Raphael Kühner
Lälius oder von der Freundschaft
Raphael Kühner

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Lälius.

X. 33. So hört denn, meine edlen Freunde, was so oft zwischen mir und Scipio über die Freundschaft gesprochen wurde.

»Allerdings behauptete er, Nichts sei schwieriger, als daß die Freundschaft bis zum letzten Tage des Lebens fortbestehe. Denn oft trete der Fall ein, daß entweder Beide in einer Sache nicht zugleich ihren Vortheil fänden, oder daß sie hinsichtlich des Staates nicht gleiche Ansichten hätten; auch, sagte er, ändere sich oft der Charakter der Menschen, bald durch widrige Ereignisse, bald in Folge des vorrückenden Altersindem die Menschen im Alter oft mürrisch und verdrießlich werden.. Den Beweis dafür nahm er von dem ähnlichen Falle, der sich beim Beginne der Jugend zeige, daß nämlich oft die innigste Liebe der Knaben zugleich mit dem Kinderkleidepraetexta toga, d. h. ein mit Purpur verbrämtes Oberkleid, das die Römischen Knaben bis in's siebzehnte Jahr trugen, dann mit der toga virilis, der männlichen Toga, vertauschten. Uebrigens trugen die toga praetexta nicht bloß Knaben, sondern auch die höheren Magistrate, wie die Pontifices, Auguren. S. Adam, Röm. Alterth. Bd. II. S. 168 f. abgelegt werde. 34. Hätten sie aber dieselbe bis zum Jünglingsalter fortgesetzt, so werde sie doch bisweilen durch Streit, bald wegen eines Heirathsantrages, bald überhaupt wegen irgend eines Vortheiles, den Beide nicht zugleich erlangen könnten, getrennt. Wenn aber auch Manche ihre Freundschaft noch länger fortgesetzt hätten, so werde sie doch oft erschüttert, wenn sie wegen eines Ehrenamtes in Wettstreit geriethen. Denn es gebe kein größeres Verderben für die Freundschaft, als bei der Mehrzahl die Geldgier, bei den Edelsten aber der Streit um Ehre und Ruhm. Und dieß sei oft unter den besten Freunden die Quelle der bittersten Feindschaften.«

[35] »Auch erzeugten sich große und meistentheils gerechte Zerwürfnisse, wenn man Freunden Etwas zumuthe, was nicht recht sei, zum Beispiel daß sie entweder Diener der Sinnlichkeit oder Gehülfen einer Ungerechtigkeit sein sollen. Denn die, welche dieß verweigerten, so edel sie auch hierin handelten, würden doch von denen, welchen sie nicht willfahren wollten, beschuldigt das Recht der Freundschaft zu verletzen, während die, welche alle möglichen Zumuthungen dem Freunde zu machen sich erdreisteten, schon durch ihre Zumuthung zu erkennen gäben, daß sie um des Freundes willen Alles thun würden. Solche Beschwerden seien gewöhnlich der Grund, daß nicht nur fest gewurzelte Freundschaften erlöschen, sondern auch der Same zu ewigem Hasse gestreut werde.«

»Diese so viele Gefahren schwebten wie Verhängnisse über den Freundschaften. Um daher allen diesen zu entgehen, dazu scheine ihm nicht nur Weisheit, sondern auch Glück erforderlich zu sein.«

XI. 36. Darum laßt uns, wenn's beliebt, zunächst sehen, wie weit die Liebe in der Freundschaft gehen darf. Wenn CoriolanusGajus Marcius, der im J. 493 v. Chr. von der Eroberung der Volscischen Stadt Corioli den Beinamen Coriolanus erhielt, wurde im J. 492 wegen seines im Senate gegebenen Rathes, daß man das bei einer großen Theuerung aus Sicilien herbeigeholte Getreide nicht eher unter das Volk vertheilen solle, als bis es die unlängst erkämpfte Tribunenwürde wieder aufgehoben hätte, von den Volkstribunen des Hochverrathes angeklagt und verbannt. Er begab sich zu den Volskern, und, von diesen zum Heerführer erwählt, bekriegte er mit ihnen sein Vaterland. Nach der Zerstörung aller Städte um Rom rückte er im J. 489 vor seine Vaterstadt. Nach Zurückweisung zweier Römischen Gesandtschaften gab er endlich den Vorstellungen seiner Mutter nach und zog wieder ab. S. Livius 2, 34–40. Ueber seinen Tod (vgl. Kap. 12, §. 42) weichen die Berichte von einander ab. S. Livius 2, 40. Freunde hatte, durften diese mit Coriolanus die Waffen gegen das Vaterland tragen? Durften den Viscellinus, als er nach dem Königthume strebte, oder den Spurius MäliusUeber Viscellinus und Mälius s. zu Kap. 8, §. 28. seine Freunde unterstützen? 37. Von Tiberius GracchusTiberius Sempronius Gracchus, der berühmte Volkstribun, wurde im J. 133 v. Chr. bei einem wegen Ackergesetze erregten Aufstande der Aristokraten, bei dem besonders Publius Scipio Nasica, als Führer der Aristokraten, thätig gewesen war, mit dreihundert seiner Anhänger erschlagen. Das Urtheil Cicero's über Tiberius und dessen Bruder Gajus Gracchus ist offenbar ungerecht und nur einseitig von dem Standpunkte der Aristokratie aus gefällt. wenigstens sehen wir, wie ihn, als er den Staat beunruhigte, Quintus TuberoQuintus Aelius Tubero, Enkel des Aemilius Paullus Mcacedonicus, Schwestersohn des jüngeren Scipio Africanus, leistete im J. 133 als Volkstribun den Anschlägen des Tiberius Gracchus kräftigen Widerstand. Vergl. Cicer. Brut. 31, 117. und seine gleichalterigen Freunde gänzlich verließen. Aber als Gajus BlossiusGajus Blossius aus Cumä, einer Stadt Campaniens, ein Freund des Tiberius Gracchus, blieb diesem auch nach dessen Tode treu, als im J. 132 v. Chr. vom Senate den Consuln Publius Popilius Länas und Publius Rupilius die Untersuchung gegen die Theilnehmer an des Tiberius Gracchus Umtrieben aufgetragen wurde. Dem Ausgange dieser Untersuchung entzog er sich durch die Flucht nach Asien zum Aristonicus, der sich des von dem Pergamenischen Könige Attalus III. den Römern vermachten Reiches bemächtigt hatte. Als dieser im J. 130 den Römern besiegt war, nahm er sich das Leben. aus Cumä, der Gastfreund eueres Hauses, Scävola, zu mir in's Haus kam, weil ich gewöhnlich mit den Consuln Länas und Rupilius zu Rathe saß, um sich zu entschuldigen; so führte er als Grund ihm zu verzeihen an, er habe gegen Tiberius Gracchus eine so hohe Achtung gehabt, daß er es für seine Pflicht gehalten habe jeden Wunsch desselben zu. erfüllen. Da entgegnete ich: »Auch, wenn er verlangt hätte, du solltest das Capitolium in Brand stecken?« »Nie,« erwiderte er, »würde er so Etwas gewünscht haben; allein hätte er es gewünscht, so würde ich gehorcht haben«. Ihr seht, welch ein verruchtes Wort dieß war. Und wahrlich, er that auch so, ja noch mehr, als er sagte. Denn er gehorchte nicht nur dem verwegenen Sinne des Tiberius Gracchus, nein, er leitete ihn und bot sich nicht zum Genossen seines tollen Wesens, sondern zum Führer an. In diesem Wahnsinne floh er daher, durch eine neue Untersuchung geschreckt, nach Asien, begab sich zu den Feinden und büßte für sein Vergehen am Staate mit schwerer, aber gerechter Strafe.

