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Fortsetzung der Aussage Hartright's.

Zweite Abtheilung.

IX.

Ich verließ das Haus, indem ich fühlte, daß Mrs. Catherick mir wider Willen einen Schritt weiter geholfen. Ehe ich noch bis an die Ecke des Platzes kam, wurde meine Aufmerksamkeit durch eine sich hinter mir schließende Thür erweckt. Ich blickte zurück und sah auf der Thürschwelle des Hauses, das, soviel ich zu urtheilen im Stande war, diesseits von Mrs. Catherick's Wohnung derselben zunächst stand, einen kleinen Mann in schwarzer Kleidung stehen. Derselbe ging schnellen Schrittes der Ecke zu, an der ich stille stand. Ich erkannte ihn als den Advocatenschreiber, der mir nach Blackwater Park vorausgereist war und dort einen Streit mit mir anzufangen gesucht hatte, als ich ihn fragte ob ich das Haus sehen dürfe.

Ich wartete, wo ich stand, um zu sehen, ob er diesmal mit mir anfangen werde. Zu meinem Erstaunen ging er schnell vorbei, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne mir selbst in's Gesicht zu sehen. Dies war so vollkommen das entgegengesetzte Verfahren, welches ich von ihm zu erwarten Ursache hatte, daß dadurch mein Verdacht erweckt ward, und ich meinerseits beschloß, ihn im Auge zu behalten und zu ermitteln, welcher Art die Geschäfte seien, mit denen er augenblicklich beauftragt war. Ohne mich darum zu kümmern, ob er mich sähe oder nicht, ging ich ihm nach. Er schaute sich nicht ein einziges Mal um und führte mich geradewegs durch die Straßen nach der Eisenbahnstation.

Der Zug war im Begriffe abzufahren und zwei oder drei Passagiere, welche spät kamen, drängten sich um die kleine Oeffnung, durch welche die Billete ausgegeben wurden. Ich trat zu ihnen heran und hörte den kleinen Advocatenschreiber ganz deutlich ein Billett nach der Station Blackwater fordern. Ich ging nicht eher fort, als bis ich mich überzeugt hatte, daß er wirklich mit dem Zuge abgefahren sei.«

Ich konnte das, was ich soeben gesehen und gehört hatte, mir nur auf eine Weise deuten. Ich hatte den Mann ohne alle Frage ein Haus verlassen sehen, das dicht an Mrs. Catherick's Wohnung stand. Ohne Zweifel hatte er sich auf Sir Percivals Befehl in der Erwartung dort eingemiethet, daß meine Nachforschungen mich früher oder später zu Mrs. Catherick führen würden. Er hatte mich wahrscheinlich hineingehen und wieder herauskommen sehen und eilte nun mit dem ersten Zuge fort, um in Blackwater Park seinen Bericht abzustatten – wohin Sir Percival sich natürlich verfügen mußte (nach dem. was er offenbar von meinen Schritten wußte), um auf der Stelle bereit zu sein, wenn ich nach Hampshire zurückkehrte. Es schien jetzt im höchsten Grade wahrscheinlich, daß er und ich, noch ehe viele Tage vergingen, einander begegnen würden.

Wie sich jedoch immer die künftigen Ereignisse gestalten mochten, ich beschloß, weder Sir Percival noch irgend Jemandem gegenüber stille zu stehen oder auf die Seite zu treten. Die große Verantwortlichkeit, die in London so schwer auf mir lastete – die Verantwortlichkeit nämlich, die geringste meiner Handlungen so einzurichten, daß sie nicht durch einen Zufall Lauras Zufluchtsort verrieth – war mir in Hampshire abgenommen. In Welmingham konnte ich nach Gefallen kommen und gehen. Und falls ich zufälligerweise eine notwendige Vorsichtsmaßregel versäumte, so trafen die unmittelbaren Folgen des Versehens doch Niemanden als mich.

