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Das Phantom

Georg saß neben ihr auf der Bank und hörte auf die Spaziergänger, die vor ihnen vorbeischritten. Wenn es schönes Wetter war, machte er mit Fernande jeden Abend gegen fünf den Weg vom Hotel her dem See entlang. Am Anfang hatte er ganz mechanisch seine Schritte gezählt und war dann mit ihr auf die Bankreihe eingebogen. Jetzt hatte er es schon im Gefühl. Es war etwas ganz Undefinierbares, Merkwürdiges, was ihm anzeigte, daß sie jeweils am Ziel waren. Er hielt dabei Fernande nur leise am Arm, fast war es eine Spielerei für sie beide geworden, daß sie in einem bestimmten Moment den Druck seiner Hand spürte, die sie nach links gegen die Anlage zog. Er erriet es trotz der ziemlich weiten Distanz fast auf den Meter. Manchmal dachte er, es sei eine seltsame Übertragung der Gedanken von ihrem Gehirn zu dem seinen. So eine Art von Wellenverbindung. Es schien ihm auch oft – und er empfand es jetzt viel tiefer als früher – als ob er direkt ihre Überlegungen und Ideengänge fühlte. Er hatte ja zwar auch fast nichts anderes mehr zu tun als sich mit ihr zu beschäftigen.

Vom See her kam ein leiser Wind. Zugleich roch es nach Fischen. Es war sehr warm. Georg hatte den Hut neben sich auf die Bank gelegt und ließ sich jetzt die Sonne auf die Stirne scheinen. Er empfand die Hitze wie eine wohlige angenehme Bestrahlung, und merkwürdig, in den Augenhöhlen, wo das Licht durch das violette Glas seines schwarzumränderten Zwickers fiel, fühlte er eine noch tiefere fast durchdringende Wärme auf der Haut.

»Sind viele Boote auf dem See?« fragte er Fernande und neigte ein wenig den Kopf zu ihr hinüber.

»Ja, auch ein paar Segelboote, aber sie stehen fast still,« erwiderte sie leise und ein wenig schläfrig.

»Es geht ja auch fast kein Wind,« setzte er hinzu.

Sie saßen wieder schweigsam. Er fühlte, wie sein Arm den ihren berührte. Es tat ihm wohl dadurch eine leise Versicherung ihrer Gegenwart zu haben. Seine Gedanken hingen dabei an ihr mit einer ruhigen und doch starken Intensität. Er formte in seiner Vorstellung ihr Bild. Er wußte, daß sie einen kleinen Hut trug. Er war mit ihr vor ein paar Tagen bei der Modistin gewesen, hatte die Form des Hutes betastet und ihn ihr dann aufgesetzt, und Fernande hatte hell aufgelacht über die Sicherheit, mit der er diesem kleinen Hut auf ihrem dunkelblonden Kopf die richtige, etwas nach rechts geneigte Position gab. Er sah auch jetzt ganz deutlich ihren von der Hitze müden Gesichtsausdruck, ihre von der Sonne geblendeten, halb geschlossenen Augen, die vor sich auf den Quai wie auf ein weißes Feld sahen.

»Auf ein weißes Feld,« dachte er wieder. Es war ihm selbst, als hätte er die vielen Sonnenflecke, die grünen Reflexe der Kastanienblätter und den Abglanz roter Sonnenschirme, das warme Geflimmer heller Kleider und das blaue und wieder tief dunkel strahlende Bild der Seefläche, als hätte er dies alles auf die Innenwand seiner Stirne projiziert. Und inmitten von all diesem Bunten und Leuchtenden sah er sich selbst neben Fernande auf der Bank sitzen. Etwas hilflos und eingeknickt, trotzdem er sich eigentlich Mühe gab, noch ordentlich stramme Haltung zu haben. Die vorbeischritten sahen wohl nur die Gläser wie violette Punkte in seinem Gesicht und fühlten vielleicht aus irgend etwas Unbestimmtem und nicht zu Sagendem: »Da ist eine junge Frau mit einem kranken Mann« ...

Ein Junge hatte sich sogar neulich, als Fernande für einen Augenblick nicht zugegen war, neben ihn auf die Bank gesetzt und ein Gespräch mit ihm angefangen. Erst hatten sie vom Rudern gesprochen und plötzlich hatte der Kleine gefragt: »Bitte schön, wieviel Uhr ist es?« worauf Georg bis unter die Haarwurzeln bleich geworden war und bebend geantwortet hatte: »Ich habe leider keine Uhr bei mir ...« Der Junge hatte aber seine Gedanken oder etwas Ähnliches erraten und plötzlich leise gesagt: »Ach so ...« Dann war er aufgestanden und etwas verlegen weggegangen.

Georg überlegte jetzt: »Ich gehöre nun zu den Wesen, vor denen man verlegen wird ... Er faßte plötzlich Fernandes linke Hand und drückte sie leise. Statt daß er aber ihren Gegendruck spürte, hörte er sie sagen: »Da kommt Tott.« Ihre Stimme klang munter, als ob sie eben aus ihrer Lethargie aufgewacht wäre. Georg hörte Schritte, er kannte Tott am Tritt. Er ging nicht eben rasch, so daß zwischen zwei Tritten ein ziemlicher Intervall war.

Da kam auch schon seine Stimme: »Guten Abend,« sagte er. Er sprach jede Silbe deutlich aus mit einem leicht singenden schwedischen Akzent.

Georg hatte es ganz im Gefühl, daß Tott Fernande zuerst die Hand gab und sie ihm jetzt entgegenstreckte. Er legte auch die seine hinein, die der Schwede etwas heftig drückte. Dann setzte er sich zu Georgs Linken.

»Sie kommen vom Baden? fragte Georg. Er empfand deutlich den Geruch des frischen Wassers den der andere ausstrahlte. Er zog sein Etui heraus und bot ihm eine Zigarette an. Er steckte sich auch selbst eine in den Mund. Dabei hörte er, wie der andere ein Streichholz anzündete.

»Du ziehst ja zu früh,« lachte Fernande.

»Entschuldigen Sie,« sagte Tott, »ich habe mir die meine zuerst angezündet.« Georg fühlte jetzt, wie ihm das brennende Streichholz näher kam. Er hatte dabei die Empfindung, daß ihm die beiden andern aufmerksam zuschauten. Zugleich fühlte er, daß er wieder blaß geworden war – bei jeder dieser Situationen, die sich oft täglich und stündlich wiederholten, hatte er den Angstschweiß auf der Stirne. Nur wenn er mit Fernande allein war, vermochte er über die kleinen Ungeschicklichkeiten, die ihm aus seinem Zustand erwuchsen, zu lachen. Wenn Gesellschaft da war, wurde er so verlegen wie am ersten Tage.

Tott war im Sonnenbad gewesen. Er konnte darüber lange und ausführlich sprechen. Fernande war unterdessen schweigsam. Georg dachte dabei: ›Er ist doch so diskret, daß er sich zu meiner Linken setzt.‹ Er fühlte sich jetzt von der grellen Sonne etwas müde und lehnte sich zurück. Da war ihm, als hätte er Totts Arm berührt, der hinter seinem Rücken und der Banklehne zu Fernande hinüberging.

Nur während einer Sekunde hatte er diese Wahrnehmung. Das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Es war plötzlich sehr still.

Georg fühlte, wie ihm Schweißperlen über die Stirne rannen. Ein leises Würgen kroch ihm in den Hals. Ein Zerren, das ihm aus der Brust herauf in die Luftröhre stieg. Aber vielleicht war es nur Täuschung gewesen. Vielleicht hatte Tott seinen rechten Arm auch nur über die Banklehne hängen gehabt.

Da sagte Tott plötzlich: »Ich möchte segeln gehen,, aber seit acht Tagen ist der Wind flau ...« Sie sprachen jetzt alle drei vom Segeln. Georg war es, als ob, trotzdem er am Gespräch angeregt teilnahm, die Worte nur von ferne kämen. Er hatte ein Gefühl, daß ihm etwas furchtbar Schmerzhaftes plötzlich bewußt geworden sei. Wenn er aber ihre ruhigen etwas schläfrigen Stimmen hörte, versank für Augenblicke wieder aller Argwohn. Er war fast glücklich, das Furchtbare und Lähmende aus seinem Gehirn zu verjagen.

Ein Zeitungsjunge lief vorbei. Tott kaufte sich ein Blatt und begann die offiziellen Berichte vorzulesen. Ein Land nach dem andern kam an die Reihe. Fernande und Tott diskutierten die Zukunft von Polen. Georg schien ihr Gespräch übereifrig und forciert. Es war ihm als ob die beiden da eine erwünschte Ablenkung gefunden hätten. Er atmete mühsam und zugleich erregt. Es erschien ihm plötzlich, als sei er in einer schrecklichen Lage, als müßte irgend etwas geschehen, um ihn daraus zu befreien.

Zugleich kam er sich in seinem Zustand ganz ratlos vor. Hatte er denn ein Maß für dies alles, hatte er vor allem Gewißheit? Würde er überhaupt je so weit kommen, Gewißheit zu haben? Er horchte jetzt wieder auf die Spaziergänger. Er kannte ihr Alter, ihre Temperamente schon am Tritt. Ein paar Wochen Übung hatten genügt, ihm diese Erkenntnis beizubringen.

Dazu kam vom See her wieder deutlicher dieser Geruch von Fischen. Er erinnerte ihn an Kindertage, wo er an einem Weiher gesessen und tagelang geangelt hatte. Dann hatten abends seine Hände immer so stark nach Fischschuppen gerochen. Dieser selbe Geruch kam jetzt mit dem Wind aus dem Wasser herauf.

Er sagte ganz unvermittelt: »Wollen wir nicht zurückgehen?«

»Wie du willst,« antwortete Fernande. Ihre Stimme hatte ganz erstaunt geklungen. Georg war aufgestanden. So weit ging sein Wille und seine Kraft. Jetzt aber stand er da und fühlte plötzlich seine Ohnmacht. Er wußte, daß vor der Bank kein Geländer war, daß eine schräge Backsteinmauer hinunter ins Wasser ging. Das gab ihm eine gewisse Unsicherheit. Er fühlte sich in diesem Augenblick, so peinlich es auch war, auf die beiden andern angewiesen.

Tott nahm ihn bei seinem linken Arm. Sie schritten nun der Anlage entlang zurück. Fernande ging zur Rechten und sagte: »Es wird ein schöner Abend werden.« Sie sprach in einem etwas monotonen Tonfall, als ob sie dabei an etwas ganz anderes dächte.

Georg hatte plötzlich die Idee, als ob solche Worte zwischen den beiden eine Art von Geheimsprache sein könnten, durch die sie sich Zeichen gäben für irgendeine Verabredung.