Richtig ist also die Entschuldigung eines Vergehens, wenn man sich dem Freunde zu Gefallen vergangen hat. Denn da die Voraussetzung der Tugend Stifterin der Freundschaft ist, so kann schwerlich die Freundschaft fortbestehen, wenn man der Tugend abtrünnig wird.

38. Erklären wir es nun für recht den Freunden einerseits alle ihre Wünsche zu gewähren, andererseits die Gewährung aller unserer Wünsche zu erlangen, so würde die Sache, wenn wir eine vollkommene Weisheit besäßen, nichts Fehlerhaftes haben. Allein wir reden von solchen Freunden, wie wir sie vor unseren Augen haben, die wir gesehen haben, oder von denen uns die Geschichte erzählt, das heißt Freunde, wie sie das gewöhnliche Leben kennt. Aus der Zahl dieser Männer müssen wir die Beispiele nehmen, und zwar hauptsächlich von denjenigen, welche sich der vollkommenen Weisheit am Meisten nähern.

39. Wir wissen zum Beispiel, daß Papus Aemilius ein Busenfreund des Gajus LuscinusQuintus Aemilius Papus und Gajus Fabricius Luscinus (über diesen s. zu Cato M. 6, 15) waren im J. 281 v. Chr. und 278 Consuln, 275 Censoren. war, – so haben wir es von unseren Vätern überkommen, – daß beide zweimal zusammen Consuln und Amtsgenossen in der Censur waren. Sodann berichtet uns die Geschichte, daß Manius Curius und Tiberius CoruncaniusUeber Manius Curius Dentatus und Tiberius Coruncanius s. zu Cato M. 6, 15. sowol mit diesen als unter sich in der engsten Verbindung lebten. Von keinem dieser Männer können wir also auch nur argwöhnen, daß er in seinen Freund mit einer Forderung gedrungen sei, die gegen die Pflicht, gegen den Eidschwur oder gegen das Staatswohl gewesen wäre. Denn was bedarf es bei solchen Männern der Versicherung, daß, wenn Einer eine solche Forderung gemacht hätte, er sie nicht würde erlangt haben, da es Männer von der reinsten Gesinnung waren, und es gleich unerlaubt ist eine solche Bitte zu gewähren als sie an einen Anderen zu richten. Aber dennoch hielten es mit Tiberius Gracchus ein Gajus CarboGajus Papirius Carbo, ein ausgezeichneter Redner, aber unruhiger Kopf, der bedeutendste unter den Anhängern des Tiberius Gracchus, im J. 131 v. Chr. Volkstribun. Als Consul aber (120) trat er auf die Partei der Vornehmen; im J. 118 wurde er von dem jungen Crassus (erst 12 Jahre alt) angeklagt, doch entzog er sich der gefürchteten Strafe durch freiwilligen Tod. S. Cicer. Brut. 27, 103., ein Gajus CatoGajus Cato, ein Enkel des Marcus Cato Censorius, 126 v. Chr. Volkstribun, 114 Consul. und sein Bruder GajusGajus Sempronius Gracchus, jüngerer Bruder des oben erwähnten Tiberius Gracchus, im J. 129 v. Chr. einer der Triumvirn, die die von Tiberius Gracchus vorgeschlagene Ackervertheilung ausführen sollten; im J. 123 und 122 Volkstribun; er mußte bei einem wegen Ackergesetze erregten Aufstande aus Rom fliehen und ließ sich in dem Haine der Furina von einem Sklaven tödten (121)., der letzte damals zwar nur in sehr geringem Grade, jetzt aber als der heftigste Anhänger.

XII. 40. Das muß also in der Freundschaft als unverbrüchliches Gesetz festgestellt werden, daß man weder um etwas Unsittliches bitte, noch, wenn man darum gebeten wird, es thue. Denn schimpflich und ganz unstatthaft ist die Entschuldigung sowol bei allen anderen Vergehen als insbesondere gegen den Staat, wenn man um des Freundes willen gehandelt zu haben erklärt. Wir sind nämlich, Fannius und Scävola, auf einen Standpunkt gestellt, wo es unsere Pflicht erheischt auf die künftigen Schicksale des Staates weit hinauszuschauen. Denn das Herkommen unserer Altvordern ist schon ein wenig von seiner Bahn und seinem Geleise gewichen.