Der Abend brach ein, als ich die Station verließ. Es war wenig Hoffnung vorhanden, daß meine Nachforschungen nach Dunkelwerden in einer mir fremden Gegend von Nutzen gewesen waren. Demzufolge begab ich mich nach dem nächsten Gasthofe und bestellte mein Essen und mein Bett. Darauf schrieb ich an Marianne, um ihr zu sagen, daß ich wohl und in Sicherheit sei und Aussichten auf Erfolg habe. Ich hatte sie beim Abschiede gebeten, ihren ersten Brief (welchen ich am nächsten Morgen erwartete) nach »Welmingham, poste restante« zu adressiren, und ersuchte sie jetzt, es mit dem nächsten ebenso zu machen. Ich konnte mir, falls ich zufälligerweise zur Zeit der Ankunft der Post abwesend sein sollte, leicht den Brief durch den Postmeister zuschicken lassen.

Ehe ich mich zur Ruhe begab, hatte ich meine merkwürdige Unterredung mit Mrs. Catherick von Anfang bis zu Ende aufmerksam durchdacht und mir mit Muße die Schlüsse vergegenwärtigt, die ich vorhin nur in Eile hatte ziehen können.

Die Sacristei der Kirche von Alt-Welmingham war der Ausgangspunkt, von dem aus mein Geist langsam den Weg durch Alles, was ich Mrs. Catherick hatte sagen hören und thun sehen, wieder zurücklegte.

Als Mrs. Clements mir zum ersten Male die Sacristei der Kirche als den Ort nannte, welchen Sir Percival sich zu seinen heimlichen Zusammenkünften mit der Frau des Küsters gewählt, war es mir bereits aufgefallen, welch ein sonderbarer und unbegreiflicher Ort dieselbe zu diesem Zwecke sei. Durch diesen Eindruck getrieben, hatte ich der »Sacristei der Kirche« auf's Gerathewohl hin vor Mrs. Catherick Erwähnung gethan. Ich war darauf vorbereitet, daß sie mir zornig oder verwirrt antworten werde; aber der entsetzensvolle Schrecken, welcher sie erfaßte, als ich die Worte aussprach, überraschte mich im höchsten Grade. Ich hatte Sir Percivals Geheimnis längst mit der Verheimlichung eines ernsten Verbrechens in Verbindung gebracht, um welches Mrs. Catherick wußte – aber ich war in meinen Vermutungen nicht weiter gegangen. Des Weibes Paroxismus von Schreck aber brachte dies Verbrechen jetzt mit der Sacristei in Verbindung und überzeugte mich, daß sie nicht allein Zeuge desselben, sondern sogar ohne allen Zweifel eine Mitschuldige gewesen war.

Welcher Art war das Verbrechen gewesen? Es mußte sicher eine verächtliche Seite sowohl, als eine gefährliche haben, sonst hätte Mrs. Catherick meine Worte in Bezug auf Sir Percivals Rang und Macht nicht mit so auffallender Verachtung wiederholt. Es war also ein verächtliches sowohl, als ein gefährliches Verbrechen und sie hatte daran theilgenommen und es hatte mit der Sacristei der Kirche zu thun.

Der nächste Punkt, den ich zu überlegen hatte, führte mich noch einen Schritt weiter.

Mrs. Catherick's unverhohlene Verachtung für Sir Percival erstreckte sich offenbar auch auf seine Mutter. Sie hatte mit dem bittersten Spotte auf die hohe Familie, von der er abstamme, angespielt – »namentlich von mütterlicher Seite«, was sollte dies bedeuten? Es schienen mir nur zwei Erklärungen möglich. Entweder war seine Mutter von niederer Herkunft, oder ihr Ruf war nicht rein gewesen und Sir Percival und Mrs. Catherick theilten das Geheimnis hierüber! Ich konnte nur über Ersteres nur Auskunft verschaffen, indem ich im Kirchenbuche ihr Heiratscertificat aufsuchte und mich so über ihren Mädchennamen und ihre Verwandtschaft unterrichtete, als Einleitung zu ferneren Nachfragen.

