verinders Handlungen zu kontrollieren. Ich kann Sie nur bitten, ihre Abfahrt wenn möglich um einige Stunden zu verschieben. Ich muß morgen früh selbst nach Frizinghall und werde gegen zwei Uhr zurückkommen, wenn nicht schon früher. Falls es möglich ist, Miss Verinder bis dahin hier zurückzuhalten, möchte ich vor ihrer Abfahrt gern unvermutet ein paar Worte mit ihr sprechen.«

Lady Julia ließ durch mich dem Kutscher ausrichten, der Wagen für Miss Verinder solle nicht vor zwei kommen.

»Noch etwas?« wandte sie sich dann an den Sergeanten.

»Nur noch eine andere Bitte, Euer Gnaden. Sollte Miss Verinder über den Aufschub ihrer Abreise erstaunt sein, so geben Sie bitte nicht mich als Grund dafür an.«

Meine Herrin hob plötzlich den Blick von ihrem Buch, als ob sie etwas sagen wolle. Dann beherrschte sie sich mit großer Überwindung und entließ uns mit einer Handbewegung.

Draußen in der Halle sagte Sergeant Cuff: »Eine wundervolle Frau. Hätte sie nicht diese Selbstbeherrschung, das Rätsel, das Sie so beunruhigt, Mr. Betteredge, würde heute nacht gelöst.«

Bei diesen Worten dämmerte endlich die Wahrheit in meinem dummen, alten Kopf. Ich verlor für einen Moment völlig den Verstand, faßte den Sergeanten am Rockkragen und drückte ihn gegen die Wand, wobei ich schrie: »Verdammter Kerl! Es hat etwas mit Miss Rachel zu tun, und die ganze Zeit über haben Sie es mir verhehlt!«

Sergeant Cuff sah mich an. Er stand gegen die Mauer gedrängt, hob nicht die Hand, und kein Muskel in seinem melancholischen Gesicht bewegte sich.

Stattdessen sagte er: »Sehen Sie mal an, endlich haben Sie es erraten.«

Meine Hand ließ seinen Kragen los, und der Kopf sank mir auf die Brust. Ich bat Sergeanten Cuff um Verzeihung und fürchte, mir standen dabei die Tränen in den Augen.

»Seien Sie nicht traurig, Mr. Betteredge«, sagte der Sergeant freundlicher als ich erwarten durfte. »Wollten wir in unserem Beruf so schnell beleidigt sein, wir wären das Salz in der Suppe nicht wert. Wenn es einen Trost für Sie bedeutet, dann packen Sie mich ruhig noch einmal am Kragen. Sie haben zwar keine Ahnung, wie man so etwas macht, aber ich übersehe gern Ihre Ungeschicklichkeit, denn ich weiß, wie Ihnen zumute ist.«

Es zuckte wieder um seine Mundwinkel.

»Sagen Sie mir die Wahrheit, Sergeant. Was für einen Verdacht haben Sie?«

»Ich habe keinen Verdacht. Ich bin meiner Sache sicher.«

Schon wieder gewann mein unseliges Temperament die Oberhand.

»Wollen Sie mir etwa zu verstehen geben, daß Miss Rachel ihren eigenen Diamanten gestohlen hat?«

»Ja, das will ich«, sagte der Sergeant. »Miss Verinder hat den Diamanten von Anfang an besessen. Sie hat Rosanna Spearman ins Vertrauen gezogen, weil sie damit rechnete, daß wir Rosanna des Diebstahls verdächtigen würden. Das ist in ein paar Worten der ganze Fall. Und wenn es Sie irgendwie beruhigt, dann packen Sie mich noch einmal am Kragen, Mr. Betteredge.«

Ich stieß nur die Worte hervor: »Und Ihre Gründe?«

Er schwieg. – Mit schwerem Herzen ging ich hinaus.

Meine trüben Gedanken wurden von Samuel unterbrochen, der mir einen Zettel meiner Herrin brachte. Der Richter in Frizinghall habe sie an die drei Inder erinnert. Anfang nächster Woche mußten die Schufte freigelassen werden und konnten dann tun, was ihnen beliebte. Lady Julia wünschte, ich sollte Sergeant Cuff hiervon unterrichten. So legte ich ihm den Zettel meiner Herrin auf den Tisch. Inzwischen war ich wirklich fast so weit gekommen, den Sergeanten zu hassen, aber wahrheitsgemäß muß ich doch zugeben, daß er geistig erstaunlich rege war. Eine halbe Minute nach Durchlesen des Zettels hatte er aus dem Gedächtnis heraus den damaligen Bericht des Inspektors überprüft und den Teil darin gefunden, der sich mit den Indern befaßte. Ein großer Forscher, der etwas von den Indern und ihrer Sprache verstand, hatte ja wohl in Mr. Seegraves Bericht eine Rolle gespielt. Sergeant Cuff würde den Herrn aufsuchen, wenn er morgen früh nach Frizinghall fuhr.

Auf dem Korridor traf ich Penelope. Mein Mädel war über die neuesten Vorgänge im Schloß schrecklich niedergedrückt. »Alles geht schief, Vater. Nichts ist mehr so wie es war. Mir ist zumut, als hinge ein furchtbares Unglück über uns allen.«

So war auch mir zumut, aber vor meiner Tochter machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Gerade als ich mich der Windfangtür näherte, die in die Halle führte, wurde sie heftig von der anderen Seite aufgerissen, und Rosanna Spearman, trostlosen Schmerz im Gesicht, wollte an mir vorbei.

»Aber Mädel, was ist los?« fragte ich sie und hielt sie fest.

»Um Himmels willen, sprechen Sie nicht mit mir.« Sie entwand sich meiner Hand und rannte zur Dienstbotentreppe. Ich rief der Köchin, die in Hörweite war, zu, sie möge sich um das arme Mädchen kümmern. Es erwies sich, daß noch zwei weitere Personen meine Worte gehört hatten. Sergeant Cuff kam schnell und sehr leise aus meinem Zimmer und fragte, was los sei. Ich erwiderte: »Nichts.«

Mr. Franklin öffnete die Windfangtür, zog mich in die Halle und wollte wissen, ob ich etwas von Rosanna Spearman gesehen hätte.

»Sie kam eben an mir vorbei, Sir, völlig verstört und merkwürdig aufgeregt.«

»Ich fürchte, ich bin die unschuldige Ursache dieser Verstörtheit, Betteredge. Ich kann es mir nicht erklären, aber wenn das Mädchen an dem Verlust des Diamanten beteiligt ist, so bin ich mir so gut wie sicher, daß sie vor noch nicht zwei Minuten im Begriff stand, alles zu bekennen – mir, ausgerechnet mir!«

Zufällig sah ich in diesem Augenblick nach der Windfangtür hin, und es war mir so, als öffne sie sich ein wenig von innen. Lauschte dort jemand? Die Tür fiel zu, ehe ich sie erreichen konnte. Aber als ich gleich darauf hinaus sah, kam es mir vor, als ob die Schöße des ehrbaren, schwarzen Rockes von Sergeant Cuff gerade um die Ecke verschwänden.

Mr. Franklin deutete auf den Billardtisch und sagte: »Ich spielte gerade ein wenig mit den Bällen und versuchte, die elende Sache mit dem Diamanten aus dem Kopf zu bekommen. Plötzlich stand wie ein Geist Rosanna Spearman neben mir; Ich bemerkte, wie ängstlich sie war, und fragte, ob sie mich sprechen wolle. ›Ja, wenn ich darf.‹ Darauf sagte ich: ›Ich verstehe dich nicht ganz. Soll ich irgend etwas für dich tun?‹ Wahrhaftig, Betteredge, ich sprach nicht unfreundlich. Das arme Mädchen kann doch nichts dafür, daß es so häßlich ist. Ich hielt den Queue noch in der Hand und spielte weiter, um der Situation das Unbehagliche zu nehmen. Ich fürchte, ich kränkte sie dadurch, ohne es zu wollen. Sie wandte sich plötzlich weg, und ich hörte, wie sie vor sich hin sagte: ›Er sieht lieber die Billardbälle als mich an.‹ Ehe ich sie noch zurückhalten konnte, hatte sie die Halle verlassen. Ich bin etwas in Sorge, Betteredge. Willst du bitte Rosanna sagen, ich hätte nicht unfreundlich zu ihr sein wollen. Vielleicht bin ich auch in Gedanken zu ungerecht gegen sie gewesen. Ich hatte gehofft, der Diebstahl des Diamanten würde ihr nachgewiesen werden können. Gewiß nicht, weil ich dem armen Mädchen irgend etwas Böses wünschte, aber –« Hier hielt er inne und begann erneut mit den Billardbällen zu spielen.

Nur die Tatsache, daß der Monddiamant bei unserem zweiten Hausmädchen gefunden wurde, konnte im Augenblick Miss Rachel von dem schrecklichen Verdacht des Sergeanten befreien, und so leid mir Rosanna tat, schien mir Mr. Franklins Standpunkt dennoch weder unnatürlich noch unverständig zu sein. Etwas der Art sagte ich zu ihm.

»Immerhin, es ist noch eine Möglichkeit, gewiß nur eine geringe, daß man Rosannas Verhalten auch anders erklären kann. Sag' jedenfalls dem armen Menschenkind, was ich dir aufgetragen habe und wenn sie mit mir sprechen will, so schicke sie in die Bibliothek. Mir ist es gleich, ob das mißdeutet wird oder nicht.« Mit diesen freundlichen Worten legte er den Billardstock hin und verließ mich.

Eine Nachfrage beim Gesinde ergab, daß Rosanna in ihr Zimmer gegangen war und gebeten hatte, man möge sie in Ruhe lassen. Ich berichtete Mr. Franklin das Ergebnis. Darauf verließ er die Bibliothek und ging zu Bett. Ich löschte die Lichter aus und schloß die Fenster, als Samuel mir mitteilte, Sergeant Cuff wäre nicht zu finden. Ich ging nach oben, um ihn zu suchen. Auf dem zweiten Treppenabsatz war es mir, als höre ich ein ruhiges, regelmäßiges Atmen aus dem Flur zur Linken, an dem Miss Rachels Zimmer lag. Und hier fand ich auch den Sergeanten, der drei Stühle quer über den Flur gestellt hatte, auf denen er schlief. Er hatte sich ein rotes Taschentuch um seinen ergrauten Kopf gebunden, und den ehrbaren, schwarzen Rock als Kissen zusammengerollt. Sofort und lautlos wie ein Hund wachte er auf. »Gute Nacht, Mr. Betteredge. Und vergessen Sie nicht, wenn Sie sich je der Rosenzucht widmen, daß das weiße Moosröschen viel schöner wird, wenn es nicht auf die Hundsrose gepfropft wird, so oft auch der Gärtner das Gegenteil behaupten mag.«

»Was machen Sie denn hier? Warum sind Sie nicht in Ihrem Bett?«

»Weil ich einer der vielen Leute auf dieser elenden Welt bin, die ihr Geld nicht ehrlich und leicht zur gleichen Zeit verdienen können. Was auch Rosanna versteckt haben mag, mir ist es klar, daß Ihre junge Lady nicht fortgehen kann, ehe sie nicht weiß, daß es auch wirklich versteckt ist. Die beiden müssen heute nacht schon einmal heimlich zusammen gekommen sein. Versuchen sie es aber wiederum, wenn das Haus zur Ruhe gekommen ist, dann möchte ich im Wege sein und dies verhindern. Tadeln Sie mich nicht, Mr. Betteredge, daß ich Ihr Schlafarrangement über den Haufen geworfen habe. Tadeln Sie den Diamanten.«

»Ich wünschte zu Gott, der Diamant hätte nie den Weg in dieses Haus gefunden!«

Sergeant Cuff sah reumütig auf die drei Stühle, zu denen er sich für diese Nacht verdammt hatte. »Das wünschte ich auch«, sagte er ernst.

 

Nichts geschah in der Nacht. Ich hatte erwartet, der Sergeant würde früh am Morgen nach Frizinghall gehen. Doch blieb er da, als ob er noch etwas anderes zu tun hätte. Bald danach traf ich Mr. Franklin auf seinem Lieblingsweg neben den Büschen. Ehe wir noch zwei Worte gesprochen hatten, kam unerwartet der Sergeant und war außerordentlich freundlich zu Mr. Franklin, der ihn ziemlich hochmütig empfing.

»Haben Sie mir irgend etwas zu sagen?« war seine ganze Antwort auf ein höfliches Guten Morgen.

Der Sergeant erwiderte: »Ja, ich habe Ihnen etwas zu sagen, Sir, und zwar über meine Untersuchung. Gestern haben Sie herausgefunden, welche Wendung sie nimmt. Selbstverständlich sind Sie entsetzt und bestürzt. Nur zu natürlich, daß Sie Ihren Zorn über den Familienskandal an mir auslassen.«

»Was wollen Sie von mir?« unterbrach ihn Franklin scharf.

»Ich möchte Sie daran erinnern, Sir, daß mir bisher ein Irrtum nicht nachgewiesen ist. Vergessen Sie bitte auch nicht, daß ich hier im Namen des Gesetzes mit Billigung der Herrin dieses Schlosses tätig bin. Ist es nicht unter diesen Umständen Ihre Pflicht als guter Bürger, mir mit allen Informationen beizuspringen, die Sie vielleicht besitzen?«

»Ich besitze keine Informationen.«

»Einer der weiblichen Dienstboten – ich will keinen Namen nennen – hat gestern abend heimlich mit Ihnen gesprochen, Sir.«

Wiederum schnitt ihm Franklin das Wort ab: »Ich habe nichts zu sagen.«

Ohne Zweifel hatte Sergeant Cuff am letzten Abend genug erlauscht, um zu vermuten, Rosanna habe bei Mr. Franklin ihr Herz durch irgend ein Geständnis erleichtert.

Dieser Gedanke war mir gerade gekommen, als Rosanna Spearman plötzlich am Ende des Weges erschien. Penelope folgte ihr und versuchte, wie mir schien, sie wieder ins Haus zurückzuziehen. Mr. Franklin sah die beiden Mädchen im gleichen Augenblick wie ich. Der Sergeant aber in seiner teuflischen Schlauheit tat so, als habe er sie überhaupt nicht bemerkt, und ehe Franklin oder ich noch ein Wort sagen konnten, fuhr er ruhig, aber so laut, daß Rosanna ihn hören konnte, fort: »Sie brauchen keine Angst zu haben, daß Sie dem Mädchen irgendwie wehetun, Sir. Im Gegenteil, ich empfehle Ihnen, mir Ihr Vertrauen zu schenken, falls Sie irgend ein Interesse an Rosanna Spearman haben.«

Mr. Franklin tat sogleich ebenfalls so, als habe er die beiden Mädchen garnicht gesehen, und antwortete mit lauter Stimme: »Ich habe nicht das mindeste Interesse an Rosanna Spearman.«

Ich beobachtete, wie sich nach diesen Worten Franklins Rosanna am Ende des Weges plötzlich umwandte. Sie erlaubte jetzt meiner Tochter, sie widerstandslos ins Haus zurückzubringen.

Der Gong zum Frühstück ertönte, und selbst Cuff gab die Sache notgedrungen als hoffnungslos auf. Er sagte in ruhigem Ton zu mir: »Ich werde jetzt nach Frizinghall gehen, Mr. Betteredge, und vor zwei nicht zurückkommen.«

Als wir beide allein waren, meinte Mr. Franklin: »Du mußt die Sache bei Rosanna wieder in Ordnung bringen. Irgendwie scheine ich immer etwas Falsches zu sagen oder zu tun, wenn das unselige Mädchen in der Nähe ist. Du hast doch sicher gemerkt, wie Sergeant Cuff uns beiden eine Falle stellte. Gelang es ihm, mich zu verwirren oder Rosanna zu einer vorschnellen Handlung zu verleiten, dann hätte einer von uns vielleicht irgend etwas gesagt, was Cuffs Zwecken dienlich war. Unter der Eingebung des Augenblicks fiel mir kein besserer Weg aus dieser Klemme ein. Er verhinderte das Mädchen daran, irgend etwas zu sagen, und bewies gleichzeitig dem Sergeanten, daß ich ihn durchschaut hatte. – Wenn du übrigens wegen des Vorfalls gestern abend noch nicht mit ihr gesprochen hast, so sage ihr jetzt auch nichts mehr davon. Es ist besser, ich fordere die Vertraulichkeit des Mädchens nicht heraus, so lange der Sergeant darauf wartet, uns beide zu überlisten. Im Augenblick scheint mir jeder Weg aus dieser Zwickmühle gleich furchtbar, es sei denn, der Diamant wird bei Rosanna gefunden. Und doch kann und will ich dem Sergeanten nicht helfen, das Mädchen zu überführen.«

Ich verstand ihn vollkommen.

Während Sergeant Cuff auf dem Weg nach Frizinghall war, geschah folgendes: Miss Rachel schloß sich weiterhin hartnäckig in ihr Zimmer ein, bis der Wagen vorfuhr, der sie zu ihrer Tante bringen sollte. Meine Lady und Franklin frühstückten zusammen. Danach faßte Franklin einen seiner plötzlichen Entschlüsse und ging zu einem langen Spaziergang fort, um ruhiger zu werden. Er sagte mir, er werde vor Rückkehr des Sergeanten wieder da sein. Der Wetterumschlag, der sich am Vorabend angekündigt hatte, war inzwischen eingetreten. Später fand ich Penelope in meinem Zimmer. »Ich wünschte, Vater, du würdest mit Rosanna sprechen. Ich mache mir viel Sorgen um sie und fürchte, Mr. Franklin hat ihr unbeabsichtigt sehr weh getan.«

»Na, na«, sagte ich, »verlier nur nicht den Kopf. Soweit ich mich erinnere, ist nichts geschehen, was Rosanna verletzen konnte.«

»Ganz gewiß nicht, Vater. Aber Mr. Franklin hat doch gesagt, er habe nicht das mindeste Interesse an ihr, und sieh mal, er sagte es mit einer so grausamen Stimme.«

»Er sagte es, um dem Sergeanten den Mund zu verschließen.«

»Das meine ich auch, aber Mr. Franklin – man kann ihn dafür nicht einmal tadeln – hat sie nun schon seit vielen Wochen gekränkt und enttäuscht, und nun kommt dies noch zu allem anderen.«

Ich hatte Franklin versprochen, mit Rosanna zu reden, und, dies schien mir die beste Gelegenheit, mein Wort zu halten. Wir fanden das Mädchen, das den Flur fegte, blaß, gefaßt und in ihrem bescheidenen Hauskleid so sauber wie nur je. Mir fiel eine seltsame Mattigkeit und Stumpfheit der Augen auf. Es war nicht so, als habe sie geweint, sondern als habe sie irgend etwas zu lange betrachtet.

»Nicht traurig sein, Rosanna«, begann ich. »Ich muß dir eine Bestellung von Mr. Franklin ausrichten.«

Und nun erzählte ich ihr ruhig und möglichst schonend die ganze Angelegenheit.

»Mr. Franklin ist sehr freundlich und rücksichtsvoll. Wollen Sie ihm bitte danken.« Das war ihre ganze Antwort.

»Bist du auch ganz sicher, Rosanna, daß du mich verstanden hast?«

»Ganz sicher.«

Sie beantwortete meine Frage, als wäre sie nicht ein lebendiges Wesen, sondern eine Maschine, und die ganze Zeit über fegte sie weiter. So sanft und freundlich ich konnte, nahm ich ihr den Besen weg und sagte: »Nun, nun, liebes Mädchen, das sieht dir ja garnicht ähnlich. Du hast etwas auf dem Herzen. Sieh mal, ich bin dein Freund und werde es bleiben, auch wenn du etwas Unrechtes getan hast. Sage es mir doch, Rosanna – sage es mir!«

Es hat eine Zeit gegeben, wo solche Worte in solchem Ton sie zum Weinen gebracht hätten. Jetzt aber konnte ich keine Veränderung entdecken. Sie sagte nur: »Ja, ich werde es sagen.«

»Meiner Lady?«

»Nein.«

»Mr. Franklin?«

»Ja, Mr. Franklin.«

Ich wußte nicht, was ich darauf antworten sollte, und erzählte ihr nur, Mr. Franklin sei ausgegangen.

»Das schadet nichts«, antwortete sie. »Ich werde Mr. Franklin heute nicht belästigen. Ich weiß einen besseren Weg als diesen, um mein Herz zu erleichtern.«

»Und der wäre?«

»Bitte lassen Sie mich weiter arbeiten, und vielen Dank, Mr. Betteredge.«

Ich winkte Penelope mitzukommen. »Dies ist eine Angelegenheit für den Doktor«, sagte ich. »Ich werde damit nicht fertig.«

Nach meiner Ansicht war der Zustand des Mädchens gerade heraus gesagt beunruhigend, und meine Herrin mußte darüber ins Bild gesetzt werden. Widerwillig genug ging ich in den Salon. Aber niemand war dort. Meine Lady hatte sich mit Miss Rachel eingeschlossen, und ich konnte sie nicht sprechen. Ich wartete vergebens bis dreiviertel zwei. Fünf Minuten später hörte ich meinen Namen von der Auffahrt her. Sergeant Cuff war von Frizinghall zurückgekommen.

 

Ich begegnete ihm auf der Treppe. Mein Gefühl für Würde hatte mich völlig verlassen, denn ich überfiel ihn sogleich mit der Frage: »Was gibt es neues in Frizinghall?«

Sergeant Cuff erwiderte: »Ich habe die Inder gesprochen und herausbekommen, was Rosanna am letzten Donnerstag heimlich in der Stadt gekauft hat. Die Inder werden am Mittwoch nächster Woche freigelassen werden. Ich habe keinen Zweifel – und Mr. Murthwaite ist der gleichen Ansicht – daß sie hierher gekommen sind, um den Monddiamanten zu stehlen. Natürlich wurden alle ihre Berechnungen durch die Ereignisse der Mittwoch Nacht über den Haufen geworfen. Mit dem tatsächlichen Verlust des Edelsteins haben sie nicht mehr zu tun als Sie, Mr. Betteredge. Eines aber kann ich Ihnen sagen, – wenn wir den Mondstein nicht finden, so werden sie es tun. Noch haben Sie nicht das Letzte von den drei Gauklern gehört.«

Da ich nun einmal mein Gefühl für Würde verloren hatte, beschloß ich, auch in den vollen Genuß dieses Opfers zu kommen. »Dies über die Inder«, sagte ich. »Was aber nun über Rosanna?«

Sergeant Cuff schüttelte den Kopf: »In dieser Beziehung ist das Geheimnis größer denn je. Ich habe ihre Spur bis zu einem Laden in Frizinghall verfolgt. Nirgendwo sonst hat sie eingekauft und auch in jenem Laden nur ein Stück langes Leinen. Sie war besonders auf eine bestimmte Qualität erpicht und kaufte ein Stück, das ausreicht, um ein Nachthemd daraus zu machen.«

»Nachthemd? Wessen Nachthemd?«

»Natürlich ihr eigenes. Am Donnerstag morgen zwischen Mitternacht und drei Uhr muß sie in das Zimmer ihrer Lady geschlüpft sein, um den Monddiamanten zu verstecken, während alle schliefen. Als sie dann in ihr eigenes Zimmer zurückging, muß das Nachtgewand an die feuchte Farbe der Tür gekommen sein. Sie konnte den Fleck nicht auswaschen und sie konnte das Nachthemd auch nicht vernichten, ehe sie ein anderes hatte, damit der Bestand ihrer Wäsche vollzählig blieb.«

»Aber was beweist denn, daß es Rosannas Nachthemd war?« wandte ich ein.

»Der Stoff, den sie für das Ersatzhemd kaufte. Hätte es sich um Miss Verinders Hemd gehandelt, dann hätte sie Spitzen und Rüschen und wer weiß was sonst noch gekauft.

Die Zeit hätte auch gar nicht ausgereicht, es in einer Nacht anzufertigen. Nein, Mr. Betteredge, das alles ist völlig klar. Die Frage ist nur, warum versteckt sie das befleckte Kleidungsstück, statt es zu vernichten. Wenn das Mädchen nicht sprechen will, so müssen wir das Versteck bei den ›Zitternden Sänden‹ suchen – und dort werden wir vielleicht den Schlüssel zu dem Geheimnis finden.«

»Und wie wollen Sie den Platz feststellen?«

»Da muß ich Sie leider enttäuschen. Das ist ein Geheimnis, das ich für mich behalte. – Und nun, Mr. Betteredge, wie wäre es, wenn wir Vermutungen beiseite lassen und zu Tatsachen kommen. Ich habe Joyce beauftragt, Rosanna zu beobachten. Wo ist Joyce?« Die Uhr schlug zwei, als er die Frage stellte, und pünktlich auf die Minute fuhr der Wagen vor, der Miss Rachel zu ihrer Tante bringen sollte.

»Jedes Ding zu seiner Zeit«, sagte der Sergeant. »Jetzt muß ich mich zunächst mit Miss Verinder beschäftigen.«

Da der Regen immer noch drohte, war der Wagen geschlossen. Sergeant Cuff ließ Samuel vom Rücksitz absteigen und sagte zu ihm: »Beim Pförtnerhaus unter den Bäumen wartet ein Freund von mir. Er wird, ohne daß der Wagen hält, zu Ihnen auf den Rücksitz steigen. Sie haben nichts zu tun, als den Mund zu halten. Sonst, passiert etwas.«

Meine junge Lady sollte also überwacht werden. Ein Spion auf dem Rücksitz des Wagens ihrer Mutter! Ich hätte mir die Zunge abbeißen mögen, weil ich mich soweit vergessen hatte, mit dem Sergeanten zu sprechen.

Als erste kam meine Lady aus dem Hause. Sie sprach kein Wort. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, die Arme hielt sie übereinander geschlagen. So stand sie wie eine Statue und wartete auf das Erscheinen ihrer Tochter. Nach einer Minute kam Miss Verinder. Sie trug einen hübschen, kleinen Strohhut mit einem weißen Schleier und rosa Handschuhe, die wie eine zweite Haut auf ihren Fingern saßen. Sie schritt schnell und erhobenen Hauptes zum Wagen, und jede ihrer Bewegungen war fein und zierlich wie die einer jungen Katze. Außer dem Ausdruck um Augen und Lippen war sie unverändert. Die Augen waren heller und zorniger, als es mir gefiel, und ihre Lippen hatten jedes Lächeln verloren. Ich erkannte sie kaum wieder. Sie küßte ihre Mutter hastig und überstürzt auf die Wange und sagte: »Versuche doch, mir zu verzeihen.« Dann zog sie den Schleier so heftig über das Gesicht, daß er zerriß. Im nächsten Augenblick war sie die Stufen hinabgeeilt und in den Wagen gestürzt, als wäre er ein Versteck. Sergeant Cuff war schnell neben ihr. Er stieß Samuel beiseite und stand vor Miss Rachel.

»Was wollen Sie?« sagte sie hinter ihrem Schleier hervor.

»Auf ein Wort, Miss, ehe Sie fortfahren. Ich darf nicht wagen, Sie an dem Besuch Ihrer Tante zu hindern. Aber ich darf Ihnen erklären, daß Ihr Fortgehen mir bei der Wiederauffindung des Diamanten einen Stein in den Weg legt. Bitte verstehen Sie das richtig und entscheiden Sie selbst, ob Sie gehen oder bleiben wollen.«

Miss Rachel antwortete ihm überhaupt nicht, sondern rief dem Kutscher zu: »Los, James!«

Ohne ein weiteres Wort schloß der Sergeant den Wagenschlag. In diesem Moment kam Franklin die Treppe heruntergerannt. »Leb wohl, Rachel«, rief er und streckte ihr die Hand hin.

»Los!« rief Rachel noch lauter. Sie nahm von Franklin ebenso wenig Notiz wie von dem Sergeanten.

Mr. Franklin trat wie vom Donner gerührt zurück. Der Kutscher wußte nicht, was er tun sollte, und sah zu meiner Lady hin, die immer noch unbeweglich auf der ersten Treppenstufe stand. Zorn, Scham und Schmerz kämpften in ihrem Gesicht. Sie winkte dem Kutscher abzufahren und wandte sich dann ins Haus zurück. Während der Wagen sich in Bewegung setzte, rief Mr. Franklin: »Tante, du hattest ganz recht. Dank für alle deine Güte und lass' mich nun gehen.«

Meine Lady wandte sich um, als wolle sie mit ihm sprechen; dann – als traue sie sich nicht – winkte sie nur freundlich mit der Hand. Mit gebrochener Stimme sagte sie: »Ich möchte dich noch sprechen, ehe du uns verläßt, Franklin.«

Sergeant Cuff stand mir am Fuß der Treppe gegenüber. Er blickte nach einer Lücke zwischen den Bäumen, wo man ein Stück der Auffahrt sehen konnte. Er hielt die Hände in den Taschen und pfiff leise die ›Letzte Rose‹ vor sich hin.

»Jedes Ding zu seiner Zeit«, sagte ich reichlich unwirsch, »dies ist nicht der richtige Augenblick zum Pfeifen.«

In diesem Moment sah man in der Ferne den Wagen. Deutlich war ein zweiter Mann neben Samuel auf dem Rücksitz zu erkennen.

»In Ordnung«, sagte der Sergeant vor sich hin. Dann wandte er sich an mich. »Es ist nicht die richtige Zeit zum Pfeifen, Mr. Betteredge, wie Sie eben bemerkten. Es ist aber Zeit, nunmehr die Angelegenheit energisch in die Hand zu nehmen, ohne irgend jemanden zu schonen. Wir wollen mit Rosanna Spearman anfangen. Wo ist Joyce?«

Wir riefen nach ihm und bekamen keine Antwort. Ich schickte einen der Stallknechte los. Während wir warteten, bemerkte der Sergeant: »Sie haben gehört, was ich zu Miss Verinder gesagt habe, und Sie haben gesehen, wie sie es aufnahm. Ich sagte ihr ganz eindeutig, daß ihr Fortgehen mir bei der Auffindung des Diamanten einen Stein in den Weg legt. Und trotz dieser Feststellung fährt sie weg. Ihre junge Lady, Mr. Betteredge, hat einen Reisegefährten im Wagen, und das ist der Monddiamant.«

Ich sagte garnichts, aber ich versuchte mit aller Gewalt, meinen Glauben an Miss Rachel hochzuhalten.

Der Stallknecht kam zurück, und ihm folgte Joyce.

»Wo ist Rosanna Spearman?« fragte der Sergeant.

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir. Es tut mir schrecklich leid, ich kann sie nicht finden.«

»Ehe ich nach Frizinghall fuhr, gab ich Ihnen den Befehl, auf Rosanna Spearman aufzupassen, ohne daß sie es merkt. Wollen Sie etwa sagen, daß sie Ihnen entschlüpft ist?«

»Das fürchte ich, Sir. Vielleicht hatte ich zu viel Angst, sie könne meine Absicht bemerken. Es gibt so viele Ausgänge aus dem Schloß.« Joyce begann zu zittern.

»Wie lange vermissen Sie sie schon?«

»Wohl bald eine Stunde, Sir.«

»Sie können zu Ihrer gewohnten Beschäftigung nach Frizinghall zurückkehren. Mir scheint, Ihre Talente entsprechen nicht ganz meinen Anforderungen, Mr. Joyce. Ihre augenblickliche Verwendung geht ein klein wenig über Ihre Kräfte. Guten Morgen.« Der Sergeant sprach in seiner gewohnt trübseligen Art, ohne irgendeine Erregung, und der Mann schlich sich fort.

Es ist sehr schwer zu sagen, welche Gedanken mich bei der Entdeckung von Rosannas Verschwinden bewegten. Ich starrte Sergeant Cuff an und konnte kein Wort hervorbringen.

»Nun, Mr. Betteredge«, sagte der Sergeant, als habe er den Gedanken erraten, der mich am meisten beschäftigte. »Ihre junge Freundin wird mir nicht so leicht durch die Finger schlüpfen, wie Sie denken. Ich weiß ja, wo Miss Verinder ist, also kann ich auch Miss Verinders Komplizin finden. Inzwischen fürchte ich, muß ich Sie noch einmal damit belästigen, das Gesinde zusammenzurufen.«

Es ist sehr beschämend, aber doch wahr, daß mich wieder das Detektivfieber packte. Ich vergaß, daß ich Sergeant Cuff haßte, und faßte ihn vertraulich am Arm: »Um Himmelswillen, sagen Sie mir, was Sie nun wieder mit den Dienstboten vorhaben.«

Der große Cuff stand mäuschenstill und atmete in melancholischer Verzückung die leere Luft ein.

»Wenn dieser Mann«, sagte der Sergeant und meinte offenbar mich, »nur etwas mehr von der Rosenzucht verstände, so wäre er das vollkommenste Wesen der Schöpfung! So stehen die Dinge: Rosanna ist entweder direkt nach Frizinghall gegangen oder erst zu ihrem Versteck bei den ›Zitternden Sänden‹. Zunächst müssen wir also herausfinden, wer von den Bedienten sie zuletzt gesehen hat.«

Das war Nancy, das Küchenmädchen. Sie hatte gesehen, wie Rosanna mit einem Brief in der Hand aus dem Hause geschlüpft war und den Boten des Schlachters angehalten hatte. Nancy hatte gehört, wie sie diesen bat, den Brief in Frizinghall einzustecken. Der Mann hatte sich die Adresse angesehen und gemeint, es wäre doch ein Umweg für einen Brief nach Cobb's Hole, ihn in Frizinghall einzustecken. Außerdem wäre es Sonnabend, und so würde er vor Montag seinen Bestimmungsort nicht erreichen. Rosanna hatte geantwortet, das spiele keine Rolle. Sie wollte nur sicher gehen, daß ihre Bitte erfüllt würde. Dies hatte der Mann auch versprochen und war fortgefahren. Nancy war dann an ihre Arbeit in der Küche zurückgerufen worden, und seither hatte niemand mehr Rosanna gesehen.

Auf dem Hof aber fanden wir eine neue Spur des vermißten Mädchens.

 

Eine fixe, kleine Range, mit Spitznamen Duffy, hatte Rosanna noch vor einer halben Stunde gesehen. Das Mädchen war in Richtung auf die Küste durch die Kiefernpflanzung an ihm vorbeigerannt, und der Kleine war seiner Sache sicher.

»Duffy«, sagte der Sergeant, »willst du dir einen Schilling verdienen? Dann komm mit mir. Lassen Sie die Pony-Chaise warten, Mr. Betteredge, bis ich wiederkomme.«

Er machte sich nach den ›Zitternden Sänden‹ auf, während der kleine Duffy hinter ihm hertrottete und ein Gebrüll ausstieß, wie das die Jungen dieser Gegend tun, wenn sie guter Laune sind. Ich weiß nicht, wie lange der Sergeant schon fort war, als Duffy mit einer Nachricht von ihm zurückkam. Sie lautete: ›Schicken Sie mir einen von Rosannas Schuhen, so schnell wie möglich.‹

Ich jagte den Jungen mit der Meldung zurück, ich selbst würde sofort mit dem Schuh folgen. Mein alter Wunsch, das Mädchen wenn möglich zu schützen, war in elfter Stunde wieder erwacht. Dieses Gefühl ließ mich auf kürzestem Weg loslaufen, sobald ich den Schuh hatte. Vom Detektivfieber will ich dabei noch garnicht einmal reden.

Der Himmel bezog sich immer stärker, je mehr ich mich dem Strande näherte, und bald strömte der Regen herab. Ich hörte das Donnern der Brandung vor der Sandbank am Eingang zur Bucht. Ein Stückchen weiter kam ich an dem Jungen vorbei, der unter den Dünen Schutz suchte. Und dann sah ich das tobende Meer. Ich sah, wie die Brecher über die Sandbank stürzten; ich sah, wie der Regen gleich einem flatternden Gewande über das Wasser peitschte; ich sah die gelbe Einöde des Strandes und eine einsame schwarze Gestalt – Sergeant Cuff.

Ich rannte auf ihn zu, rang nach Atem, und mein Herz schlug, als wolle es zerspringen. Ich hatte hundert Fragen auf dem Herzen, aber keine kam über die Lippen. Als ich sein Gesicht sah, bekam ich einen Schreck. In seinen Augen stand Entsetzen. Er riß mir den Schuh aus der Hand und stellte ihn in einen Fußabdruck auf dem Sande, der genau zu dem Felsvorsprung, der Südspitze, hinwies. Der Schuh des Mädchens paßte haargenau hinein. Der Sergeant deutete darauf hin, ohne zu sprechen. Dann folgte er den Fußspuren, bis Fels und Sand zusammenstießen. Die Südspitze wurde gerade von der einkommenden Flut überspült. Das Wasser quirlte über die ›Zitternden Sände‹ und flutete hin und her, in einer schauerlichen, hartnäckigen Gleichförmigkeit. Sergeant Cuff redete immer noch nicht. Er sah mich an und dann auf das Wasser vor uns, das höher und höher den Flugsand bedeckte. Ich folgte seinem Blick und las ihm die Gedanken vom Gesicht. Dann überkam mich ein schreckliches Zittern, und ich sank in die Knie.

»Sie ist zu dem Versteck zurückgekehrt«, hörte ich die Stimme des Sergeanten. »Irgend ein Unglück ist ihr auf diesem Felsen zugestoßen.«

Ich versuchte zu sagen, ›diesen Tod hat sie selbst gesucht‹, aber die Worte wollten mir nicht über die Lippen. Wie in einem Traum erschien mir das arme, verlorene Menschenkind.

Der Sergeant half mir freundlich in die Höhe, und wir gingen von der Stelle fort, wo Rosanna Spearman ihr Ende gefunden hatte. Als ich nach den Dünen hinüberblickte, sah ich den Fischer Yolland, der auf uns zulief. Der Sergeant berichtete, ein tödlicher Unglücksfall müsse dem Mädchen zugestoßen sein. Dann fragte er: »Kann bei einem derartigen Wetter ein Boot sie von jenem Felsen, an dem die Fußspuren enden, abgeholt haben?«

Der Fischer deutete auf die Brecher, die über die Sandbank stürzten, und auf die riesigen Wogen, die in weißem Gischt an den Landzungen zur Rechten und Linken emporleckten: »Kein Boot, das Menschenhand erbaut hat, kann durch solche See gefahren sein.«

Sergeant Cuff betrachtete zum letzten Male die Fußspuren im Sande, die der Regen jetzt schnell verwusch.

»Hier ist der Beweis, daß sie diesen Platz nicht über Land verlassen haben kann, und hier – er blickte den Fischer an – ist der Beweis, daß sie nicht über See fortgekommen ist.«

Er hielt inne und überlegte eine Minute. Dann wandte er sich an mich und meinte, der Unglücksfall müsse sich auf dem Flugsande zugetragen haben. Das löste mir endlich die Zunge, und ich sagte: »Kein Unglücksfall! Als sie hierherkam, war sie ihr Leben leid und wollte es hier beenden.«

Er fuhr zurück. »Woher wissen Sie das?« Dann wandte er sich an Yolland. »Werden wir sie möglicherweise finden, wenn die Ebbe einsetzt?«

»Nein, was die Sände haben, halten sie für immer.« Nach diesen Worten wandte sich der Fischer an mich. »Mr. Betteredge, ich habe noch ein Wort zum Tod des jungen Mädchens zu sagen. Vier Fuß weiter nach See zu läuft neben der Landzunge ein Felsvorsprung, der etwa einen halben Faden unter dem Flugsand liegt. Ich glaube an keinen Unglücksfall, Sir. Sie muß hinausgewatet oder gesprungen sein. Die Tiefen des Flugsandes haben sie gefaßt, und es war ihr eigener, freier Wille.«

Bei den Dünen kam uns ein Stallknecht mit einem Zettel entgegen. »Penelope schickt mich, Mr. Betteredge. Dies hat sie in Rosannas Zimmer gefunden.«

Es war ihr letztes Lebewohl an einen alten Mann, der immer freundlich zu ihr gewesen war, so gut er es verstand. Gott sei Dank dafür.

›Sie haben mir oft in vergangenen Zeiten verziehen, Mr. Betteredge. Wenn Sie das nächste Mal zu den ›zitternden Sänden‹ gehen, versuchen Sie noch einmal, mir zu verzeihen. Ich habe mein Grab dort gefunden, wo es auf mich wartete. Ich lebte und starb, dankbar für Ihre Güte, Sir.‹

Nicht mehr. Ich fing leise an zu weinen. Sergeant Cuff trat auf mich zu. Kein Zweifel, er meinte es gut. Ich aber wich vor ihm zurück und sagte: »Fassen Sie mich nicht an. Die Furcht vor Ihnen hat sie dazu getrieben.«

»Sie irren sich, Mr. Betteredge«, antwortete er ruhig.

 

Wir fanden die Dienstboten in einem Zustand der Panik. Als wir an der Tür meiner Lady vorbeikamen, wurde sie heftig von innen geöffnet. Meine Herrin, gefolgt von Mr. Franklin, der sich vergeblich bemühte, sie zu beruhigen, trat außer sich vor Entsetzen zwischen uns. Leidenschaftlich drohte sie dem Sergeanten und rief: »Sie sind hierfür verantwortlich. Gabriel, gib diesem Elenden sein Geld. Ich will ihn nicht mehr sehen.«

»Ich bin so wenig für dieses bedauerliche Unglück verantwortlich wie Sie. Bestehen Sie eine halbe Stunde später immer noch darauf, daß ich das Haus verlasse, so nehme ich die Entlassung an, aber nicht das Geld.«

Der Sergeant sagte dies in sehr respektvollem Ton, aber zugleich auch sehr bestimmt, und das übte seine Wirkung auf meine Herrin und auf mich aus. Sie ließ sich von Franklin in ihr Zimmer zurückführen. Nach einer halben Stunde klingelte sie. Als ich zu ihr ging, traf ich Mr. Franklin, der aus dem Salon seiner Tante kam. Ihre Gnaden wären bereit, in meiner Gegenwart mit Sergeant Cuff zu sprechen. Zuvor möchte er selbst jedoch noch zwei Worte mit dem Beamten reden. Bei dieser Unterhaltung war ich dabei. Mr. Franklin erklärte, Lady Julia wolle gern zugeben, daß sie übereilt gesprochen habe, und frage an, ob Sergeant Cuff unter diesen Umständen sein Geld in Empfang nehmen und die Angelegenheit des Diamanten auf sich beruhen lassen wolle.

Der Sergeant erwiderte: »Nein, Sir, ich bekomme mein Geld dafür, daß ich meine Pflicht tue, und ich nehme es erst, wenn meine Pflicht getan ist.«

»Ich verstehe Sie nicht«, entgegnete Mr. Franklin.

»Dann will ich mich klarer ausdrücken. Als ich hierher kam, übernahm ich es, die Angelegenheit des vermißten Diamanten aufzuklären. Wenn ich nun Lady Verinder den Fall, so wie er zur Zeit liegt, dargestellt und ihr gesagt habe, welcher Weg gewählt werden muß, um den Monddiamanten wieder herbeizuschaffen, so ist mir die Verantwortung von den Schultern genommen. Ihre Gnaden mag dann entscheiden, ob sie mir eine Weiterarbeit erlaubt oder nicht. Dann habe ich durchgeführt, was ich übernommen hatte – und dann nehme ich mein Geld.«

Nun gingen Sergeant Cuff und ich zum Zimmer meiner Lady.

 

Nachdem wir uns gesetzt hatten, begann Lady Julia: »Sergeant Cuff, es gibt vielleicht eine Entschuldigung für meine Unbeherrschtheit, als ich vor einer halben Stunde mit Ihnen sprach. Ich will mich aber garnicht dahinter verschanzen. Ich sage Ihnen ganz offen, daß ich es bedaure, wenn ich Ihnen Unrecht getan habe.«

Der Zauber ihrer Stimme und ihres gütigen Wesens übte die erwartete Wirkung auf den Sergeanten aus. Warmherziger, als man bei seiner steifen, ledernen Art gewohnt war, gab er zu, daß auch ihn der schreckliche Tod des jungen Mädchens erschüttert habe.

»Die Schuld an dem Unglück«, fuhr er dann fort, »können wir aber unmöglich meiner Untersuchungsmethode beimessen. Denn gerade gegenüber Rosanna Spearman tat ich alles, um ihr Zutrauen zu gewinnen und sie nicht argwöhnisch zu machen. Von dem Erfolg meines Vorgehens – und ich glaube, daß es ein Erfolg war – hing ja auch wesentlich ein Erfolg meiner Untersuchung ab. Im übrigen habe ich von einem anderen Beweggrund für den Selbstmord des jungen Mädchens gehört. Er mag der wahre sein, hat aber mit der Untersuchung, die ich führe, nicht das mindeste zu tun. Ich muß sogar hinzufügen, daß ich selbst ganz anderer Meinung bin. Eine unerträgliche Angst wegen des vermißten Diamanten hat, wie ich glaube, die Arme zum Selbstmord getrieben. Ich glaube ferner, die Hand auf jemanden legen zu können, der entscheiden kann, ob ich recht oder unrecht habe, falls Euer Gnaden mir das erlaubt.«

»Denken Sie an meine Tochter?«

»Ja«, sagte Sergeant Cuff einfach.

Bei unserem Eintreten lag das Scheckbuch Lady Julias auf dem Tisch. Jetzt tat sie es in das Schubfach zurück. Es zerriß mir das Herz zu sehen, wie ihre arme Hand dabei zitterte – dieselbe Hand, die – darum bitte ich Gott – die meine einmal halten wird, wenn meine Zeit gekommen ist. Sehr langsam und ruhig sagte meine Lady: »Ich hatte gehofft, Sie für Ihre Dienste entschädigen zu können, ohne daß Miss Verinders Name zwischen uns erwähnt würde. Wahrscheinlich hat mein Neffe vorhin mit Ihnen darüber gesprochen.«

»Mr. Blake richtete seinen Auftrag aus, meine Lady, und ich gab Mr. Blake einen Grund …«

»Nicht nötig, mir Ihren Grund zu sagen. Nach Ihren Worten soeben wissen Sie so gut wie ich, daß es nun kein Zurück mehr gibt. Ich schulde es mir und meinem Kinde, daß ich auf Ihrem Hierbleiben und auf einer offenen Aussprache bestehe. Möglicherweise kann ich Ihnen und meinem guten Diener und Freund eine solche schmerzloser gestalten, wenn ich mit gutem Beispiel vorangehe und ganz offen rede. Sie verdächtigen Miss Verinder, daß sie uns alle täuscht, indem sie aus einem besonderen Grunde den Diamanten versteckt hat. Stimmt das?«

»Das ist richtig, meine Lady.«

»Nun gut. Bevor wir beginnen, muß ich Ihnen als Miss Verinders Mutter sagen, daß sie absolut unfähig ist, das zu tun, was Sie von ihr denken. Sie kennen ihren Charakter seit ein paar Tagen, ich aber von ihrer Geburt an. Äußern Sie Ihren Verdacht ruhig so unumwunden wie Sie wollen, damit können Sie mich unmöglich beleidigen. Ich bin mir von vornherein darüber klar, daß Sie trotz Ihrer großen Erfahrung in diesem Falle durch die Umstände verhängnisvoll in die Irre geführt wurden. Verstehen Sie mich recht. Ich besitze keinerlei private Informationen und so wenig das Vertrauen meiner Tochter wie Sie. Den einzigen Grund, weshalb ich so positiv spreche, habe ich Ihnen bereits angegeben. Ich kenne mein Kind!«

Sergeant Cuff verbeugte sich. Lady Julia hatte nur eine einzige Wirkung auf ihn gehabt. Sein scharf geschnittenes Gesicht wurde für einen Augenblick weicher, als täte sie ihm leid. Seine eigene Überzeugung aber hatte sich nicht um ein Jota geändert. Er setzte sich in seinem Stuhl zurecht und begann seinen hinterhältigen Angriff auf Miss Rachels Charakter folgendermaßen:

»Ich muß Euer Gnaden bitten, die Angelegenheit sowohl von meinem wie von Ihrem Standpunkt aus zu betrachten. Wollen Sie sich bitte vorstellen, Sie kämen an meiner Stelle und mit meiner Erfahrung hierher. Darf ich Ihnen nun in aller Kürze aus dieser meiner Erfahrung heraus berichten. In den letzten zwanzig Jahren bin ich verschiedentlich mit der Untersuchung von Familienaffären beschäftigt gewesen, und zwar in der Rolle einer Vertrauensperson. Diese Tätigkeit hat mich gelehrt, daß junge Damen von Ansehen und hoher Stellung gelegentlich heimliche Schulden haben, die sie nicht einmal ihren nächsten Verwandten und Freunden mitzuteilen wagen. Bisweilen handelt es sich dabei um die Schneiderin und den Juwelier. Bisweilen wird das Geld für Zwecke gebraucht, die ich in diesem Fall nicht vermuten möchte und mit deren Erwähnung ich Ihnen nicht wehe tun will. Meine Lady, vergessen Sie das bitte nicht, und nun wollen wir sehen, wie die Ereignisse in diesem Schloß mich gezwungen haben, an meine Erfahrungen zu denken, mochte ich es nun wollen oder nicht.