Dann kam es ihm wieder unmöglich vor. Fernande war den ganzen Tag um ihn und des Abends war ein Abkommen noch weniger gut möglich. ›Aber‹ dachte er, ›wenn es wirklich in ihrem Willen läge ...?‹

Er hörte vor sich ein Hündchen bellen. Es gingen jetzt viele Passanten vorbei. Er hörte Englisch, Deutsch, Russisch, Französisch, dann auch Schweizerdeutsch sprechen.

Jetzt rasselte von fernher ein Tramway. Es donnerte dumpf. Man kam bald zur Brücke.

Es war Georg trotz allem angenehm, von Tott geführt zu werden. Es hatte den Eindruck, als ob es nur so aussehe, wie wenn ein Herr einem andern den Arm gäbe. Das war an sich vielleicht ungewöhnlich, aber sie gingen beide im selben Tritt, sprachen dabei angeregt, und es war das einer der wenigen Momente, wo er sich ganz unwillkürlich und instinktiv unter all die hier promenierenden Menschen einreihte, wo er die schmerzlichen Beschränkungen, die ihm sein Zustand auferlegte, vergaß.

Tott sprach davon, wo man am kommenden Tag den Tee trinken könnte und, während er den Kopf drehte, und zu Fernande hinübersah, – Georg empfand das deutlich durch den veränderten Klang der Stimme – sagte er: »Wir können von der Drahtseilbahn aus im Tramway direkt in die Halle des Hotels fahren ...« Georg dachte dabei: ›Ich gehe jetzt vielleicht mit dem Liebhaber meiner Frau Arm in Arm spazieren. Dabei bin ich ihm noch dankbar dafür, daß er mir wie eine Krücke ist, die mich durch den Strom der Passanten bringt, ich bin glücklich dadurch sozusagen unbemerkt hindurchzukommen, denn wenn mich Fernande führte, würden mich manche ansehen, andere sich nach mir umdrehen, es wäre alles viel peinlicher.‹

Er blieb plötzlich stehen und machte eine Geste mit der rechten Hand. Er spürte, wie Fernande gleichfalls neben ihm stillgestanden war und offenbar irgendein Wort von ihm erwartete. Auch Tott hatte für einen Augenblick seinen Arm sinken lassen. Er stand frei aufgereckt da. Da hörte er hart neben sich ein Sausen, eine Automobilsirene gab einen schreienden Pfiff. Schon war es vorbei. Er hatte das Gefühl, als wäre er, hätte er nur zwei Meter weiter links gestanden, unter die Räder gekommen. Er hatte deutlich den Luftstrom gespürt, ein Frösteln ging ihm über den Rücken. Dieses Plötzliche, Unbekannte, Gefahrvolle, nahm ihm alle Kraft. ›Ich werde noch einmal auf der Straße zugrunde gehen‹, zuckte es ihm durch den Kopf. Er zog die Schultern wieder ein, seine Geste gegen Tott und Fernande sank ohnmächtig in sich zusammen. Ein bitterer Geschmack kam ihm in den Mund.

»Was ist?« hörte er Fernande fragen.

»Nichts,« sagte er, »ich habe nur etwas Kopfschmerzen.« Sie schritten weiter. Man mußte jetzt die Straße überqueren. Es roch nach Staub und Asphalt.

Sie schritten dem Hotelgarten entlang. Georg fühlte sich geborgener. Je mehr er sich dem Hotel näherte, um so sicherer war er. Er kam da in eine Domäne, die er schon sehr gut kannte. Er liebte dieses Hotel und seinen Garten auch darum, weil er früher einmal mit seiner Mutter auf der Durchreise hier gewohnt hatte. Er hatte aus jener Zeit, wenn auch keine klare, so doch eine allgemeine Vorstellung davon.

Das Teekonzert war zu Ende. Das Orchester spielte eben den Schlußmarsch. Sie setzten sich auf die überdeckte Terrasse.

»Wie das Laub der Bäume schon gelb wird,« sagte plötzlich Fernande. Georg hatte den Kopf gehoben. Das Rauschen eines Seidenkleides kam vorbei, dazu die Atmosphäre eines milden Parfüms.

Tott sprach über die Situation in Schweden, von den Störungen des Handels und dem Schaden der Schiffahrtsgesellschaften, dann erzählte er weitläufig von Finnland. Wenn er ihn so reden hörte, hatte Georg trotz allem ein Gefühl der Beruhigung. Tott war ein einfacher, gerader, gutmütiger Mensch – sein einziges oder wenigstens sein einzig bekanntes Laster war, daß er sich von Zeit zu Zeit einmal furchtbar betrank – nach aller Wahrscheinlichkeit aber war er Fernande gegenüber kühl und bedächtig.

›Aber,‹ dachte Georg plötzlich: »bin ich nicht vor aller Welt den Frauen gegenüber immer kühl gewesen. Haben sie nicht darum Zutrauen in mich gehabt? Habe ich nicht gerade darum Frauen gekannt, auf deren Treue die ganze Welt geschworen hätte?‹ Er erinnerte sich plötzlich einer seltsamen Situation. Er sah sich mit einer jungen, blonden Frau im Garten einer Villa sitzen. Es war Ende April und im Süden schon sehr warm. Die junge Frau erzählte eben: »Ich lag auf dem Diwan, als er ins Zimmer trat.«

Dann kam die Geschichte mit dem Brief. Ihr Mann nahm durch einen Zufall ihr Retikule in die Hand und zog einen Brief heraus. Sie war aufgesprungen und wollte ihn ihm entreißen. Er verstand und sie begannen zu ringen. Sie schrie auf, daß die Dienstboten daherliefen. Er aber war stärker als sie und entriß ihr das zerknitterte Papier. Dann las er, fragte dumpf, als ob er es noch nicht für möglich hielte: »Wer hat diesen Brief geschrieben?« Sie antwortete nicht. Saß da wie ein verstocktes Kind. Darauf sank er auf einen Stuhl und hielt sich beide Schläfen ... »Wissen Sie,« hatte die junge Frau gefragt, »was ich für einen Eindruck hatte – trotz aller Angst?«

»Was für einen?«

»Daß er überlegte, wie man sich in dieser Situation benimmt ...«

Eine Viertelstunde später war ihr Mann selbst zu ihnen in den Garten getreten und hatte Georg die Hand gegeben. Die Frau war ins Haus gegangen. Sie hatten zusammen gesprochen und Georg fühlte, daß es dem andern eine Wohltat war. jemand zu haben, mit dem er reden konnte. Er war ja so unglücklich. Und Georg tröstete ihn und dachte dabei: ›Es ist kein Abenteuer mit einer Frau so viel wert, daß man einem Menschen so weh tut.‹ Sie machten am folgenden Tag einen Ausflug nach Cannes. Das waren jetzt sechs oder sieben Jahre her – Georg überlegte heute: ›Es wiederholt sich alles ... es liegt eine Gerechtigkeit im Schicksal ... ich wäre heute so ratlos wie jener. Was müßte ich tun, was müßte ich um Gottes willen tun?‹

Er sah wieder Fernandes blonden Kopf – ihre kleine, etwas stumpfe Nase. Nein, sie war doch eine andere Art von Weib. Sie hätte nicht die Fähigkeit gehabt, ihn im Augenblick solcher Not mit jener instinkthaften, kindlichen Grausamkeit, zu beobachten, es läge auch gewiß nicht in ihrer Natur, ihn in eine solche entsetzliche Lage zu bringen. Er war dessen gewiß, davon überzeugt, er hatte ja auch keine absoluten Beweise, die ihn veranlassen konnten, das Gegenteil anzunehmen, nein, er hatte sie nicht ... aber er fühlte, wie ihm jetzt vor Erregung alles Blut im Gehirn stand, wie ihm der Puls gegen die Schläfen hämmerte, auf den Atem drückte ... er hatte Angst, wirklich Angst ...

Da hörte er plötzlich ihre Stimme: »Du ... Tott will sich verabschieden ...« Wie aus einem Traum, wie aus schrecklichen und geheimnisvollen Gedanken fuhr er auf, drückte Tott fast überschwenglich die Hand und sagte: »Nicht wahr. Sie kommen morgen wieder ...« Er hatte ein Gefühl, als ob er damit alles beschworen, abgewehrt hätte.

»Ja,« sagte Tott, »nach dem Baden –«

Als er weggegangen, knickte Georg wie in einer großen Erschöpfung ein.

»Du bist müde,« hörte er Fernande sagen. Ihre Stimme klang gütig und sanft. Und sie fuhr fort: »Der Spaziergang hat dich etwas angestrengt ...«

»Ja,« antwortete er, »er hat mich angestrengt ...« Es war ihm, als ob er damit ihre Gedanken abgelenkt hätte. Das war sehr gut, er konnte sich doch nichts merken lassen, das hatte gar keinen Sinn, dazu schämte er sich fast, einen solchen Verdacht zu haben. Fernande würde vielleicht hell auflachen, wenn sie diese seine Überlegungen ahnte.

Es war ihm, als hätte er jetzt vor allem die Pflicht, seine Phantasie im Zaun zu halten und sich nicht ins Grenzenlose und Abgründige zu verirren. Er hatte gewiß keinen Grund, gewaltsam in seinem Gehirn einen Konflikt zu konstruieren, für den er wirklich keine zwingenden Voraussetzungen besaß. Hatte er nicht im Gegenteil Fernande unendlich dankbar zu sein? Seit er in diesem Zustande aus dem Felde zurückgekehrt war, hatte sie ihn mit allem Zartgefühl, zuerst wie ein hilfloses Kind, gepflegt – dann ihm mit aller Geduld und Hingabe geholfen, sich in dieser, seiner neuen Existenz zurecht zu finden, nie hatte er Ungeduld in einer Geste, nie Enttäuschung im Tonfall eines Wortes gehört, trotz der schrecklichen, grauenhaften Katastrophe, die es schließlich doch war ...