Dagegen, falls der zweite angenommene Fall der wahre gewesen, welcher Art war da der Flecken auf ihrem Rufe? Indem ich mich an das erinnerte, was Marianne mir über Sir Percivals Vater und Mutter und über deren ungesellige, verdächtig abgeschlossene Lebensweise erzählt hatte, frug ich mich jetzt, ob es nicht möglich sei, daß seine Mutter am Ende gar nicht verheiratet gewesen? Hier wieder konnte das Kirchenbuch durch ein geschriebenes Certificat der Heirat mir wenigstens beweisen, daß dieser Verdacht ein unbegründeter war. Wo aber dieses Kirchenbuch finden? Bei diesem Punkte nahm ich die Schlüsse wieder auf, zu denen ich bereits vorher gekommen, und derselbe Gedankengang, welcher die Localität des verborgenen Verbrechens entdeckt hatte, brachte jetzt das Kirchenbuch in die Sacristei der Kirche zu Alt-Welmingham.

Dies waren die Erfolge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick – und dies waren die verschiedenen Betrachtungen, die alle gerade an einem Punkte zusammenlaufend mir mein für den nächsten Tag zu beobachtendes Verfahren vorzeichneten.

Der Morgen war trübe und wolkig, doch ohne Regen. Ich ließ meinen Nachtsack im Gasthofe zurück und nachdem ich mich nach dem Wege erkundigte, ging ich zu Fuß nach der Kirche zu Alt-Welmingham.

Es war dies ein Spaziergang von etwas mehr als zwei Meilen auf allmälig berganwärts gehendem Boden.

Auf dem höchsten Punkte stand die Kirche – ein altes verwittertes Gebäude mit einem großen viereckigen Thurme. Die Sacristei an der Hinterseite war aus der Kirche herausgebaut und schien dasselbe Alter zu haben. Rund um die Kirche her sah man die Ueberbleibsel des Dorfes, in dem, wie Mrs. Clements mir erzählte, ihr Mann früher gewohnt und das die bedeutendsten Einwohner desselben längst verlassen hatten, um nach der neuen Stadt zu ziehen. Einige von den leeren Häusern waren bis auf die äußeren Mauern abgerissen; andere waren den verheerenden Angriffen der Zeit überlassen, und andere wieder wurden noch bewohnt, aber offenbar von Leuten der allerärmsten Classe. Es war ein trauriger, öder Anblick.

Als ich mich von der Hinterseite der Kirche abwandte und an einigen der abgerissenen Häuschen vorbeiging, um mir jemanden zu suchen, der mir sagen konnte, wo ich den Küster finden würde, erblickte ich zwei Männer, welche hinter einer Mauer herum kamen und mir nachgingen. Der größere von beiden – ein stämmiger, musculöser Mensch in der Kleidung eines Wildwärters – war mir fremd. Der andere aber war einer von den beiden Männern, die mir an dem Tage, wo ich Mr. Kyrle's Expedition verließ, gefolgt waren. Ich hatte ihn mir damals besonders gemerkt und war deshalb jetzt über seine Identität vollkommen sicher.

Beide hielten sich in achtungsvoller Entfernung; doch war der Zweck ihrer Anwesenheit in der Nähe der Kirche klar in die Augen fallend. Die Sache verhielt sich gerade so, wie ich vermuthet hatte: Sir Percival war bereits auf mich vorbereitet. Mein Besuch bei Mrs. Catherick war ihm am Abend vorher berichtet worden und jene beiden Männer waren in Erwartung meines Erscheinens in Alt-Welmingham in der Nähe der Kirche als Wache aufgestellt worden. Hätte ich noch eines ferneren Beweises bedurft, daß meine Nachforschungen endlich die rechte Richtung genommen hatten, so hätte der jetzt von ihnen angenommene Beobachtungsplan mir denselben geliefert.

Ich ging weiter, von der Kirche fort, bis ich bei einem der bewohnten Häuser anlangte, an das sich ein Stückchen Küchengarten schloß, in welchem ein Mann bei der Arbeit war. Er gab mir den Weg nach der Küsterwohnung an, einem Häuschen, das in einiger Entfernung ganz allein am äußersten Ende des verlassenen Dorfes stand. Der Küster war zu Hause und gerade beschäftigt, seinen großen Ueberrock anzuziehen. Er war ein munterer, zutraulicher, gesprächiger alter Mann.