41. Tiberius Gracchus versuchte es sich der Alleinherrschaft zu bemächtigen oder war vielmehr wirklich wenige Monate AlleinherrscherFlorus III. 14, 7: Inde quum in Capitolium profugisset (Ti. Gracchus) plebemque ad defensionem salutis suae manu caput tangens hortaretur, praebuit speciem regnum ac diadema poscentis atque ita duce Scipione Nasica concitato in arma populo quasi jure oppressus est. Vgl. Plutarch Ti. Gracch. c. 19. Die dem Tiberius Gracchus gemachte Beschuldigung, daß er nach der Alleinherrschaft gestrebt habe, ist wahrscheinlich nur von den Aristokraten ersonnen worden, um ihn beim Volke verhaßt zu machen.. Hatte das Römische Volk etwas Aehnliches gehört oder gesehen? Was die Freunde und Verwandten, die diesem auch nach seinem Tode anhingen, gegen Publius ScipioPublius Scipio Nasica Serapio, Oberpriester, 139 v. Chr.. Consul, hatte 133 als Privatmann bei der Ermordung des Tiberius Gracchus thätigen Antheil genommen, worauf er von des Tiberius Anhängern in Anklagestand versetzt, aber vom Senate unter einem scheinbaren Vorwande nach Pergamum in Asien in die Verbannung geschickt wurde, wo er bald nach seiner Ankunft aus Kummer über seine Verbannung starb. in's Werk zu setzen wußten, vermag ich nicht ohne Thränen zu sagen. Den Carbo nämlich mußten wir wegen der noch in frischem Andenken stehenden Bestrafung des Tiberius Gracchus, wie es nur immer möglich war, dulden. Was ich aber vom Tribunate des Gajus Gracchus erwarteDieses Gespräch wurde angeblich im J. 129 v. Chr. gehalten. Damals war Gajus Gracchus noch nicht Volkstribun, sondern nur mit Carbo und Flaccus triumvir agro dividendo (Triumvir für die Ackervertheilung), hatte aber als solcher heftige Unruhen erregt In diesem Jahre wurde auch Scipio Africanus ermordet, und zwar, wie man glaubte, auf Anstiften der Triumvirn. Erst im J. 123 wurde er Volkstribun. Lälius konnte also von des Gajus Gracchus Tribunate nur als von einem künftigen reden., mag ich nicht weissagen.

Sodann greift ein Uebel um sich, das sich, sobald es einmal begonnen hat, nur allzu rasch zum Verderben hinneigt. Ihr seht ja, welch großes Unheil schon früher in dem TafelgesetzeDas Tafelgesetz (lex tabellaria) bestimmte, daß bei der Wahl obrigkeitlicher Personen die Wählenden ihre Stimme schriftlich auf einem Täfelchen abgeben sollten. Bis zum J. 140 v. Chr. nämlich wurde bei den Wahlen mündlich abgestimmt. Das Tafelgesetz wurde zuerst 139 von dem Volkstribunen Aulus Gabinius angewendet; dieses Gesetz wurde 137 von dem Volkstribunen Cassius auf die Volksgerichte (mit Ausnahme des judicii perduellionis, d. h. des Gerichts über Hochverrath) ausgedehnt. Hierdurch wurde das Ansehen der Optimaten sehr geschwächt. Vgl. Cicer. Legg. 3, 15 und 16. gestiftet worden ist, zuerst durch den Gabinischen, zwei Jahre später durch den Cassischen Gesetzvorschlag. Es dünkt mich, als sähe ich schon das Volk vom Senate getrennt, und daß nach der Willkür der Menge die wichtigsten Angelegenheiten zur Entscheidung gebracht werdenIn früheren Zeiten galt es als Regel, »daß in den Tributcomitien kein Gesetz anders als nach vorhergegangenem Senatsbeschlusse (senatus auctoritas) gefaßt oder aufgehoben werden konnte«. Peter, die Epochen der Verfassungsgeschichte der Röm. Republ. S 107 ff., von Seyffert angeführt.. Denn mehr Menschen werden lernen, wie man dergleichen Dinge anzufangen, als wie man ihnen Widerstand zu leisten habe.

42. Wozu sage ich dieß? Weil Niemand ohne Gehülfen Etwas der Art versucht. Man muß also den Gutgesinnten die Vorschrift geben, wenn sie ohne ihr Wissen durch irgend einen Zufall in solche Freundschaften hineingerathen, sich nicht für so gebunden zu halten, als dürften sie sich von ihren Freunden, die sich eines großen Verbrechens gegen den Staat schuldig machen, nicht trennen. Ueber die Böswilligen aber ist eine Strafe zu verhängen, und zwar eine nicht geringere über diejenigen, welche einem Anderen folgen, als über die, welche selbst Anführer des Frevels sind. Wer war berühmter in Griechenland als Themistokles? wer vernünftiger? Aber nachdem er als Oberbefehlshaber Griechenland im Persischen Kriege von der Knechtschaft befreit hatte und in Folge von Mißgunst in die Verbannung getrieben war, so ertrug er die Kränkung seines undankbaren Vaterlandes nicht, die er hätte ertragen sollen; er that dasselbe, was zwanzig Jahre früher bei uns Coriolanus gethan hatte. Allein es fand sich für sie kein Gehülfe gegen das Vaterland, und so nahmen sich Beide das LebenUeber des Themistokles Tod sagt Thucyd. I, 138: Νοσήσας δὲ τελευτα̃ τὸν βίον· λέγουσι δέ τινες καὶ εκοίσιον φαρμάκω αποθανει̃ν αυτόν, αδύνατον νομίσαντα ει̃ναι επιτελέσαι βασιλει̃ ὰ υπέσχετο. Vgl. Corn. Nep. Them. 10, 4. Ueber des Coriolanus Tod s. zu Kap. 11, §. 36..