Die erste Information über den Verlust des Monddiamanten erhielt ich von Inspektor Seegrave. Der Bericht bewies mir einwandfrei, daß der Mann für diesen Fall völlig ungeeignet war. Ein einziger Umstand, den er erwähnte, schien mir wichtig. Miss Verinder habe sich geweigert, von ihm verhört zu werden, und mit ganz unverständlicher Ungezogenheit und Verachtung zu ihm gesprochen. Das schien mir merkwürdig, aber ich schob es auf irgendeine Ungeschicklichkeit des Inspektors, die die junge Dame verletzt haben mochte. Wenn ich bis dahin überhaupt einen Verdacht hatte, so war es der, daß der Monddiamant gestohlen sei und daß einer der Bedienten sich als Dieb herausstellen würde. Nun gut. Was passiert in diesem Augenblick? Miss Verinder kommt plötzlich aus ihrem Zimmer, und wir unterhalten uns. Dabei fällt mir an der jungen Dame dreierlei als verdächtig auf. Sie ist immer noch leidenschaftlich erregt, obwohl mehr als vierundzwanzig Stunden seit dem Verlust des Diamanten vergangen sind; sie behandelt mich genau wie vorher Inspektor Seegrave, und sie fühlt sich durch Mr. Franklin Blake tödlich gekränkt. Ich sage mir folgendes: Eine junge Dame hat einen wertvollen Edelstein verloren, noch dazu eine junge Dame von sehr leidenschaftlichem Temperament. Und diese junge Dame verrät nun eine unverständliche Abneigung gegen Mr. Blake, den Inspektor und mich, also ausgerechnet gegen die drei Leute, die ihr bei der Wiederauffindung des verlorenen Diamanten helfen wollen. Erst in diesem Augenblick ziehe ich meine Erfahrung zu Rate, und sie erklärt mir Miss Verinders Verhalten, das sonst völlig unverständlich ist. Kann der Verlust des Edelsteins nicht bedeuten, daß er heimlich verpfändet werden soll? Das ist der Schluß, zu dem ich auf Grund meiner Erfahrung und nackter Tatsachen komme. Was ist nun Ihre Ansicht, Euer Gnaden?«

»Ich habe sie Ihnen bereits einmal gesagt. Die Umstände haben Sie irregeleitet.«

Ich sagte garnichts. Gott weiß wie, plötzlich kam Robinson Crusoe in meinen dummen, alten Kopf. Wäre Sergeant Cuff in diesem Augenblick auf eine verlassene Insel versetzt worden, ohne einen Freitag und ohne ein Schiff, um ihn wieder fortzubringen, er wäre genau da gewesen, wo ich ihn im Augenblick hinwünschte.

Sergeant Cuff fuhr fort: »Richtig oder falsch, meine Lady; als ich zu diesem Schluß gekommen war, wollte ich ihn erst einmal überprüfen. Ich regte die Durchsuchung aller Schränke im Hause an. Euer Gnaden stimmten zu, Mr. Blake und Mr. Ablewhite ebenfalls. Miss Verinder war die einzige, die durch ihre Weigerung die ganze Aktion verhinderte. Dieses Ergebnis bestärkte mich in der Richtigkeit meiner Auffassung. Wenn Euer Gnaden und Mr. Betteredge mir jetzt noch nicht zustimmen, so müssen Sie blind gegenüber dem sein, was sich heute vor Ihren Augen abspielte. Sie haben gehört, wie ich der jungen Dame sagte, ihre Abreise bedeute für mich einen Stein im Wege. Sie haben es miterlebt, wie sie heute mittag Mr. Blake auf den Stufen ihres elterlichen Hauses in aller Öffentlichkeit beleidigte. Und doch hat Mr. Blake mehr als alle anderen getan, um den Schlüssel zum Geheimnis in meine Hand zu legen. Was hat das alles zu bedeuten, wenn Miss Verinder nicht mitschuldig an der Beseitigung des Diamanten ist?

So steht der Fall, soweit Miss Verinder allein in Frage kommt, meine Lady. Nun kommt der Fall gegen Miss Verinder und die verstorbene Rosanna Spearman. Darf ich bitte einen Augenblick auf die Weigerung Ihrer Tochter zurückgreifen, ihren Schrank durchsuchen zu lassen. Nachdem ich mir sorgfältig alles überlegt hatte, beschloß ich, die Untersuchung in einer Weise zu führen, die man bei uns in Scotland Yard höchst ungewöhnlich nennen würde. Ich tat es, um die häßliche Angelegenheit auf den engsten Familienkreis zu beschränken, wie es meine Pflicht ist. Je weniger Lärm entstand und je weniger fremde Hilfe ich benötigte, umso besser. In diesem Fall war ich der Ansicht, daß ein Mann vom Charakter und der Stellung des Mr. Betteredge, der die Dienstboten so gut kannte und dem die Familienehre so sehr am Herzen lag, eine zuverlässigere Hilfe sein würde als irgend jemand sonst. Ich hätte es auch mit Mr. Blake versucht, aber da war ein Hinderungsgrund. Sehr bald nämlich durchschaute er mein Vorgehen, und bei seinem großen Interesse für Miss Verinder war jede Zusammenarbeit zwischen ihm und mir unmöglich. Ich muß Euer Gnaden mit diesen Einzelheiten belästigen, um zu beweisen, daß ich das Geheimnis nicht über den Familienkreis hinausdringen ließ. Ich bin der einzige Fernerstehende, der darum weiß, und meine ganze Existenz hängt davon ab, daß ich den Mund halte.«

Hier fühlte ich, meine Existenz hinge davon ab, nicht den Mund zu halten. Bei meinem Alter und vor meiner Herrin als eine Art Hilfspolizist hingestellt zu werden, das war mehr, als meine christliche Demut ertragen konnte. So sagte ich denn: »Darf ich Euer Gnaden versichern, daß ich von Anfang an bis jetzt diese scheußliche Detektivarbeit wissentlich in keiner Weise unterstützt habe. Sergeant Cuff mag mir widersprechen, wenn er es wagt.«

Meine Lady sagte zu Cuff: »Ich erkenne durchaus an, daß Sie alles getan haben, was in Ihren Kräften stand, und daß Sie ehrlich überzeugt waren, in meinem Interesse zu handeln. Ich möchte nun weiteres hören.«

»Jetzt komme ich zu Rosanna Spearman. Sie werden sich erinnern, daß ich die junge Person erkannte, als sie das Wäschebuch brachte. Bis dahin schien es mir zweifelhaft, ob Miss Verinder sich jemand anvertraut habe. Als ich Rosanna sah, änderte ich meine Ansicht. Ich hatte sie sofort im Verdacht, an der Beseitigung des Diamanten mitschuldig zu sein. Unsere Erfahrung mit Frauen, die aus Besserungsanstalten kommen, geht dahin, daß sie sich in der Mehrzahl der Fälle als aufrichtig reuig erweisen. Sie sind dann wirklich aller Mühe wert, die man sich mit ihnen gibt. Hier lag aber kein gewöhnlicher Fall von Diebstahl vor. Nach meiner Ansicht handelte es sich um einen sehr gründlich vorbereiteten Betrug, und der Besitzer des Diamanten stand dahinter. Ich muß Euer Gnaden für diesen Gedankengang um Verzeihung bitten, aber würde es Miss  Verinder genügen, wenn sie uns in dem Glauben ließ, der Diamant sei verloren? Oder würde sie einen Schritt weitergehen und uns glauben machen, der Mondstein sei gestohlen? Für letzteren Fall stand Rosanna Spearman bereit, der der Ruf einer Diebin vorausging. Sie kam gerade recht, um Euer Gnaden und mich selbst auf eine falsche Spur zu setzen.

Ich hatte noch einen Grund, die Verstorbene zu verdächtigen, und er scheint mir noch beweiskräftiger zu sein. Wer war wohl geeignet, Miss Verinder dabei zu helfen, den Diamanten heimlich zu Geld zu machen? Rosanna Spearman. Keine junge Dame von der Stellung der Miss Verinder konnte eine so riskante Angelegenheit allein in die Hand nehmen. Sie brauchte eine Mittelsperson, und ich frage noch einmal, wer war so geeignet wie Rosanna Spearman? Das verstorbene Hausmädchen war als Diebin eine Meisterin ihres Berufes. Sie besaß, das weiß ich genau, Beziehungen zu einem der wenigen Männer in London, der eine große Summe auf einen so auffallenden Edelstein, wie es der Monddiamant ist, vorstrecken würde, ohne unbequeme Fragen zu stellen oder auf unbequemen Bedingungen zu bestehen. Vergessen Sie das bitte nicht, meine Lady. Und nun darf ich Ihnen zeigen, wie mein Verdacht durch Rosannas Handlungen und durch die klaren Schlußfolgerungen, die ich aus ihnen zog, gerechtfertigt wurde.«

Hierauf ging er alles, was Rosanna getan hatte, noch einmal durch. Selbst meine Herrin war über seine Worte erschrocken. Als er fertig war, antwortete sie nicht. Aber dem Sergeanten schien das auch gleichgültig zu sein. Er fuhr fort: »Nachdem ich nun den ganzen Fall dargelegt habe, bleibt mir nur noch übrig, Euer Gnaden zu sagen, was ich als Nächstes vorschlage. Ich sehe zwei Möglichkeiten, diese Untersuchung zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Die eine erscheint mir absolut sicher. Die andere – das gebe ich zu – ist ein kühnes Experiment; nicht mehr. Euer Gnaden sollen entscheiden. Ich darf mit dem totsicheren Plan beginnen. Ob Miss Verinder in Frizinghall bleibt oder hierher zurückkehrt, in jedem Falle denke ich sie sorgsam überwachen zu lassen.«

»Und dann?« fragte meine Herrin.

»Dann werde ich Euer Gnaden bitten, als Dienstboten anstelle von Rosanna Spearman eine Frau in das Schloß bringen zu dürfen, die an Nachforschungen dieser Art gewöhnt ist und für deren Zuverlässigkeit ich bürge.«

»Und dann?«

»Als nächstes und letztes schlage ich vor, einen meiner Kollegen zu veranlassen, mit jenem Geldverleiher in London Fühlung zu nehmen, den ich vorhin als frühere Bekanntschaft von Rosanna erwähnt habe, und dessen Name und Adresse, darauf können Euer Gnaden sich verlassen, Miss Verinder mitgeteilt wurde. Ich stelle nicht in Abrede, daß dieses Vorgehen Geld und Zeit kosten wird. Aber das Ergebnis steht außer Frage. Wir werfen ein Netz über den Monddiamanten, und wir ziehen dieses Netz enger und enger, bis wir ihn im Besitz von Miss Verinder finden werden, vorausgesetzt, daß sie sich entschlossen hat, ihn zu behalten. Drängen ihre Schulden und sie muß ihn verpfänden, dann steht unser Mann bereit, und wir finden den Monddiamanten, wenn er in London eintrifft.«

Zum ersten Mal wurde meine Lady ärgerlich. »Sehen Sie bitte Ihren Vorschlag in jeder Einzelheit als abgelehnt an. Und nun lassen Sie mich den zweiten Weg wissen, wie Sie die Untersuchung zu einem Ende bringen wollen.«

»Der andere Weg besteht darin, jenes bereits erwähnte, kühne Experiment zu machen. Ich glaube, Miss Verinders Temperament leidlich richtig einschätzen zu können. Sie ist nach meiner Ansicht fähig, einen gewagten Betrug zu begehen. Aber sie ist zu hitzig und leidenschaftlich und mit gewohnheitsmäßiger Täuschung zu wenig vertraut, um die Heuchlerin zu spielen und um sich in allen Situationen zu beherrschen. Ich möchte ihr plötzlich einen schweren Schock geben, und zwar unter Bedingungen, die sie aufs tiefste treffen müssen. Klarer ausgedrückt: Ich möchte Miss Verinder ohne jede vorherige Warnung von Rosannas Tod in Kenntnis setzen, auf die Möglichkeit hin, daß ihr besseres Ich sie veranlassen wird, ein Geständnis abzulegen. Stimmen Euer Gnaden diesem Weg zu?«

Meine Herrin setzte mich über alle Begriffe in Erstaunen, indem sie ohne Zögern antwortete: »Ja, das tue ich.«

»Die Chaise steht bereit«, sagte der Sergeant. »Ich darf Euer Gnaden ›Guten Morgen‹ wünschen«.

Meine Lady hob die Hand und hielt ihn zurück. »Nach Ihrem Vorschlag soll ein Appell an das bessere Ich meiner Tochter gerichtet werden. Als Mutter beanspruche ich das Recht, dies selbst zu tun. Bleiben Sie bitte hier, ich werde nach Frizinghall fahren.«

Zum ersten Mal in seinem Leben war der große Cuff sprachlos vor Erstaunen, wie ein gewöhnlicher Sterblicher. Meine Herrin klingelte und ließ sich einen Regenmantel bringen, denn es goß immer noch in Strömen, und der geschlossene Wagen war mit Miss Verinder nach Frizinghall gefahren. Die Chaise mit dem Bedienten fuhr vor. In der Halle sagte meine Lady zu Sergeant Cuff: »Ich werde das Experiment mit Miss Verinder genau so energisch durchführen, wie Sie selbst es tun würden, und Sie mündlich oder brieflich von dem Ergebnis unterrichten, ehe der letzte Zug heute abend nach London fährt.«

Damit stieg sie in den Wagen, ergriff selbst die Zügel und fuhr nach Frizinghall.

 

In der Zwischenzeit mußte ich feststellen, ob Mr. Franklin bei seinem Entschluß geblieben war, uns mit dem Nachmittagszug zu verlassen. Nachdem ich ihn von der Konferenz im Zimmer meiner Lady unterrichtet hatte, entschloß er sich sofort zu warten, bis Nachrichten aus Frizinghall kämen. Später fand ich ihn dann im Frühstückszimmer, wo er am Fenster stand und, ohne sich zu rühren, hinausstarrte.

»Ihr Cherry wartet, Sir«, sagte ich.

In seiner netten, witzigen, französisch anmutenden Art antwortete er: »Gib mir mal Feuer, Betteredge. Ist es denkbar, daß ein Mann, der schon so lange raucht wie ich, jetzt erst herausfindet, was für eine unfehlbare Methode zur Behandlung von Frauen ihn sein Zigarrenkasten lehrt. Ich werde es in zwei Worten beweisen. Du wählst eine Zigarre. Du versuchst sie. Sie enttäuscht dich. Was tust du daraufhin? Du wirfst sie weg und versuchst eine andere. Und nun die Moral von der Geschichte: Du wählst eine Frau. Du versuchst es mit ihr. Sie bricht dein Herz. Narr! Nimm dir eine Lehre aus dem Zigarrenkasten. Wirf sie fort und versuche eine andere.«

Hierauf konnte ich nur den Kopf schütteln. »Zu Zeiten der seligen Mrs. Betteredge war ich oft versucht, ihre Philosophie zu erproben, Mr. Franklin. Aber das Gesetz besteht nun einmal darauf, daß wir unsere Zigarre weiter rauchen, Sir, wenn wir sie erst einmal ausgesucht haben.«

Mr. Franklin fing an zu lachen, und wir waren so vergnügt wie Fische im Wasser. Dieser kleine Vorfall hatte im übrigen Franklin wieder zum Bewußtsein gebracht, daß er dumm genug gewesen war, um Miss Rachels willen das Rauchen aufzugeben.

Die Chaise kam eine gute halbe Stunde eher zurück, als ich sie erwartet hatte. Meine Lady hatte sich entschlossen, zunächst im Hause ihrer Schwester zu bleiben. Der Kutscher brachte zwei Briefe von ihr, den einen für Franklin, den anderen für mich. Ersteren schickte ich in die Bibliothek. Meinen eigenen las ich in meinem Zimmer. Ein Scheck fiel heraus und zeigte mir, daß die Entlassung des Sergeanten nunmehr beschlossene Sache war.

Ich schickte nach dem Gewächshaus und ließ sagen, ich möchte sofort den Sergeanten sprechen. Er kam auch, und als er den Brief in meiner Hand sah, bemerkte er müde: »Sieh da, Sie haben von Ihrer Gnaden gehört? Etwas mit mir zu tun, Mr. Betteredge?«

»Urteilen Sie selbst, Sergeant«, und dann las ich ihm den Brief vor:

»Mein guter Gabriel, willst Du bitte Sergeant Cuff davon in Kenntnis setzen, daß ich mein Versprechen eingelöst habe. Miss Verinder erklärt feierlich, sie habe niemals heimlich mit Rosanna auch nur ein Wort gesprochen, seit das unglückliche Mädchen zuerst ins Haus kam. Sie sind sich auch nicht zufällig in der Nacht des Diebstahls begegnet. Keinerlei Verbindung zwischen ihnen bestand vom Donnerstag morgen, als das Haus zuerst alarmiert wurde, bis zum heutigen Sonnabend nachmittag, als Miss Verinder uns verließ. Ich berichtete meiner Tochter überraschend und ganz kurz von Rosannas Selbstmord – und diese Erklärung war das Ergebnis.

Nachdem ich an Miss Verinder in einer Form appelliert hatte, wie es der Beamte für wünschenswert hielt, sprach ich mit ihr so, wie es mir am eindrucksvollsten schien. Ehe meine Tochter mein Haus verließ, habe ich sie bei zwei Gelegenheiten unter vier Augen gewarnt, sie setze sich einem völlig unerträglichen und niederziehenden Verdacht aus. Jetzt habe ich ihr erklärt, und zwar in ganz dürren Worten, daß sich meine Befürchtungen bewahrheitet hätten. Ihre Antwort hierauf ist so eindeutig, wie Worte es überhaupt nur ausdrücken können. Erstens schuldet sie keinem Menschen auf der Welt auch nur einen Pfennig. Zweitens ist der Diamant nicht in ihrem Besitz, seit sie ihn am Mittwoch abend in die Vitrine legte. Weiter geht jedoch das Vertrauen meiner Tochter zu mir nicht. Sie bleibt bei ihrem hartnäckigen Schweigen, wenn ich sie frage, ob sie sich das Verschwinden des Diamanten erklären kann. Unter Tränen weigert sie sich, wenn ich sie anflehe, um meinetwillen zu sprechen. ›Es wird der Tag kommen, an dem du wissen wirst, warum es mir gleichgültig ist, wenn ich verdächtigt werde, und warum ich selbst dir gegenüber schweige. Ich habe viel getan, weswegen meine Mutter mich bemitleiden kann. Ich tat nichts, weshalb meine Mutter sich meiner schämen müßte.‹ Dies sind die Worte meiner Tochter.

Nach allem, was zwischen dem Beamten und mir vorgegangen ist, scheint es mir richtig, daß auch er wissen soll, was sie gesagt hat, wenn er auch ein Fremder ist. Lies ihm meinen Brief vor und dann gib ihm diesen Scheck. Ich verzichte auf seine weiteren Dienste und habe nur noch hinzuzufügen, daß ich von seiner Ehrlichkeit und Klugheit überzeugt bin. Aber noch fester als je bin ich davon überzeugt, daß die Verhältnisse ihn in diesem Falle verhängnisvoll in die Irre geführt haben.«

Hier endete der Brief. Ehe ich Sergeant Cuff den Scheck gab, fragte ich ihn, ob er noch etwas zu bemerken hätte.

»Es gehört nicht zu meinen Pflichten, Mr. Betteredge, Bemerkungen über einen Fall zu machen, der für mich abgeschlossen ist.«

Ich schob ihm den Scheck über den Tisch zu und sagte unwillig: »Glauben Sie wenigstens diesem Teil im Brief Ihrer Gnaden?« Der Sergeant sah den Scheck an und hob die Anerkennung des großzügig bemessenen Honorars trübselig die Augenbrauen.

»Das ist eine so hochherzige Anerkennung meiner Tätigkeit, daß ich mich weiterhin verpflichtet fühle. Ich werde mich an die Höhe des Betrages erinnern, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ihre Gnaden hat die Sache für den Augenblick sehr geschickt geglättet, aber dieser Familienskandal gehört zu der Sorte, die wieder auflebt, wenn man es am wenigsten erwartet. Es wird noch mehr Detektivarbeit zu tun geben, Sir, ehe der Monddiamant viele Monate älter ist.«

»Sergeant Cuff, diese letzte Bemerkung sehe ich als eine Beleidigung meiner Lady und ihrer Tochter an.«

»Mr. Betteredge, betrachten Sie sie als eine Warnung, die an Sie selbst gerichtet ist, und Sie werden der Wahrheit näher sein. Nur ein einziges Mal und um Ihretwillen will ich den Propheten spielen. Ich werde Ihnen beim Abschied drei Dinge sagen, die in der Zukunft passieren werden und die, wie ich glaube, zu Ihrer Kenntnis gelangen, ob Sie es nun wünschen oder nicht.

Zunächst werden Sie von den Yollands hören, wenn am nächsten Montag der Postbote Rosannas Brief in Cobb's Hole abgibt.

Zweitens werden Sie noch einmal von den Indern hören. Entweder hier in der Nähe, falls Miss Rachel in der Nähe bleibt, oder in London, falls Miss Rachel nach London geht.

Drittens und letztens werden Sie früher oder später etwas von jenem Geldverleiher in London hören, den ich mir die Freiheit nahm, bereits zweimal zu erwähnen. Geben Sie mir Ihr Taschenbuch, und ich werde seinen Namen und seine Adresse hineinschreiben.«

Er schrieb auf ein leeres Blatt:

›Mr. Septimus Luker, Middlesex Place, Lambeth, London.‹

Dann fuhr er fort: »Die Zeit wird erweisen, ob ich recht oder unrecht hatte. Inzwischen aber nehme ich das Gefühl mit mir, Sir, daß ich Sie aufrichtig gern habe, und ich glaube, das ehrt uns beide. Sollten wir uns nicht mehr wiedersehen, ehe ich meinen Beruf aufgebe, so hoffe ich, Sie werden mich in meinem Häuschen bei London aufsuchen. In meinem Garten werden aber Graswege sein, Mr. Betteredge.«

Ja, ja. Ich gestehe, ich mußte den Sergeanten gern haben – obwohl ich ihn doch die ganze Zeit gehaßt hatte.

 

Die Chaise hatte ich in Bereitschaft gehalten, falls Mr. Franklin doch noch den Nachtzug benutzen wollte. Das Erscheinen seines Gepäcks ließ keinen Zweifel, daß er dies eine Mal wenigstens seinem Entschluß treu geblieben war.

»Warum warten Sie nicht noch ein paar Tage und geben Miss Rachel eine weitere Chance?« fragte ich ihn.

Statt einer Antwort gab er mir den Brief, den meine Lady an ihn geschrieben hatte. Am Schluß fand sich etwas über Miss Rachel, was Mr. Franklins unerschütterlichen Entschluß erklärte. Ihre Gnaden schrieb darin folgendes:

»Du fragst Dich vielleicht, warum ich es zulasse, daß meine Tochter mir nicht die geringste Aufklärung gibt. Ein Diamant, der 20 000 Pfund wert ist, geht verloren, und ich muß zu der Annahme kommen, daß sein Verschwinden für Rachel kein Geheimnis ist; daß ihr Menschen, die mir gänzlich unbekannt sind, eine unverständliche Schweigepflicht auferlegt haben. Mit welcher Absicht, kann ich nicht einmal erraten. Ich habe nicht länger gezögert, den Polizeibeamten zu entlassen. Das Geheimnis, hinter das wir nicht kommen, kann auch er nicht lösen. Kein Fremder kann uns helfen. Er vergrößert nur noch meine Leiden und macht Rachel verrückt, wenn sie nur seinen Namen hört. Im Augenblick denke ich daran, sie mit mir nach London zu nehmen. Darf ich Dich bitten, uns dort zu treffen?

Mein lieber Franklin, Du mußt die gleiche Geduld haben wie ich und genau wie ich auf eine günstigere Zeit warten. Die wertvolle Hilfe, die Du bei der Nachforschung nach dem verlorenen Juwel geleistet hast, wird von Rachel bei ihrem augenblicklichen furchtbaren Gemütszustand immer noch als unverzeihliche Beleidigung empfunden. Man kann mit ihr nicht vernünftig reden, man kann sie nur bemitleiden. Im Augenblick bleibst Du von Rachel besser getrennt, so leid es mir tut. Ich kann Dir nur den einen Rat geben, lass' ihr Zeit!«

Franklin faltete den Brief seiner Tante zusammen, gab mir die Hand und ging zum Wagen. Ich folgte ihm die Treppe hinab, legte die Hand auf den Schlag und versuchte, seine Zukunftspläne zu erfahren.

»Sagen Sie uns doch, wohin Sie gehen werden, Sir?«

Mr. Franklin zog mit einem Ruck den Hut ins Gesicht.

»Gehen? Ich gehe zum Teufel!«

Bei diesen Worten sprang der Pony an, als habe er einen heiligen Schreck bekommen.

»Gott schütze Sie, wohin Sie auch gehen.« Mehr konnte ich nicht sagen, und schon war die Chaise verschwunden.

Der nächste Tag war ein Sonntag, und der geschlossene Wagen kam leer zurück. Der Kutscher brachte mir die Nachricht, daß meine Herrin sich entschlossen hatte, am Montag Miss Rachel in ihr Haus nach London zu bringen.

Wie dieser Montag den übrigen Haushalt in Mitleidenschaft zog, weiß ich nicht. Mir jedenfalls brachte er eine gewaltige Aufregung. An diesem Tage ging die erste von Sergeant Cuffs Prophezeiungen in Erfüllung. Ich hörte von den Yollands. Ich hatte gerade Penelope und die Zofe mit dem Gepäck zur Bahn gebracht und schlenderte zum Schloß zurück, als ich meinen Namen hörte. Ich wandte mich um und stand der Tochter des Fischers, der hinkenden Lucy, gegenüber.

»Na, mein Kind, was willst du von mir?«

»Wo ist der Mann, den sie Franklin Blake nennen?« Das Mädchen stützte sich auf eine ihrer Krücken und sah mich zornig an.

»Keine sehr respektvolle Art, von einem Gentleman zu sprechen. Wenn du dich nach dem Neffen meiner Lady zu erkundigen wünschst, so sei so gut und nenne ihn Mr. Franklin Blake.«

»Mr. Franklin Blake? Der Mörder Franklin Blake würde besser passen«, äffte sie mir nach.

In diesem Augenblick kamen mir meine Erlebnisse mit der verstorbenen Mrs. Betteredge zu statten. Immer wenn eine Frau versucht, einen in Harnisch zu bringen, so drehe man den Spieß um und bringe sie in Harnisch. Dies kann man durch ein Wort genau so gut erreichen wie durch hundert. Ein Wort genügte für die hinkende Lucy. Ich sagte nur ganz freundlich: »Puh!«

Sofort ging das Temperament mit dem Mädchen durch. Sie lehnte sich auf ihren gesunden Fuß, nahm die Krücke und schlug mit ihr mehrmals auf den Boden. »Er ist ein Mörder! Er ist ein Mörder! Er ist schuld an dem Tode Rosannas!« Sie kreischte diese Antwort so laut sie konnte.

»Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen, Lucy?«

»Was kümmert Sie das? Was kümmert das irgend einen Mann? Oh, hätte sie von den Männern dasselbe gehalten wie ich, vielleicht lebte sie jetzt noch.«

»Von mir hat sie jedenfalls immer viel gehalten, das arme Wesen, und so gut ich es verstand, habe auch ich immer versucht, freundlich zu ihr zu sein.«

Im ersten Augenblick hatte ich nur die Aufregung des Mädchens bemerkt. Jetzt sah ich, wie elend sie war. Meine Antwort stimmte die hinkende Lucy weich. Sie senkte den Kopf und lehnte ihn auf die Krücke. Dann sagte sie leise: »Ich habe sie lieb gehabt. Sie hat ein unglückliches Leben geführt, Mr. Betteredge. Und doch wurde sie nicht verdorben. Sie war ein Engel; sie hätte mit mir zusammen glücklich sein können. Ich hatte einen Plan geschmiedet. Wir wollten wie Schwestern nach London gehen und von Handarbeiten leben. Dann kam dieser Mann hierher und verdarb alles. Was geschieht heute morgen? Ihr Brief kommt und sagt mir ein letztes Lebewohl. Oh, Mr. Betteredge!«

»Was willst du von Mr. Franklin Blake?«

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Aus einem besonderen Grund?«

»Ich habe ihm einen Brief zu geben.«

»Von Rosanna Spearman?«

»Ja.«

»Lag er dem Brief an dich bei?«

»Ja.«

»Du kannst Mr. Franklin nicht sehen.«

»Ich muß und werde ihn sehen.«

»Er ist gestern abend nach London gefahren.«

Die hinkende Lucy sah mir fest ins Gesicht und merkte, daß ich die Wahrheit sagte. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um, um nach Cobb's Hole zurückzugehen.

»Halt! Morgen erwarte ich Nachricht von Mr. Franklin Blake. Gib mir den Brief, ich werde ihn durch die Post schicken.«

Die hinkende Lucy lehnte sich auf ihre Krücke und sah mich über die Schulter an; dann sagte sie: »Ich soll ihm den Brief in die Hand geben oder garnicht.«

»Soll ich ihm schreiben und erzählen, was du gesagt hast?«

»Sagen Sie ihm, daß ich ihn hasse, dann sagen Sie die Wahrheit.«

»Schon gut, aber wegen des Briefes?«

»Wenn er den Brief haben will, muß er hierher kommen und ihn bei mir holen.«

Mit diesen Worten hinkte sie nach Cobb's Hole zurück. Ich wartete am Dienstag morgen auf den Postboten. Er brachte zwei Briefe. Der eine von Penelope meldete, daß meine Lady und Miss Rachel in London gut untergebracht seien. Der andere kam von dem Kammerdiener des älteren Mr. Blake und teilte mir mit, daß der Sohn seines Herrn England bereits verlassen habe.

In der Metropole angekommen, war Mr. Franklin anscheinend direkt zum Hause seines Vaters gegangen. Er kam zu einer unglücklichen Zeit dort an. Der ältere Mr. Blake saß bis über die Ohren in der Arbeit für das Unterhaus und begrüßte Franklin in seinem Arbeitszimmer mit folgenden Worten:

»Mein lieber Franklin, warum überraschst du mich derart? Ist irgend etwas schief gegangen?«

»Ja, mit Rachel. Ich bin furchtbar niedergedrückt.«

»Das tut mir leid, aber ich kann dir jetzt nicht zuhören.«

»Und wann kannst du mir zuhören?«

»Mein lieber Junge, ich will dir nichts vormachen. Ich kann dir zuhören, wenn die Sitzungsperiode zu Ende ist; nicht einen Augenblick eher. Gute Nacht.«

»Vielen Dank, Sir. Gute Nacht.«

Am nächsten Morgen war Mr. Franklin ins Ausland gereist. Diese Kunde vereitelte jede Hoffnung, die hinkende Lucy mit Mr. Franklin zusammenzubringen. Damit war mir auch jede Möglichkeit zu weiteren Entdeckungen genommen. Ein versiegelter Brief befand sich in Lucys Hand, und ein versiegelter Brief blieb es für mich und jeden anderen, auch für ihre Eltern. Wir alle vermuteten, Lucy hätte das Vertrauen des toten Mädchens besessen; wir alle versuchten, sie zum Reden zu bringen; keiner hatte Erfolg. Es kam Ebbe, es kam Flut, der Sommer verging, der Herbst kam. Und der Flugsand, der ihre Leiche barg, hütete auch ihr Geheimnis.

 

Am Freitag geschah nichts. Der Sonnabend, der letzte Tag der Woche, ist auch der letzte Tag meines Berichtes.

Die Frühpost brachte mir eine Überraschung in Gestalt einer Londoner Zeitung. Die Handschrift auf dem Umschlag erkannte ich sofort als die des Sergeanten Cuff. Ein Polizeibericht war angestrichen, und dieser lautete wie folgt:

›Lambeth. Kurz ehe der Gerichtshof schloß, wandte sich Mr. Septimus Luker, der bekannte Händler in antiken Edelsteinen, Schnitzereien, Intaglios und anderen Dingen, mit der Bitte um Rat an den Richter. Er war während des Tages durch ein paar jener herumstrolchenden Inder belästigt worden, die die Straßen unsicher machen, und zwar habe es sich um drei Männer gehandelt. Von der Polizei verjagt, seien sie immer wieder zurückgekehrt und hätten versucht, in das Haus einzudringen, wobei sie vorschützten, um milde Gaben bitten zu wollen. Er habe sie von der Vorderseite des Hauses weggeschickt und sie dann an der Rückseite wieder angetroffen. Mr. Luker befürchte, ein Raub sei geplant. Seine Sammlung enthielte viele einzigartige Edelsteine von höchstem Wert. Erst am Tage zuvor habe er einen Facharbeiter für Elfenbeinschnitzerei wegen Diebstahlsverdacht entlassen müssen und es wäre keinesfalls sicher, ob dieser Mann und die Gaukler, über die er Beschwerde führe, nicht unter einer Decke steckten. Der Richter bemerkte, daß, wenn diese Belästigungen sich wiederholten, die Inder zu eben diesem Gerichtshof gebracht werden könnten, wo man sehr schnell mit ihnen nach dem Gesetz verfahren würde. Der Bittsteller dankte Seiner Gnaden und verschwand.‹

Sergeant Cuffs drei Voraussagungen waren in weniger als einer Woche, seit er sie gemacht hatte, in Erfüllung gegangen.

 

Beitrag von Miss Clack, der Nichte des verstorbenen Sir John Verinder

Ich bin seit einiger Zeit von allen Nachrichten über meine Verwandten abgeschnitten. In solcher Lage wird man häufig vergessen. Aus Sparsamkeitsgründen lebe ich zur Zeit in einer kleinen Stadt der Bretagne, in der ein auserwählter Kreis ernstgesinnter englischer Freunde wohnt. Sie hat den unschätzbaren Vorzug eines protestantischen Geistlichen und billiger Preise.

In dieser Zurückgezogenheit – einem Patmos mitten im heulenden Ozean der Papisterei – hat mich endlich ein Brief aus England erreicht. Plötzlich erinnert sich meines bedeutungslosen Daseins … Mr. Franklin Blake; mein reicher Verwandter – oh, könnte ich doch hinzufügen: mein geistig reicher Verwandter – schreibt mir, ohne auch nur zu versuchen, die Tatsache zu verbergen, daß er etwas von mir will. Launenhaft wie er ist, will er den bedauernswerten Skandal des Monddiamanten wieder aufrühren, und ich soll über meine Erlebnisse als Besuch im Hause meiner Tante Verinder in London schreiben. Geldliche Entschädigung wird mir mit dem Mangel an Takt angeboten, der reichen Leuten eigen ist. Ich soll Wunden öffnen, die die Zeit noch kaum geschlossen hat. Ich soll tief betrübliche Erinnerungen wachrufen – und wenn dies geschehen ist, so soll ich mich durch eine neue Qual entschädigt fühlen, und zwar in Gestalt eines Schecks von Mr. Blake. Ich bin ein schwacher Mensch. Es kostete mich einen harten Kampf, ehe christliche Demut den sündigen Stolz überwand und ehe Selbstverleugnung den Scheck annahm.

Ich bezweifle, ob ich ohne mein Tagebuch mein Geld ehrlich hätte verdienen können. Das Tagebuch erweist, daß ich am Montag, den 3. Juli 1848, zufällig an Tante Verinders Haus am Montague Square vorüberging. Ich sah die Fensterläden geöffnet und empfand es als einen Akt der Höflichkeit, zu klopfen und zu fragen, wie es ginge. Die Person, die die Tür öffnete, teilte mir mit, meine Tante und deren Tochter (ich kann sie wirklich nicht meine Kusine nennen) seien vor einer Woche vom Lande angekommen und beabsichtigten, einige Zeit in London zu bleiben. Sofort schickte ich ihnen einen Gruß und ließ sagen, ich wolle nicht stören, sondern nur fragen, ob ich irgendwie behilflich sein könnte. Jene Person nahm meine Botschaft mit einem unverschämten Schweigen entgegen und ließ mich in der Halle stehen. Sie ist die Tochter eines heidnischen, alten Mannes, der Betteredge heißt. Er wird schon lange, viel zu lange in der Familie meiner Tante geduldet. Ich setzte mich in die Halle und, da ich immer ein paar Traktate in meinem Pompadour habe, wählte ich eines davon, das sich für die Person, die mir geöffnet hatte, als durchaus geeignet und wie von der Vorsehung bestimmt erwies. Der Titel hieß: »Ein Wort über Ihre Haubenbändchen.«

»Meine Lady dankt Ihnen vielmals und bittet Sie, morgen um zwei Uhr zum Lunch zu kommen.«

Ich meinerseits dankte dieser jungen Verlorenen und sagte im Tone christlich-teilnehmenden Interesses: »Wollen Sie mir den Gefallen tun und ein Traktat annehmen?«

Sie besah den Titel: »Hat das ein Mann oder eine Frau geschrieben, Miss? Wenn es eine Frau geschrieben hat, so werde ich es schon aus diesem Grunde nicht lesen. Hat es aber ein Mann geschrieben, so sagen Sie ihm bitte, daß er von so etwas garnichts versteht.« Sie gab mir das Traktat zurück und öffnete die Tür. Irgendwie müssen wir den guten Samen säen. So wartete ich denn, bis die Tür geschlossen war, und schob das Traktat in den Briefkasten.

An jenem Abend hatten wir eine Ausschußsitzung des »Vereins der Mütter für die Abänderung von Kinderkleidchen.« Der Zweck dieser hervorragenden Wohltätigkeitseinrichtung besteht darin, beim Pfandverleiher Hosen von Vätern, die dazu nicht in der Lage sind, auszulösen und zu verhindern, daß sie von den Vätern wieder in Gebrauch genommen werden, indem wir sie sogleich den Größenverhältnissen des unschuldigen Sohnes anpassen. Ich erwähne diesen Verein hier nur, weil mein geschätzter und bewundernswerter Freund, Mr. Godfrey Ablewhite, mit diesem Werk moralischen und materiellen Nutzens eng verbunden war. Ich hatte erwartet, ihn an diesem Montag abend im Vereinszimmer zu treffen. Zu meiner größten Überraschung kam er nicht. Später erzählte man mir von einem Zwischenfall, der sozusagen den Ausgangspunkt dieses Berichtes bildet. Am vergangenen Freitag waren zwei Herren, die zwei völlig verschiedenen Gesellschaftsschichten angehören, die Opfer eines Überfalles geworden, der ganz London in Aufregung versetzt hatte. Einer dieser Herren war Septimus Luker aus Lambeth, der andere war Mr. Godfrey Ablewhite.

Das Datum war Freitag, der 30. Juni 1848. Am Morgen dieses denkwürdigen Tages war unser würdiger Freund, Mr. Godfrey, zufällig in einer Bank in der Lombard-Street, um einen Scheck einzulösen. In der Tür traf er mit einem ihm völlig fremden Herrn zusammen, der zur gleichen Zeit die Bank verließ. Der Fremde ließ Mr. Godfrey vorangehen. Sie wechselten ein paar höfliche Worte, verbeugten sich und trennten sich auf der Straße. Dieser höfliche Fremde war Mr. Luker aus Lambeth. Zu Hause fand Mr. Godfrey dann einen Brief, dessen Handschrift ihm völlig fremd war. Darin wurde er gebeten, in der nächsten Stunde in ein Haus in der Northumberland-Street zu kommen, in der er nie zuvor gewesen war. Das Schreiben war von einer älteren Dame, die gewisse Einzelheiten über den bereits erwähnten Wohltätigkeitsverein wissen wollte. Sie versprach einen größeren Beitrag für diesen Zweck zu leisten, wenn sie befriedigende Auskunft bekäme. Sie erwähnte ihren Namen und fügte hinzu, ein nur sehr kurzer Aufenthalt in London habe sie daran gehindert, dem bedeutenden Philanthropen, an den sie sich hiermit wende, rechtzeitig vorher Nachricht zu geben.

Mr. Godfrey ging sofort nach dem Haus in der Northumberland-Street. Ein sehr anständig aussehender Mann führte ihn, als er seinen Namen genannt hatte, sofort in ein leeres Zimmer an der Rückseite des Hauses im ersten Stock. Zweierlei fiel ihm beim Eintritt auf: ein schwacher Geruch von Moschus und Kampfer und eine alte orientalische Handschrift, die reichlich mit indischen Zahlen und Zeichen illustriert war. Sie lag offen auf dem Tisch. Bei der Betrachtung dieses Buches drehte er der Doppeltür zum nächsten Zimmer den Rücken zu. Ohne jedes warnende Geräusch wurde er plötzlich von hinten um den Hals gepackt. Er hatte eben noch Zeit zu sehen, daß der Arm, der ihn umschlang, nackt und tannenbraun war. Dann wurden ihm die Augen verbunden, ein Knebel in den Mund gesteckt, und er wurde hilflos – wie er glaubte von zwei Leuten – auf den Boden geworfen. Ein Dritter durchsuchte aufs gründlichste seine Taschen.

Plötzlich wurde er in die Höhe gerissen und mit Händen und Füßen auf einem Stuhl festgebunden. Im nächsten Augenblick kam frische Luft durch eine geöffnete Tür; er horchte und kam zu dem Schluß, er sei wieder allein.

Eine kleine Zeit verging, dann hörte er ein Geräusch, wie das Rascheln eines Rockes. Der Schrei einer Frau durchriß die Stille, und dann kamen Männerfüße die Treppe herauf. Godfrey fühlte, wie seine Fesseln gelöst wurden, der Knebel wurde herausgerissen, das Tuch fiel von seinen Augen, und er sah sich zwei ehrbar aussehenden Fremden gegenüber. Nur schwach konnte er die Worte hervorstoßen: »Was bedeutet das?« Die beiden Fremden antworteten: »Genau dasselbe wollten wir fragen.«

Die unvermeidliche Erklärung folgte. Aus dem, was der Besitzer des Hauses und seine Frau, die beide einen einwandfreien Ruf hatten, aussagten, ging hervor, daß am vorhergehenden Tage die Wohnungen im ersten und zweiten Stock von einem sehr respektabel aussehenden Herrn für eine Woche fest gemietet wurden. Dies war offenbar derselbe, der Mr. Godfrey die Tür geöffnet hatte. Er hatte Miete und alles andere eine Woche im voraus bezahlt und gesagt, die Wohnungen würden für seine Freunde, drei orientalische Herren, gebraucht, die zum ersten Mal England besuchten. Früh am Morgen des Überfalles waren zwei dieser Fremden, von ihrem englischen Freund begleitet, eingezogen. Der dritte sollte mit dem Gepäck, sobald es den Zoll passiert hatte, nachkommen. Nur zehn Minuten vor Mr. Godfreys Besuch war dann der dritte Ausländer gekommen. Nichts Außergewöhnliches hatte sich ereignet, bis die beiden vor fünf Minuten die drei Fremden und ihren englischen Freund das Haus verlassen sahen.

Als nächstes erfolgte eine Überprüfung des Zimmers. Das Eigentum Mr. Godfreys fand sich in alle Winde verstreut, aber nicht ein Stück fehlte. Auch aus der Wohnung war nicht das Geringste entwendet.

Mr. Luker seinerseits war nach dem Verlassen der Bank in den verschiedensten Gegenden Londons herumgewandert. Zu Hause fand er dann ebenfalls einen Brief, dessen Handschrift ihm gänzlich unbekannt war. Der Name war der eines seiner Kunden. Dieser hatte wohl den Brief schreiben lassen, da er in der dritten Person abgefaßt war. Er bat um einen Besuch Mr. Lukers in seiner Wohnung am Alfred Place wegen eines beabsichtigten Verkaufes. Der betreffende Herr war ein leidenschaftlicher Sammler von Altertümern und seit langem schon ein freigebiger Kunde des Ladens in Lambeth. Mr. Luker ließ eine Droschke kommen und fuhr sofort zu ihm.

Genau dasselbe, was Mr. Godfrey in der Northumberland-Street passiert war, widerfuhr nun Mr. Luker am Alfred Place. Ein einziger Unterschied ergab sich, und zwar als der verstreute Inhalt der Taschen von Mr. Luker vom Boden aufgelesen wurde. Da stellte sich nämlich heraus, daß ihm ein Schriftstück gestohlen war. Es handelte sich um eine Quittung der Bank, bei der Mr. Luker an jenem Morgen einen sehr wertvollen Gegenstand deponiert hatte. Für einen Betrug kam das Dokument nicht in Frage, da »das Wertobjekt nur dem Eigentümer persönlich auszuhändigen war. Trotzdem eilte Mr. Luker auf die Bank, aber nur um festzustellen, daß keiner der Diebe dort gewesen war. Auch sonst hatte man sie nicht wiedergesehen. Nach Ansicht des Bankiers hatte sich der englische Freund der Diebe die Quittung genau angesehen und sie dann gewarnt.

Beide Überfälle wurden der Polizei gemeldet und die erforderlichen Nachforschungen mit größter Energie betrieben. Die Behörden waren der Ansicht, ein Raub wäre versucht worden. Offenbar vermuteten die Diebe, daß Mr. Luker die Überbringung jenes Wertobjektes jemandem anvertraut habe, und so war der arme, höfliche Mr. Godfrey in die Sache verwickelt worden, weil man ihn zufällig mit Mr. Luker hatte sprechen sehen.

Am Dienstag kam ich pünktlich zum Essen. An diesem Tage war ich über Rachels Benehmen nicht nur erstaunt, sondern einfach entsetzt. Sie ließ in Sprache und Benehmen jede damenhafte Zurückhaltung vermissen. Ihre arme Mutter tat mir sehr leid. Ich nahm mir in Gedanken vor, für sie zu beten.

Als wir allein waren, erzählte mir meine Tante die ganze furchtbare Geschichte des Diamanten und fuhr fort:

»Das seltsame Abenteuer Godfreys passierte zu einer höchst unglücklichen Zeit. Rachel ist ruhelos und aufgeregt gewesen, seit sie zum ersten Mal davon hörte. Sie hat mich nicht in Frieden gelassen, bis ich meinen Neffen Ablewhite gebeten habe, herzukommen.«

In diesem Augenblick öffnete einer der Dienstboten die Tür und meldete Mr. Godfrey Ablewhite.

Wir erkundigten uns sofort nach seiner Gesundheit und fragten ihn, ob er nach dem schrecklichen Abenteuer der letzten Woche wieder ganz der alte wäre. Mit vollendetem Takt brachte er es fertig, uns beiden gleichzeitig zu antworten; Lady Verinder durch seine Worte, mir mit einem reizenden Lächeln.

»Wodurch habe ich denn all diese Teilnahme verdient? Liebste Tante, meine liebe Miss Clack. Ich bin ja bloß mit jemand anderem verwechselt worden. Ich hätte ermordet, ich hätte beraubt werden können. Was habe ich denn schon verloren? Nichts als Nervenkraft, die das Gesetz nicht einmal als persönliches Eigentum anerkennt. Demnach habe ich streng genommen überhaupt nichts verloren.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und in Gestalt von Miss Verinder kam ein weltliches Element der Störung ins Zimmer. Sie eilte so geschwind auf Mr. Godfrey zu, wie eine Dame das eigentlich nicht tun darf.

»Ich freue mich ja so, dich zu sehen, Godfrey. Ich wünschte nur, du hättest Mr. Luker mitgebracht. Ihr beide seid doch augenblicklich die beiden interessantesten Leute in London. Nun erzähle mir mal die Geschichte aus der Northumberland-Street; denn mir scheint, daß die Zeitungen einiges ausgelassen haben.«

Selbst mein lieber Mr. Godfrey hatte sein Teil von Adams Erbe mitbekommen. Ich muß gestehen, es tat mir weh, zu sehen wie er Rachels Hand in seine beiden Hände nahm und sie leicht gegen sein Herz preßte.

»Liebste Rachel«, sagte er mit dem gleichen Tonfall wie er mir immer durch und durch ging, wenn er von unseren Hoffnungen und unseren Hosen sprach. »Die Zeitungen haben dir alles berichtet, und zwar viel besser als ich es könnte.«

»Godfrey findet, wir machten alle viel zu viel aus der Sache. Er hat mir gerade gesagt, er möchte lieber nicht darüber sprechen«, ließ meine Tante sich vernehmen.

»Warum?« Bei dieser Frage blitzten auf einmal Rachels Augen, und sie blickte Godfrey an.

»Rachel, Liebling. Wahre Größe und wahrer Mut sind immer bescheiden«, warf ich ein.

Ohne mich im geringsten zu beachten, fuhr sie fort: »In deiner Art bist du ein guter Kerl, Godfrey. Aber ich bin mir sicher, daß du nicht auf Größe Anspruch erhebst. Ich glaube auch nicht, daß du irgend wie besonderen Mut besitzst. Und ich bin felsenfest davon überzeugt, daß dir deine Verehrerinnen – wenn du überhaupt jemals bescheiden warst – schon vor vielen Jahren diese Tugend abgewöhnt haben. Du hast irgend einen heimlichen Grund, über dein Erlebnis in der Northumberland-Street nicht zu sprechen. Und den möchte ich eben wissen.«

»Mein Grund ist denkbar einfach und denkbar leicht zu verstehen. Ich habe die Sache satt.«

»Du hast die Sache satt? Mein lieber Godfrey, darf ich einmal etwas bemerken?«

»Und das wäre?«

»Dein Leben spielt sich ein wenig zu häufig in der Gesellschaft von Frauen ab. Infolgedessen hast du dir zwei schlechte Angewohnheiten zugelegt. Es ist dir in Fleisch und Blut übergegangen, dummes Zeug ernst zu nehmen, und du hast es dir angewöhnt zu flunkern, weil du meinst, es gehöre dazu. Mit deinen Verehrerinnen kannst du nicht so sprechen wie es dir ums Herz ist. Ich möchte dich aber dazu bringen, es mir gegenüber zu tun. Setz' dich einmal. Ich habe viele, sehr offenherzige Fragen und erwarte von dir, daß du mir rückhaltlos antwortest.«

Wahrhaftig, sie zog ihn quer durchs Zimmer zu einem Stuhl am Fenster, wo das Licht auf sein Gesicht fallen konnte. Dann begann sie die Reihe ihrer Fragen, ohne von unserer Anwesenheit irgend welche Notiz zu nehmen, gerade so als wären wir Luft.