»Es trifft sich glücklich, daß sie so früh kamen, Sir,« sagte er, nachdem ich ihn mit dem Zwecke meines Besuches bekannt gemacht. »In zehn Minuten wäre ich nicht mehr da gewesen. Kirchspielangelegenheiten zu besorgen, Sir – und ein ziemlich langer Trab, ehe alles abgethan ist, ist viel für einen Mann in meinen Jahren. Aber ich bin, Gott sei Dank, noch immer ganz gut auf den Beinen! Solange ein Mann noch über seine Beine zu gebieten hat, ist noch Arbeit in ihm. Sind Sie nicht auch der Ansicht, Sir?«

Während er sprach, nahm er seine Schlüssel von einem Haken und verschloß, nachdem wir hinausgegangen waren, seine Hausthür hinter uns.

»Kein Mensch d'rin, um meinen Haushalt zu führen,« sagte der Küster mit einem frohen Gefühle der Freiheit von allen Familienbürden. »Meine Frau liegt da drüben auf dem Kirchhofe und meine Kinder sind alle verheiratet. Ein erbärmlicher Ort dies, nicht wahr, Sir? Aber es ist ein großes Kirchspiel – es würde nicht jeder so gut damit fertig werden wie ich. Das macht aber die Bildung – und davon habe ich meinen Theil gehabt und vielleicht noch ein bißchen mehr. Ich kann der Königin Englisch sprechen (Gott erhalte die Königin!) – und das ist mehr, als die meisten Leute hier herum im Stande sind. Sie kommen aus London wie ich vermuthe, Sir? Ich war vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren in London. Was gibt's Neues dort, wenn ich fragen darf?«

Unter solchem Geplauder führte er mich nach der Sacristei zurück. Ich schaute umher, um zu sehen, ob sich die beiden Spione noch blicken ließen; doch waren sie nirgendwo zu sehen. Nachdem sie sich von meinem Besuche beim Küster überzeugt, hatten sie sich wahrscheinlich an irgend einer Stelle verborgen, von der aus sie, ohne bemerkt zu werden, meine nächsten Schritte überwachen konnten.

Die Thür der Sacristei war von starkem alten Eichenholze und mit großen Nägeln beschlagen, und der Küster steckte den großen schweren Schlüssel mit der Miene eines Mannes in's Schloß, welcher wußte, daß er eine schwere Aufgabe vor sich hatte und sich nicht ganz sicher fühlte, daß er dieselbe auf rühmliche Weise lösen werde.

»Ich bin genöthigt, Sir, Sie von dieser Seite hereinzuführen,« sagte er, »weil die Thür, welche von der Kirche aus hineinführt, auf der Seite der Sacristei verriegelt ist. Wir hätten sonst durch die Kirche hineingehen können. Dies ist ein so halsstarriges, altes Schloß, wie es je eins gab. Es ist groß genug für ein Gefängnisthor und schon wer weiß wie viele Male verdreht worden; es hätte längst ein neues an seine Stelle gelegt werden sollen. Ich habe das dem Herrn Kirchenvorsteher wenigstens schon fünfzigmal gesagt; er spricht jedesmal: ich werde dafür sorgen, und thut es doch nicht. Ach ja, 's ist ein erbärmliches Nest dies; 's ist kein London – nicht wahr? Gott bewahre! wir sind hier Alle im Schlaf. Es fällt uns gar nicht ein, mit der Zeit fortzuschreiten.

Nach einigem Drehen und Wenden des Schlüssels gab das Schloß endlich nach, und er öffnete die Thür.