43. Deßhalb darf ein solches Einverständniß der Bösgesinnten nicht mit dem Vorwande der Freundschaft bemäntelt, sondern vielmehr mit jeder Strafe geahndet werden, damit Niemand berechtigt zu sein meine einem Freunde selbst dann zu folgen, wenn er das Vaterland mit Krieg überzieht. Und dazu dürfte es vielleicht, wie die Sache sich zu entwickeln angefangen hat, einst auch wirklich kommen. Mir liegt es aber nicht minder am Herzen, wie die Lage des Staates nach meinem Tode sein wird, als wie sie jetzt ist.

XIII. 44. Dieß muß also als das erste Gesetz in der Freundschaft festgestellt werden: Wir dürfen von Freunden nur Sittlichgutes erbitten und um der Freunde willen nur Sittlichgutes thun, auch nicht erst warten, bis man darum gebeten wird. Diensteifer soll immer vorhanden, Zögerung immer fern sein, und besonders sollen wir Muth haben freimüthig Rath zu ertheilen. Die höchste Geltung in der Freundschaft muß das Ansehen wohlmeinender Freunde haben, und sowie man dasselbe nicht nur zu offenen, sondern auch nach Erforderniß der Umstände zu nachdrücklichen Ermahnungen benutzen muß, so muß man auch andererseits demselben Folge leisten.

45. Freilich haben einige Männer, die man, wie ich höre, in Griechenland für Weise hielt, meines Bedünkens manche wunderliche Behauptungen aufgestellt, – doch es gibt Nichts, was die Griechen nicht mit ihrem spitzfindigen Scharfsinn zu erklären suchten, – theilsNach der Ansicht der Epikureer, die die Glückseligkeit in die ungestörte Gemüthsruhe setzten. Euripides laßt im Hippolytus 253–66 eine Amme dieselbe Ansicht aussprechen. Cicero hat offenbar die Stelle vor Augen gehabt. müsse man zu innige Freundschaften meiden, damit nicht Einer für Mehrere besorgt zu sein nöthig habe; Jeder habe mit seinen eigenen Angelegenheiten für sich vollauf zu thun; sich in fremde allzu sehr zu verwickeln sei lästig; am Bequemsten sei es die Zügel der Freundschaft möglichst schlaff zu halten, um sie nach Belieben anziehen oder loslassen zu können; denn ein Haupterforderniß zu einem glücklichen Leben sei Gemüthsruhe, deren sich der Geist nicht erfreuen könne, wenn er, so zu sagen, für Mehrere GeburtsschmerzenDieses Bild hat Cicero aus der angeführten Stelle des Euripides entlehnt, wo es heißt:

τὸ δ' υπὲρ δισσω̃ν μίαν ωδίνειν
ψυχὴν χαλεπὸν βάρος.
habe.

46. AndereEr meint die Cyrenaiker, welche die Freundschaft lediglich auf das Bedürfniß und den materiellen Nutzen bezogen. aber, sagt man, behaupten auf eine noch ungleich rohere Weise – diesen Punkt habe ich kurz zuvorKap. 8 und 9. mit wenigen Worten berührt –: nur um des Schutzes und der Unterstützung, nicht aber des Wohlwollens und der Liebe willen seien Freundschaften begehrenswerth. Je weniger Stärke und je weniger Kräfte daher Einer besitze, desto mehr trachte er nach Freundschaften; demgemäß geschehe es, daß das schwache weibliche Geschlecht den Schutz der Freundschaft mehr suche als das männliche, Unbemittelte mehr als Bemittelte, Unglückliche mehr als Glückliche.

47. O, welch herrliche Weisheit! Wahrlich die Sonne scheinen die aus der Welt zu nehmen, welche die Freundschaft aus dem Leben nehmen, das beste und erfreulichste Geschenk, das wir von den unsterblichen Göttern haben. Wie sieht es nun mit dieser Gemüthsruhe aus? Dem Anscheine nach hat sie etwas Schmeichelndes, in der That aber ist sie aus vielen Gründen verwerflich. Denn es ist nicht vernunftgemäß eine sittlichgute Sache oder Handlung, um nur dem Kummer auszuweichen, entweder nicht zu übernehmen oder, wenn man sie unternommen hat, wieder fallen zu lassen. Wenn wir die Sorge fliehen, so müssen wir auch die Tugend fliehen. Denn diese muß nothwendiger Weise ihre Gegensätze mit einiger Sorge von sich weisen und hassen, wie die Gutmüthigkeit die Tücke, die Mäßigkeit die Wollust, die Tapferkeit die Feigheit. Demzufolge sieht man, daß Gerechte über Ungerechtes, Tapfere über Feigheit und Enthaltsame über Ausschweifungen den tiefsten Schmerz empfinden. Folglich gehört es wesentlich zu einem wohlgeordneten Gemüthe sich über Gutes zu freuen, wie über Entgegengesetztes sich zu betrüben.

48. Trifft demnach Seelenschmerz den Weisen – und er trifft ihn wirklich, wenn wir nicht glauben sollen, daß das menschliche Gefühl aus seinem Gemüthe ausgerottet sei, – was haben wir für einen Grund die Freundschaft gänzlich aus dem Leben hinwegzurücken, um sich ihretwegen keinen Beschwerlichkeiten zu unterziehen? Denn was ist nach Wegnahme aller Gemüthsbewegung für ein Unterschied, ich will nicht sagen, zwischen einem Thiere und einem Menschen, sondern zwischen einem Menschen und einem Klotze oder einem Steine oder jedem beliebigen Dinge dieser Art? Denn auf die PhilosophenDie Stoiker, die behaupten, der Weise solle von jeder Gemüthsbewegung frei sein. darf man nicht hören, die behaupten, die Tugend sei etwas Hartes und, so zu sagen, Eisernes, sie ist vielmehr, wie in vielen anderen Beziehungen, so auch in der Freundschaft zart und schmiegsam, so daß man beim Glücke des Freundes sein Gemüth erweitert, wie beim Unglücke beengt fühlt. Darum hat die Angst, die man oft für einen Freund fühlen muß, nicht solches Gewicht, daß sie die Freundschaft aus dem Leben verbannen sollte, ebenso wenig, als man die Tugenden von sich weist, weil sie einige Sorgen und Beschwerden verursachen.