Nein, er wollte jetzt glücklich sein, daß er noch atmete, daß er diese junge Frau, die er mit der ganzen Kraft seines Gefühles liebte, besaß – er wollte froh sein, daß es ihm noch vergönnt war, unter dem Glasdach einer Hotelterrasse zu sitzen, aus der Ferne Stimmen wie etwas Geheimnisvolles zu hören, das Parfüm einer vorbeirauschenden Frau zu empfinden und die Atmosphäre einer Welt, in der er sich wohl gefühlt hatte. Er lebte doch noch, wenn er die ganze Ekstase dieses Daseins auch nur durch graue Schleier empfand und wie etwas, das nur gedämpft, in gebrochenen Strahlen in seine Vorstellung drang, er konnte es trotz allem doch fühlen, konnte sich nach seinem Geschmack und wie ein Künstler ein Bild daraus formen, konnte die Züge nehmen, die ihm paßten und wohltaten, das Leben rauschte trotz allem an ihn heran, wie eine farbige Symphonie, die ihm hinter einem Vorhang, manchmal meinte er auch nur vor der Wand seiner Stirne, gespielt würde. Bei all dem hatte er Fernande. Er konnte ihre Hände fühlen, die sich ihm in den Augenblicken des Schmerzes und den Momenten der atemlosesten Leidenschaft auf das Gesicht und die Schläfen legten. Er fühlte, daß er sie jetzt heißer, schmerzhafter, tiefer liebte als je, daß sie ihm alles war, den ganzen Kreis seiner Qualen und Sehnsüchte ausfüllte. Ein Jubel quoll in ihm auf, etwas ganz Unbändiges, es riß ihn vom Stuhl auf.

»Was ist?« stammelte Fernande ganz erschrocken.

»Wir wollen hineingehen,« sagte er und lachte darüber, daß er sie erschreckt hatte, daß er überhaupt noch jemanden erschrecken konnte.

Er nahm jetzt ihren Arm, ihren schmalen und doch weichen Arm und sie traten über den Platz ins Vestibül des Hotels. Ein paar Stimmen, die eben noch laut gesprochen hatten, tuschelten plötzlich ganz leise.

Georg raunte zu Fernande »Sie erzählen sich jetzt unsere Geschichte.« Dabei neigte er sich zu ihr nieder wie ein Verliebter. Sie lachten beide vergnügt wie Kinder und stiegen langsam die große Treppe hinan.

* * *

Georg lag im Bad. Das lauwarme Wasser tat ihm wohl. Es gab nichts, das ihm seine Laune so angenehm temperierte wie das Morgenbad. Die Stunden des Vormittags waren ihm überhaupt die glücklicheren. Man hielt sich dann meist in dem kleinen Appartement auf, das sie im Hotel bewohnten. Da bewegte er sich schon ganz ohne die geringste Verlegenheit. Er wußte, wo jeder Gegenstand lag, hatte die Distanzen, die Stellungen der Möbel ganz im Gefühl und war da auf einem Feld, das ihn außerordentlich beruhigte, ihn zuweilen ganz stolz machte. Ohne Hilfe kleidete er sich an und aus, band sich seinen Schlips, trank den Tee allein, wenn Fernande noch nicht fertig war, kurz: Er konnte sich so jeden Morgen mannigfache Beweise geben, daß er doch nicht so hilflos, er sagte zuweilen, daß er trotz allem noch ein Mensch war.

Sie besprachen dann meist den Plan des Tages, Fernande las ihm die Zeitungen vor, wie sie es früher schon getan hatte, jedenfalls unterschied sich ihr Verkehr dabei kaum von dem von früher. Georg konnte dabei – wenn irgend etwas nicht nach seinem Wunsch ging – sehr heftig werden und auffahren wie in den guten Zeiten ihrer jungen Ehe.

Es klopfte jemand an die Türe: »Was ist?« fragte er.

»Der Coiffeur!« rief Fernandes Kammerzofe.

»Er soll in einer Viertelstunde wiederkommen.« Er hörte das Mädchen draußen reden, dann leise aufkreischen. Georg horchte. Er überlegte: »Der Kerl kneift sie in die Arme.« Fernande hatte gesagt, daß das Mädchen sehr hübsch sei. Sie hatten sie hier in der Schweiz engagiert.

Er lehnte sich wieder behaglich im Wasser zurück, schloß die Lider und dachte unvermittelt an Tott. Er hatte wieder das Gefühl im Rücken, als er seinen Arm streifte. Es war wie ein ganz unheimliches Erschrecken gewesen. Wie ein eiskalter Strom war es ihm durch die Rückennerven gegangen. Er versuchte es sich ganz genau vorzustellen, wie der Arm gelegen haben konnte. Er hatte jetzt doch den Eindruck, daß er nicht etwa hinter der Lehne herunterhing, sondern daß er mehr wagrecht gelegen hatte.

Dabei war aber zu bedenken, daß Tott etwas gegen ihn gewendet dasaß. Er hörte seine Stimme sehr nah. Jedenfalls näher, als wenn er gegen den See hinaus gesprochen hätte. War nun aber diese Armlage nicht dabei etwas Natürliches gewesen? Er hatte vielleicht den Arm sozusagen instinktiv und betreuend um ihn selbst gelegt.

Diese Überlegungen begannen ihn wieder zu quälen. Er hatte nur das eine Gefühl, daß er davon loskommen mußte. Sonst bildete sich da etwas Furchtbares, vielleicht sogar sehr Gefährliches.

Er dachte plötzlich: ›Könnte ich selbst einem Menschen noch gefährlich werden?‹

Draußen rollte das Tramway über die Brücke. Er hörte es wie ein fernes dumpfes Donnern, das aber wie ein leises Beben bis ins Haus, bis in die Badewanne hinein zu dringen schien. Er horchte auf diese merkwürdige Erschütterung. Zugleich sah er wieder Tott. Er lag im Sonnenbad auf dem Bauch und schlief. Tott war jedenfalls ein Mensch mit einem gesunden tiefen Schlaf. Das Starke und Animalische an ihm hatte Georg immer angezogen. Sie hatten ihn in Paris kennen gelernt. Er war ihnen dort von der Frau eines Deutschamerikaners, die von Geburt Münchnerin war, vorgestellt worden. Das war jetzt zwei Jahre her. Sie hatten ihn in Paris zuerst öfters, später nur selten gesehen. An einem Sonntagmorgen begegneten sie ihm in der Avenue du Bois. Tott war trotz einer guten äußeren Haltung so betrunken, daß seine Augen ganz glasig waren.

Fernande fand das abscheulich. Georg, der früher öfters in skandinavischen Kreisen verkehrt hatte, versuchte sie zu beruhigen. Er erklärte, Tott sei ein Kraftmensch und Idealist. Er trug damals immer ein Buch von Hamsun in der Rocktasche. Georg sah ihn dann lange nicht mehr. Vier Tage vor Kriegsausbruch tauchte er wieder auf. Er schien den Verstand verloren zu haben. Er fuhr den ganzen Tag in einem Taxameter in Paris herum.

Georg selbst hatte aus jenen Tagen nur merkwürdig zerrissene Bilder im Gehirn. Fernande war mit Freunden in Dieppe. Er selbst hielt sich in der letzten Juliwoche noch in der Stadt auf. Von Donnerstag ab schickte er Telegramm um Telegramm, um sie hereinzurufen. Freitag nacht wartete er wie ein Verzweifelnder an der Gare du Nord. Die letzten Züge fuhren nach Deutschland und Belgien ab. Er selbst stand in einem dichten Gedränge von Menschen, die die Angst vor dem Kriege schon wie etwas ganz Schweres im Genick hatten und sich dabei vor diesem Zustand wie vor etwas Entsetzlichem und Grauenhaftem zu sträuben schienen. In diese Atmosphäre der Erregung, in die Gluthitze und den Dampf der Bahnhofhalle, wo die Nerven von Tausenden im Feuer marternder Ströme brannten, tönte der Ruf von Jaurès Ermordung. Georg kroch das Grauen das Rückgrat hinauf. Ein gebeugter, halb gelähmter jüngerer Herr stand vor ihm. Er wurde von zwei Damen gestützt und fragte nach dem Nord-Expreß. Militärzug um Militärzug fuhr ab. In den durch die Lichter fluoreszierenden Dampf kreischten die Pfiffe der Lokomotiven. Georg wurde von einem Strom Reservisten aus dem Bahnhof geschoben.

Erst am anderen Mittag kam Fernande zurück. Er brachte sie sofort zum Genferzug. Er selbst fuhr in der Nacht, war am kommenden Morgen schon in Aix. Abends spät in Genf. Dann kam der Abschied von Fernande. Er ließ sie bei ihrer Mutter in Clarens. Er selbst fuhr nach Berlin, wurde eingekleidet, am 16. August morgens 3 Uhr irgendwo in Ostpreußen auf einem Felde ausgeladen, zwischen Wald und Sümpfen. Dann gab es Märsche ... Märsche ... Hunger, Gefechte ... Das war ihm heute schon wie etwas ganz Fernes und Vergangenes. Jedenfalls als durchaus nichts Pathetisches. Dann kam die Verwundung bei Tannenberg. Sechs Wochen Lazarett in Berlin. Anfangs Oktober Flandern, dann die Schlacht an der Yser, der dreitägige Sturm auf Dixmude ... Dort fiel es wie ein schwarzer Schleier über ihn. Er hatte nachher nur noch einen Trost: daß er noch lebte. Das schien ihm auch heute, fast ein Jahr später, noch immer das Wichtigste zu sein.

Eine Klingel tönte auf dem Korridor und weckte ihn aus seiner schläfrigen Träumerei. Stimmen klangen draußen und gingen vorbei. Er empfand, wie das Wasser in der Wanne kälter wurde, und läutete. Während ihn der Coiffeur frottierte und in einen heißen Bademantel hüllte, hörte er Fernandes Stimme nebenan. Sie war also aufgestanden, trank ihren Tee. Dazu plauderte der Coiffeur und erzählte von der russischen Prinzessin, die in derselben Etage wohnte. Sie war alt und fett. Die Masseuse hatte jeden Morgen zwei Stunden mit ihr zu tun.

Georg hörte das alles ruhig an. Er hatte die Arme über die Brust gekreuzt und empfand nur die behagliche Wärme des Bademantels, während ihn der andere rasierte und ihm heiße Kompressen auf das Gesicht legte. »Sonst nichts Neues?« fragte er schließlich.

»Herr Sineswett kommt jetzt auch in unser Hotel zu wohnen,« erklärte der Coiffeur und kämmte ihm die Haare zurück.

»So ... So ...?« setzte Georg etwas monoton hinzu.

»Ja, wissen es der Herr Baron noch nicht?« fragte der andere.

»Nein, er hat uns nicht davon gesprochen,« antwortete Georg. Er empfand auf einmal einen leisen Druck auf der Brust. Der Coiffeur redete weiter. Er kannte den ganzen Klatsch des Hotels. Das war ja alles ziemlich gleichgültig, aber daß Tott nun umzog, war doch sehr seltsam.

Georg hörte kaum mehr zu. Die Stimme des Menschen war ihm plötzlich unausstehlich. Er ging hinüber um sich anzukleiden. Er fühlte sich dabei merkwürdig ungeschickt – das deprimierte ihn. Um in den Salon zu kommen, mußte er wieder durch das Badezimmer. Er öffnete die Türe und hatte die Empfindung, daß niemand im Zimmer war. Auch Fernandes Schlafzimmer schien leer zu sein. Die Türe und ein Fenster mußten offen stehen. Es kam von dort her Zugluft.