»Hat die Polizei schon etwas veranlaßt. Godfrey?«

»Nicht das Geringste.«

»Ich nehme als sicher an, daß die gleichen drei Leute dir und Mr. Luker jene Falle gestellt haben.«

»Offengestanden, meine liebe Rachel, ist wohl kaum daran zu zweifeln.«

»Und nicht eine Spur ist bisher von ihnen gefunden worden?«

»Nicht die geringste.«

»Man glaubt doch, daß diese Drei mit jenen drei Indern identisch sind, die damals zu unserm Schloß kamen.«

»Einige Leute glauben das.«

»Glaubst du selbst es denn auch?«

»Meine liebe Rachel! Sie banden mir die Augen zu, ehe ich ihr Gesicht sah. Wie kann ich mich daher dazu äußern.«

»Ich möchte etwas über Mr. Luker wissen, Godfrey.«

»Niemand weiß weniger über ihn als ich.«

»Ihr beide hattet euch nie zuvor gesehen, ehe ihr euch zufällig bei der Bank traft?«

»Niemals.«

»Hast du ihn seither gesehen?«

»Ja, wir sind zusammen und auch getrennt vernommen worden.«

»Wurde Mr. Luker nicht eine Quittung geraubt, die er von seiner Bank bekommen hatte. Worüber lautete diese Quittung?«

»Über einen Wertgegenstand, den er der Bank zur Aufbewahrung übergeben hatte.«

»So steht es in den Zeitungen. Mir genügt das aber nicht. In der Quittung der Bank muß doch gesagt sein, um was für ein Objekt es sich gehandelt hat.«

»Die Quittung der Bank enthielt nichts derartiges, liebe Rachel. ›Ein Wertgegenstand im Besitz von Mr. Luker, hinterlegt von Mr. Luker, versiegelt von Mr. Luker und nur Mr. Luker persönlich wieder auszuhändigen.‹ Das war wohl die Formel, und mehr weiß ich nicht darüber.«

»Über unsere Privatangelegenheiten zu Hause scheint ja auch etwas in die Zeitungen gekommen zu sein.«

»Leider muß ich das bejahen.«

»Und einige müßige Schwätzer, die von uns garnichts wissen, versuchen jetzt, eine Verbindung zwischen den Ereignissen in Yorkshire und denen in London zu konstruieren. Stimmt das?«

»Die Neugierde der Leute geht, wie ich fürchte, hier und da in dieser Richtung.«

»Und die Leute, die behaupten, die drei Unbekannten wären jene drei Inder, behaupten auch, daß der Wertgegenstand …«

Hier hielt sie plötzlich inne. Während der letzten Fragen hatte ihr Gesicht immer mehr seine Farbe verloren. Die erstaunliche Schwärze ihres Haares ließ ihre Blässe im Gegensatz dazu so grauenhaft hervortreten, daß wir dachten, sie würde in dem Augenblick, wo sie mitten in ihrer letzten Frage abbrach, ohnmächtig werden. Meine Tante flehte Rachel an, nicht weiter zu fragen. Ich schloß mich Lady Verinder mit einem bescheidenen Ölzweig medizinischer Art in Gestalt eines Riechfläschchens an. Ohne jede Wirkung.

»Godfrey, bleib' wo du bist: – Mama, es ist nicht der mindeste Grund, daß du dich um mich ängstigst. – Clack, du stirbst ja vor Neugierde. Dir zu Gefallen werde ich bestimmt nicht ohnmächtig.«

Erneut wandte sie sich an Mr. Godfrey. »Vor einer Minute fragte ich dich, was geklatscht wird. Sag' mir ganz offen, Godfrey, behaupten einige Leute auch, Mr. Lukers Wertgegenstand sei – der Monddiamant?«

Als dieses Wort fiel, sah ich wie eine Veränderung über meinen bewundernswerten Freund kam. Eine tiefere Röte überzog sein Gesicht, und ein edler Unwillen schwang in seiner Stimme.

»Jawohl, sie behaupten es. Es gibt Menschen, die ganz offen sagen, Mr. Luker löge in seinem ureigensten Interesse. Immer wieder hat er feierlich erklärt, daß er von der Existenz des Monddiamanten bisher nicht einmal gehört habe. Und diese gemeinen Leute erwidern ohne einen Schatten der Berechtigung: ›Er wird schon seinen Grund für diese Heimlichtuerei haben. Wir glauben ihm nicht, auch wenn er es beschwört.‹ Schandbar! Schandbar!«

Rachel sah ihn während dieser Worte mit einem merkwürdigen Blick an. »Wenn man bedenkt, daß Mr. Luker nur ein zufälliger Bekannter von dir ist, dann ergreifst du eigentlich recht warmherzig seine Partei, Godfrey!«

»Ich hoffe, so warmherzig ergreife ich die Partei aller Unterdrückten, liebe Rachel.«

Sie lachte höhnisch auf. Ich erröte, wenn ich es berichten muß. Sie lachte ihm höhnisch ins Gesicht. »Behalte deine edlen Gefühle für deine Damenkomitees. Ich bin überzeugt, daß der Skandal, der sich Mr. Lukers bemächtigt hat, auch vor dir nicht Halt machen wird. Ein unglücklicher Zufall hat dich im Gerede der Leute in irgend einen Zusammenhang mit Mr. Luker gebracht. Du hast mir erzählt, was der Klatsch über ihn sagt. Was aber sagt der Klatsch über dich?«

Selbst in diesem Augenblick versuchte der gute Mr. Godfrey noch, sie zu schonen.

»Frag' mich nicht. Es ist besser, nicht davon zu reden, Rachel. Es ist wirklich besser.«

»Ich will es aber hören«, schrie sie zornig und so laut sie konnte.

Mr. Godfreys schöne Augen füllten sich mit Tränen. Er warf ihr einen letzten, bittenden Blick zu, und dann sprach er die folgenden, verhängnisvollen Worte: »Der Klatsch sagt, daß der Mondstein bei Mr. Luker verpfändet ist, und daß ich derjenige war, der ihn verpfändet hat.«

Mit einem Schrei sprang sie auf. Sie war derart außer sich, daß ich glaubte, sie habe den Verstand verloren.

»Es ist mein Fehler. Ich muß es wieder in Ordnung bringen. Ich habe mich geopfert. Dazu hatte ich ein Recht. Aber einen Unschuldigen zugrunde gehen lassen – ein Geheimnis bewahren, das seinen Ruf für immer vernichtet! Guter Gott! Das ist zu furchtbar!«

Meine Tante erhob sich von ihrem Stuhl, sank aber wieder zurück. Sie rief mich mit schwacher Stimme und deutete auf ein kleines Fläschchen im Nähkorb. »Schnell! Sechs Tropfen in Wasser. Aber lass' Rachel nichts sehen.«

Es war gerade Zeit genug, ihr die Medizin zu geben. Dabei half mir der liebe Godfrey ohne sein Wissen, indem er am anderen Ende des Zimmers beruhigend auf Rachel einsprach. Ich hörte, wie er sagte: »Bitte, bitte! Du übertreibst. Mein Ruf steht zu hoch, um durch elenden Klatsch wie diesen vernichtet zu werden. In einer Woche ist alles vergessen. Wir wollen nie mehr davon sprechen.«

Sie blieb jedoch ganz unzugänglich, selbst gegenüber solcher Großmut. »Ich muß und werde dem ein Ende machen. Mama! Höre mir zu. Miss Clack! Hören Sie, was ich sage. Ich weiß, wer den Monddiamanten gestohlen hat. Ich weiß, daß Godfrey Ablewhite unschuldig ist!« Sie sprach diese letzten Worte mit besonderer Betonung und stampfte in ihrem Zorn mit dem Fuße auf. »Bringe mich zum Richter, Godfrey. Dort werde ich es beschwören.«

Meine Tante faßte meine Hand und flüsterte: »Stelle dich ein paar Minuten zwischen uns, damit Rachel nichts sieht.«

Ich bemerkte, daß ihr Gesicht sich bläulich verfärbte, und sie sah, wie beunruhigt ich war. »Die Tropfen werden in ein paar Minuten wirken.«

Gleichzeitig hörte ich, wie Mr. Godfrey immer noch leise auf Rachel einsprach. »Du darfst in einer derartigen Angelegenheit nicht in der Öffentlichkeit erscheinen. Dein Ruf, liebste Rachel, ist zu rein und zu heilig, um damit zu spielen.«

»Mein Ruf? Aber, Godfrey, ich werde ja genau so verdächtigt wie du. Der beste Detektiv in England behauptet, ich habe meinen eigenen Diamanten gestohlen. Frage ihn doch, was er denkt, und er wird dir sagen, ich hätte den Monddiamanten verpfändet, um heimliche Schulden zu bezahlen. Wenn du mich nicht zum Richter bringen willst, so schreibe eine Erklärung, daß du unschuldig bist, und ich werde sie unterschreiben. Tu was ich dir sage, Godfrey, oder ich schreibe an die Zeitungen. Ich gehe hinaus und schreie es laut auf der Straße aus!«

Godfrey in seiner Nachsichtigkeit beruhigte sie, nahm ein Blatt Papier und schrieb die Erklärung. Sie unterzeichnete in fieberhafter Hast. Ehe noch jemand reden konnte, ließ ein Klopfen an der Tür uns alle auffahren.

Rachel faßte sich.

»Sie holen mich zur Blumenausstellung ab. Nur ein Wort, Mama. Ich habe dich doch nicht betrübt?« Die Tropfen hatten gewirkt, und die Gesichtsfarbe meiner armen Tante war wieder wie zuvor.

»Nein, nein, Liebling, gehe nur mit deinen Freunden und amüsiere dich.« Rachel ging.

Ich beobachtete, wie der gute Mr. Godfrey im Zimmer unauffällig nach etwas suchte. Ehe ich ihm noch meine Hilfe anbieten konnte, hatte er es gefunden. Er trat zu mir, wobei er die Erklärung seiner Unschuld und eine Schachtel Streichhölzer in der Hand hielt. »Liebste Tante, eine kleine Verschwörung«, sagte er. »Liebe Miss Clack, ein frommer Betrug, den selbst Ihre große Rechtlichkeit entschuldigen wird. Bitte lassen Sie Miss Rachel in dem Glauben, daß ich das edelmütige Opfer in Gestalt des von ihr unterzeichneten Papiers annahm, und seien Sie bitte Zeugen, daß ich es in Ihrer Gegenwart vernichte.«

Er zündete ein Streichholz an. »Sehen Sie, nun ist es ein kleiner, harmloser Aschenhaufen, und unsere liebe impulsive Rachel wird es nie erfahren.«

Er strahlte uns mit seinem wunderschönen Lächeln an. Dann streckte er seiner Tante und mir die Hand entgegen und von dieser edlen Geste war ich so tief beeindruckt, daß ich die Augen schloß. Oh, diese Wonne, diese überirdische Wonne! Ich saß – ich weiß kaum worauf – ganz im Sturm meiner Gedanken verloren. Als ich die Augen öffnete, war er fort. Allein mit Lady Verinder, wandte ich das Gespräch natürlich ihrem Gesundheitszustand zu.

»Drusilla« – das ist mein Vorname – »du hast ein Geheimnis entdeckt, das ich bisher nur meiner Schwester, Mrs. Ablewhite, und meinem Rechtsanwalt, Mr. Bruff, anvertraut habe. Auf ihre Verschwiegenheit kann ich mich verlassen und sicherlich auch auf deine, wenn ich dir den Sachverhalt erzähle. Leiste mir noch eine Stunde Gesellschaft, bis Mr. Bruff um fünf Uhr kommt. Dann kannst du einer der Zeugen sein, wenn ich mein Testament mache.

Seit längerer Zeit schon, Drusilla, bin ich sehr krank«, fing meine Tante an. »Es ist seltsam, aber ich habe es selbst nicht gewußt. Ich habe Rachel nach London gebracht, um ärztlichen Rat für sie einzuholen. Ich hielt es für richtig, zwei Ärzte zu konsultieren. Der eine war ein alter Freund meines Mannes. Nachdem er etwas für Rachel verschrieben hatte, wollte er mich gern allein sprechen.

›Lady Verinder, ich habe Sie mit beruflichem und persönlichem Interesse betrachtet. Ich fürchte sehr, Sie haben ärztlichen Rat weit nötiger als Ihre Tochter.‹

Die Untersuchung brachte zu Tage, daß ich an einer heimtückischen Herzkrankheit leide. Vielleicht lebe ich noch ein paar Monate, ich kann aber auch schon heute sterben. Die Ärzte können und wollen sich nicht näher festlegen. Meine einzige, große Angst ist die, daß Rachel die Wahrheit erfährt. Ich bin gewiß, Drusilla, daß du mein Geheimnis für dich behalten wirst; denn ich sehe aufrichtigen Schmerz und Mitgefühl in deinem Gesicht.«

Ich schloß meine Tante in die Arme, und meine überströmende Zärtlichkeit konnte sich in diesem Augenblick durch nichts anderes als diese Umarmung äußern. Ich besaß jedoch einen kleinen Vorrat an Büchern, die alle für dies ernste Leid geeignet und alle darauf berechnet waren, meine Tante aufzurichten, zu erleuchten und zu stärken.

»Liebste Tante, du wirst doch gewiß meine herrlichen Bücher lesen, die ich dir bringen möchte.«

Ein wenig überrascht, antwortete sie: »Dir zuliebe will ich tun, was in meinen Kräften steht.«

Kein Augenblick war zu verlieren. Ich versprach, um fünf zurück zu sein, und verließ das Haus. Ich fuhr heim, suchte eine Anzahl Schriften heraus und kehrte mit etwa einem Dutzend in meinem Pompadour nach Montague Square zurück. Ich zahlte dem Kutscher genau das Fahrgeld. Er nahm es mit einem Fluch entgegen, worauf ich ihm sofort ein Traktat gab: Hätte ich ihm eine Pistole an die Stirn gesetzt, dieser Verworfene hätte nicht bestürzter sein können. Er sprang von seinem Bock in die Höhe und fuhr wütend und mit unflätigen Äußerungen davon. Es half ihm garnichts. Ich säte trotzdem den guten Samen, indem ich schnell ein zweites Traktat durch das Fenster seiner Droschke warf.

Mr. Bruff war vor einer Minute angekommen und wartete in der Bibliothek, in die ich geführt wurde. Er war sichtlich überrascht, mich zu sehen und fragte: »Wollen Sie hier bleiben, Miss Clack?«

»Meine Tante sagte mir, sie wolle ihr Testament machen, und war so gut, mich zu bitten, einer der Zeugen zu sein.«

»Ei, ei! Nun, Miss Clack, Sie sind ja auch die richtige für diesen Zweck. Sie haben die einundzwanzig hinter sich und haben nicht das leiseste, geldliche Interesse an Lady Verinders Testament.«

Nicht das leiseste, geldliche Interesse! Oh, wie dankbar ich war, als ich diese Worte hörte.

»Und was erzählt man sich Neues in den Kreisen der Wohltätigkeit?« fuhr Mr. Bruff fort. »Wie geht es Ihrem Freund, Mr. Ablewhite, nachdem er durch die Schurken in der Northumberland-Street so übel zugerichtet wurde? Wahrhaftig. Man erzählt im Klub eine nette Geschichte über diesen mildtätigen Herrn!«

»Ich lebe ja nicht gerade in der großen Welt und habe nicht den besonderen Vorzug, Sir, einem Klub anzugehören. Aber zufällig kenne ich die Geschichte, auf die Sie anspielen, und ich weiß auch, daß eine gemeinere Lüge niemals herumerzählt worden ist.«

»Schon gut, Miss Clack. Sie glauben an Ihren Freund. Das ist nur zu verständlich, aber Mr. Godfrey Ablewhite wird feststellen, daß die große Welt nicht so leicht zu überzeugen ist wie ein Komitee wohltätiger Damen. Der Schein spricht durchaus gegen ihn. Er war im Schloß, als der Diamant verschwand, und er war der erste aus dem Schloß, der dann nach London fuhr. Sehr häßliche Umstände, Madame, wenn man sie im Lichte dessen betrachtet, was dann später geschah.«

Ich tat ganz unschuldig und fragte, was für Geschehnisse er meine.

»Ich spiele auf diejenigen an, bei denen die Inder beteiligt waren«, fuhr Mr. Bruff fort und wurde immer überheblicher. »Was tun die Inder, kaum daß sie aus dem Gefängnis in Frizinghall entlassen sind? Sie gehen stracks nach London und verfolgen Mr. Luker. Mr. Luker ist in Sorge um die Sicherheit jenes wertvollen Objektes, das er im Haus hat. Er bringt es heimlich in das Safe seiner Bank. Bewundernswert klug, aber die Inder sind genau so klug. Sie vermuten, daß das wertvolle Objekt woanders hingebracht wird, und sie fassen einen wirklich kühnen Plan, der jede Möglichkeit berücksichtigt, um ihre Vermutung zu bestätigen. Wen überfallen und durchsuchen sie? Nicht nur Mr. Luker – das wäre verständlich genug – sondern auch Mr. Godfrey Ablewhite. Und warum? Mr. Ablewhites Erklärung besagt, sie hätten auf bloßen Verdacht hin gehandelt, nachdem sie ihn zufällig im Gespräch mit Mr. Luker gesehen haben. Das ist absurd. Ein halbes Dutzend anderer Leute sprach an jenem Morgen ebenfalls mit Mr. Luker. Also ist die einfache Schlußfolgerung die, daß Mr. Ablewhite ein heimliches Interesse an dem Wertgegenstand hat, gerade wie Mr. Luker auch, und daß die Inder deshalb im Unklaren waren, wer von den beiden ihn im Besitz hatte. Es blieb ihnen also keine andere Wahl, als beide zu überfallen. Das sagt die öffentliche Meinung, Miss Clack, und in diesem Fall ist sie nicht so leicht zu entkräften.«

»Ich maße mir nicht an, mit einem klugen Rechtsanwalt, wie Sie es sind, zu streiten. Aber ist es wohl gegenüber Mr. Ablewhite gerecht, Sir, die Ansicht des berühmten Londoner Kriminalisten, der den Fall untersuchte, einfach zu übersehen? Nicht der Schatten eines Verdachtes blieb nach Ansicht des Sergeanten Cuff an irgend jemandem haften außer an Miss Verinder.«

»Wollen Sie damit sagen, Miss Clack, daß Sie mit dem Sergeanten übereinstimmen?«

»Ich verurteile niemanden, Sir, und äußere keine eigene Ansicht.«

»Und ich begehe diese beiden Ungeheuerlichkeiten, Madame. Erstens verurteile ich den Sergeanten, da er unrecht hat, und zweitens bin ich der Ansicht, daß er jeden anderen im Schloß eher hätte verdächtigen können als Miss Rachel, wenn er so gut wie ich ihren Charakter gekannt hätte.«

»Dann darf ich Sie davon in Kenntnis setzen, Mr. Bruff, daß Mr. Godfrey Ablewhite vor noch nicht zwei Stunden hier im Hause war, und daß Miss Verinder in den stärksten Ausdrücken, die ich je von einer jungen Dame gehört habe, seine Unschuld beteuerte. Er habe mit dem Verschwinden des Monddiamanten nicht das geringste zu tun.«

Nun genoß ich den Triumph, Mr. Bruff durch diese paar Worte aufs äußerste bestürzt und aus dem Gleichgewicht gebracht zu sehen. Betont freundlich fragte ich ihn: »Und was denken Sie nun über Mr. Ablewhite?«

»Wenn Rachel seine Unschuld bezeugt hat, Miss Clack, so mache ich mir keinerlei Gewissensbisse daraus, von dieser genau so fest überzeugt zu sein wie Sie. Ich bin durch den Schein ebenso irregeführt worden wie alle übrigen.«

Bei diesen Worten wandte er sich um und ging gereizt im Zimmer auf und ab. Die Verwirrung, in die ich diese hohe Autorität in Rechtsfragen gestürzt hatte, war so überwältigend, daß er gänzlich außerstande war, sie zu verbergen. Ich hörte, wie er vor sich hin sprach, wobei er mit den Fingern gegen die Fensterscheiben trommelte: »Der Fall spottet nicht nur jeder Erklärung, man kann nicht einmal das mindeste vermuten.«

»Verzeihen Sie, wenn ich mich in Ihre Überlegungen eindränge«, sagte ich. »Aber es gibt sehr wohl eine Vermutung, die uns nur noch nicht gekommen ist.«

»Das mag sein, Miss Clack. Ich weiß nur nicht, welche.«

»Ehe ich in der glücklichen Lage war, Sie von Mr. Ablewhites Unschuld zu überzeugen, erwähnten Sie, einer der Verdachtsgründe gegen ihn wäre die Tatsache, daß er im Schloß war, als der Diamant verloren ging. Gestatten Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß auch Mr. Franklin Blake im Schloß war, als der Diamant verloren ging.«

Der alte Weltmann kam vom Fenster zurück, setzte seinen Stuhl mir gerade gegenüber und sah mich fest und mit einem harten, bösartigen Lächeln an. Dann bemerkte er nachdenklich: »Sie haben recht, Madame. Ich habe Mr. Ablewhite aus Gründen verdächtigt, die abstrakt gesprochen auch zu einem Verdacht gegen Mr. Franklin Blake berechtigen. Nun gut – wir wollen sie also einmal beide verdächtigen. Wir wollen getrost annehmen, es läge durchaus in Franklins Charakter, den Monddiamanten zu stehlen. Die Frage ist nur, ob es auch in seinem Interesse liegt.«

»Die Schulden von Mr. Blake sind in der ganzen Familie bekannt.«

»Und mit Mr. Godfrey Ablewhites Schulden ist es noch nicht so weit. Ganz recht. Aber zufällig hat Ihre Theorie zwei Haken. Ich verwalte Franklin Blakes geschäftliche Angelegenheiten und darf Sie unterrichten, daß die große Mehrzahl seiner Gläubiger – Sie wissen, daß sein Vater reich ist – sich damit begnügt, Zinsen zu erheben und auf ihr Geld zu warten. Das ist der erste Haken – und er ist schon groß genug. Der zweite ist aber noch größer. Ich weiß es von Lady Verinder selbst, daß ihre Tochter bereit war, Mr. Franklin Blake zu heiraten, ehe der verfluchte indische Diamant aus dem Schloß verschwand. Sie hat ihrer Mutter eingestanden, daß sie ihren Vetter Franklin liebt, und ihre Mutter hat dies Geheimnis Franklin anvertraut. Das also war für ihn die Lage, Miss Clack. Die Gläubiger waren bereit zu warten, und er hatte die sichere Aussicht, eine Erbin zu heiraten. Halten Sie ihn meinetwegen für einen Schuft, aber sagen Sie mir bitte, warum er den Monddiamanten stehlen sollte. Gut. Zunächst also stiehlt er ihn, ohne die geringste Veranlassung, nur aus angeborener Verworfenheit. Dann aber spielt er bei dem Verlust des Juwels eine Rolle, die er in keiner Weise zu spielen brauchte und die dazu führte, daß er die junge Dame, die ihn sonst geheiratet hätte, tödlich beleidigte.

Nein, nein, Miss Clack. Wir sind in diesem Fall an einem toten Punkt. Rachels Unschuld, wie ihre Mutter und ich wissen, steht außer Zweifel. Mr. Ablewhites Unschuld ist ebenso erwiesen, oder Rachel hätte sie nie bezeugt. Und Franklin Blakes Unschuld stellt sich als unwiderleglich heraus, wie Sie gerade gesehen haben. Was nützt da meine Erfahrung, was nützt die Erfahrung irgend eines anderen in einem solchen Fall? Er spottet meiner, er spottet Ihrer, er spottet jedes Menschen.«

Nein! Nicht eines Jeden! Des Sergeanten Cuff hatte er nicht gespottet. Gerade wollte ich dies erwähnen, als der Diener hereinkam und meldete, der Doktor sei fortgegangen und meine Tante warte auf uns. Schweigend gingen wir in Lady Verinders Zimmer.

 

Die Unterzeichnung des Testamentes ging weit schneller vor sich, als ich vermutet hatte. Sobald ich wieder mit meiner Tante allein war, lehnte sie sich im Sofa zurück und spielte dann, sichtlich etwas verlegen, auf das Testament an. »Ich hoffe, Drusilla, du wirst nicht glauben, daß ich an dich nicht gedacht habe. Ich beabsichtige, dir deine kleine Erbschaft selbst zu geben, Liebste.«

Hier bot sich eine goldene Gelegenheit. Ich öffnete meinen Pompadour und nahm das erste Heft heraus. Es hieß: »Die Schlange im Hause.« Die Kapitel, die sich am besten für Leserinnen eignen, hießen: ›Satan in der Bürste‹, ›Satan hinter dem Spiegel‹, Satan unter dem Teetisch‹ und viele andere.

»Liebste Tante, schenke meinem wertvollen Buch Beachtung, und du schenkst mir alles, was ich haben will.« Hiermit reichte ich es ihr geöffnet hin. Die angezeichnete Stelle lautete: »Satan zwischen den Sofakissen.«

Die arme Lady Verinder, die sich gerade gedankenlos in die ihren zurücklehnte, blickte auf das Buch und gab es mir dann zurück. »Ich fürchte, Drusilla, ich muß damit warten, bis es mir etwas besser geht. Der Doktor meinte, es ginge mir heute garnicht gut. Er verbietet mir Fremde zu sehen, und wenn ich schon lese, dann nur ganz leichte und sehr lustige Bücher.«

Hierauf steckte ich das Heft neben ihr Taschentuch und ihr Riechfläschchen unter die Sofakissen, worauf ich es für klug hielt, mich zu empfehlen. »Du mußt jetzt ruhen, liebste Tante. Ich werde morgen wiederkommen.« Ein neuer Gedanke kam mir. »Oh, darf ich eine Blume mitnehmen?« Auf diese Weise kam ich an das Fenster. Statt aber dort eine Blume zu pflücken, ließ ich zwischen Geranien und Rosen eine andere Blume in Gestalt eines weiteren Heftes zurück. Dann sagte ich Lebewohl und schlüpfte in die Bibliothek. Dort und in allen anderen Räumen des Hauses verteilte ich nun meine wertvolle Lektüre so, daß meine arme Tante sie gewiß finden mußte. Dann erst verließ ich das Haus.

Ich verbrachte eine wunderbare Nacht. Wie jung ich mich am nächsten Morgen fühlte! Gerade als ich gegen Mittag meinen Hut aufsetzte, um nach Montague Square zu gehen, kam das Mädchen herein und meldete Lady Verinders Bedienten an. Es war der junge Samuel, ein höflicher, rotwangiger junger Mann. Ich bat ihn, ins Wohnzimmer zu kommen. Er erschien mit einem Paket, das ihm Furcht einzuflößen schien, als er es niederlegte. »Viele Grüße von meiner Lady. Sie würden einen Brief in dem Paket finden.«

Als er schon an der Tür war, hielt ich ihn zurück und stellte ein paar freundliche Fragen. Ich erfuhr, daß Miss Rachel am gleichen Abend zu einem Ball ging und daß Mr. Ablewhite zum Kaffee kommen wollte, um sie zu begleiten. Morgen gab es dann ein Frühkonzert, und Samuel sollte Karten für eine größere Gesellschaft besorgen, zu der auch Mr. Ablewhite gehören würde.

»Wenn, ich nicht laufe, bekomme ich keine mehr.« Damit rannte er hinaus, und ich fand mich mit dem Paket allein.

Hatte meine Tante mir das versprochene Erbe geschickt? Hatte es wohl die Gestalt abgelegter Kleider, abgenutzter Silberlöffel oder unmodernen Schmucks angenommen? Ich öffnete das Paket, bereit alles an- und nichts übelzunehmen – und was sahen meine Augen? Die wertvollen Hefte, die ich am Vortage über das ganze Haus verstreut hatte. Alle ohne Ausnahme auf Anordnung des Arztes zurückgeschickt. Der Brief meiner Tante – oh, die arme Seele – besagte, sie wage nicht, gegen den ärztlichen Befehl ungehorsam zu sein. Was nun? Bei meiner Erziehung und meinen Grundsätzen war ich mir darüber keinen Augenblick im Zweifel. Die seelische Vorbereitung meiner Tante durch meine Bücher war dank des Unglaubens und der Hartnäckigkeit des Doktors fehlgeschlagen. Mochte es sein. Dann mußte ich eben das gleiche mit kleinen Briefchen versuchen.

Ehe es noch Abend geworden war, hatte ich ein Dutzend Erweckungsbriefe für die liebe Tante geschrieben. Sechs davon bereitete ich für den Versand durch die Post vor. Die übrigen behielt ich in der Tasche, um sie am nächsten Tage zu verteilen.

Kurz nach zwei war ich wieder in Lady Verinders Haus. Meine Tante hatte eine schlechte Nacht verbracht. Sie befand sich in dem selben Zimmer, in dem das Testament aufgesetzt worden war. So beschloß ich, in der Bibliothek zu warten. In allem Eifer, meine Brieflein zu, verteilen, vergaß ich ganz, nach Rachel zu fragen.

Das Haus war still. Ich nahm bestimmt an, daß sie und die übrigen Vergnügungssüchtigen im Konzert waren – ach, Mr. Godfrey gehörte zu ihnen – und widmete mich meinem guten Werk. Gerade als ich das Vorderzimmer betrat, hörte ich ein zweimaliges Klopfen an der Haustür. Ehe ich noch in die Bibliothek schlüpfen konnte, war der junge Diener bereits in die Halle gekommen, um zu öffnen. Ich hörte Samuels Stimme und verstand die Worte: »Bitte nach oben, Sir.«

Wer konnte das anderes sein als der Arzt? Von jedem anderen Besucher hätte ich mich im Wohnzimmer finden lassen, aber meine Selbstachtung verbot mir, dem Mann gegenüber zu treten, der mich durch die Rücksendung meiner Bücher beleidigt hatte. So schlüpfte ich denn in einen dritten, kleineren Raum und ließ die Vorhänge zufallen, die ihn vom Nebenzimmer abschlossen. Einen anderen Ausgang hatte dies Gemach nicht. Wartete ich nur ein paar Minuten, so würde der Doktor gewiß zu seinem Patienten geführt werden.

Ich hörte, wie der Besucher rastlos auf- und abging. Ich hörte, wie er Selbstgespräche führte, Ich teilte die schweren Vorhänge ein winziges Stück und horchte. Was ich hörte war folgendes: »Heute tue ich es.« Es war Godfrey Ablewhites Stimme.

Meine Hand ließ den Vorhang fallen. Da plötzlich sprach eine andere Stimme im Nebenzimmer. Sie war laut, keck, bar jeden weiblichen Charmes, kurz, die Stimme gehörte Rachel Verinder.

»Warum bist du hier hinein gegangen, Godfrey? Warum nicht in die Bibliothek?«

Er lachte leise: »Miss Clack ist in der Bibliothek.«

»Clack in der Bibliothek? Du hast recht, Godfrey, dann bleiben wir wohl lieber hier.«

Mich jetzt noch zu zeigen, nach allem, was ich gehört hatte, war unmöglich. Ein Rückzug stand ebenfalls außer Frage. Er wäre nur durch den Kamin möglich gewesen. Vor mir lag ein Leidensweg. Ehrlicherweise muß ich bekennen, daß ich die Vorhänge geräuschlos so anordnete, daß ich sowohl hören wie sehen konnte. Miss Rachel begann: »Sehr schmerzlich, daß du das Konzert verpaßt hast.«

»Sag das nicht, Rachel, wenn du nur wüßtest, wie viel glücklicher ich mit dir zusammen bin.«

»Es ist sicher sehr schwer, gegen schlechte Angewohnheiten anzugehen, Godfrey. Aber versuche es einmal, nicht immer Komplimente zu machen – um meinetwillen.«

»Nie in meinem Leben habe ich dir ein Kompliment gemacht, Rachel. Aber hoffnungslose Liebe spricht immer die Wahrheit, Liebste.«

»Hast du unsere Abmachung vergessen, Godfrey? Wir wollten doch Vetter und Kusine sein, nicht mehr.«

»Diese Abmachung, Rachel, breche ich jedes Mal, wenn ich dich sehe.«

»Dann sieh mich eben nicht mehr.«

»Völlig zwecklos! Ich breche unsere Vereinbarung jedes Mal, wenn ich an dich denke. Oh, Rachel!«

Seine Stimme zitterte, und er führte das Taschentuch an die Augen. Hier hatten wir Exeter Hall. Nur die Zuhörer, der Beifall und das Glas Wasser fehlten. Selbst ihre verhärtete Seele wurde gerührt. Ich sah, wie sie sich ein wenig zu ihm hinüberlehnte, und in ihren nächsten Worten klang ein neuer Ton von Interesse.

»Bist du wirklich sicher, Godfrey, daß du mich so gern hast?«

»Ganz sicher! Ich habe jedes sonstige Interesse am Leben verloren. Meine Wohlfahrtsarbeit bedeutet für mich einen unerträglichen Unfug, und wenn ich jetzt ein Damen-Komitee sehe, so wünsche ich mich ans andere Ende der Welt.«

Wenn die Annalen der Apostasie irgend etwas bieten, was einer solchen Erklärung vergleichbar ist, so kann ich nur sagen, daß ich von diesem Fall nichts gelesen habe. Zur selben Zeit ist es aber nur ehrlich gegen mich selbst, wenn ich hinzufüge, daß ich mir nicht eine Silbe der Unterhaltung entgehen ließ. Rachel sprach wieder:

»Du hast dein Geständnis gemacht. Es nimmt mich wunder, ob es dich von deiner unglückseligen Liebe zu mir heilen wird, wenn ich nun meines mache.«

Er fuhr auf. Ich fuhr auf. Er dachte und ich dachte, sie wäre drauf und dran, das Geheimnis des Monddiamanten zu lüften.

»Würdest du glauben, wenn du mich siehst, daß ich das unglücklichste Mädchen auf Erden bin? Es ist wahr, Godfrey. Gibt es ein größeres Unglück, als ohne Selbstachtung weiterzuleben? So lebe ich jetzt.«

»Aber liebste Rachel! Du kannst unmöglich einen Grund haben, derart über dich selbst zu reden!«

»Und woher weißt du das?«

»Wie kannst du nur so etwas fragen? Das Verschwinden deines wertvollen Geburtstagsgeschenkes mag seltsam erscheinen, seltsamer noch die ungeklärte Verbindung zwischen dir und diesem Ereignis –«

»Sprichst du vom Monddiamanten?«

»Natürlich dachte ich, du spieltest auf –«

»Ich spielte auf nichts dergleichen an. Ich ertrage es, wenn von dem Verlust des Monddiamanten, von wem auch immer, gesprochen wird, ohne in meiner Selbstachtung zu sinken. Wird die Geschichte des Diamanten aufgeklärt, so wird man erfahren, daß ich eine fürchterliche Verantwortung übernommen habe. Man wird weiter erfahren, daß ich aus freiem Willen in ein unseliges Geheimnis verwickelt wurde. Aber es wird auch so klar wie die Sonne sein, daß ich dabei nichts Häßliches getan habe. Du hast mich mißverstanden, Godfrey, und das ist mein Fehler, weil ich nicht deutlich genug gesprochen habe. Oh, wie kann ich nur die richtigen Worte finden? Bitte geh!«

Plötzlich drehte sie sich um und schlug wild mit den Händen auf die Rückenlehne des Sofas. Der Kopf fiel in die Kissen, und sie fing an zu weinen. Ehe ich mich hierüber noch entrüsten konnte, wurde ich durch das unerwartete Verhalten Mr. Godfreys wie vom Donner gerührt. Will man es glauben, daß er zu ihren Füßen auf die Knie fiel? Auf beide Knie! Und darf ich, wenn auch widerwillig, bewundernd zugeben, daß er sie mit zwei Worten elektrisierte?

»Edler Mensch.«

Nicht mehr! Was mich anbetrifft, so war mein Gefühl für Anstand ein wenig durcheinander geraten. Ich war mir so peinlich im Unklaren, ob ich zuerst die Augen schließen oder die Ohren verstopfen sollte, daß ich keins von beiden tat.

»Ja, du bist ein edler Mensch!« fuhr Godfrey fort. »Liebste, du hast von deinem Platz in meiner Wertschätzung gesprochen. Nun urteile, wo dieser Platz ist – wenn ich dich auf meinen Knien anflehe, die Sorge für dein armes, wundes Herz meine Sache sein zu lassen. Rachel! Willst du mich ehren, willst du mich selig machen, indem du meine Frau wirst?«

Mittlerweile hätte ich mich ganz gewiß entschließen sollen, mir die Ohren zuzuhalten. Hätte Rachel mich nicht ermutigt, sie offen zu halten, indem sie ihm mit den ersten verständigen Worten erwiderte, die sie gesprochen hatte:

»Godfrey! Du mußt verrückt sein!«

»Liebste, ich habe nie verständiger gesprochen – in deinem wie auch in meinem Interesse. Rachel! Ich bitte ja nicht um deine Liebe – ich will mit deiner Zuneigung und mit deiner Achtung zufrieden sein. Alles Übrige können wir vertrauensvoll der Ergebenheit deines Gatten und der Zeit überlassen, die Wunden heilt, selbst wenn sie so tief wie die deinen sind.«

Er zog sie immer näher an sich heran, bis ihre Gesichter sich berührten und dann – – –!

Ich kann nur sagen, daß ich versuchte, die Augen zu schließen, ehe es geschah, und daß ich gerade einen Moment zu spät damit fertig war. Man wird das verstehen. Ich hatte eben damit gerechnet, daß sie sich sträuben würde.

Dann setzte er sich, ohne daß ihm das noch verwehrt wurde, neben sie auf die Ottomane.

»Soll ich mit deiner lieben Mutter sprechen oder willst du es tun?«

»Meine Mutter soll nichts erfahren, bis es ihr besser geht. Für den Augenblick möchte ich es geheim halten, Godfrey. Geh' nun und komm' heute abend wieder.«

Sie stand auf und blickte dabei zum ersten Male nach dem kleinen Zimmer, in dem ich meinen Leidensweg ging. Sie schritt auf den Vorhang zu. Im Augenblick, als sie ihn anfaßte, im Augenblick, als meine Entdeckung ganz unvermeidlich schien, unterbrach plötzlich die Stimme des jungen Dieners jedes weitere Vorgehen ihrer- oder meinerseits. Unmißverständlich lag in der Stimme des Mannes große Aufregung, als er rief: »Miss Rachel, Miss Rachel, wo sind Sie?«

Sie sprang vom Vorhang zurück und lief zur Tür, als gerade der Diener ins Zimmer kam. Er sah blaß und verstört aus. »Wollen Sie bitte herunterkommen, Miss, die Lady ist ohnmächtig geworden, und wir können sie nicht wieder zum Bewußtsein bringen.«

Im nächsten Augenblick war ich allein und konnte ganz unbeobachtet und ungehindert die Treppe hinaufgehen. In der Halle lief Mr. Godfrey an mir vorüber, um den Arzt zu holen. »Gehen Sie und helfen Sie!« rief er mir zu.

Im Zimmer meiner Tante fand ich Rachel neben dem Sofa. Sie hielt den Kopf ihrer Mutter an ihrer Brust. Ein einziger Blick in das Gesicht von Lady Verinder genügte, um mir die furchtbare Wahrheit zu verraten. Ich behielt meine Gedanken für mich, bis der Doktor kam. Sogleich schickte er Rachel aus dem Zimmer, und dann sagte er uns, daß Lady Verinder tot sei.

Später blickte ich in das Frühstückszimmer und in die Bibliothek. Meine Tante war gestorben, ohne einen einzigen meiner Briefe gelesen zu haben. Hierüber war ich so entsetzt, daß es mir erst einige Tage später einfiel, sie sei auch gestorben, ohne mir ein kleines Erbteil zu hinterlassen.

 

Der Tod der Lady Verinder ließ ihre Tochter, bis sie heiratete oder volljährig wurde, unter der Vormundschaft ihres Schwagers, des älteren Mr. Ablewhite. Unter diesen Umständen unterrichtete wahrscheinlich Godfrey seinen Vater über seine enge Beziehung zu Rachel, jedenfalls war zehn Tage nach dem Tode meiner Tante das Geheimnis der Verlobung im Familienkreise keineswegs mehr ein Geheimnis.

Gleich am Anfang machte Rachel Schwierigkeiten wegen der Wahl ihres Aufenthaltes. Schließlich schlug der alte Mr. Ablewhite vor, es mit einem möblierten Hause in Brighton zu versuchen.

Die Ermietung eines solchen Hauses war das von der Vorsehung bestimmte Ereignis, welches Rachel Verinder und mich wieder zusammenführte.

Meine Tante Ablewhite hatte von Geburt an niemals auch nur das Geringste allein getan. Einen hoffnungsloseren Menschen, geistig gesprochen, habe ich nie getroffen. Sie würde dem Groß-Lama von Tibet genau so gern zuhören wie mir und seine Ansichten genau so bereitwillig wiedergeben wie meine. Das möblierte Haus in Brighton fand sie dadurch, daß sie in einem Hotel in London abstieg, sich aufs Sofa legte und nach ihrem Sohn schickte. Dort fand ich sie elf Uhr morgens im Schlafrock, wie sie sich friedlich fächelte.

»Drusilla, Liebe, ich brauche ein paar Bediente. Du bist so klug – verschaffe sie mir doch bitte.«

»Wo ist die Liste der Dienstboten, die du brauchst?«

»Die hat Rachel im Nebenzimmer.«

Ich ging dorthin und sah Rachel zum ersten Male, seit wir uns in Montague Square getrennt hatten, wieder. Sie sah erbarmungswürdig klein und schmal in ihrer tiefen Trauer aus. Zu meiner großen Überraschung stand sie bei meinem Eintritt auf und kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen.

»Ich freue mich, dich zu sehen, Drusilla. Ich bin früher immer sehr töricht und ungezogen in meinen Reden gewesen. Ich bitte dich um Entschuldigung und hoffe, du wirst mir verzeihen.«

Mein Gesicht muß wohl Erstaunen verraten haben. Sie wurde einen Augenblick rot und fuhr dann deutlicher fort: »Zu Lebzeiten meiner armen Mutter waren ihre Freunde nicht immer die meinen. Nun nach ihrem Verlust suche ich Trost bei denen, die sie gern hatte. Sie hatte dich gern. Laß uns versuchen Freunde zu sein, Drusilla.«

Ich kam dann gleich auf die Frage der Dienstboten zurück und fragte: »Wo hast du die Liste, Liebe? Ich werde morgen nach Brighton fahren.«

»Wie reizend von dir. Wir werden nachkommen, sobald du mit allem fertig bist, und ich hoffe, du bleibst bei uns als mein Gast. Brighton ist so lustig, es wird dir sicher gefallen.«

Am Sonnabend nachmittag war das Haus für sie fertig, und zwischen sechs und sieben Uhr kamen die Reisenden an. Zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen begleitete sie nicht Mr. Godfrey, sondern der Rechtsanwalt, Mr. Bruff.

»Wie geht es Ihnen, Miss Clack?« sagte er.

Ich hatte ein richtiges, kleines Paradies für meine geliebte Rachel vorbereitet – und nun nahte bereits die Schlange!

Rachel stand schweigend und allein am Fenster und blickte auf die See hinaus. »Müde, Liebling?« fragte ich.

»Nein, nur etwas niedergeschlagen. Ich habe oft an unserer Küste in Yorkshire das Meer in dieser Beleuchtung gesehen, und ich dachte an die Tage, Drusilla, die nie wiederkommen werden.«

Wir trafen Tante Ablewhite und Mr. Bruff beim Lunch. Als Rachel garnicht essen wollte und als Grund dafür ihre Kopfschmerzen angab, ergriff der schlaue Rechtsanwalt sofort seine Chance.

»Gegen Kopfschmerzen gibt es nur ein Mittel«, sagte der gräßliche, alte Mann. »Sie brauchen einen Spaziergang, Miss Rachel, um sie zu kurieren. Ich stehe völlig zu Ihren Diensten, wenn Sie mir die Ehre geben wollen, meinen Arm zu nehmen.«

»Mit größtem Vergnügen. Gerade nach einem Spaziergang habe ich mich gesehnt.«

Mr. Bruff öffnete diensteifrig die Tür, und in der nächsten Minute hatten beide das Haus verlassen. Sie waren gerade zurückgekommen, als ich vom Nachmittags-Gottesdienst heimkehrte. Auf den ersten Blick sah ich, daß der Rechtsanwalt ihr gesagt hatte, was er ihr sagen wollte. Nie zuvor hatte ich Rachel so schweigsam und in Gedanken gesehen, nie aber auch Mr. Bruff so devot und aufmerksam. Sehr bald danach verabschiedete er sich von uns allen und sagte an der Tür zu Rachel: »Sie sind sich Ihres Entschlusses ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

Kaum hatte er den Rücken gewandt, als Rachel in ihr Zimmer ging. Zum Abendessen kam sie nicht herunter. Als ihr am nächsten Morgen ihre Tasse Tee ans Bett gebracht wurde, ging ich zu ihr und setzte mich auf die Bettkante.

»Weißt du, Liebling«, sagte ich, »ich hatte gestern einen ganz merkwürdigen Gedanken in Zusammenhang mit Mr. Bruff. Als ich euch nach eurem Spaziergang zusammen sah, kam es mir so vor, als hätte er dir schlechte Nachrichten gebracht.«

Rachels Finger zerrten an der Krause des Nachthemdes, und ihre zornigen, schwarzen Augen blickten mich an.

»Ganz im Gegenteil! Es waren sehr interessante Nachrichten. Und ich bin Mr. Bruff außerordentlich dankbar, daß er sie mir gebracht hat.«

»Interessante Nachrichten?« wiederholte ich. »Ich vermute, meine liebe Rachel, es müssen Nachrichten von Mr. Godfrey Ablewhite gewesen sein.«

Sie fuhr im Bett in die Höhe und wurde totenblaß. Offenbar lag es ihr auf der Zunge, mir eine scharfe Antwort zu geben. Sie beherrschte sich aber, legte den Kopf auf die Kissen, überlegte eine Minute und antwortete in diesen merkwürdigen Worten: »Ich werde Mr. Godfrey Ablewhite niemals heiraten.«

Nun war es an mir aufzufahren. »Was um Himmels willen meinst du? Die Heirat wird von der Familie als abgemachte Sache angesehen!«

»Mr. Godfrey Ablewhite wird heute hier erwartet«, sagte sie starrköpfig. »Warte, bis er kommt – dann wirst du ja sehen.«

Sie zog die Klingelschnur am Kopfende ihres Bettes. Die Person mit den Haubenbändchen erschien. »Penelope, mein Bad.« Zum Frühstück kam sie herunter, aß aber nichts und sprach kaum ein Wort. Nach dem Frühstück wanderte sie teilnahmslos durch die Zimmer, raffte sich dann plötzlich auf und öffnete den Flügel. Ich stellte heimlich fest, wann Mr. Godfrey Ablewhite erwartet wurde, und floh dann vor der Musik aus dem Hause.

Ich war rechtzeitig zurück, um die Ankunft des in Aussicht stehenden Besuchs zu erwarten. Ich betrat das Eßzimmer, das zu dieser Tageszeit immer leer war, und stand Auge in Auge Mr. Ablewhite gegenüber. Er machte keinerlei Versuch zu fliehen. Ganz im Gegenteil. Er kam mir sehr eilfertig entgegen. »Liebe Miss Clack, ich habe nur darauf gewartet, Sie zu sehen! Zufällig waren meine Verpflichtungen in London heute schneller erledigt als erwartet. Demzufolge kam ich früher als verabredet hierher.«

»Haben Sie Rachel schon getroffen?«

Er seufzte leise und ergriff meine Hand. Sicherlich hätte ich sie ihm entziehen sollen, wenn seine Antwort mich nicht vor Erstaunen gelähmt hätte. Völlig ruhig sagte er: »Ich habe Rachel gesehen. Sie wissen doch, liebste Freundin, daß sie mit mir verlobt war? Nun, sie hat sich plötzlich entschlossen, die Verlobung rückgängig zu machen. Nachdenken hat sie zu der Überzeugung gebracht, daß es für sie und mich am besten ist, wenn sie ein vorschnelles Versprechen zurücknimmt und mir die Freiheit läßt, eine andere, glücklichere Wahl zu treffen. Einen anderen Grund will sie nicht angeben, und es ist auch ihre einzige Antwort auf jede Frage, die ich an sie richte.«

»Und was haben Sie getan? Haben Sie nachgegeben?«

»Ja«, sagte er und zwar völlig gleichmütig, »ich habe mich gefügt.«

Wie im Traum fuhr ich fort: »Was bedeutet das alles?«

»Gestatten Sie mir, es Ihnen zu sagen. Wie wär's, wir setzten uns?« Er führte mich zu einem Stuhl. Ich kann mich dunkel erinnern, daß er zutraulich war. Ich glaube nicht, daß er den Arm um meine Taille legte, um mich zu stützen – aber ich bin meiner Sache nicht sicher. Ich war völlig hilflos, und er war Damen gegenüber immer sehr zärtlich. Jedenfalls setzten wir uns, dafür kann ich einstehen, für mehr aber nicht.

»Ich habe ein schönes Mädchen, eine hervorragende, gesellschaftliche Stellung und ein nettes Einkommen verloren«, begann Mr. Godfrey, »und ich habe mich ohne Kampf gefügt. Was mag der Beweggrund für ein derart ungewöhnliches Verhalten sein? Werte Freundin, es gibt keinen. Ich weiß nicht, warum ich Miss Verinder einen Antrag machte. Ich weiß nicht, warum ich meine lieben Damen-Komitees vernachlässigte. Ich weiß nicht, warum ich den Müttern und den Kinderkleidchen untreu wurde. Keinem anderen, außer Ihnen könnte ich das eingestehen. Können Sie sich das alles erklären, liebe Freundin? Ich kann es nämlich nicht.«

Ich war tief gerührt. Er drückte meine Hände abwechselnd an seine Lippen, und ich überließ sie ihm, überwältigt von dem wunderbaren Triumphgefühl, ihn wiedergewonnen zu haben. Ich schloß die Augen, und mein Kopf sank in einer Ekstase geistiger Selbstvergessenheit an seine Schulter. Noch einen Augenblick länger und ich wäre gewiß in seinen Armen ohnmächtig geworden. Da aber kam eine unerwartete Unterbrechung, die mich wieder zum Bewußtsein brachte. Ein schreckliches Klappern von Messern und Gabeln, und herein kam der Diener, um zum Lunch zu decken. Mr. Godfrey fuhr auf und blickte auf die Uhr am Kaminsims. »Wie die Zeit mit Ihnen doch fliegt. Ich werde gerade noch meinen Zug erreichen. Beste, liebste Freundin, wir sehen uns wieder.«

Mit diesen Worten eilte er hinaus und hastig lief ich die Treppe hinauf, um in meinem Zimmer nach Fassung zu ringen, ehe ich Tante Ablewhite und Rachel bei Tisch gegenüber trat.