XIV. Da ferner, wie ich obenKap. 9, §. 32. bemerkte, Freundschaften geknüpft werden, wenn ein Merkzeichen der Tugend hervorleuchtet, an die sich das gleichartige Gemüth anschmiegen und anschließen kann; so muß in diesem Falle nothwendig Liebe entstehen. 49. Denn was ist so ungereimt als an vielen eitelen Dingen sich zu freuen, wie zum Beispiel an Ehre, an Ruhm. an einem Gebäude, an Kleidung und Schmuck des Körpers; an einem tugendhaften Gemüthe hingegen, an einem solchen, welches zu lieben und wiederzulieben fähig ist, keine sonderliche Freude zu haben? Nichts ist so erfreulich als Erwiderung des Wohlwollens, als Gegenseitigkeit der Neigungen und der Gefälligkeiten.

50. Wie? wenn wir noch das hinzufügen, was mit Recht hinzugefügt werden kann, daß es Nichts gibt, was so an sich lockt und anzieht, als die Aehnlichkeit des Charakters zu der Freundschaft; so wird man in der That das als Wahrheit zugeben, daß Gute Gute lieben und sich mit diesen, als wären sie durch natürliche Verwandtschaft mit ihnen verknüpft, verbinden. Nichts strebt ja eifriger nach dem ihm Gleichartigen, Nichts reißt dieß gewaltsamer an sich als die Natur. Darum, Fannius und Scävola, dürfte meines Erachtens das fest stehen, daß zwischen Guten gleichsam ein nothwendiges Wohlwollen obwalte, und das ist die Quelle der Freundschaft, die in der Natur begründet ist. AberDer Zusammenhang der Gedanken in dieser Stelle ist folgender: Wenn zwischen Guten gleichsam ein nothwendiges Wohlwollen obwaltet, und nur dieses die in der Natur begründete Quelle der Freundschaft ist; so könnte man leicht zu der Annahme geneigt sein, daß das Wohlwollen der Guten lediglich auf ihr gegenseitiges Verhältniß zu einander beschränkt sei, und somit das allgemeine Wohlwollen gegen die Menschheit überhaupt aufgehoben werde. Dem aber ist nicht so. Denn diese Güte, worauf die Freundschaft beruht, erstreckt sich zugleich auf die Menschheit überhaupt. dieses Gute erstreckt sich zugleich auch auf die Menge. Denn die Tugend ist nicht menschenfeindlich, nicht undienstfertig. nicht übermüthig, da sie ja ganze Völker zu schirmen und bestens für sie zu sorgen pflegt, was sie gewiß nicht thäte, wenn sie der allgemeinen Menschenliebe abhold wäre.

51. Auch scheinen mir die, welche sich um des Vortheiles willen Freundschaften denken, das liebenswürdigste Band der Freundschaft zu verachten. Denn nicht sowol der durch den Freund gewonnene Vortheil erfreut, als vielmehr die Liebe des Freundes selbst, und erst dann wird das, was vom Freunde ausgeht, erfreulich, wenn es in Verbindung mit persönlicher Neigung von ihm ausgeht. Und weit entfernt, daß die Freundschaften um der Hülfsbedürftigkeit willen unterhalten werden, sind vielmehr gerade die Menschen, welche vermöge ihrer Macht, ihrer Mittel und besonders vermöge ihrer Tugend, in der der meiste Schutz liegt, am Wenigsten eines Anderen bedürfen, die Freigebigsten und Wohlthätigsten. Und vielleicht wäre es nicht einmal gut, wenn den Freunden durchaus nie Etwas fehlte. Denn wo hätte sich meine persönliche Zuneigung in ihrer vollen Kraft zeigen können, wenn Scipio nie meines Rathes, nie meiner Hülfe, weder zu Hause noch im Felde, bedurft hätte? Die Freundschaft war also nicht Folge des Nutzens, sondern der Nutzen Folge der Freundschaft.

XV. 52. Nicht also darf man auf Menschen hören, die in lauter Vergnügungen zerfließen, wenn sie einmal über Freundschaft, die sie weder aus Erfahrung noch durch Nachdenken kennen gelernt haben, sprechen. Denn, bei der Treue der Götter und Menschen! wer möchte unter der Bedingung, daß er weder Jemanden liebe, noch selbst von Jemandem geliebt werde, von allen Gütern umströmt sein und im Ueberflusse aller Dinge leben? Das ist ja das Leben eines Gewaltherrschers, in dem keine Treue, keine Liebe, kein Vertrauen auf beständiges Wohlwollen stattfinden kann, wo immer Alles mißtrauisch und besorgt ist, und keine Stelle sich für die Freundschaft findet. 53. Denn wer sollte den lieben, den er fürchtet, oder den, von dem er sich gefürchtet glaubt? Geehrt werden sie wol, doch nur aus Verstellung auf einige ZeitSenec. cap 9: hae sunt amicitiae, quas temporarias populus appellat.. Werden sie aber, wie es gemeiniglich der Fall ist, gestürzt; dann erkennt man, wie arm sie an Freunden waren. So soll zum Beispiel Tarquinius gesagt haben, erst in seiner Verbannung habe er eingesehen, an welchen er treue, an welchen er untreue Freunde gehabt habe, wo er es Keinem von Beiden habe vergelten können.