Er läutete. Fernandes Kammerzofe erschien und sagte: »Die gnädige Frau ist ausgegangen.«

Georg trank langsam, bedächtig den Tee. Er hörte das Mädchen in Fernandes Zimmer aufräumen. Nach einer Weile kam sie wieder herein, schien Blumen in eine Vase zu stellen. Georg hörte, wie sie im Badezimmer Wasser einfüllte. Er hätte sie jetzt gerne gefragt, wo Fernande hingegangen sei, aber er empfand eine leise Scheu, eine solche Frage zu tun. Es war ihm als ob das Mädchen das Mißtrauen, das ihn erfüllte, dann mitempfände. Das durfte in keinem Falle sein.

Er setzte sich nachher ans Fenster. Es ging auf den Garten hinaus, aber er hörte deutlich die Geräusche von der Brücke und der Straße. Er fühlte sich einsam. Seine Hilflosigkeit kam ihm entsetzlich und qualvoll vor. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Dennoch roch er die Feuchtigkeit, die vom See herkam.

Er erinnerte sich jetzt auch, daß Fernande gestern nacht noch erwähnt hatte, sie wolle in der Frühe zum Anprobieren gehen. Schließlich lag ja darin auch nichts Besonderes. Aber vielleicht hatte Tott auf sie gewartet, vielleicht gingen sie beide jetzt am See oder saßen zusammen auf einer Bank. Er horchte angestrengt nach dem Garten und der Terrasse. Es tönten Stimmen unten, ein Automobil fuhr vor die Halle.

Er kam sich vor wie auf der Lauer. Ein bitteres Gefühl der Beschämung überrieselte ihn. Wie kläglich dies alles doch war. Aber warum durfte denn der andere nicht in diesem Hotel wohnen? Es war doch das beste am Platze – hatte er sich nicht neulich sogar über das seine beklagt. Und dennoch ...

Mit einer fiebrigen, fast krankhaften Ungeduld wartete er jetzt auf Fernande. Es war ihm als ob ein Wort von ihr, der Tonfall eines Wortes ihm eine Erlösung bringen könnte.

Plötzlich legte er sich den Gedanken vor: »Wenn aber doch alles so wäre, wenn sie mich mit ihm betröge? ... Er stand da auf einmal wie vor einer Mauer. Was für einen gesunden Menschen zu einem Konflikt mit einem mehr oder minder schmerzlichen Ausgang werden konnte, wurde für ihn zu etwas Schrecklichem, Unheimlichem.

Was wäre seine Existenz noch ohne sie? Er hörte jetzt Glocken läuten. Es war also elf Uhr. Eine Trambahn klingelte in der Ferne.

Er empfand leise neuralgische Schmerzen über den Augenbrauen. Aber die Sonne war jetzt doch warm. Er legte die Hand auf das Fenstersims. Er wollte warten, Geduld haben. Er dachte: Es sterben jetzt noch jeden Tag Zehntausende. Bin ich nicht trotz allem ein Glücklicher? Ich habe noch Beine, um zu gehen, Hände, um zu essen, ich kann trotz allem diesen Spätsommermorgen empfinden ... War das nicht herrlich?

Er dachte wieder an den französischen Hauptmann, von dem der Concierge erzählt hatte. Dieser Hauptmann war in einem Schwerverwundetentransport hier durchgefahren.

Er wurde in einer Art von ausgepolstertem Kasten getragen. Es waren nur noch der Rumpf und der Kopf von ihm übriggeblieben.

Wenn Georg sich dieses Bild vorstellte, überfiel ihn eine unendliche Bangigkeit. Hatte nicht all dies Entsetzliche auch auf ihn gelauert, war er ihm nicht doch noch glücklich entronnen?

»Aber das hilft mir doch nicht weiter,« blitzte es wieder durch sein Gehirn. Worauf es ankam, das war doch Fernande und nicht das andere. Er hätte sich jetzt gern eine Zigarette angezündet, aber er wollte warten, bis Fernande zurück war.

Er dachte: »Ich bin in einem Punkte wieder auf dem Niveau des Kindes angelangt: Es ist mir verboten, mit Streichhölzern zu operieren.« Er hörte nebenan jemand die Türe öffnen. Das gab ihm ganz unmotiviert Herzklopfen. Es war nur das Mädchen, das offenbar ein Kleid von Fernande in den Schrank hängte.

Er stand auf und ging gegen die Tür hinüber. Es war ja vielleicht doch ein Schein von Möglichkeit vorhanden, daß sie schon zurückgekehrt war. Wie er sich noch am Tisch hielt, ging die Türe auf.

Er fragte: »Wie spät ist es?« Seine Stimme klang etwas verlegen. Er wußte eigentlich auch gar nicht, was er fragen sollte.

»Es hat eben elf geschlagen,« sagte das Mädchen und ging in sein Zimmer hinüber.

Er stand immer noch etwas verblüfft da und bewegte sich wieder zum Fenster zurück. Das Mädchen kam ihm eigentlich gefühllos vor. Es hätte doch fragen können, ob er einen Wunsch hätte, ob ihm etwas fehle.

Er läutete jetzt und verlangte ein Aspirinpulver. Das Mädchen stellte ihm ein Wasserglas auf das Fenstersims und legte die Glasröhre mit den Tabletten daneben. Aber er hatte jetzt plötzlich keine Lust mehr nach Aspirin.

Er überlegte: Es wäre mir eine Wohltat, wenn ich einen Tobsuchtsanfall bekäme. Jeden Tag einen Anfall, damit ich alle Nervosität, allen Ärger, der sich anhäuft, wegbringen könnte. Draußen redete der Zimmerkellner.

Da kam das Mädchen wieder und sagte: »Herr Sineswett ist unten ...«

»Er soll doch heraufkommen,« Georg war selbst erstaunt wie freudig, wie bewegt er plötzlich wurde, Tott war also allein, war nicht mit ihr. Vielleicht hatten sie sich aber auch erst jetzt getrennt im Gedanken, daß es verdächtig wäre, wenn sie beide zusammen ankämen. Das zuckte ihm wie ein Strahl durch die Schläfen, aber er war trotzdem froh, daß Tott wenigstens da war. Er hatte ein vages Gefühl, als ob er von ihm trotz allem noch mehr darüber erfahren könnte als von Fernande. Georg wartete. Aber Tott erschien nicht. Da hörte er seinen Schritt auf dem Teppich. Das Mädchen öffnete vor ihm die Türe und sagte: »Bitte schön!«

Georg richtete sich etwas auf und streckte ihm ganz ins Leere die Hand entgegen. Tott kam jetzt um den Tisch herum. Er sagte: »Ich bin eben hierher umgezogen.« Er erzählte von einem Streit, den er heute früh mit dem Portier seines Hotels gehabt hatte.

»Das ist ja sehr nett,« antwortete Georg, »daß sie nun näher bei uns sind.« Er horchte, als ob der andere noch etwas hinzusetzen, sich noch weiter erklären sollte, aber Tott schwieg. Er hatte überhaupt eine merkwürdige Art, oftmals ein paar Minuten still zu sitzen und kein Wort dabei zu sagen.

Georg überlegte: »Ob er sich dabei wohl etwas denkt und was mag er sich wohl denken?«

Plötzlich äußerte Tott ganz zusammenhanglos: »Ich habe eben Ihre Frau gesprochen ...«

»So ... so ...« antwortete Georg. Er hatte ein wenig den Kopf gedreht und wartete. Aber Tott sprang wieder vom Thema ab und redete von einem Brief, den er aus Stockholm bekommen hatte und der merkwürdigerweise von der holländischen Zensur geöffnet worden war.

»Wo trafen Sie denn meine Frau?« fragte Georg ganz unmotiviert dazwischen.

»Auf der Straße ...,« erwiderte der andere und redete von seinem Brief weiter. Das mit Fernande schien ihm wirklich ganz nebensächlich zu sein.

Er sagte plötzlich: »Ich muß vor dem Essen noch auf die Post,« stand auf und ging weg.

Nach einer Weile kam auch Fernande. Sie trat zuerst ins Schlafzimmer, um abzulegen, und kam dann herüber. Sie näherte sich, schmiegte sich an ihn, legte ihm, der stumm da saß, den Arm um den Kopf und sagte tröstend: »Du hast auf mich gewartet?« Er vermochte nicht zu antworten. Ein quälender Ärger, der ihn ganz hilflos machte, glomm in ihm auf.

»Du bist mir böse?« fragte sie ängstlich und zärtlich. Er zuckte mit den Achseln.

»Aber, was ist denn?« forschte sie weiter.

»Nichts,« sagte er. Wenn er sich jetzt ganz deutlich hätte aussprechen müssen, wäre er auch sehr verlegen gewesen, es ihr einfach und klar darzustellen. Schließlich litt er an etwas, das nur in der Luft lag. Das er nicht hätte präzisieren können, ohne schamrot zu werden.

»Wo bist du gewesen?« fragte er etwas müde. Er sprach nur aus der Nötigung überhaupt etwas zu sagen. Sie erzählte von der Schneiderin, von den Läden, in denen sie gewesen war.

»Tott war eben hier, er wohnt jetzt im Hotel,« warf er ein.

»So?« sagte sie nur leichthin, »seit wann?«

»Seit heute früh,« antwortete er. Er fühlte einen feinen, stechenden Schmerz in der Stirne. Er dachte: »Sie tut, als ob sie ihn nicht gesehen hätte, als ob sie nichts davon wüßte. Sie lügt ...« Er hörte sie weiter erzählen von einem Brief, den ihr ihre Schwester geschickt, aber alles kam wie etwas Fremdes und Dumpfes in sein Gehirn. Er suhlte immer nur die eine furchtbare Erkenntnis: »Sie lügt ...«

* * *

Georg saß am Nachmittag in der Sonne im Garten. Fernande hatte ihm aus der Zeitung vorgelesen und war für einen Augenblick ins Hotel gegangen. Georg erwartete auch den Besuch von Siret. Dieser war ein ihnen befreundeter Pariser Kunstkritiker, der sich jetzt während des Krieges als Auslandsreporter betätigte. Er war gestern im Hotel angekommen. Er hatte Georg heute nach Tisch anfragen lassen, ob er ihn sprechen könnte. Georg war jetzt in der Erwartung des andern in einer seltsamen Bewegtheit. Es war ihm merkwürdig, daß er von all den früheren Pariser Freunden gerade Siret sehen sollte. Er hatte ihn ein paar Tage vor Kriegsausbruch noch auf der Redaktion einer großen Zeitschrift gesehen und ihm trotz aller Bangigkeit zum Abschied lachend zugerufen: »Also auf Wiedersehen nach dem Krieg!« Georg hatte in jenem Augenblick nicht an den Krieg geglaubt, oder er hatte vielleicht durch diesen Spaß die Beklemmung los werden wollen. Aber er sah in der Erinnerung noch heute Sirets Gesicht. Es war während einer Sekunde ganz starr geworden. Fast zu einer unheimlichen, verzerrten Maske. Dann war jener nahe an ihn herangetreten und hatte ihm entgeistert in die Augen gestarrt: »Sie glauben doch nicht daran ...?« hatte er leise, fast heiser gefragt. »Aber nein ...« hatte Georg erwidert. Später war diese Szene noch oft in der Erinnerung vor ihm aufgetaucht. Die Idee, daß Siret sich vielleicht nachher gesagt haben konnte, er sei als Deutscher und durch seine Beziehungen doch orientiert gewesen, er hätte doch um das Kommende gewußt und hätte ihm und seinen damaligen französischen Freunden diese Komödie vorgespielt, dieser Gedanke kam ihm peinlich vor.