An diesem Abend kam der ältere Mr. Ablewhite nicht. Am nächsten Tage wurde Tante Ablewhite, genau so wie ich es vorausgesehen hatte, von dem plötzlichen Erscheinen ihres Mannes so sehr überrascht, wie ihre Veranlagung es nur eben erlaubte. Er war kaum eine Minute im Hause, als ihm eine unerwartete Komplikation in Gestalt von Mr. Bruff folgte.

»Eine freudige Überraschung, Sir«, sagte Mr. Ablewhite und wandte sich mit trügerischer Herzlichkeit an Mr. Bruff. »Als ich gestern Ihr Büro verließ, glaubte ich nicht, heute die Ehre zu haben, Sie in Brighton zu treffen.«

»Nach Ihrem Fortgehen habe ich mir unsere Unterhaltung durch den Kopf gehen lassen«, erwiderte Mr. Bruff, »und es kam mir der Gedanke, ich könnte vielleicht heute von Nutzen sein.«

Daraufhin setzte sich Mr. Bruff neben Rachel. Ich zog mich bescheiden in einen Winkel zurück und hielt für alle Fälle ein Buch von Miss Jane Ann Stamper im Schoß. Meine Tante saß am Fenster und fächelte sich geruhsam wie gewöhnlich. Mr. Ablewhite stand in der Mitte des Zimmers, und seine Glatze war viel röter, als ich sie je zuvor gesehen hatte.

Er wandte sich äußerst freundlich an seine Nichte und sagte: »Rachel, meine Liebe, Godfrey hat mir erstaunliche Neuigkeiten mitgeteilt, und ich bin hergekommen, um mich danach zu erkundigen. Du hast ja wohl ein eigenes Wohnzimmer. Willst du so gut sein und mich dahin führen?«

Sie lehnte dies ab, bewegte sich überhaupt nicht, sondern antwortete: »Was Sie mir sagen wollen, können Sie hier in Anwesenheit meiner Verwandten und des vertrauten, alten Freundes meiner Mutter sagen.«

»Ganz wie es beliebt, meine Liebe«, sagte freundlich Mr. Ablewhite und nahm sich einen Stuhl. Dann fuhr er fort: »Vor einigen Wochen teilte mein Sohn mir mit, Miss Verinder hätte ihm die Ehre angetan, sich mit ihm zu verloben. Ist es möglich, Rachel, daß er deine Worte mißverstanden oder sich eingebildet haben kann?«

»Sicher nicht. Ich habe mich mit ihm verlobt.«

»Eine sehr offene Antwort. Dann liegt der Irrtum offensichtlich in dem, was er mir gestern erzählte. Jetzt fange ich an, zu verstehen. Ihr beide hattet einen Streit zwischen Liebenden, und mein törichter Sohn hat ihn ernst genommen. Nun, in seinem Alter hätte ich das nicht getan.«

»Bitte, wir wollen offen miteinander sein, Mr. Ablewhite. Nichts, was einem Streit im mindesten ähnlich sieht, hat gestern zwischen Ihrem Sohn und mir stattgefunden. Falls er Ihnen erzählt hat, daß ich die Auflösung der Verlobung vorschlug, und daß er zustimmte, hat er Ihnen die Wahrheit gesagt.«

Das Registrier-Thermometer oben auf Mr. Ablewhites Glatze begann steigende Erregung anzuzeigen. Sein Gesicht war liebenswürdiger als je – aber das Rot da oben bereits einen Schatten dunkler.

»Nun, nun, meine Liebe! Werde bitte jetzt nicht böse und sei nicht ungerecht gegenüber dem armen Godfrey! Offenbar hat er eine unglückselige Äußerung getan. Von Kind an war er immer ungeschickt – aber er meint es gut, er meint es gut!«

»Mr. Ablewhite, entweder ich habe mich sehr schlecht ausgedrückt, oder Sie wollen mich absichtlich nicht verstehen. Ein für allemal, zwischen Ihrem Sohn und mir ist es abgemachte Sache, daß wir für den Rest unseres Lebens Vetter und Kusine bleiben, nicht mehr. Ist das deutlich genug?«

»Soll ich es so auffassen, daß eure Verlobung gelöst ist?«

»Bitte fassen Sie es so auf, Mr. Ablewhite.«

»Soll ich es also auch als Tatsache hinnehmen, daß der Vorschlag von der Verlobung zurückzutreten, in erster Linie von dir kam?«

»Er kam in erster Linie von mir, und wie ich bereits gesagt habe, fand er die Zustimmung und Billigung Ihres Sohnes.« Das Thermometer stieg an den roten Strich, das heißt, das Rot ging plötzlich in Scharlachrot über.

»Mein Sohn ist ein gemeiner Schuft!« schrie der wütende alte Mann. »Um meinet- und nicht um seinetwillen möchte ich Sie fragen, Miss Verinder, welche Klagen Sie gegen Mr. Godfrey Ablewhite vorzubringen haben?«

»Ihr Sohn fragte mich genau dasselbe. Ich konnte ihm nur eine einzige Antwort geben, genau wie Ihnen. Ich schlug vor, wir wollten uns gegenseitig freigeben, weil ich bei näherer Überlegung zu der Überzeugung gekommen war, daß es für ihn und auch für mich am besten ist, wenn ich ein übereiltes Versprechen zurücknehme und ihm seine Freiheit wiedergebe.«

»Was hat mein Sohn getan? Ich habe ein Recht, es zu wissen. Was hat mein Sohn getan?«

»Ich habe Ihnen bereits die einzige Erklärung gegeben, die ich Ihnen und Ihrem Sohne gegenüber für notwendig halte.«

»Es ist also, in dürren Worten gesagt, Ihr erhabener Wille, Miss Verinder, meinen Sohn abzuwimmeln.«

Einen Augenblick schwieg Rachel, dann faßte sie sich und entgegnete so keck wie immer: »Ich habe mich schlimmeren Mißdeutungen ausgesetzt als dieser und habe sie geduldig ertragen. Die Zeit ist vorbei, wo Sie mich durch solche Worte kränken konnten.« Dann fuhr sie müde, ohne sich an jemanden im besonderen zu wenden, fort und blickte dabei durch das nächstgelegene Fenster. »Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Mr. Ablewhite sprang auf und stieß seinen Stuhl so heftig zurück, daß er umstürzte und auf den Boden fiel.

»Aber ich habe noch etwas zu sagen.« Dabei schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, daß es knallte. »Ich habe zu sagen, daß ich dies als Beleidigung empfinde, wenn es auch mein Sohn nicht tut!«

Rachel fuhr auf und sah ihn plötzlich überrascht an.

»Beleidigung? Was meinen Sie denn?«

»Jawohl, Beleidigung! Ich weiß, Miss Verinder, warum Sie das meinem Sohn gegebene Versprechen brachen. Ich weiß es so genau, als ob Sie es mir offen eingestanden hätten. Ihr verdammter Familienstolz beleidigte Godfrey, wie er mich beleidigt hat, als ich Ihre Tante heiratete. Deren Familie, deren bettelarme Familie, wandte ihr den Rücken, weil sie einen ehrbaren Mann heiratete, der sich seinen Platz im Leben erkämpft und sein Vermögen selbst verdient hatte. Ich habe keine Vorfahren. Ich stamme nicht von einer Bande von Halsabschneidern ab, die von Raub und Mord lebten. Ich konnte keine Zeit nachweisen, wo die Ablewhites kein einziges Hemd besaßen und den eigenen Namen nicht schreiben konnten. Ha! Ha! Ich war den Herncastles nicht fein genug, als ich heiratete! Und nun, wo es zum Klappen kommt, ist mein Sohn nicht gut genug für Sie. Ich habe die ganze Zeit schon vermutet, daß Sie das Blut der Herncastles in sich haben, meine Dame. Ich habe es die ganze Zeit schon vermutet.«

»Ein sehr unwürdiger Verdacht«, bemerkte Mr. Bruff.

Ehe noch Mr. Ablewhite antworten konnte, sprach Rachel mit aufreizender Verachtung im Ton, indem sie sich an den Rechtsanwalt wandte:

»Es lohnt gewiß nicht, hiervon Notiz zu nehmen. Wenn er solcher Gedanken fähig ist, so mag er denken, was er will.«

Mr. Ablewhites Scharlachrot ging in Purpurrot über. Während dieser ganzen betrüblichen Unterhaltung hatte ich mehr als einmal den Ruf in mir vernommen, mich mit ein paar ernsten Worten einzumischen. Jetzt überwand ich alle Rücksichten der Zweckmäßigkeit. Der betrübliche Familienkrach, der sich im Augenblick vor mir abspielte, war erstaunlicherweise und wunderschön in der Korrespondenz, der Miss Jane Ann Stamper vorgesehen: ›Brief 1001‹ über Friede in den Familien. Ich erhob mich in meinem bescheidenen Winkel und öffnete mein herrliches Buch.

»Lieber Mr. Ablewhite, auf ein Wort!«

Er starrte mich in fassungslosem Entsetzen an. Ich hielt ihm mein herrliches Buch hin. Ich klopfte nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf die offene Seite. »Nicht meine Worte, oh, nehmen Sie nicht an, daß ich Ihre Aufmerksamkeit für meine armseligen Worte beanspruche! Manna in der Wüste, Mr. Ablewhite, Tau auf die verdorrte Erde, Worte des Trostes, der Weisheit, der Liebe! Das sind die gesegneten Worte der Miss Jane Ann Stamper.«

Hier blieb mir einen Augenblick der Atem weg. Ehe ich ihn wiederfand, brüllte dieses Ungeheuer in Menschengestalt wütend: »Miss Jane Ann Stamper mag zum – – –«

Ich kann ganz unmöglich das furchtbare Wort schreiben, das hier durch Gedankenstriche wiedergegeben wird, und ich schrie auf, als es über seine Lippen kam. Ich flog zu meinem Pompadour auf dem kleinen Tischchen. Ich schüttelte all meine Traktate heraus. Ich ergriff dasjenige über gemeines Fluchen, betitelt: ›Pst! Um Himmels Willen!‹ Ich gab es ihm mit einer tief erschrockenen, einladenden Gebärde. Er zerriß es und warf es mir über den Tisch zu. Alle sprangen aufgeregt auf und wußten nicht, was nun folgen würde. Sogleich setzte ich mich wieder in meinen Winkel. Unter sehr ähnlichen Umständen war Miss Jane Ann Stamper einmal an den Schultern gepackt und aus dem Zimmer geworfen worden. Ich wartete, von ihrem Geist inspiriert, auf eine Wiederholung ihres Leidensweges.

Aber nein, es sollte nicht sein. Er wandte sich statt dessen an seine Frau.

»Wer um alles in der Welt hat diese unverschämte Fanatikerin hier eingeladen?«

Ehe Tante Ablewhite ein Wort sagen konnte, antwortete Rachel bereits an ihrer Stelle: »Miss Clack weilt als mein Gast in diesem Hause.«

Diese Worte übten eine merkwürdige Wirkung auf Mr. Ablewhite aus. Sie brachten ihn plötzlich von hitziger Wut zu eiskalter Verachtung. »Sieh mal einer an! Miss Clack ist also hier als Ihr Gast in meinem Hause?«

Nun verlor Rachel ihre Selbstbeherrschung. Sie errötete, und ihre Augen blitzten zornig. Dann wandte sie sich an den Rechtsanwalt und fragte hochmütig, auf Mr. Ablewhite deutend: »Was meint er eigentlich?«

Zum dritten Mal mischte sich Mr. Bruff ein und sagte zu Mr. Ablewhite: »Sie scheinen zu vergessen, daß Sie dieses Haus als Miss Verinders Vormund mieteten, und daß Miss Verinder es benutzen sollte.«

»Einen Augenblick«, fuhr Mr. Ablewhite auf. »Ich habe noch ein Wort zu sagen, und ich hätte es schon längst tun sollen, wenn diese …« Er sah nach mir hin und überlegte, was für ein häßliches Wort wohl am besten auf mich paßte, »wenn diese wildgewordene alte Jungfer uns nicht unterbrochen hätte. Ich darf Sie davon unterrichten, daß, wenn mein Sohn nicht gut genug ist, Miss Verinders Mann zu werden, ich als sein Vater mich nicht für gut genug halten kann, Miss Verinders Vormund zu sein. Wollen Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß ich es ablehne, die mir durch Lady Verinders Testament angebotene Verantwortung zu übernehmen. In Ihrer juristischen Formulierung ausgedrückt heißt das, ich schlage aus! Dieses Haus ist notgedrungen unter meinem Namen gemietet worden, also übernehme ich die volle Verantwortung dafür. Es ist mein Haus. Ich kann es behalten oder vermieten, wie es mir gefällt. Ich möchte Miss Verinder nicht drängen; im Gegenteil, ich bitte sie, ihren Gast und sein Gepäck fortzuschaffen, ganz wann es ihr paßt.«

Er verbeugte sich tief und verließ das Zimmer.

So rächte sich Mr. Ablewhite an Rachel, weil sie sich weigerte, seinen Sohn zu heiraten. Im Augenblick, als sich die Tür geschlossen hatte, brachte uns alle Tante Ablewhite durch ein Phänomen zum Schweigen. Auf einmal wurde sie energisch genug, durch das Zimmer zu gehen!

»Meine Liebe«, sagte sie und nahm Rachel bei der Hand, »ich würde mich für meinen Mann schämen, wüßte ich. nicht, daß seine Reizbarkeit und nicht er selbst aus seinen Worten gesprochen hat.«

Dann wandte sich Mrs. Ablewhite mit einem weiteren Anfall von Energie, diesmal in ihren Blicken, zu der Ecke hin, in der ich saß. »Du mit deiner Boshaftigkeit hast ihn gereizt. Ich hoffe nur, daß ich dich und deine Traktate niemals wiedersehe.« Darauf gab sie Rachel einen Kuß und sagte: »Ich bitte dich im Namen meines Mannes um Verzeihung, mein Liebling. Was kann ich für dich tun?«

»Wenn ich an Stelle von Miss Verinder antworten darf«, sagte Mr. Bruff, »so möchte ich Sie bitten, Mrs. Ablewhite, Penelope mit Hut und Schal ihrer Herrin herunterzuschicken. Lassen Sie uns zehn Minuten allein, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich die Sache in Ordnung bringen werde, so daß Sie und auch Rachel zufrieden sind.« Die letzten Worte hatte er leiser gesprochen.

Ohne ein weiteres Wort verließ Tante Ablewhite das Zimmer. Mr. Bruff sah ihr nach. »Das Blut der Herncastles hat zugegebenermaßen seine Schattenseiten, aber an alten Familien ist doch etwas dran!« Mr. Bruff führte Rachel ans Fenster und sprach dort mit ihr: »Meine liebe, junge Freundin, Mr. Ablewhites Verhalten hat Sie natürlich erschüttert und überrascht. Sie haben völlig recht, mit dem, was Sie vorhin sagten. Er ist nicht wert, daß wir von ihm Notiz nehmen.«

Er hielt inne und sah wiederum nach meiner Ecke hin. Ich saß völlig unbeweglich, meine Traktate neben mir, Miss Jane Ann Stamper im Schoß.

»Wissen Sie, ich habe Mr. Ablewhite niemals leiden können, und ich veranlaßte Ihre Mutter, im Testament eine Klausel aufzunehmen, die unter bestimmten Umständen die Testamentsvollstrecker ermächtigt, sich mit mir wegen der Ernennung eines neuen Vormundes zu beraten. Ein solcher Umstand ist heute eingetreten, und ich hoffe, diese ganzen trockenen, geschäftlichen Dinge zum guten Ende zu bringen. Wollen Sie Mrs. Bruff die Ehre geben, ihr Gast zu sein? Und wollen Sie als ein Familienmitglied unter meinem Dach bleiben, bis wir klugen Leute die Köpfe zusammengesteckt haben und uns über den nächsten Schritt klar geworden sind?«

Ehe ich noch ein Wort einwerfen konnte, hatte Rachel bereits seine Einladung mit wärmstem Dank angenommen. Falls ich zugab, daß diese Vereinbarung Wirklichkeit wurde, falls sie erst die Schwelle von Mr. Bruffs Tür überschritt, – fahre wohl dann du schönste Hoffnung meines Lebens, die Hoffnung, mein verlorenes Schaf zur Herde zurückzuführen –! So sagte ich denn: »Halt! Halt! Sie müssen mich anhören, Mr. Bruff! Sie sind nicht mit ihr verwandt, aber ich bin es. Ich lade sie ein – Ich verlange von den Testamentsvollstreckern, daß sie mich zum Vormund ernennen. Rachel, liebste Rachel, ich biete dir mein bescheidenes Heim an. Komme mit dem nächsten Zug nach London und teile es mit mir!«

Mr. Bruff sagte garnichts. Rachel, ohne sich die Mühe zu geben, ihre Gefühle zu verbergen, sah mich mit verletzendem Erstaunen an. »Du bist sehr freundlich, Drusilla. Ich hoffe dich immer zu besuchen, wenn ich in London bin. Aber nun habe ich Mr. Bruffs Einladung angenommen, und ich halte es im Augenblick für das Beste, wenn Mr. Bruff weiter für mich sorgt.«

»Oh, sag' das nicht! Ich kann mich nicht von dir trennen, Rachel, ich kann mich nicht von dir trennen!«

Ich versuchte, sie in die Arme zu schließen, aber sie wich zurück. »Oh, Rachel, Rachel, hast du denn immer noch nicht gesehen, daß mein Herz sich danach sehnt, eine Christin aus dir zu machen. Hat dir denn keine innere Stimme gesagt, daß ich genau das gleiche für dich tun möchte, was ich für deine liebe Mutter tun wollte, als der Tod sie mir aus den Händen riß?« Rachel kam einen Schritt näher und sah mich mit einem eigenartigen Blick an. »Ich verstehe die Anspielung auf meine Mutter nicht. Miss Clack, wollen Sie die Freundlichkeit haben, deutlicher zu werden?«

Mr. Bruff versuchte, sie aus dem Zimmer zu drängen. »Es ist wohl besser, Sie verfolgen diesen Gesprächsgegenstand nicht weiter, meine Liebe. Es ist wohl besser, Miss Clack wird nicht deutlicher.«

Selbst einen Stock oder Stein hätte eine derartige Einmischung dazu bringen müssen, die Wahrheit zu bekennen. Ich schob Mr. Bruff unwillig beiseite und in feierlichen und passenden Worten legte ich dar, wie die wahre Lehre den unvorbereiteten Tod eines Menschen als ein schreckliches Unglück betrachtet.

Rachel fuhr mit einem Schrei des Entsetzens auf. »Mr. Bruff, kommen Sie fort! Um Gottes Willen gehen wir, ehe diese Person noch mehr reden kann. Ich ersticke, wenn ich weiter die gleiche Luft mit diesem Menschen atmen muß.«

Sie lief zur Tür. Im gleichen Augenblick kam ihre Zofe mit Hut und Schal, und in aller Hast zog sie sich an. »Pack meine Sachen und bringe sie zu Mr. Bruff.«

Ich versuchte mich ihr zu nähern; ich war erschüttert und betrübt, aber keineswegs beleidigt, das brauche ich nicht besonders zu betonen. Sie zog ihren Schleier herunter und riß mir den Schal aus der Hand. Dann stürzte sie hinaus und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Ich ertrug auch diese Beleidigung mit gewohnter Tapferkeit.

 

Von diesem Tage an habe ich Rachel nie wiedergesehen. Wenn ich sterbe, so wird sie in meinem Testament mit dem wertvollsten Buch aller Zeiten bedacht werden: »Leben, Briefe und Werke von Miss Jane Ann Stamper.«

 

Beitrag von Mathew Bruff, Anwalt von Grays Inn Square

Ich muß mit einer Szene am Bett meines verehrten Klienten und Freundes, des verstorbenen Sir John Verinder, beginnen. Er litt damals bereits an der Krankheit, die später zu seinem Tode führte, und schickte nach mir, damit ich Anweisungen über sein Testament entgegennehmen sollte. Als ich ins Zimmer kam, machte er gerade ein Nickerchen.

»Wie geht's, Mr. Bruff? Es wird nicht sehr lange dauern. Ich möchte weiterschlafen. Sind Sie bereit?« Er sah interessiert zu, während ich Feder, Tinte und Papier zusammensuchte. Dann sagte Sir John: »Ich hinterlasse alles meiner Frau. Das genügt.« Er drehte sich in den Kissen herum und schickte sich an, weiterzuschlafen. Ich mußte ihn noch einmal stören und fragte: »Soll ich es so verstehen, daß Sie das gesamte, bei Ihrem Tode vorhandene Vermögen, was immer es sei; ohne jede Einschränkung Lady Verinder hinterlassen?« »Ja, nur habe ich mich kürzer gefaßt. Warum können Sie das nicht auch tun und mich weiterschlafen lassen. ›Alles meiner Frau.‹ Das ist mein Testament.«

Lady Verinder rechtfertigte in jeder Weise das Vertrauen, das ihr Gatte in sie gesetzt hatte. Gleich nachdem sie Witwe geworden war, schickte sie nach mir und machte ihrerseits ein Testament, und ehe Sir John vierzehn Tage im Grabe gelegen hatte, war für die Zukunft seiner Tochter bereits sehr weitschauend und liebevoll gesorgt.

Dieses Testament blieb viele, viele Jahre in einem feuersicheren Kasten in meinem Büro. Erst im Sommer 1848 bot sich Gelegenheit, es wieder, allerdings unter sehr betrüblichen Umständen, anzuschauen. Zu jener Zeit sprachen die Ärzte das Urteil über die arme Lady Verinder, und es war buchstäblich ein Todesurteil. Ich war der erste, den sie von ihrer Lage in Kenntnis setzte. Sie wollte gern noch einmal ihr Testament mit mir durchsprechen. Anschließend erlaubte mir Lady Verinder, ihre Anweisungen in einem zweiten Testament niederzulegen. Dieses war, so weit Rachel Verinders geldliche Interessen in Frage kamen, eine genaue Wiederholung des ersten Testamentes. Wort für Wort.

Etwa drei Wochen später kam ich zufällig in das Büro meines Kollegen, der mich mit folgenden Worten überraschte: »Ich habe eine Neuigkeit für Sie. Was glauben Sie, was ich heute Morgen bei Doktor's Commons gehört habe? Irgend jemand hat nach dem Testament der Lady Verinder gefragt und es bereits geprüft!« Das waren allerdings Neuigkeiten! An dem Testament konnte nicht das Geringste angefochten werden, und mir fiel niemand ein, der an seiner Prüfung das leiseste Interesse haben könnte. Vielleicht füge ich hier besser ein, daß das Gesetz dem, der einen Schilling dafür bezahlt, gestattet, jedes Testament bei Doktor's Commons einzusehen. »Erfuhren Sie, wer nach dem Testament fragte?«

»Ja, der Schreiber sagte es mir sofort. Mr. Smalley hatte danach gefragt. Er sah es sich dann sehr genau an und schrieb etwas in sein Taschenbuch. Haben Sie eine Ahnung, was er damit wollte?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde es noch heute herausbekommen.« Und damit ging ich in mein Büro zurück. Skipp & Smalley war eine Firma, die in den letzten Jahren die Brosamen aufgepickt hatte, die von meinem Tisch fielen, in Gestalt gewisser Rechtsfälle, mit denen ich mich aus verschiedenen Gründen nicht befassen wollte.

»Wählen Sie, Sir«, sagte ich zu Mr. Smalley, »zwischen dem Risiko, das Geschäft Ihres Klienten oder das meine zu verlieren.«

Mr. Smalley traf seine Wahl, ohne zu zögern. Er lächelte resigniert und gab den Namen seines Klienten preis: Mr. Godfrey Ablewhite.

Mehr hatte ich nicht wissen wollen.

Darf ich hier mit ein paar Worten einfügen, daß Rachel Verinder lediglich eine Nutznießung an dem Vermögen hatte. Weder sie noch ihr Gatte, falls sie heiratete, konnte auch nur einen Penny erheben. Die Häuser in London und Yorkshire würden ihnen zur Verfügung stehen, und darüber hinaus würden sie ein nettes Einkommen haben – das war alles.

Kaum eine Woche war vergangen, seit ich zu meiner Überraschung und Betrübnis von Miss Verinders beabsichtigter Heirat gehört hatte. Die Frage war nun, würde Mr. Godfrey die Verlobung aufrecht erhalten, nach dem, was sein Anwalt für ihn herausgefunden hatte? Dies hing einzig und allein von seinen Geldverhältnissen ab, über die ich nicht Bescheid wußte. War seine Lage nicht verzweifelt, so konnte es sich für ihn wohl lohnen, Miss Verinder nur wegen ihres Einkommens zu heiraten. Mußte er andererseits zu bestimmter Zeit unbedingt einen hohen Betrag realisieren, dann würde Lady Verinders Testament seinen Zweck insofern erfüllen, als ihre Tochter davor bewahrt bliebe, in die Hände eines Mitgiftjägers zu fallen. Dann wäre es aber auch nicht notwendig, Miss Rachel durch sofortige Enthüllung der Wahrheit zu betrüben, während sie noch über den Tod ihrer Mutter in Trauer war. Schwiege ich dagegen im ersteren Fälle, so würde ich mich an einer Heirat mitschuldig machen, die ein Unglück für Rachels ganzes Leben bedeutete.

Meine Zweifel endeten damit, daß ich zu dem Hotel in London ging, wo Mrs. Ablewhite und Miss Verinder wohnten. Ich erfuhr, daß sie am folgenden Tage nach Brighton reisen wollten und daß ein unerwartetes Hindernis es Godfrey unmöglich machte, sie zu begleiten. Ich schlug sofort vor, an seiner Stelle mit den Damen zu fahren. Am nächsten Tage, als ich mit Rachel spazieren ging, bot sich mir dann die erwünschte Gelegenheit zur Aussprache.

»Wollen Sie einem alten Freund und Diener Ihrer Familie verzeihen, Miss Rachel, wenn er sich die Frage erlaubt, ob Ihr Herz an dieser Heirat hängt?«

»Ich heirate aus Verzweiflung, Mr. Bruff. Vielleicht finde ich eine Art schales Glück, welches mich mit meinem Leben aussöhnt!«

»Das kann aber kaum Mr. Ablewhites Einstellung sein! Er wenigstens muß doch an dem Gedanken dieser Heirat hängen.«

»Angeblich ja, und ich muß ihm wohl glauben. Er würde mich nach allem, was ich ihm gestanden habe, kaum heiraten, wenn er mich nicht gern hätte.«

Armes Ding! Der naheliegende Gedanke, ein Mann könne sie aus egoistischen und gewinnsüchtigen Motiven heiraten wollen, war ihr nie gekommen. Die Aufgabe, die ich mir vorgenommen hatte, schien schwieriger, als ich es mir vorgestellt hatte.

»Meinen altmodischen Ohren klingt es merkwürdig, wenn ich Sie von Ihrem zukünftigen Gatten reden höre, als wären Sie der Ehrlichkeit seiner Zuneigung nicht ganz sicher. Ist Ihnen 'ein Grund bewußt, weshalb Sie an ihm zweifeln sollten?«

Sie blieb stehen, löste ihren Arm aus dem meinen und sah mich forschend an.

»Mr. Bruff, Sie wollen mir etwas über Godfrey Ablewhite sagen. Sprechen Sie sich bitte aus.«

Während ich redete, kam kein Wort über ihre Lippen. Und sie schwieg auch, als ich fertig war. Ihr Kopf sank ein wenig herab. Sie war tief in Gedanken versunken – fast könnte ich sagen, begraben. Plötzlich blickte sie mich mit einem schwachen Abglanz ihres Lächelns aus glücklicheren Zeiten an, das unwiderstehlichste Lächeln, das ich je im Gesicht einer Frau gesehen habe.

»Viel verdanke ich bereits Ihrer Freundlichkeit, und nun fühle ich mich mehr als je tief in Ihrer Schuld. Hören Sie in London irgend welche Gerüchte über meine Heirat, so gebe ich Ihnen Vollmacht, ihnen sofort zu widersprechen.«

»Haben Sie sich entschlossen Ihre Verlobung zu lösen?«

»Können Sie nach dem, was Sie mir erzählten, daran zweifeln?« antwortete sie stolz.

»Meine liebe Miss Rachel, Sie sind sehr jung – und es wird vielleicht schwieriger sein, aus Ihrer augenblicklichen Lage herauszukommen, als Sie es vermuten. Haben Sie denn niemanden, natürlich eine Freundin, die Sie um Rat fragen könnten?«

»Niemanden.«

Dies war das erste Mal, daß ich einer jungen Dame raten mußte, wie sie von einer Verlobung freikommen könnte. Ich empfahl ihr, Mr. Godfrey unter vier Augen zu sagen, er habe verraten, daß Geldsucht das Motiv seiner Handlungsweise gewesen sei. Das wisse sie ganz sicher. Dann solle sie hinzufügen, daß ihre Heirat nach dieser Feststellung unmöglich sei. Sollte er versuchen, sich zu verteidigen oder jene Tatsache zu leugnen, so solle sie ihn an mich verweisen.

Sie schüttelte nur den Kopf. »Mr. Godfrey hat mich um meine Hand gebeten. Ich habe so viel von ihm gehalten, daß ich einwilligte. Dann kann ich ihm aber nun nicht ins Gesicht hinein sagen, er sei der verächtlichste aller Menschen.«

»Aber meine liebe Miss Rachel«, widersprach ich, »es ist doch ebenso unmöglich, ihm zu erklären, daß Sie die Verlobung lösen, ohne irgend einen Grund dafür anzugeben.«

»Ich werde ihm einfach sagen, ich hätte es mir überlegt, und es wäre sicher für uns beide das beste, wenn wir auseinandergingen.«

»Sonst nichts?«

»Sonst nichts.«

»Haben Sie sich auch überlegt, was er dann vielleicht antwortet?«

»Das ist mir gleichgültig.«

Man mußte ihr Zartgefühl und ihren Entschluß bewundern. Ich forderte sie trotzdem auf, an ihre eigene Lage zu denken. Ich erinnerte sie daran, daß sie sich der schrecklichsten Mißdeutung ihrer Beweggründe aussetzen würde.

»Sie können der öffentlichen Meinung nicht einfach trotzen, nur weil Ihre privaten Gefühle dies verlangen.«

»Das kann ich wohl. Ich habe es ja bereits getan.«

»Was meinen Sie damit?«

»Sie haben den Monddiamanten vergessen, Mr. Bruff. Habe ich in diesem Falle nicht bereits der öffentlichen Meinung getrotzt, nur weil ich meine persönlichen Gründe dafür hatte?«

Ihre Antwort ließ mich einen Augenblick verstummen. Notgedrungen mußte ich irgendeine Erklärung für ihr Verhalten beim Verlust des Monddiamanten in dem merkwürdigen Eingeständnis suchen, das ihr gerade entschlüpft war. Vielleicht wäre es mir gelungen, diese Erklärung zu finden, wenn ich noch jünger gewesen wäre. So aber gelang es mir nicht. Sie war starrköpfig, im Unrecht, interessant, bewundernswert und tief zu bemitleiden. Ich nahm ihr das Versprechen ab, mir zu schreiben, sobald sich etwas Neues ereignete, und dann fuhr ich sehr schweren Herzens nach London zu meiner Arbeit zurück.

Am Abend meiner Heimkehr überraschte mich ein Besuch des älteren Mr. Ablewhite. Er teilte mir mit, Godfrey habe am selben Tage den Laufpaß bekommen und sich damit zufrieden gegeben.

Bei meiner Beurteilung der Dinge bewies dies das folgende: Mr. Godfrey Ablewhite benötigte einen hohen Geldbetrag, und zwar zu einer bestimmten Zeit. Rachels Einkommen, das in jedem anderen Falle eine Hilfe bedeutet hätte, reichte dafür nicht aus. Wenn man einwendet, das sei nichts als eine Vermutung, so frage ich meinerseits, welche andere Theorie die Tatsache erklären kann, daß er eine Heirat aufgab, von der er für den Rest seines Lebens in Glanz und Gloria hätte leben können?

 

Etwa eine Woche, nachdem uns Miss Verinder verlassen hatte, kam einer meiner Schreiber in das Privatbüro. Er hielt eine Karte in der Hand und teilte mir mit, ein Herr wolle mich sprechen. Er sehe ein wenig auffallend aus und habe eine dunkle Hautfarbe, so daß alle im Büro ihn für einen Inder oder etwas Ähnliches hielten. Ich blickte auf die Karte. Ein ausländischer Name stand darauf und unter diesem eine Zeile in Englisch, deren ich mich sehr genau erinnere: ›Empfohlen durch Mr. Septimus Luker‹. Die Frechheit eines Mannes von Mr. Lukers Stellung, irgend jemand an mich zu empfehlen, überraschte mich derart, daß ich einen Augenblick schwieg und mich fragte, ob meine Augen nicht getrogen hätten. Dann aber kam mir der Gedanke, daß vielleicht der Mondstein etwas mit Mr. Lukers Botschaft zu tun habe. Zum Erstaunen meines Schreibers entschloß ich mich sofort, jenem Herrn eine Unterredung zu gewähren.

Im Augenblick, als mein geheimnisvoller Klient hereingeführt wurde, wußte ich, daß ich mich in Gesellschaft eines der drei Inder befände, wahrscheinlich des Anführers. Ich wies auf einen Stuhl und fragte nach seinem Begehr.

Zunächst entschuldigte er sich in ausgezeichnetem, gewähltem Englisch, daß er sich die Freiheit genommen habe, mich zu belästigen. Dann zog er ein kleines Paket hervor, dessen äußere Verpackung aus einem golddurchwirkten Tuch bestand. Er entfernte dieses und auch eine zweite Umhüllung aus Seide. Ein kleiner Kasten kam zum Vorschein, den er auf meinen Schreibtisch stellte. Ich sah, daß er wunderschön und reich mit Edelsteinen in Ebenholz eingelegt war.

»Ich kam hierher, Sir, um Sie zu bitten, mir etwas Geld zu leihen. Ich lasse Ihnen diesen Kasten als Sicherheit zurück, daß meine Schuld bezahlt werden wird.«

»Und Sie wenden sich auf Mr. Lukers Empfehlung an mich? Darf ich fragen, wie es kommt, daß Mr. Luker das Geld, welches Sie benötigen, nicht selber vorstreckt?«

»Mr. Luker teilte mir mit, Sir, er habe kein Geld zu verleihen.«

»Und deshalb empfahl er Sie an mich?«

Der Inder deutete auf die Karte. »Dort steht es geschrieben.« Eine kurze und sachgemäße Antwort. Eins war mir klar: hätte ich den Monddiamanten besessen, so hätte mich dieser orientalische Gentleman ohne jedes Zögern ermordet. Von dieser kleinen Schwäche abgesehen, muß ich aber ehrlich sagen, daß er der vollkommenste Klient war. Vielleicht hätte er keine Rücksicht auf mein Leben genommen, aber er nahm Rücksicht auf meine Zeit, und das hätte nach meiner langjährigen Erfahrung keiner meiner Landsleute getan.

»Es tut mir leid«, sagte ich, »daß Sie sich die Mühe machten, zu mir zu kommen. Mr. Luker ist falsch unterrichtet, wenn er Sie hierher schickt. Wie anderen Leuten meines Berufes vertraut man mir zwar Geld an, um es zu verleihen. Aber ich verleihe es nie an Fremde und niemals gegen eine Sicherheit, wie Sie sie mir bieten.«

Dieser fabelhafte Mörder erhob sich und schickte sich wahrhaftig an zu gehen, kaum daß ich ihm geantwortet hatte.

»Würde Ihre Nachsicht gegenüber einem Fremden eine weitere Frage entschuldigen?«

Nun war es an mir, mich zu verbeugen. Eine einzige Frage beim Abschied. Im Durchschnitt kam ich nicht unter fünfzig weg.

»Nehmen wir an, Sir, es wäre für Sie möglich und üblich gewesen, mir das Geld zu leihen; nach welcher Zeit wäre es dann für mich üblich, es zurückzuzahlen?«

»Nach dem in diesem Lande gebräuchlichen Verfahren wären Sie berechtigt gewesen, das Geld ein Jahr nach dem Zeitpunkt zurückzuzahlen, an dem es Ihnen ausgehändigt wurde.«

Der Inder verbeugte sich zum letzten Mal, diesmal ganz tief. Dann glitt er plötzlich geräuschlos und mit katzenartiger Geschwindigkeit aus dem Zimmer.

Sobald ich mich einigermaßen gefaßt hatte, kam ich hinsichtlich meines sonst unverständlichen Besuchers zu einem bestimmten Schluß. Sein Gesicht, seine Stimme und sein Benehmen waren so vollkommen beherrscht, daß sie jeder Deutung spotteten. Aber er hatte mir doch eine einzige Möglichkeit gegeben, hinter sein glattes Äußeres zu blicken. Nicht ein einziges Mal hatte er versucht, meine Worte in sich aufzunehmen, bis ich den Zeitpunkt erwähnte, zu dem es für den Schuldner üblich ist, frühestens eine Anleihe zurückzuzahlen. Als ich ihm vorhin diese Aufklärung gab, sah er mir zum ersten Male fest ins Gesicht. Hieraus zog ich den Schluß, daß er für diese Frage einen besonderen Grund hatte und also auch ein besonderes Interesse an meiner Antwort. Je gründlicher ich überlegte, was zwischen uns vorgegangen war, umso klarer wurde es mir, daß jener Kasten und die Bitte um eine Anleihe eine reine Formsache gewesen sei, die lediglich der Frage beim Abschied den Weg bereiten sollte. Inzwischen wurde mir ein Brief gebracht, der von keinem geringeren als Mr. Septimus Luker kam. Er bat mich um Verzeihung und versicherte mir, er werde die Angelegenheit befriedigend aufklären, falls ich ihm die Ehre antun würde, einer persönlichen Unterredung zuzustimmen. Am nächsten Tage ließ ich ihn in mein Büro kommen. Dort sagte er mir im wesentlichen folgendes: Am Tage zuvor hatte auch Mr. Luker den Besuch jenes vollendeten Gentlemans erhalten. Trotz seiner europäischen Verkleidung hatte ihn Mr. Luker sofort als den Anführer der drei Inder erkannt, die ihn früher schon belästigt hatten, als sie sich bei seinem Hause herumtrieben. Nach dieser aufregenden Entdeckung war er zu dem Entschluß gekommen, es müsse sich bei seinem Besuch um einen der drei Inder handeln, die ihm damals die Augen verbunden, ihn geknebelt und seiner Bankquittung beraubt hatten. Als Ergebnis wurde er vor Schreck fast gelähmt und glaubte felsenfest, sein letztes Stündlein sei gekommen.

Der Inder spielte die Rolle des völlig Fremden. Er förderte den kleinen Kasten zutage und erbat genau dasselbe, was er dann später von mir erbat. Als probatestes Mittel, ihn loszuwerden, hatte Mr. Luker sogleich erklärt, er habe kein Geld. Daraufhin hatte der Inder gebeten, ihm den besten und sichersten Mann zu nennen, an den er sich wegen der gewünschten Anleihe wenden könne. Mr. Luker hatte ihm meinen Namen genannt, aus dem einfachen Grunde, weil ihm in seinem grenzenlosen Schrecken kein anderer einfiel.

Beim Abschied hatte der Inder genau die gleiche Frage an ihn gestellt wie an mich und natürlich auch die gleiche Antwort erhalten. Was bedeutete das?

Als hervorragendsten Gast bei einem Essen, zu dem ich am gleichen Abend eingeladen war, traf ich Mr. Murthwaite. Als die Herren im Speisezimmer sich selbst überlassen waren, fand ich mich neben ihm.

Ich begann: »Wenn ich mich nicht irre, Mr. Murthwaite, waren Sie mit der verstorbenen Lady Verinder bekannt und an den merkwürdigen Begebenheiten interessiert, die mit dem Verlust des Monddiamanten endeten.«

Der bedeutende Forscher tat mir die Ehre an, mich zu fragen, wer ich eigentlich sei. Ich erzählte ihm von meiner beruflichen Verbindung mit der Familie Herncastle und vergaß dabei nicht die Stellung zu erwähnen, die ich in der Vergangenheit gegenüber dem Obersten und seinem Diamanten eingenommen hatte. Mr. Murthwaite drehte seinen Stuhl herum, sodaß er nun allen übrigen den Rücken zukehrte, und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem schlichten Mr. Bruff zu. »Haben Sie kürzlich etwas über die Inder gehört?«

»Ich habe begründeten Anlaß, zu vermuten, daß ich mich gestern mit einem von ihnen in meinem Büro unterhalten habe.« Es war nicht leicht, Mr. Murthwaite in Erstaunen zu setzen, aber diese Antwort brachte ihn außer Fassung. Ich beschrieb, was Mr. Luker und mir passiert war, und fuhr fort: »Es ist klar, daß die letzte Frage des Inders ihren besonderen Grund hatte. Warum war er so ängstlich besorgt, den Zeitpunkt zu erfahren, an dem in der Regel ein Schuldner sein Geld zurückzuzahlen hat?«

»Können Sie denn wirklich den Grund nicht erkennen, Mr. Bruff?«

»Ich schäme mich meiner Dummheit, aber ich kann es tatsächlich nicht.«

»Eine Frage. Wie steht es im Augenblick um das Komplott, sich des Mondsteins zu bemächtigen?«

»Das kann ich nicht sagen. Das indische Komplott ist für mich ein Rätsel.«

»Das indische Komplott, Mr. Bruff, kann für Sie nur ein Rätsel sein, weil Sie sich niemals ernstlich damit beschäftigt haben. Fragen wir uns zunächst einmal nach dem Alter der drei Inder. Sagen wir, sie sind noch nicht 40 Jahre alt. Dann ist es klar, daß die Inder, mit denen wir es zu tun haben, die Nachfolger jener drei Inder sein müssen, die dem Obersten in dieses Land gefolgt sind. Schön und gut. Sie haben aber auch die Organisation übernommen, die ihre Vorgänger in diesem Lande aufgezogen hatten. Keine Aufregung. Die Organisation ist ohne Zweifel nach unseren Begriffen eine sehr harmlose Angelegenheit.

Nachdem wir in dieser Weise den Boden vorbereitet haben, möchte ich eine Frage an Sie stellen. Ich nehme an, Sie werden Sie auf Grund Ihrer Erfahrung beantworten können. Welches Ereignis gab den Indern ihre erste Chance, sich des Diamanten zu bemächtigen?«

»Offensichtlich der Tod des Obersten Herncastle.«

»Richtig. Bis zu dieser Zeit ruhte der Mondstein sicher im Safe der Bank. Sie selbst haben das Testament des Obersten aufgesetzt, durch das er den Edelstein seiner Nichte vermachte. Das Testament wurde dann in üblicher Weise auf seine Echtheit geprüft. Als Anwalt müssen Sie wissen, welchen Weg daraufhin die Inder auf den Rat eines Engländers einschlagen würden.«

»Sie werden sich eine Abschrift des Testamentes bei Doktor's Commons verschaffen.«

»Sehr richtig. Irgend ein fragwürdiges Subjekt, ein Engländer, wird ihnen diese Abschrift besorgt haben, und aus ihr erfahren sie, daß der Monddiamant der Tochter Lady Verinders vermacht worden ist, und daß der alte Mr. Blake oder ein von ihm Bevollmächtigter ihr den Stein persönlich überbringen soll. Die einzige Schwierigkeit für sie besteht nur in der Frage, ob sie das Attentat auf den Diamanten ausführen sollen, wenn dieser von der Bank abgeholt wird, oder ob sie warten sollen, bis er nach Yorkshire in das Schloß der Lady Verinder gebracht worden ist. Einwandfrei war der zweite Weg sicherer. Darin liegt die Erklärung für das Erscheinen der Inder in Frizinghall, wo sie als Gaukler auftraten und abwarteten.«

»Warum aber haben sie während der ganzen Zeit bis zu Rachels Geburtstag kein Attentat auf Lady Verinders Haus versucht, wo sie den Diamanten vermuten mußten?«

Mr. Murthwaite lächelte. »Das ist die Frage, die am leichtesten zu beantworten ist. Zunächst einmal möchte ich Ihre Darstellung des Falles für durchaus zutreffend halten. Die Inder waren sich ohne Zweifel nicht im klaren, was Mr. Franklin mit dem Diamanten gemacht hatte; denn nun begehen sie ihren ersten Fehler in der Nacht, die Mr. Blakes Ankunft im Hause seiner Tante folgte.«

»Ihren ersten Fehler?«

»Ganz gewiß. Sie machen den Fehler, sich nachts von Gabriel Betteredge überraschen zu lassen, als sie bei der Terrasse herumlungern. Man muß ihnen aber zugute halten, daß sie das selbst als falschen Schritt erkannten. Denn nun kommen sie für Wochen dem Hause nicht mehr nahe, obwohl sie doch reichlich Zeit zur Verfügung haben.«

»Warum aber, Mr. Murthwaite? Das möchte ich ja gerade wissen.«

»Weil kein Inder sich jemals unnötig in Gefahr begibt, Mr. Bruff. Was wäre wohl nach Ihrer Ansicht der sicherste Weg für Leute in ihrer Lage? Sollen sie das Attentat ausführen, solange der Diamant im Besitz von Mr. Franklin Blake ist, der bereits gezeigt hatte, daß er sie durchschaut und ihnen überlegen ist? Oder aber sollen sie warten, bis der Diamant dem jungen Mädchen gehört, das ahnungslos und mit größtem Vergnügen den herrlichen Edelstein bei jeder sich bietenden Gelegenheit tragen wird? Die Inder erschienen jedenfalls an Miss Verinders Geburtstag beim Schloß. Sie wurden für ihre Geduld und die Richtigkeit ihrer Berechnungen belohnt, als sie den Monddiamanten am Ausschnitt ihres Kleides sahen. Im Verlauf des Abends hörte ich dann die Geschichte des Obersten und des Edelsteins. Ich war mir über die Gefahr im klaren, in der Mr. Franklin geschwebt hatte. Ebenso war ich felsenfest überzeugt, daß Miss Verinder eine noch größere Gefahr drohte. Ich empfahl also dringend, den Plan des Obersten auszuführen und die Identität des Edelsteins zu vernichten. Wie dann in jener Nacht sein geheimnisvolles Verschwinden meinen Rat gegenstandslos machte und den Anschlag der Hindus vereitelte, und wie am nächsten Tage deren weitere Tätigkeit dadurch lahm gelegt wurde, daß sie als Spitzbuben und Vagabunden ins Gefängnis gesteckt wurden, das alles wissen Sie so gut wie ich. Hier endet der erste Akt der Verschwörung.

Wann bot sich nun die zweite Gelegenheit für die Inder, sich des Diamanten zu bemächtigen? Das war – und ich kann es beweisen – während sie noch in Haft saßen. Ich hielt mich damals bei Freunden in Frizinghall auf. Ein oder zwei Tage, ehe die Inder, wie ich glaube an einem Montag, freigelassen werden sollten, brachte mir der Gefängnis-Direktor einen Brief. Er war in Lambeth abgestempelt, und die Adresse, wenn auch in richtigem Englisch, wich eigenartigerweise von der sonst üblichen Form ab. Bei der Öffnung stellte sich heraus, daß der Brief in einer fremden Sprache, die man mit Recht für hindustanisch hielt, geschrieben war. Nun sollte ich den Brief für die Gefängnisbehörde übersetzen. Ich schrieb mir das Original und die Übersetzung in mein Taschenbuch.«

Er gab es mir geöffnet. Zunächst sah ich die Briefadresse, die ohne jede Interpunktion, hintereinanderweg geschrieben war: ›An die drei Inder, die bei Frau Macann in Frizinghall in Yorkshire wohnen.‹ Dann folgten Hindu-Schriftzeichen und schließlich die englische Übersetzung in folgenden geheimnisvollen Worten:

»Im Namen des Herrschers der Nacht, der auf der Antilope reitet und dessen Arme die vier Enden der Welt umfassen.«

»Brüder, wendet das Gesicht nach Süden und kommt zu mir in die Straße des großen Lärms, die nach dem schlammigen Fluß führt«

»Dies ist der Grund: Meine eigenen Augen haben es gesehen.«

Mr. Murthwaite fuhr fort: »Ich kann Ihnen den ersten Satz erklären, und das Verhalten der Inder macht dann das übrige klar. Der Mondgott wird in der Hindu-Mythologie als vierarmige Gottheit, die auf einer Antilope reitet, dargestellt, und einer seiner Titel ist ›Herrscher der Nacht‹. Noch am Tage ihrer Freilassung fuhren damals die Inder mit dem ersten Zug nach London. Wir haben es in Frizinghall bedauert, daß ihr weiteres Verhalten nicht heimlich überwacht wurde. Aber nachdem Lady Verinder den Polizeibeamten entlassen und jede weitere Untersuchung über den Verlust des Diamanten untersagt hatte, konnte niemand mehr etwas in dieser Angelegenheit tun. Den Indern stand es frei, nach London zu gehen. Wann hörten wir dann das nächste Mal von ihnen, Mr. Bruff?«

»Sie belästigten Mr. Luker, indem sie sich bei seinem Hause in Lambeth herumtrieben.«

»Mr. Luker spielte damals im Verlauf seiner Aussage vor dem Richter auf einen ausländischen Arbeiter an, den er gerade wegen Verdacht eines versuchten Diebstahls entlassen hatte und von dem er es für möglich hielt, daß er mit jenen Indern zusammenarbeite. Wer jenen merkwürdigen Brief geschrieben hat und welchen von Mr. Lukers Schätzen der Arbeiter stehlen wollte, ist klar.«

Mr. Murthwaite fuhr fort: »Irgend jemand muß den Monddiamanten von Yorkshire nach London gebracht haben. Irgend jemand muß aber auch Geld darauf erhoben haben, oder er wäre nie in den Besitz von Mr. Luker gelangt. Hat man schon irgend etwas über den Betreffenden herausgefunden?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Es lief doch da eine Geschichte über Mr. Godfrey Ablewhite um, wenn ich mich nicht irre. Ich hörte, daß er ein hervorragender Philanthrop ist, und das spricht schon entschieden gegen ihn.«

In diesem Punkte stimmte ich mit Mr. Murthwaite durchaus überein. Gleichzeitig hielt ich es aber auch für nötig, ihn – ohne natürlich Miss Rachels Namen zu erwähnen – davon in Kenntnis zu setzen, daß Mr. Godfrey auf Grund untrüglicher Beweise von jedem Verdacht gereinigt war. Dafür verbürgte ich mich.