54. Indeß nimmt es mich Wunder, wenn er bei solchem Uebermuthe und Ungestüme überhaupt irgend einen Freund haben konnte. Sowie die Denkungsart des genannten Mannes ihm keine wahren Freunde erwerben konnte, ebenso schließt das Vermögen vieler Uebermächtigen treue Freundschaften aus. Denn nicht allein ist das Glück selbst blind, sondern es macht auch gemeiniglich die blind, die es in seine Arme schließt. Daher lassen sich diese gemeiniglich von Hochmuth und Anmaßung hinreißen, und es kann nichts Unerträglicheres geben als ein unverständiges Glückskind.

Ferner kann man die Erfahrung machen, daß Menschen, welche früher ein gefälliges Benehmen zeigten, durch Befehlshaberstellen, Ehrenämter und glückliche Ereignisse umgewandelt werden, alte Freundschaften verschmähen und sich neuen hingeben.

55. WasVgl. Xenoph. Comment. II, 4, 1 u. 2: του̃το μὲν γὰρ δὴ πολλω̃ν έφη ακούειν, ως πάντων κτημάτων κράτιστον ὰν είη φίλος σαφὴς καὶ αγαθός, επιμελουμένος δὲ παντὸς μα̃λλον ορὰν έφη (Σωκράτης) τοὺς πολλοὺς ὴ φίλων κτήσεως. Καὶ γὰρ οικίας καὶ αγροὺς καὶ ανδράποδα καὶ βοσκήματα καὶ σκεύη κτωμένους τε επιμελω̃ς ορα̃ν έφη καὶ τὰ όντα σώζειν πειρωμένους, φίλον δε, ὸ μέγιστον αγαθὸν ει̃ναι φασιν, ορα̃ν έφη τοὺς πολλοὺς ούτε ότως κτησονται φροντίζοντας, ούτε όπως οι όντες εαυτοι̃ς σώζωνται. Vgl. Lael. 17. 22[?]. ist aber thörichter, als wenn man, durch Reichthum, Ueberfluß und Macht viel vermögend, sich zwar Alles anschafft, was man sich für Geld anschaffen kann: Pferde, Diener, herrliche Gewänder, kostbare Gefäße, Freunde hingegen, den besten und schönsten Hausrath des Lebens, wenn ich mich so ausdrücken darf, sich nicht erwirbt? Wenn man sich andere Güter anschafft, so weiß man nicht, für wen man sie anschafft, noch um wessen willen man sich abmüht. Denn jedes dieser Güter kann Jedem zu Theil werden, der durch seine Kräfte überlegen ist; der Besitz der Freundschaft aber bleibt Jedem dauerhaft und gesichert, und wenn auch jene Güter, die gleichsam Geschenke des Glückes sind, blieben, so könnte doch unser Leben, wenn es nicht durch Freunde verschönert, sondern von ihnen verlassen wäre, nicht erfreulich sein. Doch hiervon so viel.

XVI. 56. Wir müssen nun bestimmen, welches die Gränzen und, so zu sagen, die Marken der Liebe in der Freundschaft sind. Ueber diese sind, wie ich sehe, drei Ansichten aufgestellt, von denen ich keine billige.

Die eine lautet: Wir sollen gegen den Freund ebenso gesinnt sein, wie gegen uns selbst; die zweite: Unser Wohlwollen gegen die Freunde soll ihrem Wohlwollen gegen uns in gleichem Maße und in gleicher Weise entsprechen; die dritte: Wie hoch Jeder sich selbst schätzt, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden. – Keiner dieser Ansichten stimme ich völlig bei.

57. Die erste: »Jeder soll gegen seinen Freund wie gegen sich selbst gesinnt sein« ist unwahr. Denn wie Vieles, was wir unsertwegen nie thun würden, thun wir um der Freunde willen! einen Unwürdigen demüthig bitten, dann mit verletzenden Worten über Einen herfahren und ihm heftig zusetzen. Dergleichen in unseren eigenen Angelegenheiten zu thun ist nicht eben sehr ehrenhaft, in denen unserer Freunde hingegen vollkommen ehrenhaft. Und so gibt es viele Dinge, bei denen sich rechtschaffene Männer von ihren eigenen Vortheilen Vieles entziehen und entziehen lassen, damit es lieber ihre Freunde als sie selbst genießen.

58. Die zweite Ansicht ist die, welche die Freundschaft nach gleichen Dienstleistungen und Gesinnungen bestimmt. Das heißt doch wahrlich die Freundschaft gar zu dürftig und kümmerlich berechnen, wenn man das Verhältniß zwischen Einnahmen und Ausgaben gleich machen will. Reicher und ergiebiger ist meines Erachtens die wahre Freundschaft, und sie sieht nicht so genau darauf, daß sie nicht mehr ausgebe als einnehme. Denn man soll nicht besorgt sein, daß Etwas verloren gehe, oder daß Etwas auf die Erde fließe, oder daß der Freundschaft Etwas über Gebühr zugewendet werde.

59. Die dritte Gränzbestimmung vollends: »wie hoch Jeder sich selbst schätze, so hoch soll er von seinen Freunden geschätzt werden« steht am Niedrigsten. Denn oft ist bei manchen Menschen der Muth zu zaghaft, oder die Hoffnung auf Verbesserung der äußeren Lage zu kraftlos. Nicht darf also der Freund sich so gegen den Freund verhalten, sondern er muß vielmehr mit Anstrengung aller Kräfte es durchzusetzen suchen, daß er des Freundes gesunkenen Muth aufrichte und ihn auf bessere Hoffnungen und Gedanken bringe.