Er hörte einen Tritt auf dem Kies. Aber es mußte eine ältere Person sein. Sie kam langsam daher und schleppte ein Bein etwas nach. Gleich darauf ertönte eine Kinderstimme, eine italienische Bonne ging mit einem kleinen Mädchen vorbei. Darauf kamen wieder ein Herr und eine Dame, die französisch sprachen. Es war ein erstaunliches Gewirr von Sprachen und Menschen in diesem Hotel und in dieser Stadt, die für die Dauer des Krieges ein kosmopolitisches Gepräge angenommen hatte, das ihr in Friedenszeiten gewiß nicht zukam.

Georg dachte eben an Fernande und fragte sich, warum sie noch nicht zurück sei, als er eine Stimme neben sich hörte: »Lieber Baron ...«

Georg hob den Kopf: »Siret?« Er streckte ihm die Hand entgegen.

»Ja, ich bin's ...« der andere hatte seine Hand ergriffen und hielt sie ein paar Sekunden in der seinen. Während einem Atemzuge hatten sie beide das Gefühl, daß sie dieselben geblieben waren, daß sie sich nicht als Menschen zweier feindlicher Nationen, sondern als alte Bekannte gegenüber standen.

Siret sagte zuerst: »Ich hatte Sie gestern abend schon gesehen. Ich saß unten in der Halle, als Sie die Treppe hinauf gingen. Ich habe ihre Frau sofort erkannt ...« Er brach ab. Georg hatte den Eindruck, daß jenem etwas die Kehle zuschnürte, daß er bewegt war. Er wollte ihm über das Schmerzvolle der Situation hinweghelfen und sagte: »Nicht wahr, ich habe mich verändert ...«

Siret antwortete: »Wer hätte das alles geahnt?« Er nahm plötzlich Georgs Hand, wie man die Hand eines Kindes nimmt und sagte erschüttert: »Aber lieber Freund, es kann ja doch noch alles wieder gut werden.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Georg. Ein merkwürdiges Erbarmen stieg in ihm auf, ein Erbarmen mit dem andern, der wegen seines Schicksales so gequält war. Er sagte: »Ich habe mich nun schon an meinen neuen Zustand gewöhnt, es ist sogar ganz sonderbar, wie rasch man sich an alles gewöhnt ...«

»Ich bin glücklich für Sie, daß Sie das so empfinden« erwiderte Siret. Seine Stimme klang warm, aufrichtig, teilnahmsvoll. Georg hatte vor allem das unendlich angenehme Gefühl, einem taktvollen Menschen gegenüber zu sein. Er dachte daran, was man ihm schon für Fragen gestellt, was sie alles von ihm hatten wissen wollen, wie ihm oft ihre Teilnahme zu einer Tortur geworden war. »Wie steht es in Paris?« fragte er leise.

»Danke gut,« sagte der andere, als ob man nicht von einer Stadt, sondern von einer Person spräche. Man redete von alten Bekannten, die alle im Feld waren. Der Baron R. war seit Kriegsbeginn in Verdun, R. Ch. seit acht Monaten in den Argonnen, wo er schon dreimal verwundet worden war. Siret erzählte seine eigenen Erlebnisse. Er hatte als Berichterstatter die ganze Front bereist, er sprach klug, als ein guter Beobachter, verfiel dann aber in allgemeine politische Reden, in Prophezeiungen über den Ausgang des Krieges, während ihm Georg schweigend zuhörte. Dann begann auch er zu sprechen, aber er hatte das Gefühl, als ob sie beide fortwährend aneinander vorbei redeten.

Da warf Siret plötzlich dazwischen: »Wissen Sie, was mich erstaunt hat?«

»Nun?«

»Daß Sie sich sofort in den Gedanken des Krieges gefunden haben. Was für mich am schwersten zu begreifen war, das war die Tatsache des Krieges überhaupt. Ich vermochte tagelang nicht daran zu glauben ...«

Georg antwortete: »Es war wohl damals so, daß in jedem Lande alle zu einem einzigen Gefühl wurden. Man hatte nicht mehr die Möglichkeit zu denken, sondern nur noch die zu handeln ...«

»Ich hatte keine Ahnung, wo Sie waren, ich dachte mir Sie irgend in einem Hotel in der Schweiz,« sagte Siret.

»Ich war stellungspflichtig,« erklärte Georg. »Sie hätten sogar als Franzose wenig Achtung vor mir gehabt, wenn ich Deserteur geworden wäre.«

»Na ... ja ... aber es paßte doch gar nicht zu Ihrer Natur,« wandte Siret ein.

Georg sann eine Sekunde, dann sagte er: »Das ist ja das Merkwürdige, daß alle Intellektuellen und Pazifisten und Kosmopoliten, daß sie alle auf einmal etwas in sich fühlten, was sie zu ihrem Stamme, zu ihrer Pflicht trieb. Abgesehen von der Frage der Rasse, sind doch unsere Beziehungen zum Staate etwas wie ein Familiengefühl. Und wenn die Familie in Gefahr ist, dann hilft man eben, ob man nun Onkel Ferdinand oder Tante Alwine besonders geliebt hat oder nicht. Man spürt eine Pflicht, die aus dem Blut kommt. Wenigstens alle Menschen, die Tradition haben.«

Siret antwortete nicht. Georg hörte auf Stimmengeräusche, die von der Halle herkamen.

»Wer ist diese dicke Dame, die französisch spricht und nach Tisch zum schwarzen Kaffee in der Halle sitzt? ...« fragte Siret.

»Sie meinen wahrscheinlich die russische Prinzessin,« antwortete Georg. »Sie hat dieselbe Masseuse wie meine Frau.« Er hätte jetzt gerne gefragt, ob der andere Fernande nicht irgendwo auf der Terrasse sehe, aber er wagte es doch nicht. Er hatte, was Fernande anbetraf, eine merkwürdige Scheu. Er hätte sich geschämt, wenn Siret auch nur eine leise Ahnung von seinem Argwohn gehabt hätte.

Da sagte aber Siret: »Ja, wie stehen Sie denn mit Ihrer Frau?« Er lachte. »Ich meine natürlich politisch ...«

»Sie ist rührend,« antwortete Georg. Er empfand selbst wie seine Stimme unwillkürlich in einer merkwürdigen Bewegtheit bebte. Es tat ihm wohl, etwas Gutes über sie zu sagen.

»Es ist direkt frappant, wie viel Ehen innerlich durch diesen Krieg gestört worden sind,« behauptete Siret. Er erzählte von einem Prozeß, der neulich in Lyon stattgefunden hatte und wobei ein Franzose von einer deutschen Frau geschieden worden war. Als Gegenstück zitierte Georg einen seiner deutschen Freunde aus M., der seit zwanzig Jahren mit einer Französin verheiratet war und in ihr die getreueste Frau hatte. »Ich muß Ihnen sagen,« fuhr er fort, »daß ich mit meiner Frau des Krieges wegen nie die geringste Diskussion hatte. Sie hat ihn wie ich vom ersten Tag an akzeptiert als ein Schicksal, das uns auferlegt war.«

»Das ist schließlich auch ganz natürlich und der größte Teil der Menschen wird instinktiv so handeln. Denn wir sind ja alle Akteure eines Dramas an dem wir selbst nicht die geringste Schuld haben.«

»Allerdings nicht,« gab Georg zu. Es machte ihn froh, mit Siret zu plaudern. Dieses Gespräch, das zwischen ihnen so ohne Haß und ganz ruhig geführt wurde, war ihm wie eine Hoffnung für etwas Glückvolleres und Späteres.

Während Georg sprach, dachte er immer nur an Fernande. Wo sie auch sein mochte? Sie hatte wirklich nur für ein paar Minuten hinaufgehen wollen, um sich ein Buch zu holen, und um zwei Zeilen an ihre Mutter zu schreiben. Nun blieb sie aber schon eine ganze Zeit aus. Er hörte eine Turmuhr einmal schlagen.

»Wie warm es jetzt ist,« hörte er Siret sagen, »wir sind doch schon im September ...« Dann redete jener wieder von anderem weiter. Plötzlich sagte er: »Da ist ja Ihre Frau ...«

Georg horchte auf. Es war still zwischen ihnen.

Siret fuhr fort: »Sie spricht mit einem schlanken, blonden Herrn, er scheint ein Landsmann von Ihnen zu sein ...«

»Es ist ein Schwede ...« erklärte Georg. Es war ihm als ob er sagte: »Der Liebhaber meiner Frau ist ein Schwede ...« Siret antwortete nicht. Er sah offenbar zu den beiden herüber. Georg hatte so starkes Herzklopfen, daß er schier den Atem verlor. Er hörte nur das Blut in den Schläfen summen. Wie ein banges Rauschen hüllte ihn die Erregung ein. Gerade daß Siret so sprachlos und aufmerksam hinübersah, quälte ihn. Jener begriff natürlich alles, hatte die Situation sofort erkannt, Georg war es als ob er es auf dieser Gartenbank nicht mehr aushalten könnte, als ob er aufstehen und irgendwohin ins Ungewisse hinauslaufen müßte. Nur damit etwas geschähe, das ihn von dieser Qual befreite. Da hörte er Siret, der sagte: »Da kommt sie ja ...« seine Stimme klang vergnügt, freudig. Er stand auf, Georg hörte seine Schritte im Kies knirschen, während er ihr entgegenschritt.

* * *

Es ging gegen Abend. Siret hatte sich empfohlen. Georg war es ganz merkwürdig, jetzt mit Fernande allein zu sein. Es war eine Spannung vorhanden, die sie beide bedrückte. Aber er hatte nicht den Mut zu sprechen. Er hatte ein Gefühl, als ob sich da plötzlich etwas ganz Schreckliches enthüllen könnte. Er hatte Angst davor. War er feig? Er getraute es sich gar nicht einzugestehen. Er war zaghaft geworden, was sonst gar nicht in seiner Natur lag. Es kam ihm für Augenblicke wie eine merkwürdige Gnade vor, daß er noch neben ihr auf der Bank saß.