»Nun gut«, sagte Mr. Murthwaite ruhig, »wir wollen es der Zeit überlassen, diese Sache aufzuklären. Daß den Indern auch die zweite Möglichkeit mißglückte, sich des Diamanten zu bemächtigen, ist nach meiner Ansicht hauptsächlich der Schlauheit und Vorsicht Mr. Lukers zu danken, der nicht umsonst an der Spitze des einträglichen und uralten Gewerbes der Wucherei steht. Wo aber liegt nun die dritte Chance, Mr. Bruff, den Diamanten zu rauben? Und wann wird sie sich bieten?«

»Jetzt verstehe ich Sie«, rief ich aus. »Die Inder nehmen es genau wie wir als sicher an, daß der Monddiamant verpfändet ist. Natürlich wollen sie erfahren, wann das Pfand frühestens eingelöst werden kann; denn das ist zugleich der Zeitpunkt, in dem der Diamant den sicheren Schutz in der Bank verläßt.«

»Wann ist wohl der Diamant in die Hand des Geldverleihers gelangt?«

»Gegen Ende des letzten Juni, soweit ich errechnen kann.«

»Wir schreiben jetzt 48. Schön und gut. Wenn der Unbekannte, der den Mondstein versetzt hat, ihn nach einem Jahr auslösen kann, wird sich also der Edelstein Ende Juni 49 wieder in seinem Besitz befinden. Ich selbst werde dann tausende von Meilen fern von England und von jeder Nachricht sein. Für Sie aber könnte es sich lohnen, sich wenn möglich zu dieser Zeit in London aufzuhalten.

Ich glaube unter den wildesten Fanatikern in Zentralasien wäre ich sicherer, als in dem Augenblick, wo ich die Tür des Bankgebäudes mit dem Mondstein in der Tasche durchschreiten würde. Die Inder haben zweimal hintereinander ihr Spiel verloren, Mr. Bruff. Es ist meine felsenfeste Überzeugung, daß sie es beim dritten Male gewinnen werden.«

Ich notierte mir: ›Juni 49. Gegen Ende des Monats Neues von den Indern zu erwarten.‹

 

Beitrag von Mr. Franklin Blake

Im Frühjahr 49 durchwanderte ich den Fernen Osten und hatte kürzlich meine Reiseroute ändern müssen. Hierdurch wurde es erforderlich, daß ich einen meiner Diener zum englischen Konsulat einer bestimmten Stadt schicken mußte, um Briefe und Geldsendungen abzuholen. Endlich erschien er mit Geld und Briefen in meinem Zelt, in dem ich bereits eine Woche am Rand der Wüste kampierte und wartete. Er deutete auf einen Brief mit Trauerrand, dessen Adresse von Mr. Bruff geschrieben war, und sagte: »Ich fürchte, ich bringe schlechte Nachrichten, Sir.«

In diesem Brief stand, daß mein Vater gestorben sei und ich sein großes Vermögen geerbt hätte. Mr. Bruff forderte mich auf, unverzüglich nach England zurückzukehren. Bei Anbruch des nächsten Tages war ich auf der Heimfahrt in mein Vaterland.

Ich ging seinerzeit mit dem Entschluß ins Ausland, Rachel zu vergessen. Ich vergaß sie nie, aber ganz allmählich verlor der Schmerz die schlimmste Bitterkeit, als sich Zeit, Entfernung und neue Eindrücke zwischen Rachel und mich schoben.

Je näher ich dem Lande kam, in dem sie lebte, und damit der Aussicht, sie wiederzusehen, um so unwiderstehlicher begann erneut ihr Einfluß auf mich zu wirken. Bei der Rückkehr nach England erkundigte ich mich als erstes nach ihr, als Mr. Bruff und ich uns trafen. Selbstverständlich unterrichtete er mich über alles, nur über eins nicht. Mr. Bruff hielt es damals nicht für richtig, mich von den Beweggründen in Kenntnis zu setzen, die Rachel und Godfrey zu einer Auflösung der Verlobung veranlaßt hatten.

Jetzt stand sie unter der Obhut einer verwitweten Schwester des verstorbenen Sir John Verinder, einer Mrs. Merridew, die auch ihr Vormund war. Angeblich kamen sie gut miteinander aus und wohnten während der Saison am Portland-Place. Eine halbe Stunde später war ich auf dem Wege dorthin, ohne daß ich es gewagt hätte, Mr. Bruff dies zu sagen.

Der Bediente, der mir die Tür öffnete, ging mit meiner Karte nach oben, kam dann mit undurchdringlichem Gesicht herunter und sagte: »Miss Verinder ist ausgegangen.« Ich hinterließ, daß ich am gleichen Abend um sechs Uhr wiederkommen würde. Um sechs Uhr hieß es zum zweiten Male, Miss Verinder sei nicht zu Hause.

»Wurde irgend etwas für mich hinterlassen? Hat Miss Verinder meine Karte nicht erhalten?« Der Bediente bat um Verleihung, aber Miss Verinder hatte die Karte erhalten. Die Schlußfolgerung war unwiderleglich: Rachel wollte mich nicht sehen. Ich ließ mich bei Mrs. Merridew melden und um die Ehre einer persönlichen Unterredung bitten, wann immer es ihr passe.

Mrs. Merridew war bereit, mich sofort zu empfangen, und ich wurde in ein kleines, behagliches Wohnzimmer geführt, wo ich einer kleinen, gütigen Dame gegenüber stand, die sehr überrascht tat und mich aufrichtig bemitleidete. Doch war sie nicht in der Lage, mir irgendwelche Aufklärung zu geben oder bei Rachel in einer Angelegenheit vorstellig zu werden, die eine Frage des persönlichen Gefühls war.

Nun blieb noch die Möglichkeit, an Rachel zu schreiben. Mein Diener brachte am nächsten Tage den Brief hin und sollte unter allen Umständen auf Antwort warten.

Diese kam, buchstäblich in einem Satz: ›Miss Verinder bedauert, aber sie kann in keinen Briefwechsel mit Mr. Franklin Blake eintreten.‹

Ehe ich mich noch gefaßt hatte, kam Mr. Bruff aus geschäftlichen Gründen zu mir. Ich legte ihm den ganzen Fall dar, aber er war genau so wenig in der Lage, mir Klarheit zu verschaffen wie Mrs. Merridew. Ich fragte ihn, ob ich etwa bei Rachel verleumdet worden sei. Mr. Bruff wußte nichts davon. Hatte sie irgendwie über mich gesprochen, während sie unter Mr. Bruffs Schutz weilte? Niemals. Hatte sie während meiner langen Abwesenheit nicht wenigstens gefragt, ob ich noch am Leben oder gestorben sei? Keine derartige Frage war jemals über ihre Lippen gekommen.

Ich klingelte und wies meinen Diener an, meine Tasche zu packen und einen Fahrplan zu holen. Mr. Bruff fragte erstaunt, was ich vorhabe.

»Ich fahre mit dem nächsten Zug nach Yorkshire.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Mr. Bruff, wenn Zeit, Mühen und Geld es zuwege bringen können, so will ich meine Hand auf den Dieb legen, der den Diamanten gestohlen hat. Ich werde die Nachforschungen genau an dem Punkt fortsetzen, wo ich sie fallen ließ, und Schritt für Schritt werde ich sie bis in die Gegenwart fortsetzen. In der Beweiskette, wie ich sie zurückließ, fehlen Glieder, die Gabriel Betteredge besitzen muß, und zu Gabriel Betteredge gehe ich.«

An jenem Abend gegen Sonnenuntergang stand ich wieder auf der Terrasse, an die ich mich so gut erinnerte, und sah auf das friedliche, alte Schloß. Ich ging die gewohnten Wege und blickte durch das geöffnete Tor in den Hof. Dort saß er – der liebe, gute Freund jener Tage, die nie wiederkommen würden. Dort in seinem gewohnten Winkel, auf seinem alten Korbstuhl, die Pfeife im Mund und Robinson Crusoe im Schoß. Der alte Mann sprang auf, beschattete die müden Augen mit der Hand und sah forschend nach der Gestalt am Tore hin.

Ich hatte Tränen in den Augen und mußte einen Augenblick warten, ehe ich mir zutraute, ihn anzusprechen.

 

»Betteredge! Hat Robinson Crusoe dir heute Abend gesagt, du könntest Franklin Blake erwarten?«

»Beim guten Gott, Mr. Franklin! Genau das hat Robinson Crusoe getan. Hier ist das Stück, Mr. Franklin! Seite 156. ›Ich stand wie vom Donner gerührt oder als hätte ich eine Erscheinung gesehen.‹ Wenn das nicht heißen soll: Erwarte das plötzliche Erscheinen von Mr. Franklin, dann hat die englische Sprache ihren Sinn verloren! – Kommen Sie herein, Mr. Franklin«, fuhr er dann fort und öffnete mit einer wunderlichen, altmodischen Verbeugung die Tür.

»Später will ich dann fragen, was Sie hierher führt, aber zuerst muß ich es Ihnen einmal behaglich machen. Traurige Veränderungen, seit Sie weggingen! Das Haus ist abgeschlossen, die Dienstboten fort. Aber das schadet nichts. Ich werde Ihr Essen kochen, und die Gärtnersfrau wird Ihnen das Bett machen.«

Das Haus gehörte jetzt Rachel; konnte ich darin essen oder darin schlafen, nach dem was sich in London ereignet hatte? Das einfachste Gefühl der Selbstachtung verbot es mir, die Schwelle zu übertreten.

Ich nahm Betteredge am Arm und führte ihn in den Garten. Nun half es nichts. Ich mußte ihm die Wahrheit sagen. Zwischen seiner Anhänglichkeit an Rachel und an mich schwankend, war er über die Wendung, die die Dinge genommen hatten, schmerzlich bestürzt.

»Miss Rachel hat ihre Fehler, das habe ich nie in Abrede gestellt. Und sich dann und wann aufs hohe Pferd zu setzen, ist einer dieser Fehler. Sie hat es versucht, Sie unterzukriegen – und Sie, haben es sich gefallen lassen. Guter Gott, Mr. Franklin, kennen Sie die Frauen denn immer noch nicht besser?«

Ich konnte meinem guten Freunde nur versichern, daß selbst seine Überredungskünste in diesem Falle verschwendet waren. »Es ist ein herrlicher Abend«, sagte ich. »Ich werde nach Frizinghall gehen, im Hotel wohnen, und du mußt morgen früh kommen und mit mir frühstücken. Ich muß etwas mit dir besprechen.«

Betteredge schüttelte den Kopf. »Wenn Sie schon Ihren Willen haben wollen, so brauchen Sie wegen eines Bettes heute Abend nicht nach Frizinghall zu gehen. Das können Sie auch näher haben. Da liegt doch kaum zwei Meilen von hier die Farm, und Miss Rachels wegen können Sie dagegen nichts einwenden«, fügte der alte Mann schlau hinzu. »Der Farmer, Mr. Franklin, lebt auf seinem eigenen Grund und Boden.« Er führte mich bis zum Weg zur Farm und ging brummend und oft den Kopf schüttelnd, vor mir her.

»Nun kann nur noch ein Wunder geschehen«, sagte er über die Schulter. »Als nächstes werden Sie mir noch die sieben Schillinge und sechs Pence zurückzahlen, um die Sie mich als Junge angepumpt haben.«

Nach einer kleinen Pause fragte er dann gerade heraus: »Wenn es kein Geheimnis ist, Sir, so brenne ich darauf zu erfahren, was Sie so plötzlich hierhergeführt hat.«

»Was war das letzte Mal der Grund?«

»Der Monddiamant. Und was führt Sie jetzt her, Sir?«

»Wiederum der Monddiamant, Betteredge.«

Der alte Mann blieb plötzlich stehen und sah mich im grauen Zwielicht an, als ob er seinen eigenen Ohren nicht traute.

»Wenn das ein Witz sein soll, so fürchte ich, daß ich bei meinem Alter ein wenig blöde geworden bin. Ich verstehe ihn nicht.«

»Das ist kein Witz. Ich bin hierher gekommen, um die Nachforschungen wieder aufzunehmen, die man einstellte, als ich England verließ. Ich bin hierher gekommen, um das zu tun, was bisher noch niemand getan hat – herauszubekommen, wer den Diamanten stahl.«

»Lassen Sie den Diamanten in Frieden, Mr. Franklin! Dieser verdammte indische Edelstein hat jeden in die Irre geführt, der ihm zu nahe kam. Wie können Sie hoffen – entschuldigen Sie das harte Wort – Erfolg zu haben, wo selbst Sergeant Cuff die Sache verfahren hat? Sergeant Cuff!« wiederholte Betteredge und drohte ernst mit dem Finger. »Der größte Polizeibeamte Englands!«

»Ich bin entschlossen, mein lieber Freund. Auch Sergeant Cuff schreckt mich nicht – nebenbei, vielleicht möchte ich ihn gern früher oder später sprechen. Hast du kürzlich etwas von ihm gehört?«

»Der Sergeant wird Ihnen nicht helfen, Mr. Franklin.«

»Warum nicht?«

»Der große Cuff hat sich ins Privatleben zurückgezogen. Er besitzt nun ein kleines Häuschen in Dorking und steckt bis über die Ohren in der Rosenzucht. Er hat es mir selbst geschrieben, Mr. Franklin.«

»Schadet auch nichts, dann muß ich eben ohne Sergeant Cuffs Hilfe auskommen, und zuerst muß ich mich auf dich verlassen. Ich erwarte, daß du mir beim Sammeln der Beweisstückchen hilfst. Ich weiß, daß du das kannst.«

»Ich kann Ihnen den Weg zeigen, wie Sie vielleicht hinter das Geheimnis kommen, wenn Sie ihn dann nur allein weitergehen können. Erinnern Sie sich noch an unser armes Mädchen Rosanna Spearman?«

»Natürlich!«

»Haben Sie nicht immer geglaubt, sie wollte Ihnen wegen des Mondsteins irgendein Geständnis machen?«

»Jedenfalls konnte ich mir ihr seltsames Verhalten nicht anders erklären.«

»Ich kann Sie über jeden Zweifel in dieser Hinsicht beruhigen, Mr. Franklin. Rosanna Spearman hat einen versiegelten Brief hinterlassen, der an Sie gerichtet war.«

»Wo ist er?«

»Im Besitze einer Freundin in Cobbs' Hole. Als Sie das letzte Mal hier waren, müssen Sie von der hinkenden Lucy gehört haben – ein lahmes Mädchen mit einer Krücke –.«

»Laß uns zurückgehen, Betteredge, und ihn sofort holen!«

»Heute abend ist es schon zu spät, Sir. Kommen Sie morgen früh zu mir.«

 

Ohne auf mein Frühstück zu warten, nahm ich nur ein Stück Brot und ging los. Ich fand Betteredge, der bereits auf mich wartete, einen Stock in der Hand. So früh es auch noch war, fanden wir doch die Frau des Fischers bereits in der Küche. Betteredge nannte meinen Namen. Da kam aus einem Winkel eine Erscheinung auf mich zu. Ein Mädchen, kränklich, zerzaust, abgehärmt, mit bemerkenswert schönem Haar und zornigen Augen humpelte auf eine Krücke gestützt an den Tisch, an welchem ich saß, und betrachtete mich, als sei ich für sie ein Gegenstand des Interesses und zugleich des Entsetzens.

»Mr. Betteredge«, sagte sie und wandte kein Auge von mir, »sagen Sie bitte noch einmal seinen Namen.«

»Der Name dieses Herrn ist Mr. Franklin Blake«, antwortete Betteredge und legte eine starke Betonung auf das Wort »Herr!« Plötzlich verließ sie die Küche, Pump, – pump, die Treppe hinauf. Pump, pump durchs Zimmer über unserem Kopf. Pump, – pump, die Treppe herunter – und wieder stand die Erscheinung in der offenen Tür, hielt einen Brief in der Hand und winkte mich heraus.

Sie führte mich zu einigen Booten, wo wir außer Sicht- und Hörweite der wenigen Leute des Fischerdorfes waren. Dann blieb sie stehen und sah mich durchdringend an.

»Bleiben Sie stehen.«

Der Ausdruck ihres Gesichtes war nicht mißzuverstehen. Ich flößte ihr stärkstes Entsetzen und Abscheu ein.

»Ich glaube, Sie haben mir einen Brief zu geben. Ist es der in Ihrer Hand?« begann ich.

Das Mädchen hielt immer noch die Augen erbarmungslos auf mich geheftet. »Nein! Ich weiß nicht, was sie in seinem Gesicht gesehen hat. Unverständlich, was sie in seiner Stimme hörte.« Dann schrie sie wütend: »Nehmen Sie ihn! Ich habe Sie noch nie gesehen, und der allmächtige Gott verhüte, daß ich Sie je wiedersehe.« Mit diesen Worten hinkte sie, so schnell sie konnte, davon. Die Adresse des Briefes hieß: »Für Mr. Franklin Blake, ihm persönlich durch Lucy Yolland zu übergeben.« Ich erbrach das Siegel. Der Umschlag enthielt einen Brief, und in diesem lag ein Stück Papier. Zunächst las ich den Brief:

»Sir, wenn Sie wissen wollen, was mein Verhalten bedeutete, als Sie im Hause meiner Herrin, der Lady Verinder, waren, so tun Sie, was in dem beiliegenden Merkblatt gesagt ist – und tun Sie es, wenn niemand Ihnen zuschaut. Ihre ergebene Dienerin

Rosanna Spearman.«

Nun wendete ich mich dem Blatt Papier zu. Hier ist Wort für Wort die genaue Abschrift:

»Merkblatt: Beim Gezeitenwechsel zu den ›Zitternden Sänden‹ gehen. Auf der Südspitze so lange weitergehen, bis die dort stehende Bake und der Flaggenstock der Küstenwachstation oberhalb Cobbs' Hole in einer Linie sind. Auf den Felsen einen Stock oder irgend etwas Gerades genau in die Verlängerung der Linie von Bake und Flaggenstock legen, um die genaue Richtung zu bekommen. Am Stock entlang zwischen dem Seetang nach der Kette suchen, dabei an dem Stockende beginnen, das auf die Bake weist. Wenn die Kette gefunden ist, mit der Hand an ihr entlangtasten bis dorthin, wo sie über die Felskante in den Flugsand hineinführt. Dann an der Kette ziehen.«

Gerade als ich mit dem Lesen fertig war, hörte ich die Stimme Betteredges hinter mir. Der Erfinder des Detektivfiebers war der unwiderstehlichen Krankheit restlos erlegen.

»Ich kann es nicht länger aushalten, Mr. Franklin. Was steht in dem Brief? Um Gottes Willen, Sir, sagen Sie doch, was steht in dem Brief?«

Ich gab ihm den Brief und das Merkblatt. Ersteren las er ohne großes Interesse, aber das Merkblatt machte auf ihn einen starken Eindruck.

»Der Sergeant hat mir einmal gesagt, sie habe sicher ein Merkblatt für das Versteck, und hier ist es nun. Gott bewahre uns, Mr. Franklin. Hier ist das Geheimnis, das jeden einzelnen, von Mr. Cuff angefangen, irreführte. Es ist gerade Ebbe. Wie lange mag es bis zum Gezeitenwechsel dauern?«

Er sah auf und bemerkte einen Burschen, der seine Netze flickte. So laut er konnte, schrie er: »Tommie Bright, wann wechselt die Flut?«

»In einer Stunde.«

Wir sahen beide auf die Uhr, dann sagte Betteredge: »Wir können die Küste entlanggehen, Mr. Franklin, und auf diesem Wege zu dem Flugsand gelangen. Dann haben wir immer noch viel Zeit übrig. Was meinen Sie dazu, Sir?«

»Laß uns gehen.«

Mit Betteredges Hilfe stand ich bald an der richtigen Stelle. Bake und der Flaggenstock waren in einer Linie. Wir richteten uns nach dem Merkblatt und legten meinen Stock, so genau es ging, in die gewünschte Richtung auf die rauhe Oberfläche des Felsens. Wir blickten noch einmal auf die Uhr. Es fehlten noch fast zwanzig Minuten, bis die Flut einsetzen würde. Ich schlug vor, am Strande zu warten. Gerade wollte ich mich niedersetzen, als ich zu meiner großen Überraschung bemerkte, daß Betteredge fortgehen wollte.

»Warum willst du gehen?«

»Lesen Sie noch einmal den Brief, Sir, dann werden Sie es verstehen. Es kommt mich hart genug an, Sie gerade jetzt zu verlassen. Aber das arme Wesen ist einen entsetzlichen Tod gestorben, und ich fühle es wie eine Verpflichtung, Mr. Franklin, ihren seltsamen Wunsch zu erfüllen. Außerdem«, fügte er vertraulich hinzu, »steht ja nichts im Brief darüber, daß Sie das Geheimnis nicht später verraten dürfen. Ich werde durch die Kiefernpflanzung wandern und warten, bis Sie mich abholen. Aber halten Sie sich nicht länger auf als nötig, Sir. Das Detektivfieber ist unter den augenblicklichen Umständen eine Krankheit, mit der man nicht leicht fertig wird.«

Das Sonnenlicht ergoß seine reine Schönheit über die ganze Landschaft. Die herrliche, frische Luft allein schon ließ Leben und Atmen wie einen Luxus erscheinen. Selbst die einsame, kleine Bucht begrüßte den Morgen mit einem Anflug von Liebreiz. Die nasse Oberfläche des Flugsandes glitzerte im goldenen Schein und verbarg das Grausige der trügerisch-braunen Oberfläche unter einem vorbeihuschenden Lächeln. Es war der schönste Tag, seitdem ich nach England zurückgekehrt war. Die Flut lief auf, ehe meine Zigarre beendet war. Ich sah, wie sich der Sand zu heben begann und wie das furchtbare Erzittern über ihn hinlief. Als ob sich in den unergründlichen Tiefen ein Geist des Schreckens bewege. Ich warf die Zigarre weg und ging nach dem Felsen zurück. Die Anweisung im Merkblatt befahl mir, an der durch den Stock markierten Linie entlang zu fühlen, wobei ich an dem Ende begann, das der Bake am nächsten war. In dieser Weise tastete ich etwas weiter als die Hälfte des Stockes ab, ohne auf etwas anderes zu treffen als auf Felszacken. Dann jedoch nach weiteren vier oder fünf Zentimetern wurde meine Geduld belohnt. In einem schmalen Einschnitt, den ich gerade eben mit meinem Zeigefinger erreichen konnte, fühlte ich die Kette. Ich versuchte tastend ihr in Richtung auf den Flugsand zu folgen, kam jedoch nicht weiter, weil sich dicker Seetang in der Einkerbung festgesetzt hatte. Es war ebenso unmöglich, das Büschel Seetang herauszureißen wie meine Hand hindurchzuzwängen. Ich beschloß also, die Suche nach der Kette auf eigene Faust fortzusetzen. So lotete ich dann unmittelbar unter dem Felsen in der Annahme, daß ich die verlorengegangene Spur der Kette dort wiederfinden würde, wo sie in den Sand hineinführte. Ich nahm den Stock auf und kniete am Rand der Südspitze nieder.

In dieser Stellung war mein Gesicht nur wenige Fuß über der Oberfläche des Flugsandes. Das Bild, das ich jetzt so dicht vor mir sah, erschütterte einen Augenblick lang meine Fassung. Der Sand erzitterte immer noch gelegentlich in furchterregender Weise. Die grauenhafte Vorstellung, das tote Mädchen könne mir an der Stelle seines Selbstmordes erscheinen, um mir bei der Suche zu helfen; eine unaussprechliche Beklemmung, Rosanna plötzlich über der bebenden Oberfläche des Sandes erscheinen und auf die bewußte Stelle deuten zu sehen, zwang sich mir auf und jagte mir im warmen Sonnenlicht einen kalten Schauer über den Rücken. Ich gebe zu, ich schloß für einen Augenblick die Augen, als sich die Spitze meines Stockes in den Sand bohrte. Aber ehe er noch weiter als ein paar Zoll eingedrungen war, hatte ich mich von dem abergläubischen Schrecken freigemacht. Ich bebte von Kopf bis Fuß vor Aufregung und lotete blindlings. Schon bei diesem ersten Versuch hatte ich Glück. Der Stock traf auf die Kette. Ohne jede Schwierigkeit zog ich sie heraus und fand an ihrem Ende den Zinnkasten. Es gelang mir mit äußerster Anstrengung, den Deckel herunterzureißen. Im Innern sah ich weißes Leinen. Mit diesem zusammen zog ich einen zerknüllten Brief heraus. Er war an mich adressiert. Ich steckte den Brief in die Tasche und trug das Leinen auf den trockenen Teil des Strandes, faltete es auseinander und glättete es. Kein Zweifel, es war ein Kleidungsstück – ein Nachthemd. Die nach oben gekehrte Seite zeigte unzählige Kniffe und Falten, sonst nichts Besonderes. Dann betrachtete ich die Unterseite und entdeckte sofort den Farbfleck von der Tür in Rachels Boudoir.

Wie gebannt blickte ich auf die Stelle, und meine Gedanken gingen in die Vergangenheit zurück. Wort für Wort, als stände Sergeant Cuff wieder neben mir, fiel mir ein, was er damals gesagt hatte, als er seine unwiderlegbaren Schlußfolgerungen aus der beschädigten Farbe an der Tür zog:

›Finden Sie heraus, ob irgend ein Kleidungsstück mit dem Farbfleck darauf in diesem Hause ist. Finden Sie heraus, wem dieses Kleidungsstück gehört. Finden Sie heraus, wie der Betreffende es rechtfertigen kann, daß er zwischen Mitternacht und drei im Zimmer gewesen ist und die Farbe verschmiert hat. Kann er keine zufriedenstellende Auskunft geben, so brauchen Sie nicht mehr weit nach der Hand zu suchen, die den Monddiamanten genommen hat!‹

Ich hatte den Fleck auf dem Nachthemd entdeckt. Wem aber gehörte das Nachthemd?

Mein erster Gedanke war, den Brief in meiner Tasche zu befragen. Als ich ihn gerade wieder hervorholen wollte, fiel mir ein, es gäbe ja einen kürzeren Weg, die Wahrheit herauszufinden. Das Nachthemd selbst würde sie mir enthüllen. Denn es war wahrscheinlich mit dem Namen des Besitzers gezeichnet. Ich hob es auf und suchte nach dieser Zeichnung, fand sie und las: – – – MEINEN EIGENEN NAMEN!

Ich schaute auf. Die Sonne schien, das Wasser in der Bucht glitzerte. Der alte Betteredge kam aus den Dünen. Wieder blickte ich auf die Buchstaben. Ganz deutlich standen sie da vor mir: Franklin Blake!

›Wenn Zeit, Mühen und Geld es schaffen können, so werde ich die Hand auf den Dieb legen, der den Monddiamanten gestohlen hat.‹ Mit diesen Worten hatte ich London verlassen. Ich war zu dem Geheimnis vorgedrungen, das der Flugsand jedem anderen Lebewesen verborgen hatte. Der unwiderlegliche Beweis des Farbfleckes hatte es mir enthüllt:

ICH SELBST WAR DER DIEB.

Wir saßen in Betteredges kleinem Zimmer. Mir fiel der Brief in meiner Tasche ein. Ich nahm ihn heraus und öffnete ihn. Er bestand aus vielen, eng beschriebenen Seiten. Ungeduldig blickte ich nach der Unterschrift. Rosanna Spearman. Und dann las ich folgendes:

»Sir!

Ich muß Ihnen etwas gestehen. Ein Geständnis, das großes Unheil anrichtet, kann bisweilen in sehr wenigen Worten gemacht werden. Für das meine brauche ich nur drei: Ich liebe Sie.«

Der Brief fiel mir aus der Hand. Ich sah Betteredge an. »Um Himmels willen, was bedeutet das?«

Er schien vor einer Antwort zurückzuschrecken. So fuhr ich im Lesen des Briefes fort.

 

»Ich werde nicht mehr unter den Lebenden weilen, Sir, wenn Sie meinen Brief finden, und diese Tatsache gibt mir Mut. Nicht einmal mein Grab wird von mir reden. So kann ich die Wahrheit bekennen; denn der Flugsand wartet, um mich zu verbergen, wenn ich fertig geschrieben habe.

Ich will nicht lange von mir oder dem Leben berichten, das ich geführt habe, ehe ich in das Schloß meiner Lady kam. Sie brachte mich aus einer Besserungsanstalt dorthin. Zuvor war ich in einem Gefängnis gewesen, und in dieses kam ich, weil ich eine Diebin war. Eine Diebin war ich, weil meine Mutter auf die Straße ging, als ich noch ganz klein war. Das mußte meine Mutter tun; denn der Mann, der mein Vater war, verließ sie. Es ist nicht nötig, eine derartig alltägliche Geschichte im einzelnen zu berichten. Sie steht ja oft genug in den Zeitungen.

Als ich Sie an jenem Morgen am Strande erblickte, erwachte in mir die Ahnung von einem glücklichen Leben, das ich nie geführt hatte. Lachen Sie bitte nicht. Oh, wenn Sie nur fühlen könnten, wie ernst mir das alles ist.

Ich verliebte mich dann immer mehr in Sie. Hätten Sie nur geahnt, wie ich nachts unglücklich und gekränkt weinte, weil Sie mich überhaupt nicht bemerkten. Vielleicht hätten Sie Mitleid mit mir gehabt und mir hin und wieder einen Blick geschenkt, der für mich Leben bedeutet hätte.

Vielleicht war es kein sehr freundlicher Blick gewesen, hätten Sie geahnt, wie sehr ich Miss Rachel haßte. Ich glaube, ich habe herausgefunden, daß Sie sie liebten, ehe Sie selbst es wußten. Vor allem aber möchte ich Ihnen das eine sagen. Mein Leben war garnicht so sehr schwer zu ertragen, während ich noch eine Diebin war. Erst als man mich in der Besserungsanstalt gelehrt hatte, meine eigene Erniedrigung zu empfinden und zu versuchen, ein besserer Mensch zu werden, erst da wurden die Tage mir lang und qualvoll. Da zwangen sich mir Gedanken an die Zukunft auf. Nun empfand ich auf einmal, welch' schwere Selbstvorwürfe anständige Menschen in unsereinem auslösen können, nur weil sie anständig sind. Ein herzzerreißendes Gefühl der Einsamkeit verließ mich nie, wohin ich auch ging, was ich auch tat, wen ich auch traf.

Sie werden sich erinnern, daß Mr. Seegrave die Schlafzimmer der Mädchen bewachen ließ, und daß alle wütend nach oben liefen, um zu erfahren, worauf er mit dieser Beleidigung hinauswollte. Wir fanden den Inspektor in Miss Rachels Zimmer. Er deutete auf die Stelle an der frisch gemalten Tür und behauptete, unsere Röcke hätten das Unheil angerichtet. Dann schickte er uns alle wieder hinunter.

Einen Augenblick blieb ich allein auf dem Treppenabsatz stehen, um festzustellen, ob ich etwa zufällig den Fleck an meinem Kleide hätte. Penelope Betteredge, die einzige Kollegin, mit der ich mich gut verstand, kam vorbei und sah, was ich tat.

›Du brauchst dir keine Mühe zu geben, Rosanna‹, sagte sie. ›Die Farbe an Miss Rachels Tür ist schon seit Stunden trocken?‹

›Woher weißt du das?‹

›Gestern morgen war ich die ganze Zeit mit Miss Rachel und Mr. Franklin zusammen und mischte die Farbe, während sie die Tür fertig malten. Ich hörte, wie Miss Rachel fragte, ob wohl die Tür bei einer Besichtigung durch die Geburtstagsgäste am Abend rechtzeitig trocken sein würde. Mr. Franklin schüttelte den Kopf und meinte, nicht vor zwölf Stunden. Das war lange nach dem Mittagessen, und drei Uhr wurde es, ehe sie fertig waren. Und was rechnest du nun aus, Rosanna?‹

Ich berechnete, daß die Tür um drei Uhr früh trocken gewesen sein mußte.

Dann fuhr Penelope fort: ›Es ist auch niemand von den Gästen an die Tür gekommen. Denn ich habe Miss Rachel um zwölf Uhr heute nacht verlassen, sah mir bei dieser Gelegenheit noch einmal die Tür an, und es war alles in Ordnung.‹

›Solltest du das nicht Mr. Seegrave sagen, Penelope?‹

›Mit keinem Wort würde ich Mr. Seegrave helfen, was man mir auch dafür bezahlen würde!‹

Sie ging an ihre Arbeit zurück und ich an die meine.

Ich hatte Ihr Bett zu machen, Sir, und Ihr Zimmer in Ordnung zu bringen. Das war für mich die glücklichste Stunde am ganzen Tag. Wer auch seither diese Arbeit für Sie getan hat, bestimmt hat niemand Ihre Kleider so sauber zusammengefaltet wie ich. Sie aber merkten es nie, so wenig wie Sie mich bemerkten. Nun gut. An jenem Morgen ging ich in Ihr Zimmer an die Arbeit. Das Nachthemd lag über das Bett geworfen. Ich wollte es zusammenlegen – da sah ich den Farbfleck von Miss Rachels Tür darauf.

Ich war so aufgeregt über diese Entdeckung, daß ich mit dem Nachthemd in der Hand zur Hintertreppe lief und mich in meinem Zimmer einschloß, um es dort zu betrachten, wo niemand hinkommen und mich stören konnte.

Sobald ich wieder in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, erinnerte ich mich an die Unterhaltung mit Penelope und sagte mir: ›Hier ist der Beweis, daß Mr. Blake zwischen Mitternacht und drei Uhr früh in Miss Rachels Wohnzimmer war.‹ Ich verwarf einen Verdacht, der in mir aufstieg.

Wären Sie zu jener Nachtstunde in Miss Verinders Zimmer gewesen, und zwar mit deren Einverständnis, und wären Sie selbst zu unaufmerksam gewesen, um sich vor der frisch bemalten Tür in acht zu nehmen, so hätte Miss Rachel Sie sicher daran erinnert und nie geduldet, daß Sie einen derartigen Beweis gegen sie selbst mit sich nähmen. Und doch muß ich zugeben, daß ich noch nicht beruhigt darüber war, die Unrichtigkeit meines Verdachtes ausreichend bewiesen zu haben. Wie Sie sich erinnern werden, gab ich zu, daß ich Miss Rachel haßte. Denken Sie also bitte daran, daß in alledem ein klein wenig von jenem Haß steckte.

Nachdem ich mich entschlossen hatte, das Nachthemd zu behalten und abzuwarten, wozu ich es in Zukunft noch gebrauchen könnte, um meiner Liebe oder meiner Rache dienlich zu sein, galt es zu überlegen, wo ich es ohne Gefahr der Entdeckung aufbewahren könnte. Ich sah ferner eine Möglichkeit, ein neues Hemd, das dem alten glich, anzufertigen, ehe am Sonnabend die Waschfrau mit dem Verzeichnis ins Haus kam.

Zunächst einmal ging ich in Ihr Schlafzimmer zurück.

Es folgte die Durchsuchung unserer Habseligkeiten und dann der überraschendste Zwischenfall des Tages – jedenfalls für mich – seit ich den Farbfleck auf Ihrem Nachthemd entdeckt hatte. Dieser Zwischenfall ergab sich aus der zweiten Befragung Penelopes durch Inspektor Seegrave.

Miss Betteredge war außer sich vor Wut über die Art, wie Mr. Seegrave sie behandelt hatte. Er hatte ganz unmißverständlich angedeutet, daß er sie für eine Diebin hielt. Wir anderen waren alle gleichermaßen hierüber erstaunt und fragten sie nach dem Grund.

›Weil sich der Diamant in Miss Rachel Verinders Wohnzimmer befand‹, entgegnete Penelope, ›und weil ich die letzte war, die sich in der Nacht dort aufhielt.‹

›Wenn die Person, die sich in jenem Zimmer als letzte aufhielt, auch die verdächtige war, so hat Mr. Franklin Blake und nicht Penelope den Diebstahl begangen‹, dachte ich bei mir selbst. Sie waren also auf mein Niveau herabgestiegen und hatten mir dadurch die Möglichkeit gegeben, Sie fürs ganze Leben vor Entdeckung und Schande zu bewahren. Nun war mir auch mit einem Mal klar, warum gerade Sie sich eifriger als jeder andere gezeigt hatten, die Polizei zuzuziehen. Sie wollten dadurch uns alle täuschen.

Ich brachte mein Haar in Ordnung und machte mich so nett zurecht wie ich konnte. Dann ging ich kühn in die Bibliothek, wo Sie, wie ich wußte, Briefe schrieben.

Wann Sie auch diese Zeilen lesen, Sie werden sich gewiß daran erinnern, was damals geschah.

Es kam mir so vor, als könnten diesmal ein paar weitere Worte zwischen uns die Wahrheit an den Tag bringen. Aber Mr. Betteredge verdarb alles, indem er sich der Tür näherte. Ich war zornig und enttäuscht, aber nicht ganz hoffnungslos. Ich dachte mir, bei der nächsten Gelegenheit würde ich schon dafür sorgen, daß Mr. Betteredge nicht dazwischen käme.

Am Freitag morgen, einige Stunden ehe Sergeant Cuff ins Haus kam, war das neue Nachthemd fertig, ausgewrungen, getrocknet, geplättet, gezeichnet und in Ihrem Schubfach genau so zusammengefaltet, wie die Waschfrau es mit allen anderen Stücken tat.

Dann kam Sergeant Cuff und damit die nächste, große Überraschung, als bekannt wurde, was er über die verschmierte Stelle an der Tür dachte. Ich hatte an Ihre Schuld geglaubt, weil ich wollte, daß Sie schuldig wären. Nun war der Sergeant bezüglich des Nachthemdes auf einem ganz anderen Weg zum gleichen Schluß gekommen, und ich besaß das Kleidungsstück, das den einzigen Schuldbeweis gegen Sie darstellte. Keine lebende Seele wußte davon, nicht einmal Sie selbst.«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Betteredge war durch die Unterbrechung überrascht und verärgert. Gereizt rief er: »Herein!«

Die Tür öffnete sich, und leise trat ein Mann ins Zimmer, der merkwürdiger aussah, als irgend jemand, dem ich bisher begegnet war. In Gestalt und Bewegung wirkte er noch jung. Im Gesicht aber und im Vergleich zu Betteredge sah er älter aus. Die Gesichtsfarbe war so dunkel wie die eines Zigeuners. Seine fleischlosen Wangen bildeten tiefe Löcher, über denen sich die Knochen wie ein Wetterdach wölbten. Die Nase hatte die feine Form und Modellierung, wie man sie so oft unter den alten Völkern des Ostens findet und so selten unter den neuen Rassen des Westens. Die Stirn war hoch und ebenmäßig, und das ganze Gesicht von unzähligen Falten und Fältchen durchzogen. Aus diesem seltsamen Antlitz blickten sanfte, braune Augen, deren träumerischer, fast trauriger Ausdruck dadurch eindrucksvoller wurde, daß sie tief in ihren Höhlen lagen. Dazu kam dichtes, krauses Haar, das durch irgendeine Laune der Natur an den unmöglichsten Stellen und in der eigenartigsten Weise seine Farbe verloren hatte. Auf dem Scheitel war es noch immer tiefschwarz, an den Schläfen dagegen schneeweiß, und keinerlei Überleitung grauen Haares milderte diesen erstaunlichen Gegensatz. Außerdem verlief das weiße Haar an einer Stelle ins schwarze, und an einer anderen war es umgekehrt.

Ich betrachtete den Mann mit einer Neugier, die ich einfach nicht beherrschen konnte. Aber seine sanften, braunen Augen erwiderten freundlich meinen Blick.

»Ich bitte um Verzeihung. Ich hatte keine Ahnung, daß Mr. Betteredge beschäftigt war.«

Er nahm einen Zettel aus der Tasche und gab ihn dem alten Mann. »Die Liste für die nächste Woche«, sagte er und verließ den Raum so leise, wie er ihn betreten hatte.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Mr. Candys Assistent. Nebenbei gesagt, Mr. Franklin, es wird Ihnen leid tun, zu erfahren, daß der kleine Doktor sich nie von der Krankheit erholt hat, die er sich bei der Heimfahrt von jenem Geburtstagsfest zuzog. An sich geht es ihm gesundheitlich ganz gut, aber durch das Fieber verlor er sein Gedächtnis und hat es seither nur zum Teil wiedergefunden. Nun fällt die ganze Arbeit seinem Gehilfen zu.

»Was wollte er mit dem Zettel?«

»Es ist die Liste der Kranken in der Nachbarschaft, Sir, die vom Schloß ein wenig Wein bekommen.«

»Wie heißt denn der Mann?«

»Ein schauderhafter Name: Ezra Jennings«, antwortete Betteredge mürrisch.

 

Nun fuhr Betteredge fort, Rosanna Spearmans Brief zu lesen.

Er endete folgendermaßen:

»Wo sollte ich das Nachthemd so verbergen, daß selbst der Sergeant es nicht finden konnte? Und wie sollte ich das tun, ohne auch nur einen Augenblick der kostbaren Zeit zu verlieren? Ich zog mich aus und legte das Nachthemd an. Es war nicht einen Augenblick zu früh geschehen. Sergeant Cuff wollte das Wäschebuch sehen. Ich fand es und brachte es ihm in das Wohnzimmer meiner Lady. Der Sergeant und ich waren uns mehr als einmal früher begegnet. Ich war sicher, daß er mich wiedererkennen würde – und ich war nicht sicher, was er tun würde, wenn er mich als Dienstboten in einem Haus wiederfände, in dem ein wertvoller Edelstein verloren gegangen war. In dieser Angst empfand ich es als Erleichterung, unser Zusammentreffen hinter mir zu haben und sofort das Schlimmste zu wissen.

Als ich ihm das Wäschebuch übergab, sah er mich an, als kenne er mich nicht, und sein Dank war besonders höflich. Dies hielt ich für zwei schlechte Vorzeichen. Ich ahnte nicht, was er hinter meinem Rücken sagte; ich ahnte nicht, wie bald ich verhaftet und durchsucht würde.

Ich ging zu Ihrem Lieblingsweg durch die Büsche, um vielleicht eine neue Möglichkeit zu finden, mit Ihnen zu sprechen – vielleicht die letzte Möglichkeit! Sie kamen nicht und, was noch schlimmer war, Mr. Betteredge und Sergeant Cuff gingen an meinem Versteck vorüber – und der Sergeant sah mich –.

Ich schlüpfte so unbemerkt wie möglich wieder ins Haus und zwar durch den Eingang für Dienstboten. Niemand war zu dieser Zeit in der Wäschekammer, und ich setzte mich dort allein hin. Es wäre zwecklos, von mir Rechenschaft über mein Verhalten zu jener Zeit zu fordern. Ich versuche, mich selbst zu verstehen, und kann es doch nicht. Warum stellte ich Sie nicht zur Rede, als Sie mich in dieser grausamen Art übersahen? Warum schrie ich nicht heraus: ›Mr. Franklin! Ich muß Ihnen etwas sagen, es betrifft Sie selbst, und Sie müssen und werden mich anhören.‹

Sie waren mir ja ausgeliefert. Mir war es klar, daß Sie den Diamanten gestohlen hatten, um ihn zu verkaufen oder zu verpfänden und auf diese Weise das Geld zu bekommen, das Sie benötigten. Schön und gut. Ich hätte Ihnen einen Mann in London nennen können, der eine sehr große Summe auf den Edelstein vorgestreckt und noch dazu keine unbequemen Fragen gestellt hätte.

Warum sprach ich nicht mit Ihnen? Warum sprach ich nur nicht mit Ihnen?

Ich komme nun schnell zum Ende.

Kurze Zeit später wurden wir alle von Mr. Betteredge in die Halle gerufen und mußten nacheinander in sein Zimmer gehen, um von Sergeant Cuff verhört zu werden.

Ich kam dran, nachdem die Zofe ihrer Gnaden und das erste Hausmädchen vernommen waren. Sergeant Cuffs Fragen – obwohl er sie sehr geschickt verkleidete – bewiesen mir sehr bald, daß diese zwei Mädchen (die bittersten Feindinnen, die ich im Schloß hatte) am Donnerstag nachmittag und ebenso in der Donnerstagnacht an meiner Tür gewesen waren und etwas herausgefunden hatten. Sie hatten dem Sergeanten genug erzählt, um ihn die Wahrheit teilweise ahnen zu lassen. Er vermutete mit Recht, ich hätte ein neues Nachthemd angefertigt, vermutete aber mit Unrecht, daß das Nachthemd mit dem Farbfleck mein eigenes sei. Aus seinen Worten ging noch etwas anderes hervor, das ich aber nicht so recht verstehen konnte. Natürlich verdächtigte er mich, am Verschwinden des Diamanten beteiligt zu sein. Aber gleichzeitig ließ er mich – wie mir schien, absichtlich – merken, daß er mich nicht für diejenige Person hielt, die in erster Linie für den Verlust des Edelsteins verantwortlich war. Er schien zu glauben, ich hätte nach Anweisung eines Dritten gehandelt. Wer dieser Dritte sein mochte, das konnte ich damals nicht raten und kann es auch heute nicht.

In dieser Ungewißheit war etwas ganz klar: Sergeant Cuff war von der vollen Wahrheit noch meilenweit entfernt. Sie, Mr. Blake, waren sicher, solange das Nachthemd sicher war, nicht einen Augenblick länger.

Solange Sergeant Cuff mich noch in Freiheit ließ, blieb mir die Wahl – und ich mußte sie sofort treffen – das Nachthemd zu vernichten oder es an einem sicheren Fleck, in sicherer Entfernung vom Schloß zu verstecken.

Hätte ich Sie nicht so lieb gehabt, ich glaube, ich hätte es vernichtet. Wie konnte ich aber den einzigen Gegenstand vernichten, den ich als Beweis besaß, daß ich Sie vor Entdeckung gerettet hatte?

Ich ging unmittelbar danach zu Mrs. Yollands Haus in Cobb's Hole. Sie und ihre Tochter waren meine besten Freunde. Denken Sie nicht, daß ich ihnen Ihr Geheimnis anvertraute, das habe ich niemandem gegenüber getan. Ich wollte nur diesen Brief schreiben und ohne Gefahr der Entdeckung das Nachthemd ausziehen.

Nun bin ich am Ende meines langen Briefes. Wenn er fertig geschrieben ist, werde ich zu den ›Zitternden Sänden‹ gehen. Ich werde dort das Nachthemd im Sand verstecken, wo kein Mensch, dem ich nicht mein Geheimnis mitgeteilt habe, es finden soll. Und was dann?

Ich werde noch einmal versuchen, mit Ihnen zu sprechen. Geht auch diese Gelegenheit vorüber, und sind Sie wieder so grausam, und tut es mir wieder so weh, dann sage ich einer Welt Lebewohl, die mir ein Glück mißgönnt, das sie anderen schenkt. Machen Sie sich keine Vorwürfe, wenn es dieses Ende nehmen sollte. Versuchen Sie vielmehr, mir zu vergeben und mich zu bedauern. Ich werde dafür sorgen, daß Sie erfahren, was ich für Sie getan habe, wenn ich selbst es Ihnen nicht mehr sagen kann. Sprechen Sie dann freundlich von mir und gibt es wirklich so etwas wie ein anderes Leben, so glaube ich, daß ich es hören werde.

Es ist nun Zeit, zum Ende zu kommen. Warum soll ich zudem nur die dunkle Seite sehen? Warum soll ich nicht daran glauben, daß schließlich doch noch alles gut wird? Vielleicht sind Sie heute abend in guter Laune – oder ich habe morgen früh mehr Glück. Die vielen Seiten meines Briefes werde ich nun zusammen mit dem Nachthemd verstecken. Es hat so furchtbar viel Mühe gekostet, diesen Brief zu schreiben. Wenn wir uns schließlich doch verstünden, wie gern würde ich ihn zerreißen!

Ich verbleibe, Sir, Ihre ergebene Dienerin, die Sie von Herzen liebt,

Rosanna Spearman.«

 

Schweigend hatte Betteredge den Brief fertig gelesen. »Es steht nichts darin, was Ihnen helfen könnte, Mr. Franklin. Ich rate Ihnen, den Brief in seinem Umschlag zu lassen, bis alle Sorgen, die Sie jetzt haben, ein Ende gefunden haben. Es wird Ihnen bitter weh tun, wenn Sie ihn auch lesen. Jetzt lesen Sie ihn nicht.«

Ich legte den Brief in mein Taschenbuch.

 

Natürlich brachte mich Gabriel Betteredge zum Bahnhof.