Wir müssen daher eine andere Gränze der wahren Freundschaft festsetzen, doch will ich zuerst kund thun, was Scipio am Meisten zu tadeln pflegte. Er behauptete, es lasse sich kein der Freundschaft feindlicherer Ausspruch denken, als die Aeußerung des Mannes, der gesagt habe, man müsse so lieben, als wenn man einmal hassen werde. Er könne sich auch nicht überzeugen, daß dieser Ausspruch, wie man meine, von BiasGellius N. A. I. 3, 30 legt diesen Ausspruch dem Chilon aus Lacedämon, gleichfalls einem der sieben Weisen, bei. herrühre, den man doch für einen der sieben Weisen gehalten habe; es sei vielmehr der Ausspruch eines unlauteren, entweder ehrsüchtigen oder Alles auf seine Macht beziehenden Menschen. Denn wie könne man wol Jemandem befreundet sein, dessen Feind zu werden er für möglich hält? Ja, er müßte sogar verlangen und wünschen, daß der Freund recht oft fehle, damit er ihm desto mehr Veranlassungen zum Tadeln gäbe, sowie er hinwiederum wegen der edlen Handlungen und wegen des Glückes seiner Freunde nothwendig Bekümmerniß, Verdruß und Neid empfinden müßte.

60. Daher ist diese Lehre fürwahr, von wem sie auch herrühren mag, geeignet die Freundschaft zu vernichten. Vielmehr hätte man die Lehre geben müssen, man solle bei Stiftung von Freundschaften eine solche Sorgfalt anwenden, daß man nie Einen zu lieben beginne, den man einmal hassen könne. Ja, wenn man sogar in seiner Wahl minder glücklich gewesen sei, so müsse man, meinte Scipio, dieses vielmehr ertragen, als an die Zeit eines feindlichen Verhältnisses denken.

XVII. 61. Man muß also meines Erachtens folgende Bestimmungen beobachten. Wenn der Charakter der Freunde fehlerfrei ist, so muß unter ihnen Gemeinschaft aller Angelegenheiten, Entwürfe und Wünsche ohne irgend eine Ausnahme stattfinden, so daß man sogar, wenn einmal der Fall einträte, daß minder gerechte Wünsche der Freunde unterstützt werden müßten, wobei ihr körperliches und bürgerliches Dasein oder ihr guter Ruf auf dem Spiele steht, die Bahn des Rechtes verlassen müßte, nur darf es nicht den höchsten Grad der Schande zur Folge habenGellius N. A. I. 3, 14: sed cujus modi declinatio esse ista debeat qualisque ad adjuvandum digressio et in quanta voluntatis amici iniquitate, non dicit (Cicero). Quid autem refert scire me in ejusmodi periculis amicorum, si non magna me turpitudo insecutura est, de via recta esse declinandum, nisi id quoque me docuerit, quam putet magnam turpitudinem, et quum decessero de via, quo usque degredi debeam? M. Seyffert bemerkt richtig, daß unmöglich Lälius unter dem »de via declinare« jus deserere oder die Wahrheit verleugnen verstehen könne. Das Abweichen vom geraden Wege beziehe sich wahrscheinlich nur auf die Versuche der Billigkeit das Vergehen des Freundes vor Gericht in einem milderen Lichte zu zeigen und Alles, was zu seiner Entschuldigung und Rechtfertigung dienen kann, geltend zu machen, um damit eine günstige Stimmung der Richter und des Publikums für ihn zu gewinnen. Vgl. Cicer. Offic. II, 14, 51: Nec tamen, ut hoc fugiendum est, (sc. eloquentiam ad bonorum perniciem convertere), item habendum est religioni nocentem aliquando, modone nefarium impiumque, defendere. Vult hoc multitudo, patitur consuetudo, fert etiam humanitas. Iudicis est semper in causis verum sequi, patroni nonnunquam veri simile, etiamsi minus sit verum, defendere: quod scribere, praesertim quum de philosophia scriberem, non auderem, nisi idem placeret gravissimo Stoicorum Panaetio.. Denn bis zu einem gewissen Punkte kann man der Freundschaft Nachsicht gewähren. Doch ist hierbei einerseits der gute Ruf keineswegs zu vernachlässigen; andererseits darf man aber auch das Wohlwollen seiner Mitbürger als kein geringes Schutzmittel staatsmännischer Thätigkeit ansehen, das jedoch durch Schmeicheleien und Liebedienerei sich zu verschaffen schimpflich ist; die Tugend aber, welche Liebe zur Folge hat, darf durchaus nicht zurückgewiesen werden.

62. Doch – oft komme ich auf Scipio zurück, dessen ganzes GesprächS. oben Kap. 10, §. 33. von der Freundschaft handelte, – er beklagte sichDer hier ausgesprochene Gedanke ist aus Xenoph. Comment. II, 4, 4. entlehnt: ’Έτι δὲ πρὸς τούτοις ορα̃ν έφη (Σωκράτης) τοὺς πολλοὺς τω̃ν μὲν άλλων κτημάτων, καὶ πάνυ πολλω̃ν αυτοι̃ς όντων, τὸ πλη̃θος ειδότας, τω̃ν δὲ φίλων, ολίγων όντων, ου μόνον τὸ πλη̃θος αγνοου̃ντας, αλλὰ καὶ τοι̃ς πυνθανομένοις του̃το καταλέγειν εγχειρήσαντας. Vgl. oben zu Kap. 15, §. 55., daß die Menschen bei allen Angelegenheiten größere Sorgfalt bewiesen: Jeder könne zum Beispiel angeben, wie viele Ziegen und Schafe er habe, aber wie viele Freunde er habe, könne er nicht angeben, und bei Anschaffung dieser Dinge wendeten sie Sorgfalt an, bei der Wahl der Freunde hingegen seien sie nachlässig und hätten keine bestimmten Merkmale, nach denen sie diejenigen, welche zur Freundschaft geeignet seien, beurtheilen könnten.

Man muß also Männer von festem, standhaftem und beständigem Charakter auswählen, an denen freilich großer Mangel ist, und ohne vorhergegangene Prüfung ist dieß allerdings schwer zu beurtheilen; die Prüfung läßt sich aber erst in der Freundschaft selbst anstellen. Auf diese Weise eilt die Freundschaft dem Urtheile vor und benimmt die Möglichkeit der Prüfung.