Da sagte sie unvermittelt: »Du bist traurig, was fehlt dir?«

»Nichts,« antwortete er und zuckte mit den Achseln.

»Doch,« beharrte sie. Sie legte ihm ihre linke Hand aus die seine, fuhr ihm langsam und zärtlich über den Handrücken. Er hielt geduldig still. Er dachte: »Was für eine weiche, zarte Hand sie doch hat.« Es war ihm, als hätte diese Hand für ihn eine ganz neue und tiefe Bedeutung gewonnen. Die Möglichkeit, sie zu verlieren, gab ihm plötzlich ein Gefühl für sie, das er lange nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht nur in der allerersten Zeit, da sie sich liebten.

»Sag' mir, was dir fehlt?« bat sie noch einmal. Da erwiderte er: »Mir ist es, als ob wir uns voneinander entfernten ...«

»Das ist nicht möglich,« wandte sie einfach ein. Es war in keinem ihrer Worte eine besondere Betonung oder ein intensiverer Ausdruck. Er schwieg. Er überlegte: ›Sie ist unheimlich raffiniert. Sie verwirrt sich nicht, sie verrät sich in keinem Ton.‹

Er holte Atem. Dann sagte er etwas matt: »Seit heute früh weiß ich, daß du mich anlügst ...«

Sie antwortete während einer, während zwei Sekunden nichts. Er zählte seine Herzschläge, so unendlich lang schien es zu dauern, bis ihre Stimme ihm wieder entgegenkam. »Wie meinst du das?« fragte sie sehr verwundert. Aber er hörte es jetzt ganz deutlich: Es war doch etwas Falsches im Klang.

»Ich weiß nur, daß du mir nicht die Wahrheit sagtest,« erklärte er.

»Warum habe ich dir nicht die Wahrheit gesagt?« fragte sie.

»Muß ich dir das erklären?« erwiderte er. Sie schwieg. Dann sagte sie plötzlich: »Du weißt doch, daß ich nichts Böses tue,« sie hielt inne, fuhr dann fort: »Wenn das in meiner Natur läge ...« Sie stockte. »Dann hättest du es schon lange tun können,« vollendete er ihren Satz. »Das willst du sagen oder nicht?« ...

»Es ist ja entsetzlich, auf was für Gespräche wir kommen,« brach sie plötzlich los, als ob sie erst jetzt zur Erkenntnis gekommen sei, was seine Anschuldigung überhaupt bedeutete. Er hörte ihren Ausbruch an. Er fühlte den besten Willen in sich, ihr zu glauben, daß alles in der Luft stünde, eine falsche Annahme von ihm sei. Aber er konstatierte zugleich, daß er ihr trotz allem nicht glaubte. Er empfand nur einen dumpfen Druck auf dem Gehirn.

»Warum sagst du denn die Wahrheit nicht, wenn du keinen Grund hast, etwas zu verschweigen,« begann er wieder.

»Reden wir von etwas anderem,« bat sie gequält.

»Warum ist dir das unangenehm, wenn wir davon sprechen?« Er hatte sich aufgereckt, das Gesicht zu ihr hingedreht, als ob es jetzt auf jeden Laut ankäme. Sie sagte nur leise und enerviert: »Weil du mir ja doch nichts vorzuwerfen hast.«

»Du weichst mir aus, du antwortest nie auf das, was ich dich frage, du tust sogar, als ob du nicht wissest, um was es sich handelt ...«

»Du machst mich so müd mit deinem lauten Reden,« ihre Stimme klang matt, zugleich etwas ärgerlich.

»Du bist unwillig?« fragte er leise, fast drohend.

»Wollen wir nicht hinaufgehen?« schlug sie vor. »Wir können uns doch hier auf der Bank keine Szene machen.«

»Bleiben wir noch,« verlangte er ganz erregt. Ihre Haltung kam ihm wie eine Flucht vor.

»Gut, bleiben wir,« konstatierte sie, »aber was willst du denn von mir, was quälst du mich so?« Sie schien wirklich aufrichtigen Schmerz zu empfinden.

»Ich quäle dich?« Er horchte ganz erstaunt auf. »Wer ist es denn von uns beiden, der leidet?«

»Aber warum machst du mir denn Vorwürfe, ohne daß du einen Grund hast?« protestierte sie.

»Als ob ich keinen Grund hätte ...« sagte er bitter, melancholisch.

»Du stellst dir etwas vor, was gar nicht existiert,« jammerte sie.

»Du sagst es,« er zuckte resigniert mit den Achseln.

»Aber sag' mir doch, worin ich mich vergangen habe ...« sie war jetzt wirklich gekränkt. Er hatte das Kinn gehoben, als ob er vor sich in die Bäume schauen wollte und sagte niedergeschlagen: »Das Schlimmste von allem ist die Lüge, sie schließt alles übrige in sich ...«

Sie antwortete nicht gleich. Dann sagte sie einfach, und in einem ganz klaren Ton: »Wenn du wolltest, würdest du mich begreifen. Ich will doch alles vermeiden, das dir Kummer machen kann. Nun fühlte ich dich gestern nervös ... mir war es, als ob du eifersüchtig seiest. Als du mich heute früh nach ihm fragtest, hatte ich einen Augenblick plötzlich Angst, du könntest dir irgend etwas dabei denken ... so hab' ich ihn verleugnet ... aber es war nichts Schlimmes dabei ...«

Er hörte ihr aufmerksam zu. Er fühlte, daß es demütigend für sie war, solch' ein Geständnis zu machen. Es schien ihm wohl etwas begründet, was sie sagte. »Und es war nichts weiter?« fragte er.

»Gewiß nicht, Liebling,« sagte sie. Sie hatte wieder seine rechte Hand genommen und grub ihre Nägel tief in seine Handflächen ein. Er empfand ein leises Glücksgefühl, das ihn erwärmte. Er hatte auch den Eindruck, daß sie aufrichtig sei. Er fühlte einen Schmerz in seiner Hand und dennoch liebte er diese naive, fast kindliche Geste. Fernande hatte oft solche instinktive Ausbrüche. Wenn sie erregt war, konnte sie ihre Nägel so tief in seine Hände eingraben, daß rote Male entstanden, die oft einen ganzen Tag lang hielten. Es war ein ganz mädchenhafter Ausdruck ihrer Passion.

Georg sagte jetzt: »Du bist noch wie ein Kind, aber du hast auch alle Fehler von Kindern ...«

Sie lachte: »Kinder sind nicht gefährlich.«

Er antwortete: »Das Schlimmste ist, daß sie unberechenbar sind ...«

»Quäl mich jetzt nicht länger damit,« ihre Stimme klang wieder ganz vergnügt. Sie schien dieses morose Gespräch wirklich satt zu haben. Georg ließ sich willig von ihr leiten. Sie gab ihm einen Impuls zu etwas Leichterem, Froherem. Sie war in diesem Augenblick sicher ohne Falschheit. Sie war es vielleicht überhaupt, aber ihr Temperament war zu impulsiv, es machte sie unüberlegt in ihren Handlungen. Sie besaß sicher eine große Herzensgüte, aber er traute ihr, falls sie sich einmal vergangen hatte, auch eine große List zu, um es zu verbergen. Er hatte früher Vertrauen in sie gehabt. Lag es an ihm, oder an ihr, daß er es nicht mehr besaß?

Er hörte sie jetzt neben sich reden. Es lag etwas Angenehmes und Beruhigendes darin. Es kam ihm ja gar nicht darauf an, was sie sagte, allein ihre Gegenwart war eine Kraft, eine Stärkung für ihn. Zugleich dachte er: ›Ich werde sie früher oder später verlieren ...‹ Es kam ihm unmöglich, fast widersinnig vor, daß er in seinem Zustand ein so junges, schönes Wesen sollte fesseln können. Daran lag ja das Schreckliche. Er setzte nicht voraus, daß sie ihn verlassen würde, aber sie würde sich in den, in jenen verlieben, in kleinen, unscheinbaren Dingen würde er es fühlen. Er würde das sichere Bewußtsein bekommen, daß sie ihn betrog, daß er sie mit einem andern teilte, und das vermochte er nicht zu ertragen. Es lag nicht in seiner Natur. Er sah für jenen Augenblick nur eine schreckliche Katastrophe.

»Aber wäre er denn ein Mensch, den du lieben könntest?« fragte er plötzlich dazwischen. Er hatte zugleich die Empfindung, daß er eine sehr einfältige Frage gestellt.

»Tott?« rief sie aus und lachte.

»Ja, er ...« bestätigte er.

»Ich müßte mir jedenfalls große Mühe geben ...« sagte sie ganz vergnügt.

»Du nimmst das alles zu leicht,« erwiderte er traurig, »du scheinst eigentlich gar keine Ahnung zu haben, von was für schrecklichen Dingen wir reden ...«

»Du bildest dir das alles nur ein,« replizierte sie bestimmt, als erwarte sie keinen Widerspruch.

»Komm, gehen wir etwas im Garten,« forderte sie ihn auf. Sie schritten auf den Kieswegen nebeneinander her. Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt, wie er es früher gewohnt war. Er berührte sie nur zuweilen leise mit der Schulter. Er war eigentlich ganz stolz darauf, auf diese gewisse Nonchalance, die dabei heraus kam. Er kultivierte diese Haltung mit großer Konsequenz. Auf ein Dutzend Meter Distanz mußte man nichts anderes sehen, als daß da eben ein Paar spazieren ging. Es war ihm peinlich als ein Kranker zu gelten, als ein Mensch, den man anstarrte, der etwas Anderes, Besonderes bedeutete.

Es war warm wie im Sommer. Sie redeten jetzt von Siret. Es war ein angenehmer Mensch, der trotz des Krieges und aller Verwirrungen der Geister ein Freund geblieben war. Georg fragte mitten aus dem Gespräch heraus plötzlich: »Wo ist jetzt Tott?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie. Sie schien es wirklich nicht zu wissen. Georg dagegen fand es sonderbar, daß er heute ausblieb. Sie hatte ihn gewiß darauf aufmerksam gemacht, daß eine Krisis bevorstand. Er sah plötzlich Fernande wieder ganz anders. Er hatte das dumpfe und doch sichere Gefühl, daß irgend etwas bestand, daß ihm etwas verborgen wurde. Was es war, darüber konnte er sich nicht genau Rechenschaft geben ...