»Ich habe noch zwei Fragen, ehe ich nach London abreise. Beide werden dich vielleicht überraschen. Zunächst einmal, Betteredge, war ich am Abend von Rachels Geburtstag betrunken?«

»Betrunken? Aber Mr. Franklin. Es ist ja doch Ihr großer Fehler, daß Sie nur zum Essen etwas trinken und danach keinen Tropfen Alkohol anrühren.«

»Aber der Geburtstag war doch eine besondere Gelegenheit. Vielleicht habe ich gerade an diesem Abend einmal etwas anderes getan?«

Nach näherer Überlegung sagte Betteredge: »Ja, das stimmt. Sie sahen so elend aus, und wir redeten Ihnen zu, zur Aufmunterung etwas Brandy in Wasser zu trinken. So nahm ich ein halbes Weinglas von unserem fünfzigjährigen Cognac und verdünnte dieses edle Naß mit einem Glase kalten Wassers. Davon konnte kein Kind betrunken werden, geschweige denn ein ausgewachsener Mann.«

Ich kam nun zu meiner zweiten Frage. »Hast du je bemerkt, daß ich schlafwandle?«

»Es hilft nichts, Sir. Sie sind immer noch meilenweit von der Wahrheit entfernt. Schlafwandeln? Das haben Sie in Ihrem ganzen Leben nicht getan.«

Da er sah, daß ich noch immer nicht befriedigt war, machte der schlaue Betteredge meine beiden Theorien ein für allemal zunichte, indem er sagte: »Nehmen wir wirklich einmal an, Sie wären betrunken gewesen oder Sie wandelten im Schlaf, als Sie den Edelstein nahmen, so würde das doch nur für die Nacht und für den Morgen nach dem Geburtstag gelten. Der Diamant wurde aber inzwischen nach London gebracht und bei Mr. Luker verpfändet. Haben Sie das etwa auch getan, ohne es zu wissen?«

Wir gelangten zum Bahnhof. Ich gab Betteredge meine Londoner Adresse und blickte beim Lebewohl zufällig zum Zeitungsstand hinüber. Dort stand der auffallend aussehende Gehilfe Mr. Candys, Ezra Jennings. Er grüßte mich, und ich erwiderte seinen Gruß. Es kam mir seltsam vor, daß ich den Mann mit dem scheckigen Haar zweimal am gleichen Tage treffen sollte.

In London fuhr ich sogleich zu Mr. Bruff, und wir schlossen uns in seinem Wohnzimmer ein. Dort prüfte er zunächst das Nachthemd und las dann den Brief. Anschließend wandte er sich an mich:

»Franklin Blake, diese Angelegenheit ist in mehr als einer Hinsicht sehr ernst. Nach meiner Meinung geht sie Rachel genau so viel an wie Sie selbst. Jetzt ist Miss Verinders erstaunliches Verhalten kein Rätsel mehr. Sie ist der Überzeugung, daß Sie den Diamanten gestohlen haben. Deshalb müssen wir uns als allererstes an Rachel wenden. Wir müssen sie überreden oder dazu zwingen, uns die Gründe für ihre Überzeugung zu sagen. Es ist immerhin möglich, daß sich der ganze Fall – so ernst er auch scheint – aufklärt, wenn wir nur durch Rachels hartnäckige Zurückhaltung hindurchstoßen und sie zu einer Erklärung bringen. Wohl verstanden, ich betrachte die Sache natürlich vom Standpunkt des Anwalts. Für mich ist es eine Frage des Beweises. Nun gut. Der Beweis bricht gleich von Anfang an in einem wichtigen Punkt zusammen. Zugegeben, Ihr Name in dem Nachthemd beweist, daß es Ihnen gehört. Der Farbfleck wiederum beweist, daß dieses Nachthemd die verwischte Stelle an Rachels Tür verursacht hat. Aber wo ist der Beweis, daß Sie es in jener Nacht getragen haben?« Der Anwalt nahm Rosanna Spearmans Bekenntnis vom Tisch. »Hierzu will ich nur bemerken, daß ihr Brief sie nach ihrer eigenen Angabe als Meisterin der Täuschung schildert. Deshalb halte ich mich zu dem Verdacht berechtigt, daß sie nicht die volle Wahrheit gesagt hat. Ich will im Augenblick keine Theorien entwickeln, was sie getan haben mag oder nicht. Ich möchte nur das eine sagen: Hat Rachel Sie nur auf Grund des Nachthemdes verdächtigt, so besteht zu neunundneunzig Prozent die Wahrscheinlichkeit, daß Rosanna ihr das Nachthemd gezeigt hat. Ist das so, dann haben wir weiter in dem Brief das Geständnis, daß sie eifersüchtig auf Rachel war und daß sie einen Hoffnungsschimmer für sich selber in der Aussicht auf einen Streit zwischen Rachel und Ihnen erblickte. Ich frage jetzt nicht, wer den Monddiamanten genommen hat. Diente es ihren Zwecken, so hätte Rosanna Spearman fünfzig Monddiamanten gestohlen – ich behaupte nur, daß das Verschwinden des Edelsteins dieser, aus einer Besserungsanstalt kommenden Diebin die Gelegenheit bot, Sie und Rachel für den Rest Ihres Lebens zu entzweien. Vergessen Sie nicht, daß sie sich damals noch nicht zum Selbstmord entschlossen hatte. Was meinen Sie hierzu?«

»Aber wenn es sich nun doch herausstellt, daß ich das Nachthemd getragen habe?«

»Ich weiß nicht, wie das bewiesen werden sollte«, sagte Mr. Bruff. »Aber wäre der Beweis möglich, so bliebe die Feststellung Ihrer Unschuld immer noch sehr schwierig. Wir müssen abwarten, bis wir wissen, ob Rachel Sie nur auf Grund des Nachthemdes verdächtigt hat. Forschen Sie einmal in Ihrer Erinnerung nach. Hat sich während Ihres Aufenthaltes im Schloß irgendetwas ereignet, was Rachels Glauben an Ihre Grundsätze erschüttern konnte.«

Ich vermochte meine Erregung nicht zu beherrschen und sprang auf. Mir fiel etwas ein: Ich war leichtsinnig genug gewesen, von dem Besitzer eines kleinen Restaurants in Paris, dem ich gut bekannt war, Geld zu borgen. Als die Zeit zur Rückzahlung kam, war es mir unmöglich, meine Verpflichtung einzulösen. Ein französischer Anwalt kam nach England, um auf Zahlung meiner Schuld zu bestehen. Es kam zu einem hitzigen Wortwechsel, den unseligerweise meine Tante und Rachel im Nebenzimmer mit anhörten. Lady Verinder kam herein und wollte wissen, was es gäbe. Der Franzose sagte, ich sei für den Ruin eines armen Mannes verantwortlich, der sich auf meinen Anstand verlassen hätte. Meine Tante zahlte ihm sofort die Summe. Rachel aber machte sich ihre eigenen romantischen und verstiegenen Gedanken über die Sache. Nach ihrer Ansicht war ich herzlos, unehrenhaft und ohne Grundsätze. Keiner konnte wissen, wozu ich noch fähig wäre. Der Bruch zwischen uns dauerte bis zum nächsten Tag. Dann vertrugen wir uns wieder, und ich habe mit keinem Gedanken mehr daran gedacht.

Mr. Bruff sagte ernst: »Um Ihretwillen wünschte ich, dieser Vorfall hätte sich nicht ereignet. Eine Ungewißheit ist jedenfalls aus dem Wege geräumt. Der nächste Schritt muß uns nun zu Miss Rachel führen!« Wir vereinbarten, daß ich am nächsten Tage mit ihr in seinem Haus zusammentreffen sollte.

Als die Kirchturmuhr an jenem Tage drei schlug, steckte ich Mr. Bruffs Schlüssel in die Gartentür. Ich betrat die Glasveranda und ging durch ein kleines Wohnzimmer. Als ich die Hand auf die Klinke der gegenüberliegenden Tür legte, hörte ich drinnen ein paar Akkorde auf dem Klavier.

Ich hielt inne, um mich ein wenig zu fassen. Vergangenheit und Gegenwart traten in diesem Augenblick vor mich hin. Der Gegensatz erschütterte mich. Nach etwa einer Minute raffte ich all meinen Mut zusammen und öffnete.

Rachel stand vom Klavier auf. Ich schloß die Tür hinter mir. Wir sahen uns schweigend an. Ich ging ein paar Schritte auf sie zu und sagte sehr leise: »Rachel.«

Der Ton meiner Stimme brachte sie wieder zu sich, und ihr Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte. Immer noch schweigend ging sie auf mich zu. Ganz langsam, als sei sie willenlos, kam sie immer näher. Ich vergaß völlig, was mich hierher geführt hatte. Ich vergaß den entwürdigenden Verdacht, der auf meinem Namen ruhte. Ich sah nichts als die Frau, die ich liebte. Sie zitterte. Sie stand unentschlossen. Sie konnte nicht länger widerstehen – ich nahm sie in die Arme und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Einen Augenblick lang glaubte ich, die Küsse würden erwidert, einen Augenblick lang schien es so, als habe auch sie vergessen. Ihre erste Bewegung aber, die sie aus freiem Willen machte, bewies mir, daß sie sich sehr wohl erinnerte. Mit einem Schrei, der sich wie ein Schrei des Entsetzens anhörte, stieß sie mich von sich. In ihren Augen stand namenloser Schrecken, um ihren Mund lag erbarmungslose Verachtung. »Du Feigling! Du gemeiner, ehrloser, herzloser Feigling!« Das waren ihre ersten Worte.

»Ich kann mich noch der Zeit erinnern, Rachel, wo du es mir in etwas würdigerer Form als eben gesagt hättest, daß ich dich beleidigt habe. Ich bitte dich um Verzeihung!«

Bei den ersten Worten glitt ihr Blick, den sie einen Augenblick zuvor abgewandt hatte, gegen ihren Willen zu mir zurück. Sie antwortete leise: »Vielleicht gibt es eine Entschuldigung für mich. Hältst du es wirklich, nach dem was du getan hast, für sehr männlich, dir den Weg zu mir auf diese Weise zu bahnen? Ich finde, es ist feige, meine Schwäche für dich auszunutzen. Es wäre besser gewesen, ich hätte mich beherrscht und nichts gesagt.«

Die Entschuldigung war noch unerträglicher als die Beleidigung. »Du hast von dem gesprochen, was ich getan habe. Was habe ich denn getan?«

»Was du getan hast? Und du stellst diese Frage an mich?«

»Ich stelle sie.«

»Ich habe deine Schande geheim gehalten und die Folgen auf mich genommen. Darf ich nun nicht wenigstens verlangen, daß du mir die Beantwortung der Frage ersparst, was du getan hast? Ist denn jedes Gefühl für Dankbarkeit in dir erstorben? Du bist einmal ein Gentleman gewesen! Meine Mutter hat dich einmal lieb gehabt und ich dich noch lieber …!«

Hier versagte ihr die Stimme. Sie fiel in einen Stuhl, wandte mir den Rücken zu und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Wenn du nicht zuerst sprechen willst, so muß ich es tun. Ich bin hierher gekommen, weil ich dir etwas Ernstes zu sagen habe. Willst du mir nicht wenigstens die bescheidene Gerechtigkeit widerfahren lassen und mir zuhören?«

Mit einem Stolz, der so unbeugsam war wie der ihre, berichtete ich von meiner Entdeckung bei den ›Zitternden Sänden‹ und von allem, was dazu geführt hatte. Sie drehte sich nicht einmal nach mir um und sagte kein einziges Wort. Ich beherrschte mich und endete schließlich: »Ich habe noch eine Frage zu stellen. Hat dir Rosanna Spearman das Nachthemd gezeigt? Ja oder nein?«

Sie sprang auf. Sie blickte mir fragend ins Gesicht, als suche sie darin etwas, was sie bisher noch nicht gefunden hatte. Dann fragte sie: »Bist du eigentlich von Sinnen? Oder hast du plötzlich Angst bekommen, ich könnte etwas gegen dich unternehmen? Der Tod deines Vaters hat dich angeblich zum reichen Mann gemacht. Bist du etwa hergekommen, um mich für den Verlust des Diamanten zu entschädigen? Oder schlägt dir doch das Gewissen, und schämst du dich auf einmal deiner Tat?«

Bei diesen Worten unterbrach ich sie. Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Hitzig sagte ich: »Du hast mir ein furchtbares Unrecht angetan. Du verdächtigst mich, ich habe deinen Diamanten gestohlen. Ich habe ein Recht es zu wissen: Weshalb tust du das?«

»Dich verdächtigen?« schrie sie, und ihr Zorn stieg genau wie der meine. »Du Erbärmlicher, ich habe es doch mit meinen eigenen Augen gesehen, wie du mir den Mondstein gestohlen hast!«

Diese entsetzliche Enthüllung machte mich so hilflos, daß ich trotz meiner Unschuld kein Wort zu meiner Verteidigung herausbringen konnte. In ihren Augen mußte ich wie ein Bösewicht dastehen, der durch die Aufdeckung seiner Schuld überwältigt ist. Mein plötzliches Schweigen schien sie zu erschüttern.

»Damals schonte ich dich. Ich hätte dich auch jetzt geschont, hättest du mich nicht gezwungen zu sprechen.«

Ich faßte ihre Hand, ich versuchte ruhig und sachlich zu reden, und konnte doch nichts sagen als: »Rachel, du hast mich doch früher lieb gehabt. Ich kann den Widerspruch in dem, was ich dir nun sagen will, nicht erklären. Ich kann nur die Wahrheit sagen, so wie du sie gesagt hast. Du sahst mit eigenen Augen, wie ich den Diamanten nahm. So wahr Gott lebt und uns hört, erkläre ich dir, daß ich jetzt zum ersten Mal erfahre, daß ich ihn genommen habe! Zweifelst du immer noch an mir? Ich bitte dich, mir alles zu sagen, was sich von dem Augenblick an ereignet hat, als wir einander gute Nacht wünschten, bis zu dem Augenblick, in dem du sahst, daß ich den Diamanten nahm. Gehen wir zusammen die Ereignisse der Geburtstagsnacht durch, so können wir vielleicht das rätselhafte Dunkel lichten.«

Tränen liefen langsam über ihre Wangen.

»Gingst du damals zu Bett oder bliebst du auf, nachdem wir uns gute Nacht gesagt hatten?«

»Ich ging zu Bett.«

»Achtetest du auf die Zeit? War es spät?«

»Nicht so sehr spät, etwa zwölf.«

»Schliefst du ein?«

»Nein, ich konnte in dieser Nacht nicht schlafen.«

»Brannte Licht in deinem Zimmer?«

»Nein. Später stand ich dann noch einmal auf und steckte meine Kerze an.«

»Wieviel später war das?«

»Nach meiner Schätzung eine Stunde.«

»Hast du dein Schlafzimmer verlassen?«

»Ich wollte es gerade verlassen. Ich hatte meinen Morgenrock angezogen und war im Begriff, in mein Wohnzimmer zu gehen, um mir ein Buch zu holen. Ich hatte gerade die Tür des Schlafzimmers aufgemacht, da sah ich unter dem Türrahmen einen Lichtschein und hörte, wie sich Schritte näherten. Ich blies meine Kerze aus. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Wohnzimmers, und ich sah – – dich!«

»In dem Anzug, den ich jeden Tag trug?«

»In deinem Nachthemd, die Kerze in der Hand. Du warst allein.«

»Fiel dir irgend etwas Besonderes am Ausdruck meiner Augen auf? War er starr und geistesabwesend?«

»Nichts dergleichen. Deine Augen glänzten ungewöhnlich. Du sahst dich im Zimmer um, als wüßtest du, daß du irgendwo wärest, wo du eigentlich nicht sein durftest. Als fürchtetest du dich vor Entdeckung. Du gingst wie sonst auch und zwar bis zur Mitte des Zimmers. Dann bliebst du stehen und schautest dich um. Ich stand wie versteinert. Ich konnte kein Wort sagen, ich konnte nicht rufen, ich konnte mich nicht einmal bewegen, um meine Tür zu schließen.«

»Konnte ich dich sehen, wo du standest?«

»Das hättest du gewiß gekonnt, aber ich bin mir sicher, daß du mich nicht gesehen hast.«

»Warum bist du deiner Sache so sicher?«

»Hättest du den Diamanten sonst genommen? Hättest du so gehandelt wie du es dann tatest? Wärest du jetzt hier, wenn du gesehen hättest, daß ich wach war und dir zusah? – Gleich danach wandtest du dich um und gingst geradewegs in die Ecke, wo meine indische Vitrine am Fenster steht. Du öffnetest alle Schubfächer und schlossest sie wieder, bis du zu demjenigen kamst, in dem der Diamant lag. Ich sah deine Hand und das Blitzen des Edelsteins zwischen Zeigefinger und Daumen. Dann fuhrst du plötzlich zusammen und gingst schnell aus dem Zimmer. Die Tür ließest du offen. Dann verschwand dein Licht, der Klang deiner Schritte verhallte, und ich blieb im Dunklen zurück. Ich ging nicht ins Bett. Nichts ereignete sich, bis Penelope am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit kam.«

Ich wanderte durchs Zimmer. Jede nur mögliche Frage war beantwortet worden. Und nicht der schwächste Schimmer, der mir helfen konnte!

Mit meinen nächsten Worten beging ich einen verhängnisvollen Fehler. Unbesonnen und gänzlich zwecklos machte ich ihr einen Vorwurf aus ihrer Schweigsamkeit, die mir bis jetzt die Wahrheit vorenthalten hatte.

»Hättest du mit mir gesprochen, als es Zeit dafür war. Hättest du mir so viel Gerechtigkeit widerfahren lassen, dich auszusprechen …«

Sie unterbrach mich zornig. Meine wenigen Worte schienen sie zur Raserei gebracht zu haben.

»Mich aussprechen! Gibt es so einen Menschen noch einmal auf der Welt? Ich schone ihn, während mir das Herz bricht. Ich schütze ihn, während mein eigener guter Ruf auf dem Spiele steht, und er – ausgerechnet er – macht mir nun Vorwürfe und erzählt mir, ich hätte mich aussprechen müssen! Ich, die ich an ihn glaubte, die ihn liebte, die bei Tage an ihn dachte und bei Nacht von ihm träumte – und da wundert er sich, daß ich ihm nicht gleich bei unserem ersten Zusammentreffen all seine Schande ins Gesicht warf: ›Herzallerliebster, du bist ein Dieb! Mein Held, den ich liebe und ehre, du bist im Schutz der Dunkelheit in mein Zimmer geschlichen und hast meinen Diamanten gestohlen!‹ Das hätte ich sagen sollen, du erbärmlicher Mensch? Du gemeiner Schuft! Lieber hätte ich fünfzig Diamanten verloren, als jetzt mitansehen zu müssen, wie du mich anlügst!«

Ich wandte mich wortlos um und öffnete die Tür. Sie. folgte mir. Sie riß mir die Tür aus der Hand. »Nein! Noch nicht! Mir scheint, ich schulde dir eine Rechtfertigung meiner Handlungsweise. Du sollst bleiben, und sie hören. Du sollst sehen, ob ich versucht habe, dir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder nicht. Ich habe dir eben gesagt, daß ich nicht schlief und nicht wieder ins Bett ging, nachdem du mein Wohnzimmer verlassen hattest. Ich alarmierte nicht das Haus. Ich schrie nicht jedem zu, was sich ereignet hatte – wie ich es hätte tun sollen. Trotz allem, was ich gesehen hatte, hatte ich dich zu lieb, um zu glauben – ach es ist ja gleichgültig, irgend etwas völlig Unmögliches eher, als mir selbst einzugestehen, daß du ein berechnender Dieb wärst. Ich überlegte und überlegte – und schließlich schrieb ich dir.«

»Ich habe den Brief nie bekommen.«

»Das weiß ich. Warte ein wenig, und du wirst den Grund hören. Mein Brief hätte dir nichts unumwunden gesagt. Er hätte dich nicht fürs Leben ruiniert, wäre er in die Hand eines Dritten gelangt. Er hätte nur in einer Form, die du nicht mißverstehen konntest, gesagt, ich hätte Grund zu der Annahme, du seist in Schulden. Hättest du dann weitergelesen, so wärst du zum Angebot eines so großen Geldbetrages gekommen, wie ich ihn mir verschaffen konnte, und ich hätte ihn mir verschafft! Ich würde den Diamanten sogar verpfändet haben, hätte ich das Geld nicht anders, bekommen können. So schrieb ich an dich. Warte! Ich tat noch mehr. Ich verabredete mit Penelope, sie solle dir den Brief geben, wenn niemand in der Nähe wäre. Ich beabsichtigte mich im Schlafzimmer einzuschließen und wollte das Wohnzimmer den ganzen Morgen über offen lassen, und ich hoffte von ganzer Seele, daß du den Diamanten heimlich in das Schubfach zurücklegen würdest.«

Sie stand vom Stuhl auf und kam auf mich zu. Ich versuchte zu reden, aber sie hob ungeduldig die Hand.

»Ich weiß, was du sagen willst. Du willst mich daran erinnern, daß du meinen Brief niemals bekommen hast. Ich kann dir den Grund sagen: ich zerriß ihn. Lieber zerriß ich ihn, als ihn an einen Mann wie dich zu verschwenden. Was war das erste, was ich an jenem Morgen hörte, gerade als mein kleiner Plan fertig war? Ich hörte, daß du – du!! – derjenige warst, der als allererster die Polizei holte. Du tatest mehr als irgendein anderer, den Edelstein wiederzufinden. Du triebst deine Unverfrorenheit sogar so weit, mit mir über den Verlust des Diamanten sprechen zu wollen, des Diamanten, den du ja gestohlen hattest; des Diamanten, der die ganze Zeit über in deinen Händen war. Nach diesem Beweis deiner entsetzlichen Falschheit und Hinterlist zerriß ich den Brief. Aber selbst in diesem Augenblick war ich noch so betört, daß ich dich nicht ganz aufgeben wollte. Ich sagte mir: ›Er hat sein verstecktes Spiel vor jedem anderen im Hause gespielt. Ich will sehen, ob er es auch vor mir spielt.‹ Irgend jemand sagte mir, du seist auf der Terrasse. Dorthin ging ich. Ich zwang mich dazu, mit dir zu reden. Hast du vergessen, was ich gesagt habe? Alles, was überhaupt möglich war, ohne dir auf den Kopf zuzusagen, daß ich von deinem Diebstahl wußte. Hätte ich vor anderen die Wahrheit gesagt, du wärst fürs ganze Leben entehrt gewesen. Hätte ich nur dir die Wahrheit gesagt, so hättest du sie geleugnet, wie du sie jetzt leugnest. Du redest so, als handle es sich um ein Mißverständnis, das mit ein paar Worten aufzuklären sei! Nun gut! Es ist gar kein Mißverständnis gewesen. Ist aber die Angelegenheit damit aufgeklärt? Nein! Sie steht genau da, wo sie vorher stand. Ich glaube dir auch jetzt nicht. Ich glaube dir nicht, daß du das Nachthemd gefunden hast. Ich glaube nicht an Rosanna Spearmans Brief. Ich glaube dir kein Wort. Du hast ihn gestohlen – ich habe es gesehen! Du tatest so, als hülfest du der Polizei – ich war Zeuge. Du hast den Diamanten an den Geldverleiher in London verpfändet – das glaube ich fest. Du warfst infolge meines Schweigens den Verdacht auf einen Unschuldigen! Du flohst am nächsten Morgen mit deiner Beute auf das Festland!«

Ich ging an ihr vorbei und öffnete zum zweiten Male die Tür. Zum zweiten Male, mit der leidenschaftlichen Hartnäckigkeit einer erregten Frau, faßte sie mich am Arm und versperrte mir den Weg.

»Laß mich gehen, Rachel. Es ist besser für uns beide. Laß mich gehen!«

»Warum bist du hierhergekommen?« drang sie verzweifelt in mich. »Fürchtest du, daß ich dich verrate? Nun, wo du reich bist, wo du eine Stellung in der Welt hast, wo du das vornehmste Mädchen im ganzen Lande heiraten kannst, fürchtest du, ich könnte jetzt sagen, was ich noch niemandem außer dir gesagt habe? Ich kann es nicht! Ich kann dich nicht verraten! Ich bin womöglich noch schlimmer als du selbst.«

Sie klammerte sich immer fester an mich. »Auch jetzt kann ich dich noch nicht aus meinem Herzen reißen. Oh Gott! Ich verachte mich selbst noch viel mehr als ich dich verachte!«

So sehr ich mich bezwang, mir kamen die Tränen. Ich konnte das Furchtbare nicht länger ertragen. »Und du wirst doch noch feststellen, daß du mir unrecht getan hast, oder du wirst mich nie wiedersehen.«

Damit verließ ich sie. Sie fuhr in die Höhe und rief: »Franklin! Ich verzeihe dir! Oh Franklin, Franklin! Wir sehen uns nicht wieder. Sag doch, daß du mir verzeihst.«

Ich wandte mich um, damit sie in meinem Gesicht lesen sollte, daß ich keiner Worte mehr fähig war – ich wandte mich um, winkte mit der Hand und sah sie verschwommen, wie in einer Vision, durch Tränen hindurch, die mich endlich überwältigt hatten.

Im nächsten Augenblick lag das Bitterste hinter mir. Ich stand wieder im Garten. Ich sah und hörte sie nicht mehr.

 

Spät am selben Abend überraschte mich ein Besuch von Mr. Bruff. Sein Wesen war merklich verändert. Er hatte seine übliche Vertraulichkeit und gute Laune verloren. Zum ersten Male gab er mir schweigend die Hand. »Ich weiß, Mr. Franklin, daß Sie endlich die Wahrheit herausgefunden haben. Aber ich sage Ihnen ganz offen, ich hätte Sie lieber im Dunklen gelassen, wenn ich geahnt hätte, welchen Preis Sie dafür bezahlen müßten. Doch nun zu Ihrer Zukunft. Zum ersten sind wir sicher, daß Rachel Ihnen, so gut es Worte vermögen, die reine Wahrheit gesagt hat. Zweitens können wir sie kaum dafür schelten, daß sie nach allem, was sie mit eigenen Augen gesehen hat, Sie für schuldig hält. Hinzu kommen noch die ganzen äußeren Umstände, die – so wie die Dinge liegen – sämtlich gegen Sie zu sprechen scheinen.

Mr. Franklin, meine Ansicht über den Fall hat sich als völlig falsch herausgestellt. Das gebe ich zu, aber unter den gegenwärtigen Umständen kann mein Rat doch noch etwas wert sein. Was geschah nach unserer Meinung mit dem Monddiamanten, als er nach London gebracht wurde?«

»Er wurde bei Mr. Luker verpfändet.«

»Wir wissen, daß Sie es nicht getan haben. Wissen wir aber, wer sonst?«

»Nein.«

»Wo befindet sich der Monddiamant nach Ihrer Ansicht im Augenblick?«

»In Mr. Lukers Bank deponiert.«

»Sehr richtig. Gegen Ende dieses Monats – den Tag kann ich nicht genau sagen – wird ein Jahr vergangen sein, seitdem der Edelstein nach unserer Ansicht verpfändet wurde. Ich schlage also vor, gegen Ende des Monats die Bank überwachen zu lassen, um festzustellen, wem Mr. Luker den Mondstein übergibt. Verstehen Sie mich richtig?«

»Ich habe lediglich einzuwenden, daß Ihr Vorschlag eine Wartezeit bedingt.«

»Zugegeben. Nach meiner Berechnung müssen Sie rund vierzehn Tage warten. Ist das sehr lange?«

»In meiner Lage, Mr. Bruff, eine Ewigkeit. Mein Leben, wird einfach unerträglich, wenn ich nicht irgend etwas veranlasse, um meinen guten Ruf sofort wiederherzustellen.«

»Schon gut, das verstehe ich. Wissen Sie aber auch, was; Sie tun könnten?«

»Ich dachte Sergeant Cuff zuzuziehen.«

»Er ist nicht mehr bei der Polizei, und deshalb ist es zwecklos, von dem Sergeanten Hilfe zu erwarten.«

»Ich weiß aber, wo ich ihn finde, und es kommt auf einen Versuch an.«

Früh am nächsten Morgen fuhr ich nach Dorking, wohin sich Sergeant Cuff zurückgezogen hatte. Eine nette ältere Frau öffnete mir die Tür und machte sogleich alle meine Hoffnungen auf die Hilfe von Sergeant Cuff zunichte. Am Tage zuvor war er nach Irland abgereist.

Ich gab ihr meine Karte, auf die ich mit Bleistift geschrieben hatte: »Ich habe Ihnen etwas über den Monddiamanten zu sagen. Lassen Sie von sich hören, sobald Sie zurück sind.«

Nun blieb mir nichts anderes übrig, als nach London zurückzukehren.

Da die Ereignisse jener denkwürdigen Nacht mir nach wie vor völlig unverständlich waren, ging ich etwas weiter in die Vergangenheit zurück und überprüfte in meiner Erinnerung die frühen Stunden des Geburtstages auf irgend einen Vorfall hin, der mir vielleicht bei der Auffindung des Schlüssels helfen könnte.

Hatte sich irgend etwas ereignet, während Rachel und ich die Tür fertig malten? Oder später, als ich nach Frizinghall ritt? Oder dann, als ich mit Godfrey und seinen Schwestern zurückkam? Oder gar erst, als ich Rachel den Mondstein gab oder, als die Gäste kamen und wir uns alle bei Tisch versammelten?

Mit all diesen Fragen war ich schnell genug fertig, bis ich zu der letzten gelangte.

Gut genug erinnerte ich mich, daß die meisten Gäste damals aus Frizinghall oder Umgebung gekommen waren. Einige wenige wohnten nicht ständig dort. Ich selbst, Mr. Murthwaite, Godfrey Ablewhite, Mr. Bruff – nein, den letzteren hatten ja Geschäfte am Kommen verhindert. Waren Damen zugegen gewesen, die in London wohnten? Ich konnte mich nur an Miss Clack erinnern.

Mr. Murthwaite war jetzt auf dem Wege zum Schauplatz seiner früheren Abenteuer; Miss Clack wohnte aus Sparsamkeitsgründen in Frankreich; Mr. Godfrey Ablewhite ließ sich vielleicht irgendwo in London auffinden. So ging ich zu seinem Club und erfuhr folgendes: Offenbar war Godfrey dadurch, daß Rachel die Verlobung aufgelöst hatte, keineswegs entmutigt gewesen. Er hatte bald danach einer anderen jungen Dame, einer reichen Erbin, den Hof gemacht. Aber auch in diesem Falle war die Verlobung plötzlich und unerwartet gelöst worden. Dann hatte eine wohlhabende, alte Dame dem bewundernswerten und verdienstvollen Philanthropen ein Legat von fünftausend Pfund vermacht. Er strich diese Erbschaft ein und äußerte, sein Arzt habe ihm aus Gesundheitsgründen einen Ausflug auf den Kontinent verordnet. Wollte ich ihn noch sehen, so wäre es wohl ratsam, ihm meinen beabsichtigten Besuch bald abzustatten.

Das versuchte ich sofort. Aber genau wie im Falle des Sergeanten Cuff kam ich auch hier einen Tag zu spät. Godfrey hatte am Morgen zuvor London mit dem Bootszug nach Dover verlassen.

Damit waren drei Geburtstagsgäste für mich in einem Augenblick unerreichbar, wo es von höchster Wichtigkeit für mich war, mit ihnen in Verbindung zu treten. Nun blieb meine letzte Hoffnung Betteredge und ein Freund der verstorbenen Lady Verinder, der jetzt vielleicht noch in der Nähe von Rachels Schloß wohnte.

Ich kam abends zu spät in Yorkshire an, um Betteredge noch aufzusuchen. Am nächsten Morgen bat ich ihn, sobald wie möglich in mein Hotel zu kommen. Während der Wartezeit wollte ich meine beabsichtigten Nachforschungen bei den Geburtstagsgästen, die mir persönlich bekannt und erreichbar waren, beginnen. Es handelte sich dabei um die Ablewhites und Mr. Candy. Der Doktor lebte eine Straße weiter, und deshalb ging ich zunächst zu Mr. Candy. Ich war in keiner Weise auf die Veränderung vorbereitet, die mit ihm vorgegangen war. Seine Augen waren trübe, das Haar völlig ergraut, das Gesicht und die Gestalt verfallen. Der Mann war ein Wrack.

»Ich habe oft an Sie gedacht, Mr. Blake, und ich freue mich von ganzem Herzen, Sie endlich wiederzusehen«, sagte er. »Falls ich irgend etwas für Sie tun kann, bitte verfügen Sie über mich, Sir!«

»Sie erinnern sich doch an den geheimnisvollen Verlust des indischen Diamanten vor fast einem Jahr? Ich wage es, mich an die Freunde von Lady Verinder mit der Bitte zu wenden, meinem Gedächtnis an die Ereignisse jenes Geburtstagsessens aufzuhelfen.«

Soweit war ich mit meinen einleitenden Worten gekommen, als ich innehielt, weil ich deutlich in Mr. Candys Gesicht las, daß es mir nicht gelungen war, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Sogleich versuchte ich es mit einem neuen Gesprächsstoff.

»Es ist so lange her, seit wir uns sahen. Fast ein Jahr ist vergangen, seit wir damals so fröhlich bei Tisch saßen.«

Mr. Candy wurde bei dieser Anspielung sofort wieder lebhaft. »Ja, ja! Das Essen in Lady Verinders Haus. Darüber wollte ich Ihnen etwas sagen.« Seine Augen betrachteten mich wieder mit dem gleichen schmerzlichen, forschenden Blick, der so leer, so völlig hilflos war. Er versuchte krampfhaft aber vergebens, die verloren gegangene Erinnerung wiederzufinden. Das Ganze war so betrüblich, daß ich nun das Gespräch auf Fragen örtlichen Interesses brachte. Als wir uns die Hand gaben, kam Mr. Candy von sich aus noch einmal auf den Geburtstag zurück. »Es lag mir wirklich am Herzen, Mr. Blake, mit Ihnen zu sprechen. Über das Essen im Haus von Lady Verinder, verstehen Sie? Ein reizendes Essen, wirklich ein reizendes Essen. Oder nicht?« Wieder stand jener nachdenkliche Ausdruck in seinem Gesicht. Ich ging langsam die Treppe hinab, mit der entmutigenden Überzeugung, daß er mir wirklich etwas zu sagen hatte, was unendlich wichtig für mich gewesen wäre, und daß er im Augenblick einfach nicht imstande war, sich daran zu erinnern.

Gerade als ich in die Vorhalle gehen wollte, öffnete sich leise eine Tür im Erdgeschoß, und eine sanfte Stimme sagte hinter mir: »Ich fürchte, Sir, Sie finden Mr. Candy betrüblich verändert?«

Ich wandte mich um und stand Ezra Jennings gegenüber.

Ich kann garnicht in Abrede stellen, daß dieser Mann in einer mir unerklärliche. Weise an mein Mitgefühl appellierte. Es war mir ganz unmöglich, mich diesem Eindruck zu entziehen.

»Gehen wir denselben Weg, Mr. Jennings?« fragte ich, da ich den Hut in seiner Hand bemerkte. »Ich will meine Tante, Mrs. Ablewhite, besuchen.«

Mr. Jennings erwiderte, jawohl, er müsse zu einem Patienten.

»Nach der Veränderung, die ich an ihm sehe«, fing ich an, »muß Mr. Candys Krankheit weit ernster gewesen sein, als ich vermutet hatte. Ist sein Gedächtnis immer so schlecht wie heute?«

»Seine Erinnerung an die Ereignisse der, Vergangenheit ist hoffnungslos geschwächt. Hätte er nach seiner Gesundung alles vergessen, was die Vergangenheit betraf, er wäre wohl glücklicher«, fügte er mit traurigem Lächeln hinzu. »Wir wären wohl alle glücklicher, wenn wir völlig vergessen könnten.«

»Ich habe ein großes Interesse daran«, sagte ich, »Mr. Candys entschwundene Erinnerung wieder wachzurufen. Können Sie mir nicht irgend eine Möglichkeit sagen, wie ich ihm dabei helfen könnte?«

Ezra Jennings sah mich an, ein plötzlich erwachtes Interesse in seinen träumerischen, braunen Augen.

»Dem Gedächtnis von Mr. Candy kann niemand aufhelfen. Es ist aber vielleicht möglich herauszubekommen, woran sich Mr. Candy nicht mehr erinnert, ohne daß man sich deshalb an ihn selbst wenden müßte.«

Wir hatten mittlerweile die letzten Häuser der Stadt hinter uns gelassen. Ezra Jennings blieb einen Augenblick stehen und pflückte am Wegrand einige Blumen. »Wie schön sie sind, und wie wenige Menschen in England sie so bewundern, wie sie es verdienen.«

»Sie haben sich nicht immer in England aufgehalten?«

»Nein. Ich bin in einer unserer Kolonien geboren und englisch erzogen worden. Mein Vater war Engländer; aber meine Mutter … Wir entfernen uns von der Sache, Mr. Blake, und zwar durch meine Schuld. Die Wahrheit ist, ich fühle mich diesen kleinen Heckenblümchen irgendwie verbunden … Nun, es ist gleichgültig. Wir sprachen über Mr. Candy und wollen wieder zu ihm zurückkehren.«

Ich war fest davon überzeugt, daß die Geschichte, die in seinem Gesicht geschrieben stand, zum mindesten in zwei Punkten die Wahrheit erzählte. Er hatte gelitten, wie wenige Menschen leiden, und in seinem englischen Blut war die Beimischung einer fremden Rasse.

»Ich nehme an, daß Sie von der ursprünglichen Ursache von Mr. Candys Krankheit gehört haben? Mein Brotherr fuhr damals durch strömenden Regen nach Haus, wo er völlig durchnäßt ankam. Er fand einen dringenden Ruf zu einem Patienten vor und ging unglückseligerweise sofort zu ihm, ohne zuvor die Kleider zu wechseln. Das Unheil war geschehen. Die Krankheit hatte ihn ergriffen. Ich schickte sofort zu zwei ihm befreundeten Ärzten, um ihre Ansicht über den Fall zu hören. Beide stimmten mit mir darin überein, daß es ernst aussähe. Aber beide wichen von meiner Ansicht über die Behandlung des Falles ab, und zwar unterschieden wir uns grundsätzlich in der Schlußfolgerung, die wir aus dem Puls des Patienten zogen. In den ersten paar Tagen mußte ich notgedrungen den älteren Herren nachgeben. Dabei ging es dem Patienten ständig schlechter. Dann machte ich einen zweiten Versuch, sie auf den klaren, unleugbar eindeutigen Beweis des Pulses hinzuweisen. Er ging immer noch genau so rasend schnell, war aber schwächer geworden. Die beiden Ärzte waren über meinen Eigensinn beleidigt. Nach längerer Überlegung sagte ich zu ihnen: ›Sie weigern sich also wirklich, eine stimulierende Behandlung zu versuchen?‹

Sie weigerten sich glatt.

›Dann werde ich sie sofort probieren, meine Herren.‹

›Probieren Sie, Mr. Jennings, und wir werden den Fall niederlegen.‹

Ich ließ aus dem Keller eine Flasche Champagner kommen und reichte dem Patienten mit eigener Hand ein halbes Wasserglas voll. Die beiden Ärzte nahmen schweigend ihre Hüte und gingen.«

»Damit hatten Sie eine ernste Verantwortung übernommen«, warf ich ein. »An Ihrer Stelle wäre ich davor zurückgeschreckt.«

»An meiner Stelle, Mr. Blake, hätten Sie sich daran erinnert, daß Mr. Candy, als er Sie anstellte, für ein ganzes Leben Sie zu seinem Schuldner machte. An meiner Stelle wären Sie Zeuge gewesen, wie er stündlich schwächer wurde, und Sie hätten alles riskiert, um den einzigen Menschen, der Ihnen Güte erwies, nicht vor Ihren Augen sterben zu lassen. Gegen Abend trat damals das Delirium ein, das immer in solchen Fällen mit dem Fieber Hand in Hand geht. Und dann in jenen schrecklichen Morgenstunden zwischen zwei und fünf Uhr rang ich mit dem Tode um die Entscheidung, wer den Mann dort im Bett bekommen sollte. Nach der Krise kam ein Tag, an dem die rasende Schnelligkeit des Pulses sich langsam, aber bemerkbar verringerte. Er wurde stetiger und stärker. Da wußte ich, daß ich ihn gerettet hatte und – das gebe ich zu – da brach ich zusammen …

Während der letzten Jahre hatte ich die Vermessenheit gehabt, in meinen Mußestunden ein Buch zu schreiben, das für meine Kollegen gedacht war – ein Buch über die verzwickte und schwierige Frage des menschlichen Gehirns und Nervensystems. Mein Werk wird wahrscheinlich nie beendet, es wird ganz gewiß niemals veröffentlicht werden. In diesem Buch hatte ich damals den Teil erreicht, der sich gerade mit der Frage des Deliriums befaßte. Im Laufe meiner medizinischen Praxis kamen mir häufig Zweifel, ob wir bei Delirien mit Recht sagen dürfen, daß der Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu sprechen, notwendigerweise auch den Verlust der Fähigkeit nach sich zieht, zusammenhängend zu denken. Die Krankheit des armen Mr. Candy gab mir die Möglichkeit, diesen Zweifel zu überprüfen. Ich kann Kurzschrift schreiben und konnte demzufolge auch die Worte des Patienten genau aufzeichnen, wie sie in den Fieberreden von seinen Lippen kamen. Sehen Sie jetzt, Mr. Blake, worauf ich hinaus will?«

Ich sah es deutlich und wartete atemlos darauf, was nun kommen würde.

»Immer wieder«, fuhr Ezra Jennings fort, »übertrug ich meine Notizen in normale Schriftsätze, wobei ich weite Zwischenräume zwischen den abgerissenen Sätzen oder auch den einzelnen Worten ließ, so wie sie Mr. Candy zusammenhanglos ausgestoßen hatte. Dann füllte ich jeden Zwischenraum auf dem Papier mit dem aus, was jene Worte und Sätze nach meiner Ansicht hatten sagen wollen. Als Ergebnis stellte ich fest, daß die Denkfähigkeit, also das Primäre, im Gehirn meines Patienten mehr oder weniger zusammenhängend weitergearbeitet hatte, während die gleichzeitige Ausdrucksfähigkeit, also das Sekundäre, fast völlig zerrüttet und gelähmt war.«

»Nur ein Wort«, unterbrach ich ihn eifrig, »kam mein Name jemals in seinen Fieberreden vor?«

»Fast eine ganze Nacht hindurch beschäftigte sich Mr. Candys Gehirn mit etwas, was sich zwischen Ihnen und ihm zugetragen hatte. Ich schrieb die abgerissen gemurmelten Worte auf ein Blatt Papier und dann mit den Bindegliedern, die diese Worte zusammenfügen – soweit ich sie herausfand – auf ein anderes. Das Ergebnis ist eine verständliche Niederschrift. Erstens handelte es sich um etwas, was Mr. Candy in der Vergangenheit getan hatte, zweitens um etwas, was Mr. Candy in der Zukunft tun wollte, wäre seine Krankheit nicht dazwischen gekommen.«

»Wir wollen sofort zurückgehen und uns die Papiere ansehen.«

»Ganz unmöglich, Mr. Blake. Vergessen Sie nicht, unter welchen Umständen ich meine Informationen erhielt. Wenn sie auch harmlos sind, so kann ich es doch nicht über mich bringen, Ihnen die Notizen auszuhändigen, so lange Sie mir hierfür nicht einen stichhaltigen Grund angeben.«

Ihm so offen zu antworten, wie seine Sprache und seine Art es von mir verlangte, wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis gewesen, daß ich im Verdacht stand, den Diamanten gestohlen zu haben. Und wiederum flüchtete ich mich in einige erklärende Phrasen, die ich mir für die Neugier Außenstehender zurechtgelegt hatte. Ezra Jennings hörte geduldig, sogar etwas besorgt zu. Dann sagte er: »Es tut mir leid, daß ich Ihre Erwartung erweckte, Mr. Blake, nur um Sie nun zu enttäuschen. Während seiner ganzen Krankheit, von Anfang bis zu Ende, kam nicht ein Wort über den Diamanten von Mr. Candys Lippen.«

Nun half nichts mehr. Ich mußte ihm die Wahrheit sagen! »Mr. Jennings, ich bin nicht ganz offen zu Ihnen gewesen. Für mich ist es peinlicher, als ich es Ihnen sagen kann, daß ich meine wirkliche Lage erwähnen muß. Nun aber sollen Sie wissen, warum ich daran interessiert bin, herauszufinden, was Mr. Candy mir sagen wollte. Waren meine Vermutungen falsch, und zeigt es sich, daß Sie mir nicht helfen können, so verlasse ich mich auf Sie als Ehrenmann, daß Sie mein Geheimnis bewahren werden.«

»Halt, Mr. Blake. Ehe Sie mir vertrauen, sollen und müssen Sie wissen, wie ich in Mr. Candys Haus kam. Wollen wir uns ein wenig hinsetzen, Mr. Blake?«

Durch eine Öffnung in der Mauer von unbehauenen Steinen, die das Moor vom Wege trennte, führte er mich zu einem Stückchen Heideboden, das durch Sträucher und Kusseln gegen Einsicht von der Straße aus geschützt war, nach der entgegengesetzten Richtung jedoch den Blick über die weite, braune Einöde des Moores in seiner großartigen Verlassenheit freigab. Wir setzten uns schweigend. Dann sagte Mr. Jennings plötzlich: »Mr. Blake! Sie befinden sich in schlechter Gesellschaft. Seit Jahren bereits lastet auf mir der Schatten einer furchtbaren Anklage. Ich sage Ihnen sogleich das Schlimmste: Mein Leben ist ruiniert, meinen guten Ruf habe ich verloren. Ich bringe es nicht über mich, Ihnen zu sagen, um was für eine Beschuldigung es sich handelt, und es ist mir auch völlig unmöglich, meine Unschuld zu beweisen. Ich kann sie nur beteuern, und ich beteuere sie, Sir, unter meinem Eid als Christ. Als ich meinen Beruf in diesem Lande begann, traf mich sofort und vernichtend eine gemeine Verleumdung und erledigte mich ein für allemal. Ich trennte mich von meiner Frau, die ich liebte – wie konnte ich sie dazu verdammen, meine Schande zu teilen. In einem fernen Winkel Englands bot sich mir die Stelle eines Assistenten. Ich bekam sie. Sie versprach mir Frieden und, wie ich glaubte, Verborgenheit. Ich hatte unrecht. Die Beschuldigung, vor der ich geflohen war, folgte mir. Ich wurde rechtzeitig gewarnt und konnte meine Stellung freiwillig und mit guten Zeugnissen verlassen, die ich mir verdient hatte. Durch sie fand ich eine neue Beschäftigung, auch wieder in einer einsamen Gegend des Landes. Erneut verging einige Zeit, und wieder folgte mir jene Verleumdung, die für meinen guten Ruf den Tod bedeutete. Schließlich trieb es mich hierher, und ich traf Mr. Candy. Ich sagte ihm, was ich Ihnen gesagt habe – und noch mehr. Ich warnte ihn; es würde Schwierigkeiten geben, selbst wenn er mir Glauben schenkte. ›Hier, wie irgendwo sonst‹, sagte ich, ›lehne ich den Ausweg ab, der mich schuldig sprechen würde, den Ausweg, unter angenommenem Namen zu leben.‹ Er antwortete: ›Ich liebe es nicht, etwas halb zu tun – und ich glaube Ihnen und bemitleide Sie. Wenn Sie die möglichen Folgen auf sich nehmen wollen, so will ich es auch tun.‹ Gott segne ihn dafür! Er hat mir Obdach, Arbeit, Herzensfrieden gegeben – und ich bin seit Monaten bereits fest davon überzeugt, daß nichts geschehen wird, weswegen er seinen Entschluß bereuen müßte.«

»Die Verleumdung ist tot?«

»Die Verleumdung ist so lebendig wie nur je. Folgt sie mir aber hierher, so wird sie zu spät kommen.«

»Sie werden dann nicht mehr hier sein?«

»Nein, Mr. Blake, ich werde tot sein. Seit zehn Jahren bereits leide ich an einer unheilbaren, inneren Krankheit. Deren Fortgang hat mich schließlich zum Mißbrauch von Opium gezwungen. Meine Nächte sind voll von Schmerzen. Das Ende ist nicht mehr fern. Nun steht es bei Ihnen, Sir, zu sagen, was Sie sagen wollten, oder nur ein Lebewohl.«

Ohne einen Augenblick zu zögern, bekannte ich ihm rückhaltlos die Wahrheit, wie ich sie in diesen Seiten niedergeschrieben habe.

»Es ist sicher, daß ich in das Zimmer ging. Es ist ebenso sicher, daß ich den Diamanten genommen habe. Diesen beiden klaren Tatsachen kann ich nur die Erklärung gegenüberstellen, daß ich das, was ich getan habe, ohne mein Wissen tat –«

Ezra Jennings faßte mich erregt am Arm.

»Halt! Sind Sie jemals opiumsüchtig gewesen?«

»Ich habe das Gift nie in meinem Leben genommen.«

»Waren zur gleichen Zeit im vorigen Jahr Ihre Nerven überreizt? Waren Sie ungewöhnlich ruhelos und reizbar?«

»Ja.«

»Schliefen Sie schlecht?«

»Scheußlich schlecht. In vielen Nächten überhaupt nicht.«

»War die Geburtstagsnacht eine Ausnahme? Versuchen Sie sich einmal zu erinnern. Schliefen Sie bei dieser Gelegenheit vielleicht gut?«

»Ich erinnere mich genau. Ich schlief fest.«

Sehr ernst sagte er: »Dies ist ein wichtiger Tag in Ihrem und meinem Leben. Einer Sache bin ich nun völlig sicher: In den Notizen, die ich am Bett meines Patienten aufschrieb, steht das, was Mr. Candy Ihnen heute morgen sagen wollte. Einen Augenblick, das ist noch nicht alles. Ich bin fest davon überzeugt, daß ich es beweisen kann: Sie waren sich nicht bewußt, was Sie taten, als Sie das Zimmer betraten und den Diamanten nahmen. Lassen Sie mir Zeit zum Nachdenken und zum Fragen. Ich glaube, ich halte den Beweis Ihrer Unschuld in den Händen.«

»Sprechen Sie doch deutlicher um Himmels willen! Was meinen Sie denn?« –

»Im Dorf dort unten wartet ein dringlicher Fall auf mich. Lassen Sie mir zwei Stunden Zeit, und kommen Sie dann zu Mr. Candys Haus. Ich verpflichte mich, zu Ihrer Verfügung zu stehen.« Er eilte fort und ließ mich allein.

Nach der verabredeten Zeit fand ich Ezra Jennings, der auf mich wartete. Er saß allein in einem fast leeren, kleinen Zimmer, das durch eine verglaste Tür mit einem Behandlungsraum in Verbindung stand.