Die Sacristei war ein düsteres, moderiges, melancholisches altes Zimmer mit einer niedrigen Balkendecke. An zwei Seiten – welche dem Innern der Kirche zunächst lagen – zogen sich schwere, durch Alter wurmstichig gewordene Holzschränke hin. In einem derselben hingen an einem Haken mehrere Priesterhemden. Unter diesen am Boden standen drei Packkisten, deren Deckel nur halb befestigt waren und aus denen durch jeden Riß und jede Spalte hindurch sich ungeduldiges Stroh drängte. Hinter diesen in einem Winkel lag eine unordentliche Masse staubiger Papiere, von denen einige groß und zusammengerollt waren, andere dagegen, wie Briefe oder Rechnungen, auf Bindfaden gezogen waren. Das Zimmer hatte ehedem durch ein kleines Seitenfenster Licht erhalten; aber dasselbe war zugemauert und durch ein Gewölbefenster ersetzt worden. Die Atmosphäre drinnen war schwer und moderig und wurde durch den Umstand, daß die Thür nach der Kirche zu verschlossen war, noch drückender. Diese Thür war ebenfalls von festem Eichenholze und von der Seite der Sacristei oben und unten verriegelt.

»Wir könnten etwas ordentlicher sein, wie, Sir?« sagte der muntere Küster. »Aber was kann man von Leuten erwarten, die in einem solchen erbärmlichen Neste wohnen? Sehen Sie sich bloß diese Packkisten an. Da haben sie seit länger als einem Jahre gestanden, um nach London geschickt zu werden – da stehen sie noch und da werden sie stehen bleiben, so lange ihre Nägel sie zusammenhalten.«

»Was enthalten diese Packkisten?« frug ich.

»Kleine Stückchen von dem Holzgeschnitzel an der Kanzel, Paneele vom Altar und geschnitzte Bilder von der Orgel,« sagte der Küster. »Porträts in Holz von den zwölf Aposteln – wovon nicht einer 'ne heile Nase mehr hat. Alles zerbrochen und wurmstichig und in Staub zerbröckelnd – so zerbrechlich wie Töpferwaare, Sir.«

»Und wozu sollen sie nach London gebracht werden?«

»Zum Ausbessern, und wo sie nicht mehr ausgebessert werden können, sollen sie in starkem Holze wieder nachgeahmt werden. Aber, der Herr segne sie! – sie kamen mit dem Gelde zu kurz – und jetzt steht das Zeug da und wartet auf neue Subscriptionen, und kein Mensch will etwas dazu hergeben. Die Geschichte wurde vor einem Jahre angefangen, Sir. Sechs Herren speisten darüber in dem Gasthofe in der neuen Stadt. Sie hielten Reden, faßten Beschlüsse, schrieben ihre Namen auf und druckten Tausende von Plänen, welche ankündigten, daß es eine Schande sei, die Kirche nicht wieder herzustellen und das berühmte Schnitzwerk nicht ausbessern zu lassen und dergleichen mehr. Da hinter den Packkisten im Winkel liegen die Prospecte, Baupläne und Rechnungen und Anschläge und die ganze Correspondenz, die in nichts als in allgemeiner Balgerei endete. Es kam Anfangs ein bißchen Geld eingetröpfelt. – Es war gerade genug, um das zerbrochene Schnitzwerk zu packen, die Anschläge und die Druckerrechnungen zu bezahlen – und dann war kein Heller mehr übrig. Da stehen die Sachen noch immer.«

Mein eifriger Wunsch, das Kirchenbuch durchzusehen, bewog mich, nicht in des alten Mannes Gesprächigkeit einzugehen. Ich gab ihm Recht und schlug dann vor, daß wir ohne Verzug zur Sache kämen.

»Ja, ja, das Kirchenbuch, jawohl,« sagte der Küster, indem er ein kleines Schlüsselbund aus der Tasche nahm. »Wie weit wollen Sie zurücksuchen, Sir?«

Marianne hatte mich zur Zeit, als wir von Lauras Verlobung mit Sir Percival Glyde gesprochen, von des letzteren Alter unterrichtet. Sie hatte ihn damals als fünfundvierzig Jahre alt beschrieben. Indem ich von da an zurück und das Jahr mit einrechnete, welches seit der Zeit verflossen war, fand ich, daß er im Jahre 1804 geboren sein mußte und daß ich mit Sicherheit bei diesem Datum im Kirchenbuche anfangen konnte.

»Ich wünsche mit den: Jahre 1804 anzufangen,« sagte ich.