Er sagte: »Ich möchte hinaufgehen.«

Sie war ganz ruhig und sanft. Diese ganz außerordentliche und widerstandslose Bereitwilligkeit, die sie nun im Ton jedes Wortes hatte, machte ihn auch wieder stutzig. Er war jetzt wirklich schlaff. Er empfand es deutlich, wie gebeugt er ging. Dabei hatte er den Eindruck, daß Fernande sich zu ihm verhielt, als ob er ihr etwas zu vergeben hätte.

Sie kamen nach oben und er ließ sich in den großen Lederfauteuil des Wohnzimmers fallen. Fernande setzte sich neben ihn auf die Lehne. Er empfand eine starke Neuralgie in der rechten Schläfe. Es war ihm jetzt, als ob er seit heute mittag doch um keinen Schritt vorwärts gekommen sei. Er sprach plötzlich von einer Bekannten, die ihren Mann betrog. Es war eine reizende, sehr gutmütige junge Frau. Georg verharrte lange und ausführlich bei dem Thema. Er klagte die Dame nicht an, er fand es im Gegenteil fast bewunderungswert, mit welcher Geschicklichkeit sie ihr Spiel verbarg.

Da sagte Fernande gedankenvoll: »Das ist ja auch die Hauptsache, daß sie sich nicht verrät ...«

»Wie meinst du das?« fragte er aufmerksam.

»Ich meine, sie darf vor allem ihrem Mann keine Sorgen machen, und ihn auch vor der Welt nicht bloßstellen. Wenn es niemand weiß, leidet auch niemand darunter ...«

»Aber es kommt ja doch immer heraus,« wandte er ein.

»Nicht immer,« sagte sie einfach und ganz natürlich. Nach ein paar Augenblicken setzte sie hinzu: »Ich habe die Überzeugung, daß sie ihren Mann außerordentlich liebt ...«

»Aber warum betrügt sie ihn denn?« fragte er ruhig weiter.

»Sie liebt ihren Geliebten wohl auf eine andere Weise,« antwortete sie leichthin. »Das ist doch sehr gut möglich, nicht?«

»Ja, schon ... bestätigte er. »Aber es ist im Grunde doch furchtbar traurig.«

»Ja, aber er weiß es ja nicht, darum tut sie ihm damit auch nicht weh ...« erklärte sie wieder.

»Weißt du, daß du einen ganz unmoralischen Standpunkt einnimmst?« Er hob sein Gesicht zu ihr empor und senkte es sofort wieder. Er fühlte, daß er einen furchtbar hilflosen Ausdruck haben mußte.

»Aber Liebling,« sagte sie, »du tust auf einmal so, als ob du gar nichts mehr von der Welt verständest. Was ich dir eben sagte, hast du mir früher selbst einmal Wort für Wort gesagt ...«

»Das glaube ich nicht,« protestierte er leise.

»Doch –« behauptete sie, »als wir einmal von Frau v. P. sprachen und deinem Unfall, als du aus dem ersten Stock in den Garten springen mußtest, weil Herr v. P. plötzlich nach Hause gekommen war. Als du mir jene Geschichte erzähltest, erklärtest du mir dasselbe, während ich deine Handlung schändlich fand ...«

»Mag sein,« gestand er zu, »so haben sich eben unsere Standpunkte verschoben.«

»Aber das ist doch nichts Schlimmes,« erklärte Fernande. »Du hast doch deswegen Frau v. P. auch nicht verachtet, trotzdem sie das getan hat, wenn sie auch nur die einzige Entschuldigung hatte, daß sie dich liebte ...«

»Das ist auch die einzige, die es gibt,« sagte er gedankenvoll. »Es ist eigentlich doch etwas merkwürdig, wie du dir diese Theorien angeeignet hast,« äußerte er darauf.

Sie lachte hell und vergnügt: »Liebling, ich bin dir eben ähnlich geworden ...«

»Das wolle der Himmel verhüten,« beteuerte er. Dann nahm sein Gesicht plötzlich wieder einen merkwürdig lauernden Zug an: »Es ist aber doch seltsam, daß du dich in deinen Gedanken mit diesen Dingen beschäftigst ...«

»Ich beschäftige mich gar nicht damit,« sagte sie, »daß ich mir Gedanken darüber mache, ist schließlich ja auch ganz natürlich ...«

»Aber gerade diese Gedanken,« wandte er ironisch ein.

»Ihr seid doch komisch, ihr Männer,« fuhr sie auf. »Wenn eine Frau so einfältig ist, daß sie sich überhaupt nichts vorstellen kann, findet ihr sie stupid und langweilig. Wenn sie aber etwas ganz Vernünftiges äußert, seid ihr plötzlich erstaunt, daß sie sich überhaupt etwas denkt ...«

»Wenn das eine andere gesagt hätte, würde ich vielleicht auch weniger dagegen einwenden,« erklärte er.

»Ich spreche doch aber auch nicht für mich,« replizierte sie kurz, fast schroff. Es war auf einmal eine starke Gereiztheit in ihrer Stimme.

»Warum regst du dich auf?« fragte er. »Ich habe dich doch nicht gekränkt ...«

»Nein, aber ich habe die Empfindung, daß du hinter jedem Wort etwas suchst, daß du fortwährend eine Art von Verhör mit mir anstellst, und das hasse ich. Es ist mir unausstehlich, wenn du mich verdächtigst ...«

Er horchte nur auf und war überrascht über ihre plötzliche Heftigkeit. Aber er konnte ihren Zorn besser ertragen als ihr Schweigen. Der Zorn war eine Bewegung, etwas, das sie vorwärts brachte zu einem Ziele. Er liebte Fernande, wenn sie derart erregt war. Ihr Gesicht zeigte dabei den Ausdruck eines wütenden jungen Mädchens, das in jedem Fall im Recht war und recht haben wollte. Er fühlte zugleich, wie ihr ganzer Körper unter ihrer Erregung vibrierte. Wie ein seltsam süßer Rausch drang es in seine Nerven ein. Er zog sie zu sich nieder, legte sie wie ein Kind vor sich in den Schoß, küßte sie auf den Mund und die Augen, zärtlich und leise; rasend und verwegen und zugleich stammelte er: »Ich würde dich töten, wenn du mich betrögest ...« und er küßte sie wieder, noch wilder, atemloser ... Sie umschlang seinen Hals, schmiegte sich, klammerte sich an ihn und raunte mit bebendem, zärtlichem und hingegebenem Munde: »Ja ... ja ... du würdest mich töten ...« Er hatte ein Gefühl, als ob ihm alles Blut in die Augen rieselte.

* * *

Es ging ein scharfer Wind aus Südost. Tott wartete bei dem Chalet des Jachtklubs. Georg kam mit Fernande langsam heran. Siret hatte sie noch ein Stück Weges begleitet und war dann zurückgeblieben. Tott hatte ihm gegenüber, als sie am Vormittag durch Fernande bekannt geworden waren, eine sonderbare, fast ungezogene Schroffheit gezeigt.

Georg fühlte den warmen, etwas schwülen Wind im Gesicht, der fast stoßweise über das Wasser her kam und fühlte sich unbehaglich. Es war wohl für den Spätnachmittag ein Gewitter im Anzug. Seine Nerven spürten es voraus und waren in einer leisen, bänglichen Erregung.

Er fühlte, wie sie ein paar Stufen hinunter über einen Holzsteg gingen. Jetzt standen sie auf dem Floß, hörten Totts Stimme. Georg empfand, wie sich die Balken, auf denen er stand, leise wiegten. Dann half ihnen Tott ins Boot.

Sie saßen auf der Steuerbordseite und hatten den Wind im Nacken. Georg fühlte, wie sich Fernande an ihn lehnte, wie sie unsicher und ängstlich war. Der Wind fuhr mit kräftigen Stößen ins große Segel und das Boot legte sich auf die Seite, daß Fernande aufkreischte.

Georg hatte dabei eine eigentümliche Sensation. Er hatte früher oft mit großer Passion gesegelt, aber es war ihm, als hätte er damals nie diese starke Empfindung für die geringste Bewegung des Schiffes gehabt wie heute. Er fühlte deutlich, wie ein Windstoß ansetzte, seine Nerven im Nacken zeigten es ihm wie in einem leisen Kräuseln an. Er empfand, wie der Wind drehte, wie er mehr von vorn kam, er hörte, wie die obere Ecke des Großsegels leise flatterte, dazu knarrte das Steuer, während Tott abdrehte. Man hörte jetzt eine Weile nur das Kielwasser rauschen.

Es wurde kein Wort gesprochen. Georg hatte die Empfindung, daß Tott verdrossen am Steuer saß. Er hielt es vielleicht gar nicht mit der Hand, sondern stemmte mit der rechten Schulter dagegen, während er etwas träg und mißmutig auf der Bank lag. Jedenfalls bestand heute zwischen ihm und Fernande eine Spannung. Der Nachmittag war auch schwül und drückend.

»Ist der Himmel sehr bewölkt?« fragte Georg. »Es könnte trotz allem doch bald zum Regnen kommen,« setzte er hinzu. »Wir haben noch eine gute Stunde Wind,« antwortete Tott. Seine Stimme klang kühl und fast grollend.

»Was ist denn?« fragte Georg. Er hatte sein Gesicht zu Tott hinübergedreht. Es antwortete niemand. Es kam ihm sehr sonderbar vor. Tott war eifersüchtig, das war gewiß. Er äußerte dies in einer seltsam naiven Entrüstung. Er war aber allem Anschein nach nicht nur auf Siret, sondern auch auf Fernande wütend. Georg erinnerte sich der Szene vom Vormittag. Er dachte jetzt: »Er führt sich wirklich auf, wie wenn er Rechte hätte.« Aber auch Fernande sprach nicht, sie hatte offenbar Angst, Tott könnte in seinem Zorn noch mehr gereizt, einfältige und gefährliche Dinge reden. Plötzlich zuckte noch etwas anderes, noch Bangeres durch Georgs Schläfen. Wenn Tott recht hätte, wenn wirklich etwas zwischen ihr und Siret bestünde? Vielleicht schon früher bestanden hätte? Er sann über die vergangene Zeit nach, suchte sie wie mit einer scharfen, unnachsichtigen Sonde zu sezieren. Ja, Siret hatte bei ihnen im Haus verkehrt, man hatte sich in Gesellschaften, im Theater und in Restaurants getroffen. Er hatte oft Geschichten gehabt. Man redete ihm Beziehungen zu hochstehenden Damen der Gesellschaft nach. Vielleicht hatte das Fernande gereizt. Er war zudem ein sensibler, verschwiegener Mensch – vielleicht hatte sie das sicher gemacht. Aber all dies war ja so ganz unkontrollierbar. Das war das Furchtbare, daß er wie vor einem Abgrund stand, in dessen Tiefe er nur Nebel und Ungewißheit sah. Wie grauenhaft müde das machte.