»Es ist das einzige Zimmer im Haus, in dem wir zu dieser Tageszeit vor jeder Störung sicher sind. Ist es Ihnen recht, wenn ich zunächst ein paar Fragen an Sie stelle?«

»Fragen Sie mich, was Sie wollen.«

»Mr. Betteredge schrieb damals Ihrer Schlaflosigkeit einen besonderen Grund zu. Welcher war das?«

»Er meinte, es käme davon, daß ich nicht mehr rauchte.«

»Hatten Sie das sonst immer getan?«

»Ja.«

»Unterließen Sie es ganz plötzlich?«

»Ja.«

»Betteredge hat völlig recht, Mr. Blake. Wird das Rauchen zur Gewohnheit, so müßte es schon ein Mensch von außergewöhnlicher Konstitution sein, der es plötzlich lassen kann, ohne für eine gewisse Zeit an seinem Nervensystem Schaden zu erleiden. Nach meiner Ansicht haben wir darin die Erklärung für Ihre schlaflosen Nächte gefunden. Meine nächste Frage bezieht sich auf Mr. Candy. Erinnern Sie sich, ob Sie beim Geburtstagsessen oder später irgend einen Streit mit ihm über seinen Beruf hatten?«

Ich konnte Ezra Jennings hierüber nicht mehr sagen, als daß ich bei Tisch so unbesonnen und hartnäckig die Verabfolgung von Medikamenten bekämpft hatte, daß für einen Augenblick selbst Mr. Candy seine Beherrschung verlor. Ich erinnerte mich ferner, daß Lady Verinder sich eingemischt hatte, um den Streit zu beenden, ehe wir uns später als gute Freunde Lebewohl sagten.

»Bildete die Sicherheit des Diamanten etwa den Gegenstand eines Gespräches anderer Personen, ehe Sie damals zu Bett gingen?«

»Ja. Die Unterhaltung fand zwischen Lady Verinder und ihrer Tochter statt, und ich hörte zu.«

Ezra Jennings nahm seine Notizen vom Tisch und gab sie mir.

»Mr. Blake, wenn Sie nun diese Zeilen im Lichte dessen lesen, was meine Fragen und Ihre Antworten zutage gefördert haben, so werden Sie in Bezug auf sich selbst zwei erstaunliche Entdeckungen machen. Erstens: Sie haben Miss Verinders Wohnzimmer betreten und den Diamanten genommen, während Sie sich in einem Trancezustand befanden, wie er durch Opium hervorgerufen wird. Zweitens: Das Opium wurde Ihnen von Mr. Candy verabfolgt, ohne daß Sie davon wußten, und zwar weil er die Ansichten, die Sie ihm gegenüber während des Geburtstagsessens geäußert hatten, durch ein praktisches Beispiel widerlegen wollte.«

Ich saß wie versteinert und hielt die Papiere in meiner Hand. Der Assistent meinte freundlich: »Versuchen Sie doch, dem armen Mr. Candy zu verzeihen. Zugegeben, er hat ein furchtbares Unglück angerichtet, aber er tat es völlig ahnungslos. Jeder Arzt mit einer großen Praxis ist gelegentlich dazu gezwungen, seine Patienten zu täuschen, genau wie Mr. Candy Sie getäuscht hat. Ich verteidige nicht die Torheit, Ihnen unter diesen Umständen einen Streich zu spielen. Ich möchte Sie nur dazu bringen, die Beweggründe genau zu prüfen und nachsichtiger zu beurteilen.«

»Aber wer gab mir das Laudanum, ohne daß ich es selbst wußte?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Während seiner ganzen Krankheit kam hierüber kein Wort über seine Lippen. Wir müssen auch zu Dingen kommen, die im Augenblick wichtiger sind. Lesen Sie meine Notizen. Machen Sie sich mit den Ereignissen der Vergangenheit vertraut, und dann habe ich Ihnen einen sehr kühnen und überraschenden Vorschlag für die Zukunft zu machen.«

Ich betrachtete die Blätter nacheinander, wie Ezra Jennings sie mir in die Hand gegeben hatte. Auf dem ersten Blatt waren nur wenige Schriftzeichen. Es handelte sich um die zusammenhanglosen Worte und Satzteile, die Mr. Candy in seinem Delirium ausgestoßen hatte. Ich gab es Ezra Jennings zurück und wandte mich dem zweiten Blatt, – dem Schlüssel zum ersten, zu.

Es hieß dort:

Mr. Franklin Blake ist ein kluger und liebenswürdiger junger Mann. Seine Ansicht über den Wert von Medikamenten bedarf aber einer kleinen Korrektur. Er bekennt, daß er unter Schlaflosigkeit leidet. Ich erkläre ihm, seine Nerven seien überreizt und er müsse irgend ein Medikament nehmen. ›Ob ich ein Medikament oder einen Lehrgang nehme ›Wie finde ich mich im Dunkeln zurecht?‹ bedeutet für mich genau denselben Unsinn‹, erwidert er mir und dann noch vor all den anderen Gästen. Darauf ich: ›Sie selbst sind ja dauernd im Dunkeln auf der Suche, und zwar nach Schlaf.‹ Seine Antwort darauf ist: ›Sie kennen doch das schöne Wort vom Blinden, der den Lahmen führt. Ich weiß jetzt jedenfalls, was damit gemeint ist.‹ Sehr witzig – aber trotz all seiner Skepsis kann ich ihm doch zu einem gesunden Schlaf verhelfen, und den braucht er wirklich. Lady Verinders Medizinschrank steht mir zur Verfügung. Ich werde ihm noch heute abend fünfundzwanzig Tropfen Laudanum geben und ihn dann morgen früh mit den Worten begrüben: ›Nun, Mr. Blake, wie wäre es denn heute mit einem kleinen Medikament? Sonst werden Sie niemals schlafen.‹ ›Falsch geraten, Mr. Candy. Ich habe bereits heute Nacht ohne jedes Schlafmittel vorzüglich geschlafen.‹ Und dann rücke ich mit der Wahrheit heraus. ›Na, was halten Sie nun von der Wirkung der Medikamente?‹

Ich gab Ezra Jennings das Manuskript zurück. Er lehnte sich aufgeregt zu mir herüber. »Sind Sie bereit, ein kühnes Experiment zu versuchen?«

»Ich werde alles tun, um mich von dem Verdacht, der jetzt auf mir ruht, zu reinigen. Sagen Sie mir, was ich tun soll.«

»Sie sollen den Diamanten ein zweites Mal in Gegenwart von Zeugen stehlen, deren Glaubwürdigkeit außer Zweifel steht.«

Ich sprang auf, ich versuchte zu sprechen, ich konnte ihn nur anstarren. »Ich glaube, es kann glücken, und es wird glücken – wenn Sie mir nur helfen wollen. – Haben Sie wieder angefangen zu rauchen? – Gut. Wollen Sie es wieder aufgeben? Verstehen Sie richtig, ganz plötzlich – genau so wie damals?«

»Ich werde es von diesem Augenblick an aufgeben.«

»Treten dieselben Folgeerscheinungen ein wie im letzten Juni, so haben wir Sie wieder in einen ähnlichen Nervenzustand versetzt, wie er in der Geburtstagsnacht bestand. Können wir ferner die Verhältnisse im Haus so rekonstruieren, oder wenigstens fast so, wie sie damals waren, und können wir Ihre Gedanken wieder mit all den Fragen bezüglich des Diamanten beschäftigen, die Sie damals bewegten, so haben wir so gut wie möglich physisch und psychisch die gleichen Vorbedingungen geschaffen, unter denen Sie damals das Opium nahmen. In diesem Falle dürfen wir mit einiger Sicherheit hoffen, daß eine nochmalige Dosis mit mehr oder weniger gutem Erfolg zu einer Wiederholung des Resultates führen wird. Das ist in ein paar überstürzten Worten mein Vorschlag.«

Er öffnete ein Buch, das neben ihm lag, und deutete auf einen Abschnitt, der mit Bleistift angestrichen war.

»Nun lesen Sie den Bericht eines Falles, der nach meiner Meinung eine gewisse Beziehung zu Ihrer eigenen Lage und zu dem Experiment hat, zu dem ich Sie gern veranlassen möchte. Beachten Sie von vornherein, Mr. Blake, daß ich Sie jetzt mit einem der größten englischen Psychologen bekannt mache. Das Buch dort ist Dr. Elliotsons: »Menschliche Physiologie«, und der darin zitierte Fall stützt sich auf die wohlbekannte Autorität von Mr. Combe.«

Der Abschnitt hieß folgendermaßen:

Dr. Abel – sagte Mr. Combe – berichtet von einem irischen Portier in einem Warenhaus, der im nüchternen Zustand vergaß, was er im betrunkenen getan hatte. Wenn er dann aber wieder betrunken war, so erinnerte er sich an seine Handlungsweise während der früheren Trunkenheit. So hatte er einmal im Rausch ein wertvolles Paket verloren und konnte, nüchtern geworden, darüber keine Rechenschaft ablegen. Als er dann wiederum betrunken war, erinnerte er sich, daß er das Paket in einem bestimmten Hause zurückgelassen hatte, wo es sicher aufbewahrt worden war und auf ihn wartete.

Nachdem ich dies gelesen hatte, sagte ich: »Ich verstehe sehr wohl, was Sie mir auseinandergesetzt haben, aber ich gestehe, daß mich eine Sache stutzig macht, die Sie mir noch nicht erklärt haben. Ich begreife die Wirkung nicht, die das Laudanum auf mich ausübte. Ich glaubte bisher immer, der Einfluß des Opiums bestehe darin, einen zunächst zu betäuben und dann in Schlaf zu versetzen?«

»Diese Ansicht findet man häufig, sie ist aber irrig, Mr. Blake. Gerade in diesem Augenblick zum Beispiel strenge ich um Ihretwillen meinen Verstand, soweit man| davon reden kann, unter dem Einfluß einer Dosis Laudanum an, die zehnmal größer ist, als diejenige, die Ihnen Mr. Candy gab.« Er reichte mir ein zweites Buch und sagte: »Hier haben Sie die weltberühmten ›Bekenntnisse eines englischen Opiumsüchtigen‹. An der angestrichenen Stelle werden Sie lesen, daß der Verfasser De Quincey, wenn er eine Opiumausschweifung, wie er es nennt, begangen hatte, in die Oper ging, um sich an Musik zu erfreuen. Die Wirkung des Opiums beschränkt sich in der Mehrzahl der Fälle auf zwei Folgeerscheinungen – zunächst eine stimulierende und dann eine beruhigende. Unter dem stimulierenden Einfluß zwingen Sie die letzten und lebendigsten Eindrücke, die Sie in sich aufgenommen hatten – nämlich die, die sich auf den Diamanten bezogen – zum praktischen Handeln, mit anderen Worten dazu, den Edelstein zu schützen. Um dies auszuführen, lenken Sie nun Ihre Schritte in das Zimmer und fassen mit der Hand in die Schubfächer der Vitrine, bis Sie dasjenige gefunden haben, in dem der Stein liegt. Später, während die beruhigende Wirkung die Oberhand über die stimulierende gewinnt, werden Sie langsam dumpf und benommen! Noch später verfallen Sie in einen tiefen Schlaf. Wenn Sie am Morgen die Wirkung des Opiums völlig überwunden haben, so werden Sie so wenig wissen, was Sie in der Nacht getan haben, wie wenn Sie in dieser Zeit bei den Antipoden gewesen wären.«

»Aber Miss Verinder sah doch, wie ich den Raum mit dem Edelstein wieder verließ? Können Sie meine Handlungsweise von jenem Augenblick ab verfolgen? Können Sie raten, was ich dann getan habe?«

»Sehr wahrscheinlich gingen Sie in Ihr eigenes Zimmer zurück. Es ist möglich, Mr. Blake, – mehr wage ich nicht zu sagen – daß Ihre Absicht, den Diamanten zu retten, Sie folgerichtig zu dem Gedanken brachte, ihn verstecken zu müssen, und daß Sie dies irgendwo in Ihrem Schlafzimmer taten. Unter diesen Umständen ist vielleicht der Fall des irischen Portiers genau der Ihre. Vielleicht erinnern Sie sich unter dem Einfluß der zweiten Dosis Laudanum an die Stelle, wo Sie den Diamanten unter dem Einfluß der ersten versteckt haben!«

»Sie rechnen da mit einem Ergebnis, das garnicht eingetreten sein kann. Der Diamant ist in diesem Augenblick in London.«

Er fuhr auf und sah mich höchst überrascht an. »In London? Wie kam er von Lady Verinders Schloß nach London?«

»Das weiß niemand.«

»Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß der Diamant im Augenblick in London ist?«

Genau die gleiche Frage hatte ich an Mr. Bruff gerichtet, als ich bei meiner Rückkehr nach England die ersten Nachforschungen nach dem Diamanten anstellte. Demzufolge wiederholte ich Ezra Jennings genau das, was ich selbst von dem Anwalt gehört hatte.

Er zeigte ganz unverhohlen, daß ihn meine Antwort nicht befriedigte. Statt dessen sagte er: »Ich nehme an, daß der Einfluß des Opiums Sie vielleicht auch diesmal wieder veranlaßt, ihn irgendwo in Ihrem Zimmer zu verstecken. Sie nehmen an, daß die Hinduverschwörer unter gar keinen Umständen einen Fehler machen konnten. Die Hindus waren hinter dem Diamanten her, als sie zu Mr. Lukers Haus gingen. Und deshalb muß der Diamant in Mr. Lukers Besitz sein! Haben Sie irgendeinen Beweis, daß der Monddiamant überhaupt nach London gebracht wurde? Sie können nicht einmal raten, wie oder durch wen er aus Lady Verinders Schloß heraus gebracht wurde? Haben Sie irgendeinen Beweis, daß der Edelstein an Mr. Luker verpfändet wurde? Er behauptet, er hätte nie etwas von dem Mondstein gehört, und die Quittung der Bank besagt nichts, als daß ein Wertgegenstand hinterlegt wurde. Die Inder nehmen an, Mr. Luker lügt – und Sie wiederum nehmen an, daß die Inder in diesem Punkt recht haben. Demgegenüber sage ich nur, meine Ansicht ist möglich. Aber, Mr. Blake, was können Sie, logisch oder juristisch gesprochen, anderes von der Ihren sagen?«

»Ich bekenne, Sie machen mich schwankend«, erwiderte ich.

»Lassen Sie uns einen Augenblick auf unser Experiment mit dem Opium zurückkommen. Wir haben beschlossen, daß Sie sofort jedes Rauchen unterlassen.«

»Von jetzt ab.«

»Das ist der erste Schritt. Der zweite besteht darin, so naturgetreu wie möglich die Verhältnisse im Hause zu rekonstruieren, wie Sie sie im letzten Jahre vorfanden. Es ist unbedingt notwendig, Mr. Blake, jedes Stück Möbel in diesem Teil des Schlosses hervorzukramen, das jetzt vielleicht weggestellt worden ist. Halten Sie es für möglich, daß Miss Verinder an dem Versuch, Ihre Unschuld zu beweisen, großes Interesse hat?«

»Dessen bin ich sicher.«

»In diesem Falle werde ich an Miss Verinder schreiben.«

Er blickte auf seine Uhr. »Der Brief wird noch mit der heutigen Post abgehen. Vergessen Sie nicht, Ihre Zigarren einzuschließen, wenn Sie ins Hotel zurückkommen. Ich werde mich morgen früh erkundigen, wie Sie die Nacht verbracht haben.«

Wir trennten uns. Es war der 15. Juni.

 

Ausschnitte aus dem Tagebuch des Ezra Jennings

1849. 16. Juni –

Nach einer grauenhaften Nacht stand ich spät auf. Das gestern genommene Opium rächte sich durch eine Reihe schrecklicher Träume. So wurde es spät, ehe ich zu Mr. Blake gehen konnte.

»Das Anfang ist so gut, wie Sie es sich nur wünschen können«, sagte er zu mir. »Eine elende, ruhelose Nacht und völlige Appetitlosigkeit heute morgen. Genau wie im letzten Jahr, als ich das Rauchen aufgab. Je eher ich für meine zweite Dosis Laudanum bereit bin, umso besser.«

Ich verließ Mr. Blake.

17. Juni –

Die Post brachte mir einen reizenden Brief von Miss Verinder. Er vermittelte mir den besten Eindruck von ihr. Sie versucht nicht, das Interesse zu verbergen, daß sie an unserem Vorhaben nimmt. Sie schreibt mir in denkbar netter Form, daß mein Brief sie von Mr. Blakes Unschuld überzeugt habe, ohne daß es um ihretwillen im geringsten nötig sei, meine Feststellungen zu beweisen. Der Brief enthält zwei Bitten. Einmal soll ich ihn nicht Mr. Blake zeigen, sondern nur befugt sein, ihm zu sagen, daß Miss Verinder ihm ihr Haus mit größtem Vergnügen zur Verfügung stellt. Mehr nicht.

Die zweite Bitte macht mir ernstliches Kopfzerbrechen. Miss Verinder wartet nur meine Antwort ab, um dann nach Yorkshire zu reisen, wo sie in der Nacht zugegen zu sein wünscht, wenn das Opium zum zweiten Male ausprobiert wird.

Zwei Uhr. Ich ging zunächst zu dem Hotel Mr. Blakes. Er gab denselben Bericht über die vergangene Nacht wie zuvor. Gelegentlicher, unruhiger Schlaf, nicht mehr.

Mein Besuch war nur sehr kurz. Eine Viertelstunde – ich fühlte mich kräftig genug, meine eigene Arbeit fortzusetzen.

Fünf Uhr. Ich habe Miss Verinder geantwortet und vorgeschlagen, sie solle ihre Reise so einrichten, daß sie abends unbemerkt im Schloß ankommt, ehe wir in der dann folgenden Nacht den Versuch machen. Morgen muß ich mit Mr. Betteredge sprechen, um die nötigen Anweisungen für die Wiedereinrichtung des Hauses zu geben.

18. Juni –

Mr. Blake hatte wiederum schlecht geschlafen und litt unter den Nachwirkungen heute morgen stärker als bisher. Er hatte einen Brief von Mr. Bruff bekommen, der die schärfste Mißbilligung über das Experiment aussprach, dem sich sein Freund und Klient nach meinem Rate unterziehen will. Ohne Namen zu erwähnen, hatte Mr. Bruff den Fall einem bedeutenden Arzt unterbreitet. Der bedeutende Arzt hatte gelächelt, den Kopf geschüttelt und – nichts gesagt! Aus diesem Grunde protestiert Mr. Bruff, und das ist alles.

19. Juni –

Die Post brachte mir morgens einen Brief von Miss Verinder, die in liebenswürdiger Weise meinem Vorschlag zustimmte. Der Bericht Mr. Blakes über seinen Zustand war heute morgen der übliche.

20. Juni –

Mr. Blake fängt an, die ständige Unruhe nachts zu spüren. Je eher nun die Zimmer wieder instand gesetzt sind, umso besser. Auf unserem Weg zum Schloß heute früh fragte er mich mit einer gewissen nervösen Ungeduld und Unentschlossenheit wegen eines Briefes um Rat, der ihm von London nachgeschickt war und von Sergeant Cuff stammte.

Der Sergeant schrieb von Irland aus und bestätigte den Empfang einer Nachricht, die Mr. Blake in Cuffs Wohnung bei Dorking für ihn hinterließ. Nun teilte er seine Rückkehr nach England mit, die wahrscheinlich in einer Woche erfolgen würde.

Nachdem ich den Brief gelesen hatte, gab ich Mr. Blake unverzüglich den Rat, Sergeant Cuff über alles zu unterrichten, was sich zugetragen hatte, seit die Untersuchung im letzten Jahr eingestellt wurde.

21. Juni –

Heute muß eine kurze Eintragung in mein Tagebuch genügen. Mr. Blake hat die bisher schlimmste Nacht verbracht. Sehr gegen meinen Willen mußte ich ihm notgedrungen etwas verschreiben.

Was mich selbst anbetrifft, so hatte ich heute morgen eine Attacke. Ich werde jetzt dies Buch schließen und eine volle Dosis nehmen – 500 Tropfen. –

22. Juni –

Die Wiedereinrichtung des Schlosses wird morgen, Sonnabend, beendet sein. Demnach muß mein medizinisches Vorhaben, wie Betteredge es nennt, unvermeidlich bis zum Montag aufgeschoben werden. Ich bin in Mr. Blake gedrungen, in der Zwischenzeit an Mr. Bruff zu schreiben, er möchte als einer der Zeugen zugegen sein. Ich wählte den Anwalt ganz bewußt, weil er stark voreingenommen gegen uns ist. Gelingt es, ihn zu überzeugen, so wird unser Sieg unbestritten sein.

23. Juni –

In der letzten Nacht rächte sich das Opium wieder an mir. Schadet nichts, ich muß es nun weiternehmen, bis der Montag vorüber ist. Mr. Blake geht es heute nicht allzu gut.

25. Juni – Montag – der Tag des Experimentes

Fünf Uhr nachmittags. Wir sind gerade im Schloß angekommen. Die erste Frage ist die nach Mr. Blakes Gesundheit. Soweit ich es beurteilen kann, verspricht er, physisch gesprochen, heute abend genau so empfänglich für die Wirkung des Opiums zu sein, wie zu der gleichen Zeit im letzten Jahre. Er wechselt oft die Farbe. Seine Hand ist nicht ganz ruhig, und er fährt bei gelegentlichen Geräuschen oder beim unerwarteten Erscheinen von Personen und Dingen in die Höhe. Gestern bekam ich ein paar Zeilen von Miss Verinder. Sie will mit dem Nachmittagszug reisen, und Mrs. Merridew hat darauf bestanden, mitzukommen. Betteredge empfing uns heute, sehr unheilverkündend, ¦ in seinem besten schwarzen Anzug und einer besonders steifen, weißen Krawatte. Wann immer er zu mir hinblickt, erinnert er sich daran, daß ich Robinson Crusoe nicht mehr gelesen habe, seit ich ein Kind war, und er zollt mir achtungsvolles Mitleid.

Gestern kam auch die Antwort des Anwalts. Mr. Bruff nimmt die Einladung unter Protest an.

Sieben Uhr. Wir wollen jetzt zur selben Zeit essen, zu der die Geburtstagstafel im letzten Jahre stattfand. Natürlich ist der Grund dafür ein rein medizinischer. Das Laudanum muß möglichst genau dieselben Vorbedingungen hinsichtlich der Verdauung vorfinden wie im letzten Jahre.

Halb neun Uhr. – Gerade eben erst fand ich eine Möglichkeit, das Wichtigste zu tun; nämlich im Medizinschrank nach dem Laudanum zu suchen, das Mr. Candy voriges Jahr verwandte. Ich fand die Flasche, die sorgfältig mit einem Glasstopfen und Lederkappe verschlossen war. Das Präparat darin, wie ich vermutet hatte, war ganz gewöhnliche Opiumtinktur. Meine Notizen besagen, daß Mr. Candy nur fünfundzwanzig Tropfen verabreichte. Das. ist eine kleine Dosis in Anbetracht der Ergebnisse, selbst bei jemandem, der so sensitiv wie Mr. Blake ist. Ich werde das Risiko auf mich nehmen, die Dosis auf vierzig Tropfen zu verstärken. Bei dieser Gelegenheit weiß Mr. Blake., daß er das Laudanum nehmen wird, und das ist, physiologisch gesprochen, gleichbedeutend damit, daß er eine bestimmte Abwehrmöglichkeit dagegen besitzt.

Zehn Uhr. Die Zeugen kamen vor einer Stunde an. Ich traf Mr. Bruff auf dem Flur und sagte: »Miss Verinder hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, daß ich Wert darauf lege, Ihre und natürlich auch Mrs. Merridews Anwesenheit im Schloß vor Mr. Blake geheimzuhalten, bis mein Experiment mit ihm ausgeführt wurde?«

»Ich weiß schon, daß ich den Mund halten muß, Sir«, sagte Mr. Bruff ungeduldig. »Da ich gewohnt bin, mich über menschliche Torheiten auszuschweigen, bin ich um so eher bereit, bei dieser Gelegenheit meinen Mund zu halten. Genügt Ihnen das?«

Ich verbeugte mich und überließ es Betteredge, ihm sein Zimmer zu zeigen.

Als nächstes mußte ich nun das Zusammentreffen mit den beiden Damen hinter mich bringen. Als Miss Verinder zunächst meiner ansichtig wurde, hielt sie inne und zögerte. Sie faßte sich aber sofort, wurde einen Augenblick rot und gab mir dann mit bezwingender Offenheit die Hand.

»Ich kann Sie nicht wie einen Fremden behandeln, Mr. Jennings. Wenn Sie wüßten, wie glücklich Ihre Briefe mich gemacht haben.«

Nichts hatte mich auf ihre Güte und Schönheit vorbereitet. Ich benahm mich ihr gegenüber ungeschickt und schüchtern wie ein kleiner Junge.

»Ich bin ja so gespannt, so aufgeregt – ich habe Ihnen tausenderlei zu sagen und weiß doch nicht, was zuerst. Wundert Sie das Interesse, das ich an all dem nehme?«

»Nein, ich möchte glauben, daß ich es völlig verstehe.«

»Sie haben mich aus einem unbeschreiblichen Elend befreit. Sie haben mir neues Leben geschenkt. Ich liebe ihn, ich habe ihn von Anfang an geliebt. Wenn er morgen erfährt, daß ich im Schloß bin, glauben Sie – – –?«

Sie hielt wieder inne und sah mich sehr ernst an.

»Morgen«, sagte ich, »brauchen Sie ihm wohl nur das zu sagen, was Sie mir eben sagten.«

Hier wurden wir unterbrochen, da Betteredge mit dem Tee hereinkam. Im Wohnzimmer saß eine kleine, alte Dame in einer Ecke, sehr sorgfältig gekleidet und tief über eine hübsche Stickereiarbeit gebeugt. Sie ließ sie in den Schoß sinken und stieß einen leisen Schrei aus, als sie meine Zigeunerfarbe und mein scheckiges Haar sah.

»Mrs. Merridew«, sagte Miss Verinder, »dies ist Mr. Jennings.«

Die alte Dame begann: »Mr. Jennings will heute ein wissenschaftliches Experiment versuchen. Ich habe so etwas als junges Mädchen in der Schule erlebt, und es endete stets mit einer Explosion. Wenn möglich, möchte ich diesmal rechtzeitig vor der Explosion gewarnt werden. Möglichst so, daß ich sie hinter mir habe, ehe ich zu Bett gehe.«

Ich versuchte, Mrs. Merridew zu beruhigen. Diesmal gehöre eine Explosion nicht zum Programm. Dann ging ich wieder nach oben zu Mr. Blake. Er ging ruhelos im Zimmer auf und ab und war ein wenig gereizt, daß er sich selbst überlassen geblieben war.

»Wann wollen Sie mir das Laudanum geben?« fragte Mr. Blake ungeduldig.

»Sie müssen noch etwas warten. Ich werde hier bleiben und Ihnen Gesellschaft leisten, bis es so weit ist.«

Es ist noch nicht zehn Uhr. Wiederholte Fragen an Betteredge und Mr. Blake haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß Mr. Candy die Dosis Laudanum nicht gut vor elf Uhr hatte verabreichen können. Ich habe mich also entschlossen, die zweite Dosis ebenfalls erst zu dieser Zeit zu probieren. Wir unterhielten uns ein wenig, waren aber beide durch das vor uns liegende Experiment abgelenkt.

Nach meiner Uhr ist es kurz vor elf Uhr. Ich muß diese Blätter weglegen.

Zwei Uhr morgens. Das Experiment hat stattgefunden. Hier ist das Ergebnis: Um elf Uhr klingelte ich nach Betteredge und sagte ihm, Mr. Blake könne sich nun endlich fertig machen, um ins Bett zu gehen. Ich beugte mich aus dem Fenster und sah in die Nacht hinaus. Es war milde und regnerisch, und das Wetter erinnerte an die Nacht des Geburtstages. Ich klopfte an die Tür zu Mr. Bruffs Zimmer. Dieser öffnete und hielt Papiere in der Hand.

»Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß, aber ich will jetzt das Laudanum für Mr. Blake fertig machen, und ich muß Sie bitten, zugegen zu sein und zuzusehen, was ich tue.«

»Ja. Sonst noch etwas?«

»Ja, noch etwas. Ich muß Sie leider bitten, sich in Mr. Blakes Zimmer zu begeben und abzuwarten, was geschieht.«

»Es ist schon gut«, sagte Mr. Bruff. »Mein Zimmer oder Mr. Blakes Zimmer – es ist völlig gleichgültig. Ich kann meine Schriftstücke überall weiterlesen. Es sei denn, Mr. Jennings, daß Sie dagegen Einspruch erheben, wenn ich so viel gesunden Menschenverstand in Ihr Vorhaben einschmuggele.«

Hiermit folgte er mir aus dem Zimmer. Wir fanden Miss Verinder bleich, aufgeregt und ruhelos in ihrem Wohnzimmer auf- und abgehend. An einem Tisch in der Ecke stand Betteredge und bewachte den Medizinschrank. Mr. Bruff setzte sich auf den ersten besten Stuhl und versenkte sich auf der Stelle wieder in seine Schriftstücke.

Miss Verinder zog mich beiseite. »Ich werde, genau wie damals, in meinem Schlafzimmer warten und werde die Tür ein wenig offen lassen, genau wie im letzten Jahr. Ich werde die Tür des Wohnzimmers im Auge behalten und meine Kerze ausblasen, sobald sich die Tür bewegt. So verlief alles an meinem Geburtstage, und es muß doch genau wieder so verlaufen, nicht wahr?«

»Sind Sie gewiß, daß Sie sich beherrschen können, Miss Verinder?«

»In seinem Interesse kann ich alles«, entgegnete sie leidenschaftlich. Ein Blick in ihr Gesicht sagte mir, daß ich mich auf sie verlassen könne. Ich wendete mich wieder Mr. Bruff zu.

»Ich muß Sie leider stören. Würden Sie Ihre Schriftstücke einen Augenblick beiseite legen?«

»Gewiß doch.« Er fuhr hoch, als hätte ich ihn bei einer ganz besonders interessanten Stelle gestört, und folgte mir zum Medizinschrank.

Ich zählte vierzig Tropfen aus der Flasche ab und schüttete das Laudanum in ein Medizinglas. Dies gab ich Miss Verinder und sagte: »Füllen Sie es dreiviertel voll.«

Nun nahm ich einen Glaswürfel, der den Diamanten darstellen sollte, aus der Tasche und gab ihn ihr. »Sie müssen dies hier genau dorthin legen, wo im vorigen Jahr der Monddiamant lag.«

Sie führte uns zu der indischen Vitrine und legte den angeblichen Diamanten in das Schubfach, in dem der wirkliche Diamant in jener Geburtstagsnacht gelegen hatte.

Nun nahm ich das Wasser mit dem Laudanum in die Hand und richtete an der Tür ein letztes Wort an Miss Verinder. »Warten Sie nicht zu lange mit dem Auslöschen der Lichter.«

»Ich werde es sofort tun und beim Licht einer einzigen Kerze in meinem Schlafzimmer warten.«

Von Mr. Bruff gefolgt, ging ich in Mr. Blakes Zimmer zurück. Er warf sich ruhelos in seinem Bett von einer Seite zur anderen und fragte mich gereizt, ob er an diesem Abend überhaupt noch das Laudanum bekommen würde. In Anwesenheit der beiden Zeugen gab ich ihm die Dosis, schüttelte die Kissen zurecht und hieß ihn, sich ruhig hinzulegen und abzuwarten.

Der Regen fiel leise, und das Haus war totenstill. Es war zwanzig Minuten nach elf auf meiner Uhr, als die Vorbereitungen abgeschlossen waren, und ich nahm auf einem Stuhl Platz, der als einziger am Fußende des Bettes stand. Nach einiger Zeit blickte ich wieder zu Mr. Blake hinüber. Er war noch genau so ruhelos wie zuvor. Ich verwickelte ihn in eine Unterhaltung und zwar über den Gegenstand, mit dem sich seine Gedanken in diesem Augenblick beschäftigen sollten. Er durfte jedoch diese Absicht nicht merken. Nach einiger Zeit war er bereits so sehr darauf erpicht, mich zu berichtigen, daß er vergaß, sich im Bett zu wälzen. Das Problem des Opiums beschäftigte ihn jetzt innerlich gar nicht mehr, und dabei war gerade der äußerst wichtige Augenblick erreicht, wo seine Augen mir zum ersten Mal die Wirkung des Opiums in seinem Gehirn verrieten.

Ich sah auf die Uhr. Fünf Minuten fehlten noch an zwölf. Ein ganz leichter Opiumrausch gab seinen Augen einen eigentümlichen Glanz, Schweißtropfen glitzerten auf seinem Gesicht. Nach weiteren fünf Minuten wurde die Unterhaltung mit mir unzusammenhängend. Wohl drehte sie sich immer noch um den Diamanten, aber er beendete seine Sätze nicht mehr. Ein wenig später wurden die Sätze zu einzelnen Worten. Dann folgte Schweigen. Er setzte sich im Bett auf und begann wieder zu reden – nicht mit mir, sondern mit sich selbst. Dieser Wechsel zeigte mir, daß das erste Stadium des Experimentes erreicht war. Er stand unter dem stimulierenden Einfluß des Opiums. Es war dreiundzwanzig Minuten nach zwölf. Zehn Minuten vergingen – nichts geschah. Dann warf er plötzlich die Bettdecke von sich. Er streckte ein Bein aus dem Bett. Er wartete.

»Ich wünschte, ich hätte ihn nie aus der Bank geholt«, sagte er vor sich hin. »In der Bank war er sicher.«

Mein Herz schlug heftig, genau wie der Puls an meinen Schläfen. Der Zweifel, ob der Diamant in Sicherheit sei, war auch jetzt wieder der beherrschende Gedanke in seinem Gehirn. Hieran hing der ganze Erfolg des Experimentes. Ich mußte fortsehen, oder ich hätte meine Selbstbeherrschung verloren. Wieder folgte ein Schweigen.

Nun hatte er das Bett verlassen. Seine Pupillen waren zusammengezogen, die Augen glühten im Licht der Kerze als er den Kopf langsam hin und her bewegte. Er dachte nach, er war über irgend etwas im Zweifel, er sprach wieder.

»Woher weiß ich es? Die Inder können sich im Hause versteckt haben?«

Er hielt inne und ging langsam zum anderen Ende des Zimmers – er drehte sich um, wartete – kam wieder zum Bett: »Er ist nicht einmal unter Verschluß. Im Schubfach ihres Schrankes, und das Schubfach unverschlossen. Jeder, der will, kann ihn nehmen.«

Dann wiederholte er seine ersten Worte. »Woher weiß ich es denn? Die Inder können sich im Hause versteckt haben.«

Wieder wartete er. Ich zog mich hinter den Bettvorhang zurück. Er sah sich mit stieren, glitzernden Augen im Zimmer um. Ein Moment atemloser Spannung. Irgendwie gab es eine Unterbrechung. Eine Unterbrechung in der Wirkung des Opiums? Eine Unterbrechung in der Tätigkeit seines Gehirns? Wer wußte das? Alles hing davon ab, was er als nächstes tun würde. – Er legte sich wieder aufs Bett.

Ein furchtbarer Zweifel kam mir. War es möglich, daß die beruhigende Wirkung des Opiums bereits eingesetzt hatte? Sollte so unmittelbar vor dem Erfolg alles mißlungen sein. Nein! Plötzlich stand er wieder auf. »Wie, zum Teufel, soll ich mit dieser Last auf dem Herzen schlafen.«

Einen Augenblick später nahm er die Kerze zur Hand. Wir warteten – wir sahen und hörten nichts. Wir warteten. Plötzlich bewegte sich das Licht. Im nächsten Augenblick ging er schnell und geräuschlos, die Kerze in der Hand, an uns vorbei. Er öffnete die Schlafzimmertür und trat hinaus. Wir folgten ihm den Flur entlang. Wir folgten ihm die Treppe hinunter. Wir folgten ihm durch den zweiten Flur. Er blickte nicht ein einziges Mal zurück. Er zögerte einen Augenblick. Er öffnete die Tür des Wohnzimmers, ging hinein und ließ sie hinter sich offen.

Er schritt bis zur Mitte des Zimmers, sah sich darin um – aber nicht ein einziges Mal hinter sich. Ich bemerkte, daß die Tür zu Miss Verinders Schlafzimmer einen Spalt offen stand. Sie hatte das Licht ausgemacht. Sie beherrschte sich fabelhaft. Der matte, weiße Umriß ihres Sommerkleides war alles, was ich sehen konnte. Sie blieb im Dunkeln. Nicht ein Wort, nicht eine Bewegung.

Es war jetzt zehn Minuten nach eins. Durch die Todesstille hörte ich das leise Tropfen des Regens und den zitternden Laut, mit dem die Nachtluft durch die Bäume strich.

Nachdem er länger als eine Minute unentschlossen in der Mitte des Zimmers gewartet hatte, ging er zu der Ecke am Fenster, wo die indische Vitrine stand. Auf diese stellte er seinen Leuchter. Er öffnete und schloß ein Schubfach nach dem anderen, bis er zu demjenigen kam, in dem der angebliche Diamant lag. Einen Augenblick sah er hinein. Dann nahm er das Kristall mit der Rechten heraus und mit der Linken den Leuchter von der Vitrine. Er ging ein paar Schritte zur Mitte des Zimmers hin und stand dann wieder still.

Als er sich wieder bewegte, handelte er anders als vor einem Jahr. Er stellte die Kerze auf einen Tisch und schritt zum entfernteren Ende des Zimmers hin. Dort stand ein Sofa. Er lehnte sich mit der linken Hand schwer auf dessen Lehne, raffte sich dann wieder auf und ging zur Mitte des Zimmers zurück. Jetzt konnte ich seine Augen sehen. Sie wurden stumpf und schwer, und der Glanz in ihnen erstarb schnell.

Die Spannung des Augenblicks erwies sich als zu groß für Miss Verinders Selbstbeherrschung. Sie kam ein paar Schritte näher – dann blieb sie stehen. Zum ersten Male sahen Mr. Bruff und Betteredge von der offenen Tür her zu mir hin. Die Ahnung einer kommenden Enttäuschung wurde ihnen so klar wie mir. So lang er jedoch dort blieb, wo er jetzt stand, blieb noch Hoffnung. Wir warteten mit unaussprechlicher Spannung, was nun geschehen würde.

Was nun kam, war entscheidend: Er ließ den angeblichen Diamanten aus der Hand fallen. Dieser fiel auf den Boden vor die Tür, ihm und jedem anderen deutlich sichtbar. Er gab sich keine Mühe ihn aufzuheben, starrte gedankenlos auf ihn hinunter, und dabei sank der Kopf auf die Brust. Er schwankte – ging unsicher zum Sofa zurück – und setzte sich. Er machte eine letzte Anstrengung, versuchte aufzustehen und fiel zurück. Der Kopf sank auf die Sofakissen. Es war fünfundzwanzig Minuten nach eins. Ehe ich noch die Uhr in die Tasche gesteckt hatte, war er eingeschlafen. Nun war alles vorüber. Die einschläfernde Wirkung hatte eingesetzt. Das Experiment war zu Ende.

Ich betrat das Zimmer und bedeutete Mr. Bruff und Betteredge, sie möchten folgen. In der Tür kam mir Miss Verinder mit einem leichten Schal und mit einer Steppdecke von ihrem eigenen Bett entgegen.

»Wollen Sie ihn beobachten, während er schläft?« fragte sie.

»Ja. Ich bin mir in diesem Falle der Wirkung des Opiums nicht sicher genug, um ihn allein zu lassen.«

»Machen Sie ihm ein Bett auf dem Sofa zurecht. Ich kann die Tür zu meinem Schlafzimmer schließen und darin bleiben«, flüsterte sie.

Fünf Minuten später hatte ich es ihm auf dem Sofa bequem gemacht. Miss Verinder wünschte gute Nacht und schloß die Tür. Dann setzten wir drei anderen uns auf meine Bitte hin um den Tisch in der Mitte des Zimmers, auf welchem noch die Kerze brannte und Schreibmaterial lag.

»Ehe wir uns trennen«, begann ich, »möchte ich noch ein paar Worte über das Experiment sagen, das heute nacht ausprobiert worden ist. Zweierlei wollte ich damit erreichen. Erstens beweisen, daß im vergangenen Jahr Mr. Blake dies Zimmer betreten und den Diamanten genommen hat, wobei er unter dem Einfluß des Opiums ohne Bewußtsein oder ohne eigene Verantwortung handelte. Sind Sie beide nun nach dem, was Sie gesehen haben, insoweit zufrieden gestellt?«

Sie antworteten, ohne einen Augenblick zu zögern, bejahend.

»Zweitens wollte ich herausfinden, was er mit dem Diamanten gemacht hat, nachdem Miss Verinder gesehen hatte, wie er in jener Geburtstagsnacht ihr Wohnzimmer mit dem Edelstein in der Hand verließ. Ich habe Mr. Blake von vornherein gesagt, daß ein voller Erfolg in dieser Frage davon abhinge, daß wir noch einmal in ihm die physischen und geistigen Voraussetzungen schaffen könnten, wie sie im letzten Jahr gegeben waren – und ich warnte ihn gleich, dies sei so gut wie völlig unmöglich. Wir konnten die Voraussetzungen nur zum Teil rekonstruieren. Infolgedessen ist das Experiment nur zum Teil erfolgreich gewesen. Es ist ebenfalls möglich, daß ich eine zu starke Dosis Laudanum verabreicht habe. Doch möchte ich selbst den ersteren Grund für den wahren halten, daß wir sowohl einen Mißerfolg zu beklagen, wie uns über einen Erfolg zu freuen haben.«

Nach diesen Worten legte ich Papier und Feder vor Mr. Bruff hin und fragte ihn, ob er etwas dagegen einzuwenden habe, ehe wir uns für die Nacht trennten, eine kurze Beschreibung des von ihm Gesehenen zu geben und zu unterzeichnen. Er ergriff sofort die Feder und schrieb mit geübter Hand das Protokoll, fließend und gewandt.

Während er unterschrieb, sagte er: »Dies bin ich Ihnen schuldig als geringe Wiedergutmachung dessen, was zuvor heute abend zwischen uns geschah. Ich bitte Sie um Verzeihung, Mr. Jennings, daß ich an Ihnen gezweifelt habe. Sie haben Franklin Blake einen unschätzbaren Dienst geleistet. In unserer Rechtssprache: Sie haben den Wahrheitsbeweis angetreten.«

Betteredges Entschuldigung war charakteristisch für ihn. Er sagte: »Mr. Jennings, wenn Sie Robinson Crusoe wieder lesen – und ich empfehle es Ihnen ernstlich – so werden Sie feststellen, daß er niemals zögerte zuzugeben, wenn er unrecht gehabt hatte. Bitte beurteilen Sie meine Handlungsweise bei dieser Gelegenheit unter genau dem gleichen Gesichtspunkt, Sir.«

Mit diesen Worten unterzeichnete er das Schriftstück.

Als wir aufstanden, nahm mich Mr. Bruff beiseite.

»Ein Wort noch über den Diamanten. Ihre Theorie geht dahin, daß Franklin Blake den Mondstein in seinem Zimmer versteckte. Meine dagegen dahin, daß sich der Mondstein beim Bankier des Mr. Luker in London befindet. Wir wollen nicht darüber streiten, wer recht hat. Wir wollen uns nur fragen, wer von uns beiden in der Lage ist, seine Theorie auf die Wahrheit hin zu überprüfen.«

»Die Probe auf mein Exempel hat heute nacht stattgefunden und ist erfolglos geblieben.«

»Die Probe auf das meine befindet sich noch in der Durchführung. Während der letzten zwei Tage habe ich Mr. Luker in der Bank beobachten lassen, und ich werde veranlassen, daß dies bis zum Ende des Monats fortgeführt wird. Ich. weiß, er muß selbst den Diamanten aus der Hand des Bankiers empfangen, und ich handle auf die Möglichkeit hin, daß derjenige, der den Diamanten verpfändet hat, ihn hierzu zwingen wird, indem er das Pfand auslöst. In diesem Fall gelingt es mir vielleicht, die Hand auf den Unbekannten zu legen. Geben Sie mir so weit recht?«

Das tat ich bereitwillig, worauf der Anwalt fortfuhr:

»Mit dem Morgenzug fahre ich nach London zurück. Vielleicht höre ich dort, was man herausgefunden hat, und es kann äußerst wichtig sein, daß Franklin Blake zur Hilfe bereitsteht. Ich beabsichtige ihn daher, sobald er aufwacht, zur gemeinsamen Rückfahrt nach London aufzufordern. Kann ich mich, nach allem was vorgefallen ist, darauf verlassen, daß Sie mich in dieser Absicht unterstützen werden?«

»Ganz gewiß!«

Mr. Bruff gab mir die Hand und verließ das Zimmer. Betteredge folgte ihm.

Ich ging zum Sofa und betrachtete Mr. Blake. Er hatte sich nicht gerührt, seit ich ihn auf das Sofa gebettet hatte. Er lag in einem tiefen, ruhigen Schlaf.

Plötzlich hörte ich, wie sich die Schlafzimmertür leise öffnete. Wiederum erschien Miss Verinder in ihrem hübschen Sommerkleid. Sie flüsterte: »Tun Sie mir einen letzten Gefallen? Lassen Sie mich mit Ihnen wachen.«

So wachten wir beide schweigend. Der eine tief in sein Schreiben versunken, die andere tief in ihre liebevollen Gedanken. Stunde auf Stunde lag er in festem Schlaf. Das Licht des neuen Tages wurde im Zimmer immer heller, und er bewegte sich noch immer nicht.

 

Es ist gerade acht Uhr, zum ersten Male beginnt er sich zu regen. Miss Verinder kniet neben dem Sofa, so daß, wenn sich seine Augen zum ersten Male öffnen, er ihr Gesicht sehen muß. Soll ich sie beide allein lassen? Ich werde es tun.

Elf Uhr. Das Haus ist wieder leer. Sie sind alle mit dem Zehnuhrzug nach London gefahren. Mein kurzer Glückstraum ist zu Ende. Ich bin wieder zu den Wirklichkeiten meines freudlosen und einsamen Lebens erwacht.

Meine armen Patienten warten auf mich. Heute früh also zurück zu den alten Gewohnheiten. Heute abend zurück zu der furchtbaren Entscheidung zwischen Opium und Schmerzen! Gott sei Dank für seine Gnade. Ich habe ein wenig Sonne gesehen – ich erlebte glückliche Tage.

 

Die Erzählung wird von Franklin Blake wieder aufgenommen

Bei unserer Abfahrt nach London bedauerten wir nur, uns rascher als wir es gewünscht hatten, von Ezra Jennings trennen zu müssen. Es war sehr traurig, als der Zug den Bahnhof verließ, und wir unseren besten und liebsten Freund einsam auf dem Bahnsteig stehen sahen.

Bei unserer Ankunft in London wurde Mr. Bruff von einem kleinen Jungen angeredet. Nachdem er ihn angehört hatte, bat er die Damen, sie möchten entschuldigen, wenn wir sie nicht nach Portland Place begleiteten. Ich konnte gerade noch Rachel versprechen, daß ich zurückkommen und ihr alles erzählen würde, als mich Mr. Bruff beim Arm faßte und in eine Droschke schob. Der Junge setzte sich auf den Bock neben den Kutscher, der uns nach der Lombard Street fuhr.

»Neues von der Bank?« fragte ich, als wir uns in Bewegung setzten.

»Neues von Mr. Luker. Vor einer Stunde hat er sein Haus in Lambeth in einer Droschke verlassen. In seiner Begleitung befanden sich zwei Leute, die von meinen Beobachtern als Polizeibeamte in Zivil erkannt wurden. Ist der Grund dafür Mr. Lukers Furcht vor den Indern, so ist der Schluß eindeutig genug. Er ist im Begriff, den Diamanten von der Bank abzuholen.«

»Und wir fahren zur Bank, um zu sehen, was daraus wird?«

»Ja – oder um zu hören, was daraus geworden ist, falls alles schon vorüber sein sollte. Haben Sie meinen Jungen auf dem Bock gesehen? Im Büro nennen sie das arme Bürschlein »Stachelbeere«. Ich verwende ihn für Botengänge und wünschte nur, meine Schreiber, die ihm diesen Spitznamen gaben, wären so zuverlässig wie er. Stachelbeere ist einer der gerissensten Jungen in London, Mr. Blake.«

Es war zwanzig Minuten vor fünf Uhr, als wir vor der Bank vorfuhren. Stachelbeere blickte sehnsüchtig seinen Herrn an, als er die Tür der Droschke öffnete.

Mr. Bruff fragte ihn freundlich: »Willst du auch mit hineinkommen? Dann mal los und bleibe dicht bei mir, bis ich dir etwas anderes sage.« Mir aber flüsterte Mr. Bruff zu: »Er ist schnell wie der Blitz, und zwei Worte genügen für Stachelbeere, wo zwanzig bei einem anderen Jungen notwendig wären.«

Wir betraten die Bank. Zwei Leute aus der Menge kamen auf Mr. Bruff zu, sobald sie ihn sahen.

»Nun? Habt Ihr ihn gesehen?«

»Er ging vor einer halben Stunde an uns vorbei, Sir – in das hintere Büro. Er ist noch nicht wieder herausgekommen.«

»Wir müssen warten«, sagte Mr. Bruff zu mir. Ich suchte in der Menge um mich nach den drei Indern. Nichts war von ihnen zu sehen. Nur ein Mann unter dem Publikum hatte eine auffallend dunkle Hautfarbe. Er war hochgewachsen, trug einen Lotsenmantel, einen runden Hut und sah wie ein Seemann aus. War dies etwa einer von ihnen in Verkleidung? Unmöglich! Der Mann war größer als irgend einer der Inder, und das Gesicht, soweit es nicht durch einen buschigen, schwarzen Bart verborgen war, war mindestens zweimal so breit wie das ihre.