63. Die Klugheit also gebietet den ungestümen Drang des Wohlwollens wie einen raschen Lauf zu hemmen, um so von der FreundschaftIch lese mit M. Seyffert nach den besten Handschriften amicitia; Halm hat die schwach begründete Lesart amicitiis beibehalten. Das Wort quo nach sic impetum benevolentiae ist nicht als der auf impetu zu beziehende Ablativ, sondern als Konjunktion (=  damit dadurch, damit so, damit auf diese Weise) aufzufassen. wie von geprüften Rossen Gebrauch zu machen, das beißt, nachdem man den Charakter der Freunde einigermaßen auf die Probe gestellt hat. An Einigen sieht man oft, wenn es sich um eine kleine Geldsumme handelt, wie leichtfertig sie sind; Andere aber, die eine kleine Geldsumme nicht rühren konnte, lernt man bei einer großen kennen. Finden sich aber wirklich Einige, die Geld der Freundschaft vorzuziehen für schmutzig halten; wo werden wir diejenigen finden, welche Ehrenämter, Staatswürden, Befehlshaberstellen, Staatsgewalten und Macht der Freundschaft nicht vorziehen, so daß sie, wenn man ihnen auf der einen Seite diese Güter, auf der anderen die Gerechtsame der Freundschaft vorlegte, nicht viel lieber jene vorzögen? Denn zu schwach ist unsere Natur, um die Macht zu verachten, und selbst wenn man zu dieser mit Vernachlässigung der Freundschaft gelangt ist, so glaubt man, es werde in Vergessenheit gerathen, weil man die Freundschaft nicht ohne wichtigen Grund vernachlässigt habe. 64. Daher findet man wahre Freundschaften sehr schwer unter Männern, die Ehrenämter bekleiden und sich den Staatsgeschäften widmenVgl. oben Kap. 10, §. 34. und Cicer. Offic. I. 8, 26: Maxime autem adducuntur plerique, ut eos justitiae capiat oblivio, quum in imperiorum, honorum, gloriae cupiditatem inciderunt . . . Declaravit id modo temeritas C. Caesaris, qui omnia jura, divina atque humana, pervertit propter eum, quem sibi ipse opinionis errore finxerat, principatum.. Denn wo träfe man einen Mann, der die Ehre des Freundes der seinigen vorzöge?

Ferner, wie drückend, wie mißlich, um hiervon nicht weiter zu sprechen, erscheint den Meisten die Theilnahme an Unglücksfällen. Es ist nicht leicht Menschen zu finden, die sich dazu verstehen. Und doch sagt EnniusUeber Ennius s. zu Cato Maj. 4, 10. mit Recht:

Unsicheres Glück läßt sehen uns den sicheren FreundVgl. Eurip. Hec. 1202:

’Εν τοι̃ς κακοι̃ς γὰρ αγαθοι σαφέστατοι
Φίλοι.
.

Gleichwol werden die meisten Menschen in den beiden Fälle des Leichtsinns und der Schwäche überführt, entweder wenn sie den Freund in ihrem Glücke verachten oder wenn sie ihn in seinem Unglücke verlassen.

Wer sich also in beiden Fällen gesetzt, standhaft un beharrlich in der Freundschaft beweist, den müssen wir für einen hoch seltenen Menschen und, ich möchte sagen, für ein göttliches Wesen erklären.

[XVIII.] 65. Die Stütze dieser Beharrlichkeit und Standhaftigkeit aber die wir in der Freundschaft suchen, ist die Treue.Vgl. Cicer. Offic. I. 7, 23: Fundamentum est autem justitiae fides, id est dictorum conventorumque constantia et veritas. Denn Nichts ist beharrlich, was untreu ist. Außerdem muß man einen aufrichtigen, umgänglichen und gleichgesinnten Mann, das heißt einen solchen, auf welchen die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, auswählen: lauter Eigenschaften, welche wesentliche Bestandtheile der Treue sind. Denn so wenig ein Gemüth voll Falten und Krümmungen treu sein kann, ebenso wenig kann der, auf den nicht die nämlichen Gegenstände einen Eindruck machen, und der nicht von Natur mit uns übereinstimmt, treu oder beharrlich sein. Dazu gehört auch noch, daß er keine Freude daran habe Beschuldigungen vorzubringen oder vorgebrachten Glauben zu schenken: was alles die Beständigkeit bedingt, mit deren Darstellung ich mich schon eine Weile beschäftige. So bestätigt sich die Wahrheit der zu AnfangS. oben Kap. 5, §. 18. ausgesprochenen Behauptung: die Freundschaft könne nur unter Guten stattfinden. Es kommt nämlich einem guten Manne, den man auch einen Weisen nennen darfVgl. oben Kap. 5, §. 18., zu folgende zwei Grundsätze in der Freundschaft festzuhalten: für's Erste, daß keine Verstellung und keine Heuchelei stattfinde; denn sogar offen hassen verräth mehr Edelmuth als seine Gesinnung unter erheuchelter Miene verbergen; sodann soll man nicht allein die von Jemandem vorgebrachten Beschuldigungen zurückweisen, sondern auch selbst nicht argwöhnisch sein, indem man immer glaubt, der Freund habe irgend eine Rücksicht gegen uns verletzt.

66. Dazu muß noch eine gewisse Anmuth in der Unterhaltung und in den Sitten hinzukommenAristotel. Nicomach. VIII. 6, 1 sqq: ’Εν δὲ τοι̃ς στρυφνοι̃ς καὶ πρεσβυτικοι̃ς η̃ττον γίνεται η φιλία, όσω δυσκολώτεροι εισι και η̃ττον ται̃ς ομιλίαις χαίρουσι· ταυ̃τα γὰρ δοκει̃ μάλιστ' ει̃ναι φιλικὰ καὶ ποιητικὰ φιλίας κτλ. , eine keineswegs geringe Würze der Freundschaft. Ein finsteres und stäts ernstes Wesen aber ist allerdings mit einer gewissen Würde verbunden; doch muß die Freundschaft zwangloser, freier, liebreicher und zu jeder Freundlichkeit und Gefälligkeit geneigter sein.


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