»Nach welcher Richtung hin von da an, Sir?« frug der Küster. »Vorwärts oder rückwärts?«

»Von 1804 an rückwärts.«

Er öffnete die Thür eines der Schränke – desjenigen, an welchem die Priesterhemden aufgehangen waren – und nahm ein großes Buch, das in schmierigem braunem Leder gebunden war, heraus. Es fiel mir auf, wie sehr unsicher dasselbe verwahrt war. Die Thür des Schrankes war durch das Alter gebogen und geborsten und das Schloß war von der kleinsten und gewöhnlichsten Art. Ich hätte es bequem mit meinem Spazierstocke sprengen können.

»Wird das als ein hinreichend sicherer Platz für das Kirchenbuch angesehen?« frug ich. »Mich dünkt, ein Buch von solcher Wichtigkeit sollte doch durch ein besseres Schloß und in einer eisernen Kiste verwahrt werden!«

»Na, das ist doch merkwürdig!« sagte der Küster, das Buch, welches er soeben geöffnet hatte, wieder schließend und fröhlich mit der Hand darauf schlagend. »Ganz dasselbe pflegte mein alter Meister immer zu sagen, als ich noch ein Bursche war. ›Warum,‹ sagte er, ›warum wird das Kirchenbuch (womit er dieses hier meinte, welches ich in der Hand habe) nicht in einer eisernen Kiste aufbewahrt?‹ Das habe ich nicht einmal, sondern hundertmal sagen hören. Er war hier der Advocat damals, Sir, und hatte dabei das Amt des Kirchspielschreibers inne. Ein prächtiger, aufrechter, alter Herr – und der eigenste alte Herr, den es nur geben konnte. Solange er lebte, bewahrte er auf seiner Expedition in Knowlesbury eine Abschrift dieses Buches und ließ von Zeit zu Zeit die bei uns eingetragenen Certificate genau in derselben nachschreiben. Sie werden es kaum glauben, aber er hatte seine bestimmten Tage, ein- oder zweimal alle Vierteljahre auf seinem alten weißen Pony hier nach der alten Kirche herüberzureiten, um mit eigener Hand das Kirchenbuch nach seiner Abschrift zu controliren. ›Wie kann ich wissen,‹ pflegte er zu sagen, ›ob nicht dies Kirchenbuch einmal gestohlen oder vernichtet werden mag? Warum verwahrt man es nicht in einer eisernen Kiste? Warum sind andere Leute nicht ebenso vorsichtig wie ich? Es wird sich eines Tages irgend etwas Ungehöriges ereignen – und wenn dann das Kirchenbuch fort ist, werden die Herren den Werth meiner Abschrift erkennen.‹ Dann pflegte er seine Prise zu nehmen und so stolz wie ein Lord um sich zu blicken. – ›Welches Jahr sagten Sie, Sir? Achtzehnhundert und wieviel?«

»Achtzehnhundert und vier,« entgegnete ich, heimlich entschlossen, dem alten Manne keine fernere Gelegenheit zum schwatzen zu geben, bis ich mit meiner Durchsicht des Kirchenbuches fertig sein würde.

Der Küster setzte seine Brille auf und wandte die Blätter des Buches um, indem er bei jedem dritten Blatte sorgfältig den Zeigefinger und Daumen benetzte. »Da ist es, Sir,« sagte er, indem er abermals vergnügt auf das Buch klopfte. »Da ist das Jahr, welches Sie suchen.«

Da ich nicht wußte, in welchem Monat Sir Percival geboren war, begann ich meine Nachsuchung mit dem Anfange des Jahres. Das Kirchenbuch war eins nach der alten Art: die Certificate waren auf leere Blätter geschrieben und durch Linien getrennt, welche mit Tinte dicht unter jedes Certificat über die ganze Seite hingezogen waren.

Ich kam bis zum Schlusse des Jahres Achtzehnhundert und vier, ohne die Heirat zu finden, und ging dann rückwärts durch Achtzehnhundert und drei, durch den Dezember, November, October, durch –

Nein! nicht durch den September. Unter der Unterschrift dieses Monats fand ich die Heirat!