»Irgend wo muß ja ihr Spion stehen«, sagte Mr. Bruff und blickte nun auch nach dem Seemann hin. »Er könnte es schon sein.«

Ehe er noch weiterreden konnte, zupfte Stachelbeere respektvoll an seinem Rockschoß. Mr. Bruff sah in dieselbe Richtung wie der Knabe. »Seht! Da ist Mr. Luker!«

Der Geldverleiher kam aus den hinteren Räumen der Bank, gefolgt von den ihn bewachenden Polizeibeamten in Zivil.

»Behalten Sie ihn im Auge«, flüsterte Mr. Bruff, »wenn er den Diamanten an irgend jemand weitergibt, wird er es hier tun.«

Ohne einen von uns zu beachten, ging Mr. Luker langsam zur Tür hin. Ich sah genau seine Handbewegung, als er an einem kleinen, untersetzten Mann vorbeiging, der ehrbar in einen unauffälligen, grauen Anzug gekleidet war. Der Mann fuhr, etwas zusammen und sah hinter Mr. Luker her. Dieser ging langsam durch die Menge weiter. An der Tür setzte sich seine Bewachung zu beiden Seiten neben ihn. Allen drei folgte einer von Mr. Bruffs Leuten, und ich sah nichts mehr von ihnen.

Ich blickte mich nach dem Anwalt um und dann bedeutungsvoll auf den Mann in dem schlichten, grauen Anzug.

»Ja! Ich habe es auch gesehen!«

Er wandte sich um, um den zweiten seiner Leute zu finden. Es war niemand mehr zu sehen. Er suchte seinen dienstbaren Geist. Stachelbeere war verschwunden.

»Was zum Teufel bedeutet das? Beide haben uns im Stich gelassen, gerade, wo wir sie am nötigsten brauchen«, sagte Mr. Bruff ärgerlich.

Der Mann in dem grauen Anzug kam nun am Schalter an die Reihe. Er zahlte einen Scheck ein. Er erhielt eine Quittung und wandte sich zum Gehen.

»Was sollen wir tun? Wir können uns doch nicht so weit erniedrigen, ihm zu folgen«, sagte Mr. Bruff.

»Ich kann es. Nicht für 10 000 Pfund möchte ich diesen Mann aus den Augen verlieren!«

Der Mann in Grau stieg in einen Omnibus. Wir hinterher. Der Mann in Grau ließ den Wagen in der Oxford Street halten und stieg aus. Wir folgten ihm weiter. Er ging in eine Drogerie. Mr. Bruff fuhr auf und rief: »Mein Drogist! Ich fürchte, wir haben einen Fehler gemacht.« Wir betraten den Laden. Mr. Bruff und der Besitzer wechselten heimlich ein paar Worte. Der Anwalt kam wieder zu mir und sah sehr niedergeschlagen aus.

»Mr. Blake! Sie und ich sind die schlechtesten Amateur-Detektive, die sich jemals in diesem Beruf versucht haben. Der Mann in Grau ist bereits dreißig Jahre in der Drogerie angestellt. Er hat für Rechnung seines Herrn Geld eingezahlt – und weiß über den Mondstein nicht mehr als ein neugeborenes Kind. Kommen Sie mit in mein Büro. Offenbar sind Stachelbeere und der andere Mann jemand anderem gefolgt. Wir wollen hoffen, daß sie wenigstens ihre Augen offen gehalten haben.«

Als wir Gray's Inn Square erreichten, war der zweite Mann bereits vor uns angekommen. Er hatte schon länger als eine Viertelstunde gewartet.

»Nun? Was haben Sie Neues?«

»Es tut mir leid, Sir, aber ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte schwören können, daß ich sah, wie Mr. Luker einem älteren Herrn in einem hellen Paletot etwas reichte. Dieser alte Herr erwies sich aber als ein sehr achtbarer Eisenwarenhändler.«

»Wo ist Stachelbeere?«

»Das weiß ich nicht, Sir. Seit ich die Bank verlassen habe, habe ich ihn nicht mehr gesehen.«

Mr. Bruff entließ den Mann. Dann aßen wir in seinen Räumen. Ehe das Tischtuch fortgenommen wurde, hieß es, »Jemand« wolle den Anwalt sprechen. War dieser Jemand Stachelbeere? Nein, nur der Mann, der Mr. Luker folgen sollte, als er die Bank verließ. Er berichtete, Mr. Luker sei in sein eigenes Haus zurückgekehrt und habe dort seine Wache entlassen. Er sei dann nicht mehr ausgegangen. Als die Dämmerung kam, seien die Läden geschlossen und die Türen verriegelt worden. Die Straße, in der das Haus lag, und der Weg hinter dem Hause waren sorgfältig bewacht worden. Kein Zeichen von den Indern. Niemand hatte sich in der Gegend herumgetrieben.

»Glauben Sie, daß Mr. Luker den Diamanten mit sich nach Haus genommen hat«, fragte ich.

»Ganz gewiß nicht. Er hätte niemals die beiden Polizisten entlassen, wenn er das Risiko auf sich genommen hätte, den Diamanten in seinem Hause aufzubewahren.«

Wir warteten noch eine halbe Stunde auf den Jungen – vergeblich. Dann mußte Mr. Bruff nach Hampstead und ich zu Rachel nach Portland Place. Statt um halb elf kam ich halb eins nach Hause.

Am nächsten Morgen hörte ich um halb zehn Schritte vor meiner Tür. »Komm rein, Stachelbeere«, rief ich.

»Vielen Dank, Sir«, antwortete eine ernste, melancholische Stimme. Die Tür öffnete sich. Ich sprang auf, und vor mir stand – Sergeant Cuff!

»Ich wollte einmal hereinschauen, Mr. Blake, ehe ich nach Yorkshire schrieb, auf die Möglichkeit hin, daß Sie in London wären«, sagte Sergeant Cuff. Dabei war er so trübselig wie nur je. Aber soweit das Äußere einen Mann ändern kann, hatte sich der große Cuff so sehr verändert, daß man ihn nicht mehr erkennen konnte. Sein einziger Wunsch schien es nur noch zu sein, so auszusehen, als habe er sein ganzes Leben auf dem Lande verbracht. Ich bot ihm Frühstück an. Der unschuldsvolle Landmann war einfach entsetzt. Er frühstückte um halb sieben Uhr – und er ging mit den Hühnern schlafen!

»Ich kam erst gestern von Irland zurück«, sagte der Sergeant und kam auf den eigentlichen Zweck seines Besuches, wobei sein Wesen genau so undurchdringlich war, wie ich es schon an ihm kannte.

»Ehe ich zu Bett ging, las ich Ihren Brief, der mir sagte, was sich zugetragen hatte, seit meine Untersuchung über den Diamanten im letzten Jahr unterbrochen wurde. Ich kann nur eins zu der Angelegenheit sagen. Ich habe mich völlig geirrt. Nur in Büchern sind Detektive über die Schwäche erhaben, Fehler zu machen.«

»Sie sind gerade noch im rechten Augenblick gekommen, um Ihren alten Ruf zu rechtfertigen«, sagte ich.

»Um Vergebung, Mr. Blake. Nun wo ich mich vom Dienst zurückgezogen habe, ist mir mein guter Ruf gänzlich gleichgültig. Ich bin in dankbarer Erinnerung an die Freigebigkeit der verstorbenen Lady Verinder hierhergekommen. Ich werde meine Arbeit, wenn Sie es wollen und mir Ihr Vertrauen schenken, unter einer Voraussetzung noch einmal aufnehmen, Sir. Nicht einen Pfennig dürfen Sie mir geben. Das ist ein Ehrenpunkt. Nun sagen Sie mir, Mr. Blake, wie der Fall steht, seit Sie damals an mich schrieben.«

Ich erzählte ihm von dem Experiment mit dem Opium und, was sich anschließend in der Bank in der Lombard Street zugetragen hatte. Das Experiment beeindruckte ihn tief. Es war, soweit er wußte, etwas Neues, und er war besonders an der Theorie von Ezra Jennings interessiert, was ich späterhin mit dem Diamanten gemacht hätte.

»Ich bin nicht Mr. Jennings Ansicht, daß Sie den Mondstein versteckt haben«, sagte Sergeant Cuff. »Aber ich stimme insoweit mit ihm überein, daß Sie den Stein ganz gewiß mit in Ihr Zimmer genommen haben.«

»Nun? Und was geschah dann?«

»Haben Sie keinen Verdacht, was dann geschah, Sir?«

»Nicht den geringsten.«

»Hat Mr. Bruff einen Verdacht?«

»So wenig wie ich.«

Sergeant Cuff stand auf und ging an meinen Schreibtisch. Er kam mit einem versiegelten Umschlag zurück. Darauf stand »Persönlich« und meine Adresse. In der Ecke war die Unterschrift des Sergeanten. Er sagte: »Im letzten Jahre hatte ich den Falschen im Verdacht. Vielleicht auch dieses Mal. Öffnen Sie den Umschlag erst, wenn Sie die Wahrheit herausgefunden haben, und dann vergleichen Sie den Namen des Schuldigen mit dem Namen, den ich in jenem versiegelten Brief aufgeschrieben habe.«

Ich fragte den Sergeanten, was er von den Maßnahmen hielte, die wir bei der Bank getroffen hatten.

»Sehr gut gedacht, Sir, und sehr richtig; aber noch ein anderer außer Mr. Luker hätte beobachtet werden müssen.«

»Derjenige, dessen Name in Ihrem Brief steht?«

»Ja, Mr. Blake. Aber nun ist es zu spät. Wir wollen zunächst einmal abwarten, ob der Junge uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat.«

Stachelbeere kam kurz vor zehn. Als er ins Zimmer trat, blieb er auf der Schwelle stehen und betrachtete mißtrauisch den Fremden.

»Du kannst ruhig vor diesem Herrn sprechen. Sergeant Cuff, dies ist der Junge aus Mr. Bruffs Büro.«

Der Ruhm des großen Cuff war sogar bis zu der kleinen Stachelbeere gedrungen. Der Junge rollte die Augen, als er den berühmten Namen hörte, daß ich dachte, sie würden auf den Teppich kollern.

»Komm' mal her, mein Bürschchen«, sagte der Sergeant, »und laß hören, was du zu sagen hast. Wie heißt du?«

»Octavius Guy. Wegen meiner Augen nennt man mich im Büro Stachelbeere.«

»Octavius Guy, genannt Stachelbeere«, fuhr der Sergeant in ernstem Ton fort. »Du wurdest gestern bei der Bank vermißt. Wo warst du?«

»Entschuldigung, Sir. Ich folgte einem Mann.«

»Und wer war das?«

»Ein großer Kerl, Sir, mit einem riesigen schwarzen Bart. Sah wie ein Seemann aus.«

»An den erinnere ich mich«, unterbrach ich. »Mr. Bruff und ich dachten, es wäre ein Spion im Solde der Inder.«

Sergeant Cuff schien nicht sehr beeindruckt von dem, was Mr. Bruff und ich gedacht hatten. Er setzte seinen Katechismus mit Stachelbeere fort.

»Nun? Und warum folgtest du dem Seemann?«

»Entschuldigung, Sir. Mr. Bruff wollte doch wissen, ob Mr. Luker beim Verlassen der Bank einem andern Mann etwas zureichte. Ich sah, wie Mr. Luker dem Seemann mit dem schwarzen Bart etwas gab.«

»Und warum erzähltest du das Mr. Bruff nicht?«

»Ich konnte es überhaupt niemandem erzählen, Sir; denn der Seemann lief so rasch fort.«

»Stachelbeere«, sagte der Sergeant und tätschelte ihm den Kopf, »in deinem kleinen Schädel steckt etwas drin. Baumwolle ist es nicht. Ich bin soweit mit dir sehr zufrieden. Nun, und was tat der Seemann, als er auf der Straße war?«

»Er rief eine Droschke heran, Sir.«

»Und was tatest du?«

»Ich blieb ihm auf den Fersen und rannte hinterher.«

In diesem Augenblick wurde ich von Mr. Bruffs Bürovorsteher herausgerufen. Als ich ins Zimmer zurückkam, stand Sergeant Cuff am Kamin und sagte zu mir: »Ich habe nicht den leisesten Zweifel, daß dieser Knabe – dieser sehr tüchtige Knabe – den richtigen Mann verfolgt hat. Wertvolle Zeit ging damit verloren, Sir, daß Sie unglücklicherweise gestern abend um halb elf nicht zu Hause waren.«

Nach weiteren fünf Minuten befanden sich Sergeant Cuff und ich auf dem Weg nach Osten zur City, während Stachelbeere auf dem Bock saß, um dem Kutscher Anweisungen zu geben.

»Sie sollen die Hauptsache von dem erfahren, Mr. Blake«, sagte der Sergeant, »was mir der Junge berichtete, als Sie aus dem Zimmer waren. Sie hörten ja wohl noch, daß er der Droschke auf den Fersen blieb. Nun, die Droschke fuhr von der Lombard Street zur Tower Werft. Der Seemann mit dem schwarzen Bart stieg aus und sprach mit dem Steward des Rotterdamer Dampfers, der am nächsten Morgen abfuhr. Er fragte, ob er sogleich an Bord gehen dürfte und während der Nacht in seiner Koje schlafen könne. Dies wurde verneint, worauf der Seemann die Werft wieder verließ. Da beobachtete der Junge zum ersten Male, wie ein Mann, der wie ein ehrbarer Mechaniker aussah, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus den Seemann offenbar im Auge behielt. Letzterer blieb bei einem Gasthaus in der Nähe stehen und ging hinein. Der Junge wartete auf der gegenüber liegenden Straßenseite, der Mechaniker auch. Nach einer Minute fuhr langsam eine Droschke heran und hielt dort, wo der Mechaniker stand. Der Junge beschrieb das Gesicht des Betreffenden als dunkelhäutig, wie das Gesicht eines Inders. Nach einer kleinen Weile fuhr die Droschke langsam weiter. Der Mechaniker betrat das Gasthaus. Der Junge sah, wie der Seemann an einem Tisch und der Mechaniker an einem anderen Zeitung las. Die Dämmerung war gekommen, ehe der Seemann aufstand und das Haus verließ. Er sah sich argwöhnisch um, als er auf die Straße trat. Den Jungen – weil es nur ein Junge war – beachtete er nicht. Der Mechaniker war noch nicht herausgekommen. Der Seemann ging weiter, sah sich um und war sich offensichtlich nicht ganz im klaren, wohin er nun gehen sollte. Der Mechaniker erschien wieder auf der anderen Straßenseite. Dann blieb der Seemann vor einem Wirtshaus mit dem Namen »das Glücksrad« stehen, betrachtete es prüfend von draußen und ging hinein. Stachelbeere hinterher. Der Seemann fragte, ob er ein Bett haben könne. Es wurde nach einem Kellner geschickt, um ihm Zimmer zehn zu zeigen. Kurz zuvor hatte Stachelbeere den Mechaniker wieder entdeckt, der zwischen den Leuten an der Bar stand. Ehe der Kellner gekommen war, verschwand der Mechaniker. Der Seemann wurde zu seinem Zimmer geführt. Da der Junge nicht wußte, was er tun sollte, war er klug genug abzuwarten, ob sich irgend etwas ereignen würde. Und es ereignete sich etwas. Man rief nach dem Wirt. Von oben hörte man zornige Stimmen. Plötzlich war der Mechaniker wieder da, den der Wirt am Kragen hielt und der zu Stachelbeeres größter Überraschung allem Anschein nach betrunken war. Der Wirt warf ihn aus der Tür und drohte mit der Polizei, wenn er zurückkäme. Nach dem Streit zwischen den beiden schien es so, als ob der Mann im Zimmer zehn angetroffen worden war und mit der Hartnäckigkeit des Betrunkenen behauptet hatte, er habe das Zimmer gemietet. Stachelbeere war so tief von dieser plötzlichen Trunkenheit eines zuvor Nüchternen beeindruckt, daß er der Versuchung nicht widerstehen konnte, hinter dem Mechaniker herzulaufen. Solange er noch von dem Wirtshaus aus gesehen werden konnte, torkelte der Mann entsetzlich. Kaum aber war er um die Straßenecke, so hatte er sein Gleichgewicht wiedergefunden und wurde denkbar nüchtern. Stachelbeere ging äußerst bestürzt in das »Glücksrad« zurück. Er wartete wiederum, ob irgend etwas geschah. Nichts geschah, und er sah und hörte nichts mehr von dem Seemann. Stachelbeere entschloß sich, ins Büro zurückzugehen, und wer stand da wieder auf der anderen Straßenseite? Der Mechaniker. Er blickte nach einem bestimmten Fenster im Giebel des Wirtshauses, hinter dem allein noch ein Licht brannte. Das schien ihn zu beruhigen. Er ging sofort weg, der Junge aber nach Gray's Inn Square – und er traf Sie nicht an. So steht der Fall im Augenblick.«

»Und was ist Ihre Meinung, Sergeant?«

»Ich glaube, es sieht sehr ernst aus, Sir. Nach dem was der Junge gesehen hat, sind die Inder beteiligt. Sie selbst waren viel zu auffällig, um sich in der Bank sehen lassen zu können. Auch nicht im Wirtshaus. Daher mußten sie alles ihrem Stellvertreter überlassen. Nun gut. Dieser Mann hört im Wirtshaus die Nummer eines bestimmten Zimmers, das der Seemann für die Nacht nehmen will – und dies Zimmer, wenn unsere Auffassung nicht völlig falsch ist, gewährt in jener Nacht auch dem Monddiamanten Obdach. Unter diesen Umständen werden die Inder darauf bestehen, eine Beschreibung des Zimmers zu bekommen. Seine Lage im Haus, wie man es von außen erreichen kann und all das. Was wird der Mann mit solchen Befehlen anfangen? Genau das, was er dann tat. Er läuft die Treppe hinauf, um das Zimmer zu sehen, ehe der Seemann dorthin geführt wird. Dort wird er entdeckt – und nun stellt er sich betrunken, weil das der leichteste Weg ist, aus dieser Schwierigkeit herauszukommen. Nachdem er aus dem Wirtshaus herausgeworfen worden ist, geht er wahrscheinlich mit seinem Bericht dorthin, wo seine Auftraggeber auf ihn warten, und seine Auftraggeber schicken ihn ohne Zweifel zurück, um sich zu versichern, ob der Seemann auch wirklich bis zum nächsten Morgen in dem Wirtshaus bleiben wird.

Es ist jetzt elf. Wir müssen das Beste hoffen.«

Als wir wenig später das »Glücksrad« betraten, war es selbst meinen ungeübten Augen klar, daß in dem Hause etwas nicht in Ordnung war. Das Schenkmädchen erschien aus den hinteren Regionen, aufgeregt und verstört. Sie beantwortete in unfreundlichem Ton Sergeant Cuffs Frage nach dem Wirt und sagte, ihr Herr sei oben und dürfe nicht gestört werden.

»Kommen Sie mit, Sir.« Sergeant Cuff ging kaltblütig die Treppe hinauf und winkte dem Jungen zu folgen. Das Schenkmädchen rief ihrem Herrn zu, daß Fremde ins Haus eindrängen.

Im ersten Stock trafen wir den Wirt. »Wer zum Teufel sind Sie, und was wollen Sie hier?« fragte er.

»Regen Sie sich nicht auf, entgegnete der Sergeant ruhig. »Zunächst werde ich Ihnen sagen, wer ich bin. Sergeant Cuff.« Der berühmte Name wirkte prompt. Der erregte Mann öffnete die Tür eines Zimmers und bat den Sergeanten um Entschuldigung.

»Ich möchte sogleich zur Sache kommen«, begann Cuff. »Wir müssen Sie mit ein paar Fragen über einen Mann mit dunkler Hautfarbe behelligen, der wie ein Seemann angezogen war und letzte Nacht hier geschlafen hat.«

»Ach du liebe Güte! Das ist ja gerade der Mann, der im Augenblick das ganze Haus in Aufregung bringt. Weiß einer von Ihnen näheres über ihn?«

»Das können wir erst sagen, wenn wir ihn gesehen haben«, antwortete der Sergeant.

»Ihn sehen?« rief der Wirt. »Gerade das hat seit heute morgen um sieben Uhr niemand fertig gebracht. Zu dieser Zeit wollte er geweckt werden. Keine Antwort. Sie versuchten es noch einmal um acht und dann wieder um neun Uhr. Umsonst! Die Tür war immer noch verschlossen – und kein Laut im Zimmer. Ich habe selbst an die Tür gehämmert. Wenn Sie ein paar Minuten warten wollen, meine Herren, dann werden wir die Tür aufbrechen und sehen, was das alles bedeutet.«

»War der Mann gestern abend betrunken?«

»Völlig nüchtern, Sir, oder ich hätte ihn nie in meinem Hause schlafen lassen.«

»Zahlte er sein Zimmer im voraus?«

»Nein.«

»Konnte er das Zimmer auf irgendeinem anderen Wege als durch die Tür verlassen?«

»Es ist ein Dachstübchen, aber in der Decke ist eine Falltür, die auf das Dach führt, und etwas weiter die Straße hinunter steht ein leeres Haus, das repariert wird. Glauben Sie, Sergeant, daß der Schuft auf diesem Wege entwischt ist, ohne die Zeche zu bezahlen?«

»Bei einem Seemann wohl möglich. Er ist ja an Klettern gewöhnt und würde auf dem Dach nicht schwindelig werden.«

Während dieser Worte erschien der Schlosser. Wir gingen alle die Treppe hinauf in das oberste Stockwerk. Hammer und Meißel wurden in ein paar Minuten mit der Tür fertig. Aber irgendein Möbelstück war wie eine Barrikade von innen dagegengeschoben. Durch Druck gegen die Tür zwangen wir das Hindernis beiseite und gelangten in das Zimmer. Wir sahen alle zum Bett hin und fuhren zusammen.

Der Mann hatte das Zimmer nicht verlassen. Er lag angekleidet auf dem Bett, ein weißes Kissen über seinem Gesicht, das dadurch verborgen war. Sergeant Cuff nahm das Kissen fort. Das dunkle Gesicht des Mannes sah friedlich und still aus. Das schwarze Haar und der Bart waren etwas zerzaust. Die Augen starrten weit offen, glasig und leer an die Decke.

»Er ist tot«, sagte der Sergeant. »Schicken Sie zum nächsten Arzt und nach der Polizei.«

Stachelbeere war uns in das Zimmer gefolgt. Seine Augen rollten erschreckend – nicht vor Entsetzen, sondern vor Aufregung. Er hatte auf eigene Faust eine Entdeckung gemacht. »Schauen Sie, Sir.«

Er führte mich zu einem Tisch in der Zimmerecke. Darauf stand eine kleine Holzschachtel offen und leer. Auf der einen Seite der Schachtel lag etwas Watte, auf der anderen ein abgerissenes Stückchen weißes Papier. Ein Siegel darauf, halb zerstört, und eine Beschriftung, die noch völlig leserlich war. Sie besagte:

»Von Mr. Septimus Luker, wohnhaft Middlesex Place, Lambeth, ein kleiner Holzkasten hinterlegt. In diesem Umschlag versiegelt. Inhalt: ein Wertgegenstand. Die Schachtel darf nur Mr. Luker persönlich zurückgegeben werden.«

Dieser Zettel beseitigte in einem Punkt jeden Zweifel. Der Seemann hatte den Diamanten besessen, als er am vorigen Tage die Bank verlassen hatte. »Raub!« flüsterte Stachelbeere und deutete im höchsten Entzücken auf die leere Schachtel. »Und Mord«, fügte er hinzu und deutete mit noch größerem Vergnügen auf den Mann im Bett.

Sergeant Cuffs Stimme rief mich dorthin. »Mr. Blake! Sehen Sie sich das Gesicht des Mannes an. Er trägt eine Verkleidung – und hier ist der Beweis dafür!«

Mit dem Finger fuhr er an der feinen Linie eines weißen Striches entlang, die auf der Stirn des Toten zwischen der dunklen Hautfarbe und dem zerzausten Haar verlief.

»Wir wollen mal sehen, was hier drunter ist«, sagte der Sergeant und faßte plötzlich mit festem Griff in das schwarze Haar. Eine kurze Stille – und dann ein Schrei des Erstaunens aller, die um das Bett herumstanden. Und wieder wurde es still im Zimmer. Sergeant Cuff ließ sich vom Waschtisch ein Becken und Handtuch bringen. Stachelbeere zappelte vor Aufregung auf seinem Stuhl.

»Schauen Sie doch nur hin, Sir! Jetzt wischt er ihm die Farbe vom Gesicht.«

Mit einem Mal bahnte sich der Sergeant einen Weg durch die Leute, geradewegs auf mich zu. In seinem Gesicht stand ein tiefes Erschrecken. Ich war zum Fenster gegangen, weil ich mich auf meine Nerven nicht recht verlassen konnte.

»Kommen Sie mit zum Bett, Sir.« Er hielt inne. »Nein, öffnen Sie zuerst den versiegelten Brief, den ich Ihnen heute morgen gab.«

Ich tat es.

»Lesen Sie den Namen, Mr. Blake, den ich aufgeschrieben habe.«

Ich tat auch dieses: GODFREY ABLEWHITE!

»Und nun kommen Sie bitte mit mir und sehen Sie sich den Mann auf dem Bett an.«

Ich ging mit ihm und betrachtete den Toten. GODFREY ABLEWHITE.

 

Beitrag von Sergeant Cuff

Dorking, Surrey, 30. Juli 1849

An
Mr. Franklin Blake –

Sir, – in den folgenden Seiten werden Sie verzeichnet finden, was ich über das Verhalten von Mr. Godfrey Ablewhite vor, während und nach der Zeit, als Sie beide Gäste im Schloß der verstorbenen Lady Verinder waren, festgestellt habe.

Es erscheint mir einwandfrei erwiesen, daß Mr. Ablewhite ermordet wurde, entweder im Schlaf oder unmittelbar beim Aufwachen. – Er wurde mit einem Kissen seines Bettes erstickt – und die für diesen Mord Verantwortlichen sind die drei Inder. Der Zweck des Verbrechens, der auch erreicht wurde, war der Besitz des Diamanten, der als »Mondstein« bekannt ist.

Mr. Godfrey Ablewhites Leben hatte zwei verschiedene Seiten. Diejenige, die sich der Kenntnis der Öffentlichkeit entzog, zeigte ihn in der Rolle eines Lebemannes. Er besaß eine Villa in einem Vorort, die er nicht unter seinem eigenen Namen genommen hatte, und in dieser Villa wohnte eine Dame, auch nicht unter seinem eigenen Namen. All dieses ist alltäglich genug. Die Villa und die Dame sind so weltbekannte Einrichtungen im Leben Londons, daß ich mich eigentlich wegen ihrer Erwähnung entschuldigen müßte. Aber nicht alltäglich und nach meiner Erfahrung nicht üblich ist folgendes: All diese schönen Dinge wurden nicht nur bestellt, sondern auch bezahlt. Die Gemälde, Statuen, Blumen, Juwelen, Wagen und Pferde. Die Untersuchung ergab zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen, daß nicht sechs Pence Schulden vorhanden waren. Die Villa war mit. allem Mobiliar gekauft und auf die betreffende Dame überschrieben worden. Die Untersuchung brachte folgende Tatsachen zutage: Mr. Godfrey Ablewhite war eine Summe von 20 000 Pfund anvertraut worden. Er fungierte als einer von zwei Treuhändern für einen jungen Herrn, der 1848 noch minderjährig war. Die Treuhänderschaft sollte erlöschen und der junge Herr die 20 000 Pfund bekommen, sobald er im Februar 1850 großjährig wurde. Bis dahin sollten ihm halbjährlich 600 Pfund ausgezahlt werden, und zwar Weihnachten und am 24. Juni. Die Auszahlung dieses Einkommens hatte durch den zuständigen Treuhänder, Mr. Godfrey Ablewhite, zu erfolgen. Die 20 000 Pfund, aus denen das Einkommen stammte, waren bis zum Ende des Jahres 1847 zu verschiedenen Zeiten bis auf den letzten Penny abgehoben worden. Die Vollmacht, die den Bankier ermächtigte, Papiere zu verkaufen und die verschiedenen schriftlichen Anweisungen, wieviel jeweils verkauft werden sollten, fanden sich ordnungsgemäß von beiden Treuhändern unterzeichnet. Die Unterschrift des zweiten jedoch erwies sich in allen Fällen als durch den anderen Treuhänder gefälscht. Die Fälschung war also von Mr. Godfrey Ablewhite begangen worden. In dieser Tatsache liegt die Erklärung für sein honoriges Verhalten bei der Bezahlung der Schulden für die Lady und die Villa. Wie man gleich sehen wird, liefert sie auch noch die Erklärung für anderes.

Wir können jetzt zum Datum von Miss Verinders Geburtstag, zum 21. Juni 1848, übergehen. Am Tage zuvor kam Mr. Ablewhite in das Haus seines Vaters und bat, wie ich von letzterem selbst weiß, um dreihundert Pfund. Beachten Sie die Summe und erinnern Sie sich gleichzeitig daran, daß die halbjährliche Zahlung an den jungen Herrn am 24. fällig war. Erinnern Sie sich ferner daran, daß am Ende des Jahres 47 das gesamte Vermögen des jungen Herrn durch seinen Treuhänder vergeudet war.

Mr. Ablewhite Senior weigerte sich, seinem Sohn auch nur einen Penny zu leihen. Am nächsten Tage ritt Mr. Godfrey Ablewhite mit Ihnen zusammen nach dem Schloß der Lady Verinder. Wenige Stunden später, wie Sie selbst mir erzählt haben, machte er Miss Verinder einen Antrag. Wurde dieser angenommen, so sah er darin ohne Zweifel ein Ende all seiner augenblicklichen und künftigen Geldsorgen. Aber Miss Verinder wies ihn ab.

Am Abend des Geburtstages war also Mr. Godfreys Geldlage folgende: Er mußte am 24. dreihundert Pfund und bis Februar 1850 zwanzigtausend Pfund flüssig machen. Gelang ihm dies nicht rechtzeitig, so war er ruiniert.

Und was geschieht nun unter diesen Umständen? Sie bringen Doktor Candy zur Verzweiflung, und er spielt Ihnen als Vergeltung mit einer Dosis Laudanum einen Streich. Er überläßt die Verabreichung dieser Dosis, die er in einer kleinen Flasche vorbereitet hatte, Mr. Godfrey Ablewhite – der selbst den Anteil eingestanden hat, den er an dieser Angelegenheit nahm. Wie dies Geständnis zustande kam, werde ich gleich berichten. Mr. Godfrey nimmt umso bereitwilliger an der Verschwörung teil, als er selbst an diesem Abend auch unter Ihrer spitzen Zunge zu leiden hatte. Zusammen mit Betteredge redet er Ihnen zu, vor dem Zubettgehen etwas Cognac und Wasser zu trinken. Heimlich tut er dann das Laudanum in Ihr kaltes Getränk, und Sie trinken die Mischung auch aus.

Dürfen wir nun bitte die Szene in Mr. Lukers Haus verlegen.

Spät abends, am Freitag, den 23. Juni, wird Mr. Luker durch einen Besuch Mr. Godfrey Ablewhites überrascht. Er ist jedoch noch mehr überrascht, als dieser den Monddiamanten zum Vorschein bringt. Mr. Ablewhite hat nun hinsichtlich dieses herrlichen Juwels zwei verschiedene Vorschläge zu machen. Erstens, wäre Mr. Luker wohl so freundlich es zu kaufen? Zweitens, würde Mr. Luker, falls ihm der Kauf nicht möglich wäre, den Edelstein in Kommission nehmen und auf den erwarteten Erlös hin einen Vorschuß geben?

Mr. Luker untersuchte, wog und schätzte den Wert des Diamanten, ehe er antwortete. Seine Schätzung, wenn er die Blase in dem Edelstein in Rechnung stellte, belief sich auf dreißigtausend Pfund. Hierauf stellte Mr. Luker eine Frage: ›Woher haben Sie ihn?‹ Nur vier Worte, aber welche Bände sprechen sie!

Mr. Godfrey begann, eine Geschichte zu erzählen. Mr. Luker sagte wiederum vier Worte: ›Das genügt mir nicht!‹

Mr. Godfrey begann eine neue Geschichte. Mr. Luker verschwendete aber keine Worte mehr an ihn. Er stand auf, klingelte dem Diener, um dem Herrn die Tür zu zeigen.

Unter dieser Drohung raffte sich Mr. Godfrey auf und kam mit einer neuen, berichtigten Fassung der Angelegenheit heraus, die folgendes besagte:

Nachdem er heimlich das Laudanum in Ihr Getränk gegossen hatte, wünschte er Ihnen gute Nacht und ging in sein eigenes Zimmer, das neben dem Ihren lag. Dazwischen war eine Verbindungstür. Seine Geldsorgen hielten ihn wach. Gerade, als er ins Bett gehen wollte, hörte er, wie Sie mit sich selbst sprachen. Die Verbindungstür war offen geblieben. Er blickte durch den Spalt in Ihr Zimmer. Er sah Sie, wie Sie mit der Kerze in der Hand gerade hinausgingen. Jetzt wurde es ihm klar, daß das Laudanum auf Sie eine Wirkung gehabt haben müsse, die weder der Doktor noch er selbst vorausgesehen hatte. In der Sorge, es könne Ihnen ein Unglück geschehen, folgte er Ihnen leise, um zu sehen, was Sie tun würden.

Er sah nicht nur Sie, wie Sie den Diamanten aus dem Schubfach nahmen – er sah auch Miss Verinder, die Ihnen schweigend durch die offene Tür ihres Schlafzimmers zuschaute. Mit eigenen Augen beobachtete er, daß auch sie gesehen hatte, wie Sie den Diamanten nahmen.

Ehe Sie das Wohnzimmer wieder verließen, zögerten Sie ein wenig. Diese Gelegenheit benutzte Mr. Godfrey, in sein Schlafzimmer zu schlüpfen, ehe Sie ihn entdeckten. Sie kamen unmittelbar nach ihm und sahen ihn nach seiner Meinung gerade, als er durch die Verbindungstür ging. Sie sahen ihn mit einem stumpfen, schlaftrunkenen Blick an. Sie gaben ihm den Diamanten in die Hand und sagten dabei: ›Godfrey, bring ihn wieder in die Bank deines Vaters, dort ist er sicher – hier nicht.‹ Darauf drehten Sie sich schwankend um und zogen den Schlafrock an. Dann setzten Sie sich in den großen Lehnstuhl in Ihrem Zimmer und sprachen noch einmal: ›Ich kann ihn nicht selbst zur Bank bringen, mein Kopf ist wie Blei, ich fühle meine Füße gar nicht mehr.‹ Sie seufzten tief auf und schliefen ein.

Mr. Ablewhite ging mit dem Diamanten in sein Zimmer zurück. Nach seiner eigenen Angabe faßte er damals noch keinen Entschluß. Er wollte warten, was sich am nächsten Morgen ereignen würde. Als der Morgen kam, ging aus Ihren Worten und Ihrem Verhalten hervor, daß Sie nicht das mindeste von dem wußten, was Sie in der Nacht gesagt oder getan hatten. Zugleich aber bewiesen Miss Verinders Worte und Verhalten, daß sie aus Mitleid mit Ihnen entschlossen war, auch nichts zu sagen. Wollte also Mr. Godfrey Ablewhite den Diamanten behalten, so konnte er es völlig ungestraft tun. Der Monddiamant stand zwischen ihm und seinem Ruin. Er steckte ihn in die Tasche.

Unter dem Zwang der Verhältnisse erzählte Ihr Vetter Mr. Luker diese Geschichte. Dieser hielt sie in den Hauptpunkten für wahr, und zwar hauptsächlich deshalb, weil Mr. Ablewhite viel zu dumm war, um sie zu erfinden. Mr. Luker erklärte sich bereit, Mr. Ablewhite zweitausend Pfund zu leihen unter der Bedingung, daß der Monddiamant als Pfand zurückgelassen würde. Falls Mr. Ablewhite dann nach Ablauf eines Jahres dreitausend Pfund an Mr. Luker zurückgab, so sollte er den Diamanten als ausgelöstes Pfand wiederbekommen. Konnte er das Geld aber nicht beschaffen, so sollte das Pfand – mit anderen Worten der Monddiamant – verfallen sein und Mr. Luker gehören. In diesem Fall war letzterer zu einem großherzigen Geschenk bereit und wollte Godfrey gewisse Schuldscheine zurückgeben, die sich im Besitz des Geldverleihers befanden.

Selbstverständlich wies Mr. Godfrey es zurück, sich derart monströse Bedingungen auch nur anzuhören. Stillschweigend gab ihm Mr. Luker den Diamanten und wünschte ihm dann gute Nacht. Ihr Vetter ging zur Tür, zögerte und kam wieder zurück. Er wünschte noch zu wissen, inwieweit er sicher sein dürfte, daß die soeben geführte Unterhaltung streng geheim bleiben würde. Mr. Luker lehnte es ab, ihm in diesem Punkt eine. Zusicherung zu geben. Es hätte sich darüber reden lassen, falls Mr. Godfrey die ihm gestellten Bedingungen angenommen hätte. Dann wäre nämlich er, Mr. Luker, Mitschuldiger gewesen und Mr. Ablewhite hätte seiner Verschwiegenheit sicher sein können. Nun aber müsse Mr. Luker zunächst einmal an seine eigenen Interessen denken. Man könne beim besten Willen nicht von ihm erwarten, daß er sich, falls unbequeme Fragen gestellt würden, um eines Mannes willen kompromittiere, der mit ihm nicht einmal Geschäfte machen wolle. Auf diese Antwort hin tat Mr. Godfrey, was alle Tiere tun, wenn sie in der Falle sitzen. Er sah sich in hoffnungsloser Verzweiflung nach einem Ausweg um. An jenem Tage schrieb man den 23. Juni. Am 24. aber mußte er seinem Mündel dreihundert Pfund auszahlen. Es gab für ihn nur eine Möglichkeit, dies Geld zu beschaffen: Er mußte auf Mr. Lukers Angebot eingehen. Hätte diese unselige Zahlung nicht gedroht, so wäre es vielleicht noch möglich gewesen, den Diamanten nach Amsterdam zu bringen und ihn dort zu verkaufen, nachdem er zuvor in mehrere einzelne Steine zerschnitten worden war. Nun blieb ihm gar keine andere Wahl. Immerhin hatte es ja noch ein Jahr Zeit, in welchem er irgendwie die dreißigtausend Pfund flüssig machen könnte. Und ein Jahr ist eine lange Zeit.

Mr. Luker schrieb sofort die nötigen Schriftstücke und gab Mr. Ablewhite zwei Schecks. Der eine unter dem Datum des 23. Juni lautete über dreihundert Pfund. Der zweite war eine Woche später datiert und wies die Zahlung von siebzehnhundert Pfund an.

Wir kommen nun zum nächsten Ereignis im Leben Ihres Vetters. Er machte Miss Verinder einen zweiten Antrag. Dieser wurde angenommen, späterhin jedoch willigte er auf ihre Bitte hin ein, die Verlobung aufzulösen. Da Miss Verinder noch nicht den Zugriff auf das Vermögen ihrer Mutter hatte, konnte er also auch die für ihn in Frage kommenden zwanzigtausend Pfund nicht darauf erheben. Inzwischen hatte jedoch die Dame in der Villa von seiner beabsichtigten Heirat erfahren. Sie war eine fabelhafte Frau, Mr. Blake, von der Sorte, die nicht mit sich spaßen läßt – heller Teint, römische Nase. Sie verachtete Mr. Godfrey aufs tiefste, doch würde es eine stumme Verachtung bleiben, solange er sie anständig versorgte. Im anderen Falle aber würde die Verachtung Worte finden. Da Miss Verinder nur Nutznießerin der Erbschaft war, konnte der Unglückselige weder das Geld flüssig machen, das jene Lady beanspruchte, noch die zwanzigtausend Pfund. Unter diesen Umständen konnte er tatsächlich nicht heiraten. Wie er sein Glück dann bei einer anderen Dame versuchte und wie auch diese Heirat wegen einer Geldfrage nicht zustande kam, das wissen Sie bereits. Sie haben auch von dem Legat in Höhe von fünftausend Pfund gehört, das ihm bald danach von einer seiner Verehrerinnen hinterlassen wurde. Gerade dieses Legat, wie sich nun herausgestellt hat, führte ihn in den Tod.

Er ging damals nach Amsterdam. Dort traf er alle Vorbereitungen, um den Diamanten zerschneiden zu lassen. Er kam in Verkleidung zurück und löste am vereinbarten Tage den Mondstein aus. Als Vorsichtsmaßnahme hatten er und Mr. Luker beschlossen, nach dem festgesetzten Termin zunächst ein paar Tage verstreichen zu lassen, ehe der Edelstein von der Bank abgeholt wurde. Wäre er mit ihm ungefährdet nach Amsterdam gekommen, so hätte er den Diamanten gerade noch zerschneiden lassen können, ehe jener junge Herr im Februar 1850 großjährig wurde; später wollte er dann wahrscheinlich die einzelnen Stücke geschliffen oder ungeschliffen verkaufen.

Nun überlegen Sie selbst einmal, wie stark die Beweggründe waren, denen zuliebe er alle ihm drohenden Gefahren auf sich nahm. Wenn je ein Mann vor der schwierigen Alternative ›Alles oder nichts‹ gestanden hat, so war er es.

Es bleibt mir nur noch übrig, Sie daran zu erinnern, daß immer noch eine Möglichkeit besteht, die Inder zu fassen und den Monddiamanten wiederzuerhalten. Die Annahme ist berechtigt, daß sich diese Männer zur Zeit an Bord eines Ostindienfahrers befinden.

Sir, ich habe die Ehre zu sein

Ihr ergebener Diener
Richard Cuff,
früher Sergeant in der Kriminalabteilung
Scotland Yard.

 

Aus einem Brief von Mr. Murthwaite an Mr. Bruff

… Ich habe Zentralasien durchwandert. Vor etwa vierzehn Tagen hielt ich mich in einer Provinz auf, die Kattiawar heißt und in Europa wenig bekannt ist. Hier hatte ich ein Erlebnis, an dem Sie persönlich interessiert sind, so unglaublich das erscheinen mag. Ich entschloß mich, Kattiawar nicht zu verlassen, ohne mir noch einmal die grandiose Einsamkeit von Somnauth angesehen zu haben. Von dieser heiligen Stätte war ich wohl noch drei Fußmärsche entfernt. Mir fiel es auf, daß auch andere Leute, immer zu zweien und dreien, in der gleichen Richtung zu wandern schienen. So weit sie mich ansprachen, gab ich mich als ein buddhistischer Hindu aus, der aus einer fernen Provinz kam und sich auf Pilgerschaft befand. Am zweiten Tage wanderten Hunderte, am dritten Tausende mit mir zusammen, und alle strömten in derselben Richtung auf Somnauth zu.

Ich konnte einem meiner Mitpilger einen kleinen Dienst erweisen und erhielt dadurch die Möglichkeit, die Bekanntschaft einiger Hindus höherer Kaste zu machen. Von diesen Leuten erfuhr ich, daß sich die Menge auf dem Wege zu einer großen religiösen Zeremonie befand, die an einem Hügel nicht weit von Somnauth entfernt stattfinden sollte. Es handelte sich um eine Feierlichkeit, die nachts zu Ehren des Mondgottes veranstaltet werden sollte. Als wir uns jenem Hügel näherten, stand der Mond hoch am Himmel. Meine Freunde, die Hindus, hatten gewisse Vorrechte, die es ihnen ermöglichten, bis zu dem Schrein zu gelangen. Freundlicherweise erlaubten sie mir, mit ihnen dorthin zu gehen. An Ort und Stelle sahen wir, daß der Schrein durch einen, zwischen zwei mächtigen Bäumen aufgehängten Vorhang unseren Blicken entzogen war. Unter diesen Bäumen bildete ein flaches Felsstück eine Art natürlicher Plattform. Darunter stand ich mit meinen Begleitern.

Blickte man den Hügel hinunter, so bot sich das großartigste Schauspiel einer Verbundenheit von Natur und Mensch, das ich jemals gesehen habe. Die ferner gelegenen Abhänge gingen unmerklich in eine grasbewachsene Ebene über, in der sich drei Flüsse trafen. Ließ man den Blick nach der einen Seite schweifen, so folgte er, so weit das Auge reichte, den sanften Windungen der Flüsse, die bald sichtbar, bald durch die Bäume verborgen waren. Zur anderen Seite schlummerte der schweigende Ozean im Frieden der Nacht. Belebt man diese dunkle Szenerie mit Tausenden von weißgekleideten Menschen, die sich an den Abhängen des Hügels bis in die Ebene und am Flußufer entlang gruppiert haben, beleuchtet man diesen Sammelplatz der Wallfahrer mit dem zuckenden roten Licht von Pechpfannen und Fackeln, die sich überall in der gewaltigen Menge bewegen, stellt man sich das Mondlicht dieses fernen Landes vor, wie es sich in reiner Klarheit darüber ergießt – dann hat man einen schwachen Begriff von dem Bilde, das, sich mir bot, als ich vom Hügel hinuntersah.

Eine klagende Musik von Saiteninstrumenten und Flöten lenkte meine Aufmerksamkeit auf den verborgenen Schrein. Ich wandte mich ihm zu und sah auf dem Felsvorsprung die Gestalten von drei Männern. Den Mann in der Mitte erkannte ich als jenen Inder wieder, mit dem ich in England gesprochen hatte, als er mit seinen Gefährten auf der Terrasse vor Lady Verinders Schloß erschien. Die anderen beiden waren, genau wie damals, auch jetzt seine Begleiter.

Einer der Zuschauer neben mir beobachtete, wie ich zusammenfuhr. Flüsternd erklärte er mir, die drei Gestalten auf der Felsbühne seien Brahmanen, die im Dienst ihres Gottes ihre Kaste verloren hätten. Die Gottheit habe ihnen nun befohlen, sich durch eine Pilgerfahrt zu reinigen. Noch in dieser Nacht müßten sie sich trennen und in drei verschiedenen Richtungen nach den Heiligen Schreinen Indiens pilgern. Niemals dürften sie sich wiedersehen, niemals, von nun an bis zu ihrem Tode, auf ihren Wanderungen ruhen.

Die klagenden Töne verstummten. Die drei Gestalten warfen sich vor dem Vorhang, der den Schrein verbarg, auf dem Felsen nieder. Nach einiger Zeit standen sie auf, blickten sich an, umarmten sich und gingen einzeln in die Menge hinunter. Es herrschte Totenstille, während man ihnen Platz machte. An drei verschiedenen Stellen sah ich die Menschen zurückweichen, dann schloß sich die Menge wieder zusammen. Jene Männer hatten ihr Schicksal erfüllt. Ihre letzte Spur, die mitten durch ihre Mitmenschen hindurchführte, war ausgetilgt. Wir sahen sie nicht wieder.

Erneute Musik, diesmal aber laut und triumphierend. Der Vorhang zwischen den Bäumen wurde zur Seite gezogen, der Schrein wurde sichtbar. Hoch auf einem Thron, auf einer Antilope reitend, vier Arme nach den vier Enden der Erde ausgestreckt, erhob sich der Mondgott, dunkel und furchtbar im mystischen Himmelslicht. Und dort an seiner Stirn glühte der gelbe Diamant, dessen Glanz ich zum letzten Mal im Ausschnitt des Kleides einer Frau in England gesehen hatte.

Wie er seinen Weg in sein eigentliches Heimatland zurückgefunden hat? Sie mögen es wissen, ich weiß es nicht.

Sie haben den Edelstein in England aus den Augen verloren, ich möchte glauben … für immer!

 

WILKIE COLLINS wurde 1824 in London geboren, studierte Rechtswissenschaften und war bereits als Anwalt zugelassen, als er sich 1851 der freien Schriftstellerei zuwandte. Mehrere seiner Erzählungen entstanden in Zusammenarbeit mit Charles Dickens, bis er sich 1860 mit seiner »Frau in Weiß« einen Platz in der englischen Literatur erkämpfte.

Acht Jahre später schrieb er den »Monddiamanten«. Nach seiner eigenen Angabe liegt diesem Buch die Sage von den beiden »Königlichen Edelsteinen« Europas zugrunde. Es handelte sich dabei um den Koh-i-noor und jenen herrlichen Diamanten, der das Zepter der Zaren schmückte. Beide waren Heiligtümer Indiens gewesen und die Weissagung eines kommenden Unheils soll darauf gelegen haben. Fünfzig Jahre nach dem Raub des Monddiamanten durch John Herncastle starb der Besitzer des Juwels einen gewaltsamen Tod. Fünfzig Jahre, nachdem Collins diese Geschichte schrieb, fand der letzte Zar mit seiner ganzen Familie ein grausiges Ende. So gewinnt, wenn man so will, die Geschichte vom Fluch des Monddiamanten eine düstere Realität.

»The Moonstone« erschien 1868 wöchentlich in englischen Zeitschriften und ein Drittel war erst geschrieben, als der Autor auf ein qualvolles Krankenlager geworfen wurde. Gleichzeitig lag seine Mutter im Sterben. Unter der doppelten Last schwersten physischen und seelischen Leidens mußte Collins um seiner Leser willen weiter schreiben. Vom Bett aus diktierend, brachte er die ungeheure Energie auf, das Werk zu vollenden. Bewundernswerter aber ist es, daß er trotzdem die Lösung des Knotens, den das Verschwinden des Diamanten darstellt, mit nie versagender Logik und Konsequenz durchführte. Es ist der größte Reiz dieses »klassischen« Kriminalfalles, daß man im Besitz der Lösung, das Buch kritisch immer wieder lesen kann und doch den Autor auf keiner Unrichtigkeit ertappen wird.

Viele weitere Werke schrieb der Dichter, ehe er 1889 starb. In keinem aber, abgesehen von der »Frau in Weiß«, ist es ihm in solcher Vollendung gelungen, den Einfluß der handelnden Charaktere auf die Geschehnisse darzustellen.

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