Ich besah das Eingetragene aufmerksam. Dasselbe stand am unteren Ende einer Seite und war wegen Mangel an Raum auf einen kleineren Platz zusammengedrängt, als die Certificate der Heiraten darüber einnahmen. Die unmittelbar vorhergehende Heirat prägte sich meinem Gedächtnisse durch den Umstand ein, daß der Taufname des Bräutigams derselbe war, den ich trug. Die unmittelbar folgende (an der Spitze der nächsten Seite) fiel mir auf andere Weise auf, indem sie einen größeren Raum einnahm, als die übrigen, da sie die Vermählung zweier Brüder zu gleicher Zeit berichtete. Das Certificat der Heirat von Sir Felix Glyde war durch nichts bemerkbar, außer durch den engen Raum, in den das Geschriebene zusammengedrängt war. Ueber seine Gemahlin enthielt es genau dieselbe Art von Auskunft, welche gewöhnlich in solchen Fällen gegeben wird. Sie war angeführt als: »Cäcilia Jane Elster aus Park View Cottages, Knowlesburg; einzige Tochter des weiland Patrick Elster, Esquire, ehedem aus Bath.«

Ich schrieb mir diese Einzelheiten in mein Taschenbuch ein, wobei sich einigermaßen Zweifel und Entmuthigung in Bezug auf meine zunächst zu thuenden Schritte bei mir einschlich. Das Geheimnis, von dem ich bis zu diesem Augenblicke geglaubt hatte, daß ich es schon fast ergriffen, schien mir jetzt ferner denn je entrückt.

Welche Andeutungen auf unerklärte Geheimnisse hatte mein Besuch in der Sacristei ergeben? Ich sah deren keine, welche Fortschritte hatte ich gemacht, um den geargwöhnten Flecken auf dem Rufe seiner Mutter zu entdecken? Das einzige Factum, worüber ich mir Gewißheit verschafft, sprach denselben vollkommen rein. Neue Zweifel, neue Schwierigkeiten, neue Zeitverluste begannen sich in unabsehbarer Weite vor mir zu erheben, was sollte ich zunächst beginnen? Die einzige unmittelbare Hilfsquelle, die mir noch übrig blieb, schien die folgende zu sein: ich konnte Nachfragen über »Miß Elster in Knowlesbury« anstellen auf die Aussicht hin, den Hauptzweck meiner Forschungen dadurch zu fordern, daß ich das Geheimnis von Mrs. Catherick's Verachtung für Sir Percivals Mutter entdeckte.

»Haben Sie gefunden, was Sie suchten, Sir?« frug der Küster, als ich das Kirchenbuch schloß.

»Ja,« erwiderte ich, »aber ich habe Ihnen noch einige Fragen vorzulegen. Ich vermuthe, daß der Geistliche, welcher im Jahre Achtzehnhundert und drei den Gottesdienst in dieser Kirche verrichtete, nicht mehr am Leben ist?«

»Nein, nein, Sir. Er war schon vor drei oder vier Jahren, ehe ich hieher kam, gestorben – und das war im Jahre Achtzehnhundert und siebenundzwanzig. Ich bekam die Stelle, Sir,« fuhr mein geschwätziger alter Freund fort, »dadurch, daß mein Vorgänger sie aufgab. Man sagt, daß seine Frau ihn aus Haus und Hof vertrieben – und die lebt noch, da drüben in der neuen Stadt. Ich selbst weiß nicht genau, wie die Geschichte zusammenhängt: das Einzige, was ich weiß, ist, daß ich die Stelle bekam. Mr. Wansborough verschaffte sie mir – der Sohn meines alten Herrn, von dem ich Ihnen erzählte. Er ist ein freier, freundlicher Mann, liebt die Jagd, hält sich seine Hunde und all dergleichen. Er ist jetzt unser Kirchspielschreiber, wie sein Vater es vor ihm war.«

»Sagten Sie nicht, Ihr früherer Herr wohnte in Knowlesbury?« frug ich, indem ich mich der Erzählung über den pünktlichen Herrn aus der alten Zeit erinnerte, mit der mich mein redseliger Freund vorhin gelangweilt hatte.

»Jawohl, Sir,« entgegnete, der Küster. »Der alte Mr. Wansborough wohnte zu Knowlesbury, und der junge Mr. Wansborough wohnt ebenfalls dort.«

»Sie erwähnten soeben, daß er, wie sein Vater, hier Kirchspielschreiber sei. Ich weiß nicht recht, was eigentlich ein Kirchspielschreiber ist?«

»Wirklich nicht, Sir? – und kommen noch dazu aus London! Jedes Kirchspiel, müssen Sie wissen, hat sowohl seinen Kirchspielschreiber wie seinen Büttel. Der Büttel ist ein Mann wie ich (ausgenommen, daß ich ein gut Theil mehr Bildung habe, wie die meisten von ihnen – obgleich ich nicht damit prahle). Kirchspielschreiber ist eine Art Amt, welches die Advocaten bekommen, so daß, falls für die Sacristei Geschäfte zu machen sind, sie dieselben sofort übernehmen können. Es ist in London ebenso. Jede Kirche hat ihren Kirchspielschreiber und Sie können mir auf's Wort glauben, daß derselbe jedesmal ein Advocat ist.«

»Dann ist vermuthlich auch der junge Mr. Wansborough ein Advocat?«

»Das versteht sich, Sir! Advocat in der Hochstraße, Knowlesbury – das alte Geschäftslocal, das schon sein Vater hatte.«

»Wie weit ist es von hier nach Knowlesbury?«

»Ein ganzes Stück, Sir,« sagte der Küster, mit jener übertriebenen Idee von Entfernungen, welche allen Landleuten eigen sind. »Nahe an fünf Meilen, kann ich Ihnen sagen!«

Es war noch früh am Vormittag und Zeit genug, um nach Knowlesbury und von dort zurück nach Welmingham zu spazieren; es gab in der Stadt wahrscheinlich Niemanden, der mich besser über die Stellung und den Ruf von Sir Percivals Mutter vor ihrer Heirath unterrichten konnte, als der Advocat des Ortes. Indem ich beschloß, sofort zu Fuße nach Knowlesbury aufzubrechen, ging ich dem Küster voran aus der Sacristei.

»Danke schönstens, Sir,« sagte der Küster, als ich ihm mein kleines Geschenk in die Hand drückte, »Wollen Sie wirklich den ganzen Weg nach Knowlesbury und zurück zu Fuße machen? Nun! Sie sind gut zu Fuße und das ist ein großes Glück, wie? Das da ist der Weg; Sie können nicht fehl gehen. Ich wollte, ich hätte Ihres Weges zu gehen – es ist sehr angenehm, einem Herrn aus London zu begegnen. Da hört man doch einmal, was in der Welt vorgeht, wünsch' Ihnen einen guten Morgen, Sir – und danke Ihnen nochmals recht schön.«

Wir gingen auseinander. Als ich die Kirche hinter mir ließ, schaute ich zurück – und da unten auf der Straße waren wieder die beiden Männer, zu denen sich noch ein dritter gesellt hatte; dieser dritte war der kleine Mann im schwarzen Anzuge, dem ich am Abend zuvor nach der Eisenbahnstation gefolgt war.

Die drei Männer standen eine Weile und sprachen zusammen und trennten sich dann. Der kleine Mann in Schwarz ging allein nach Welmingham zu; die anderen Beiden blieben beisammen, indem sie offenbar warteten, bis sie mir, sobald ich weiter gehen würde, wieder folgen könnten.

Ich setzte meinen Weg fort, ohne sie gewahr werden zu lassen, daß ich sie bemerkt hatte. Ich war in diesem Augenblicke nicht besonders aufgebracht über sie – im Gegentheil, sie belebten meine sinkenden Hoffnungen wieder etwas. Ihr Wiedererscheinen erinnerte mich, daß Sir Percival meinen Besuch in der Kirche von Alt-Welmingham als nächste Folge meiner Unterredung mit Mrs. Catherick vorausgesehen – widrigenfalls er sicher nicht seine Spione dorthin geschickt haben würde, um mich zu erwarten. So glatt und offen die Sache sich in der Sacristei auch herausgestellt, so war doch etwas Verkehrtes darunter – es war in dem Kirchenbuche etwas, das ich vielleicht noch nicht ausfindig gemacht hatte.


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