Es war ihm für Augenblicke, als ob er wirklich einer Katastrophe zutriebe, als ob es ganz unmenschlich wäre, was er da zu leiden hätte, als ob er es keinen Tag mehr ertragen könnte. Wenn er wenigstens irgend etwas Bestimmtes wüßte. Die ganze Kraft seiner Phantasie hungerte nach einer Tatsache, nach Einzelheiten. Er dachte jetzt: »Wenn ich nur ihre beiden Gesichter sehen könnte ...« Vielleicht starrten sie sich verärgert und gehässig an, wie zwei Schuldige, die einen Verrat fürchten. Vielleicht gingen ihre Blicke auch nach ihm, der ihnen im Wege stand und den sie in die Hölle wünschten.

Ein scharfer Stoß fuhr in das große Segel. Das Boot schwankte, als ob es sich auf die Seite legen wollte, stand so schief, wie wenn das Segel schon flach auf dem Wasser läge. Tott hatte das Steuer herumgerissen und zugleich das Segel hinausgelassen. Die Luft wurde immer schwüler. Im Süden fing es leise zu donnern an.

Fernande hatte jetzt Georg am Arm gefaßt. Sie hielt ihn mit der Hand umklammert, als ob sie bei ihm Schutz suchte.

»Wir müssen zurück,« hörte er Tott sagen. »Obacht!« Er drehte das Steuer, das Boot wandte sich gegen den Wind. Sie bückten sich alle instinktiv, während das Segel über sie wegfiel. Sie setzten sich jetzt auf die obere Seite, während der Kurs wieder nach der Stadt zurück ging.

»Tott,« sagte Georg plötzlich. »Sie sind eigentlich unausstehlich, Sie reden kein Wort.«

»Entschuldigen Sie,« antwortete Tott, »dieses laue Wetter macht mich krank.« Seine Stimme klang müde. Es war jedenfalls nichts darauf zu erwidern.

Kleinlaut fuhren sie zurück. Georg hatte plötzlich die Empfindung, daß ihm die Sonne warm im Gesicht stand. Das mit dem Gewitter war nichts. Der Wind hatte etwas nachgelassen. Fernande hatte auf der ganzen Fahrt fast kein Wort gesprochen.

Tott blieb beim Boot zurück und takelte es ab. Georg und Fernande gingen allein zum Hotel.

»Was ist denn mit Tott?« fragte Georg, während sie die Anlage entlang schritten.

»Er ist verrückt, vollständig verrückt,« sagte Fernande mit scharfer Betonung. Aus jedem Wort war zu fühlen, wie sie erregt war.

»Was hast du ihm denn vorzuwerfen?« fragte Georg weiter.

»Nichts, als daß er ein ungezogener Mensch ist,« antwortete sie fast verächtlich.

Georg ließ sich von Fernande hinaufführen. Er fühlte sich auf einmal wie gebrochen. Er legte sich auf seinen Schlafzimmerdiwan. Er trank ein Glas Milch mit Kognak. Dazu hatte er ein starkes Bedürfnis, zu schlafen. Er hatte zu nichts mehr Lust, nicht einmal dazu, sich Gedanken zu machen.

Er hörte noch, wie Fernande leise aus dem Zimmer ging. Es tat ihm nun wohl, ganz allein zu sein. Im Halbschlaf dachte er sich: ›Wenn ich zwanzig Jahre älter wäre, würde ich mich vielleicht so einkapseln und mich um nichts mehr kümmern.‹ Mochte dann Fernande einen Liebhaber haben, was ging ihn das an. Er war sich auch klar darüber, daß er heute alle diese Dinge überschätzte, aber während er sich dies überlegte, stieg es wieder wie ein bitterer, brennender Grimm in ihm auf. Er blieb ihm wie etwas Beklemmendes und Atemraubendes in der Kehle stecken.

Von unten kamen Klänge des Orchesters. Er schlief ein ...

Er tauchte wieder aus einem dumpfen Dämmerzustand auf und hörte Stimmen. Es war nebenan im Salon. Trotzdem er durch das Badezimmer davon getrennt war, hörte er es ziemlich deutlich. Es war Fernande, die fragte: »Seien Sie doch ruhig, er schläft nebenan ...« Georg wurde auf einmal ganz wach.

Dann sprach Tott gedämpft, erregt. Fernande erwiderte: »Ich lasse mir überhaupt nichts befehlen, ich gehe jetzt hinunter, um meinen Tee zu trinken.«

Georg stand an die Türe des Badezimmers gelehnt. Die beiden sprachen wieder leiser, er konnte nur unterscheiden, daß er drohte. Dann ging die Türe nach dem Gang. Sie schritten beide die Treppe hinab. Georg mußte sich wieder auf den Diwan setzen. Er empfand eine merkwürdige Schwäche, wie ein Beben in den Knien. Was war das? Um Gottes willen, was war das? War es schon so weit? Er ging tastend der Wand entlang in den Salon hinüber. Sein Kopf war ganz leer. Nur noch wie eine schmerzhafte Höhlung. Es war ihm, als ob er das Gleichgewicht, die ganze Orientierung verlöre. Er mußte still stehen, Atem schöpfen. Er fand drüben endlich den Tisch, das Fenster, den Stuhl. Jeder Gegenstand erschien ihm wie eine neue Station, die zu erkämpfen war. Er setzte sich in den Stuhl und hielt sich das Gesicht. Er verlor auch jeden Zusammenhang mit der Zeit. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er gestern um dieselbe Stunde hier in diesem Stuhl gesessen und Fernande in seinen Armen gehalten hatte. Jetzt war ihm, als sei das alles schon eine Unendlichkeit her. Wie entsetzlich das alles war. Jede Stunde stand vor ihm in einem andern Licht.

Er hörte die Türe gehen. Es war jemand ins Zimmer getreten. Georg fragte: »Wer ist da?« Tott antwortete: »Entschuldigen Sie ... ich sollte das Retikule Ihrer Frau haben. Ich wußte nicht, daß Sie im Zimmer waren ...« Er schwieg. Georg hörte, wie er sich auf einen Stuhl setzte. Das mit dem Retikule mußte in jedem Fall ein Vorwand sein. Tott sagte nichts weiter. Georg hörte ihn nur merkwürdig mühsam atmen.

»Wo ist denn meine Frau?« fragte Georg.

»Sie sitzt unten, mit dem Franzosen,« sagte Tott sehr niedergeschlagen.

»Nun ja,« antwortete Georg, »was ist dabei?«

Tott antwortete nicht.

»Oder sehen Sie etwas Besonderes darin?« setzte Georg hinzu.

»Trauen Sie diesem Menschen?« fragte Tott. Es war Georg, als ob der andere den Atem anhielte, während er auf die Antwort wartete.

Georg sagte kühl: »Ich traue vor allem meiner Frau ...« Er hatte den Eindruck, als ob Tott ein ziemlich perplexes Gesicht machte. »Oder, wundert Sie das?« fuhr Georg ein wenig ironisch fort, als jener ihm sprachlos gegenüber saß.

»Durchaus nicht ... durchaus nicht ...« pflichtete er jetzt hastig bei. Es trat wieder Stille ein.

»Ja, sie sitzt mit ihm unten,« hob Tott auf einmal wieder an. Er sagte es wie einer, der den Verstand verloren hat, der laut denkt und dessen Gedanken immer wieder zum selben Punkt zurückkehren.

»Sie sind eifersüchtig?« fragte Georg und versuchte zu lächeln.

»Eifersüchtig ... o nein,« antwortete Tott ganz verächtlich, »was denken Sie auch?«

»Ich hatte diesen Eindruck,« replizierte Georg.

»Nein ... nein ... wiederholte der andere, plötzlich brachte er das Wort nicht mehr heraus und begann, wie in einer wütenden ohnmächtigen Raserei, gleich einem vor Zorn tobenden Jungen zu schluchzen. Georg hatte sich aufgereckt und starrte wie aus einem großen Schrecken vor sich ins Leere. Er fühlte, wie ihm eine schmerzhafte Gewißheit wie etwas Kühles ins Gehirn stieg. Dann sagte er: »Was tut Ihnen denn so weh? Was ist es?«

»Nichts ... nichts ...« sagte Tott und erholte sich allmählich. Georg hörte nur seinen eigenen Atem, den er langsam aus- und einsog. Es kam ihm als der einzige Trost vor, daß der andere noch so naiv war.

Er sagte zu Tott etwas mokant: »Es ist doch merkwürdig, wie Sie drei hier ein Drama aufführen und mir ohne weiteres die Rolle des Zuschauers zuteilen ...«

»Ja, ja,« antwortete Tott ganz stupid. Er schien zuviel mit sich selbst beschäftigt zu sein, um für einen andern noch eine besondere Überlegung zu haben. Er stand auf: »Ich will jetzt wieder hinuntergehen,« äußerte er in einem Ton, als ob er es sich selbst noch überlegte, und wie wenn er den andern um Rat fragte: Soll ich ... oder soll ich nicht ...

Tott war hinausgegangen. Fernandes Zofe kam herein, machte sich im Zimmer zu schaffen und ging wieder weg. Georg hörte das alles, aber es war ihm, als ob er daran nicht im geringsten beteiligt sei. Trotzdem er es mit seinen Gedanken erfaßte, kam ihm alles, was geschehen war, nur wie etwas unendlich Trauriges und Schmutziges vor. Er fühlte sich müd und matt und unfähig, irgendeinen Entschluß zu fassen. Er wußte: In solchen Fällen hatten die Männer im allgemeinen große heldenhafte Gebärden. Für den Augenblick war es ihm aber nur zumut, als ob er einen Keulenschlag auf den Kopf bekommen hätte. Er dachte plötzlich an jene junge Frau, die ihm damals von ihrem Manne gesagt hatte: »Er überlegte, wie man sich in dieser Situation benimmt ...« War er in diesem Augenblick nicht so grotesk lächerlich wie jener?

Er stand auf und öffnete das Fenster. Die Luft war so lau und schwül wie am Nachmittag. Er ging hinüber ins Schlafzimmer, legte sich nieder. Jetzt erst fühlte er, wie gequält er war. Wo war da ein Ausweg ... Er wollte sich irgend etwas denken, das ihm helfen könnte, aber er vermochte es nicht. Er hörte nur immer Tritte, die auf dem Gang draußen hin und her gingen. Eine Stimme rief: »Einen Tee für Nummer achtundvierzig ...« Je hilfloser er wurde, um so mehr kam ihm jedes kleinste Geräusch zum Bewußtsein. Als ob seine Phantasie sich an das Nebensächlichste klammerte, hörte er, wie man vor der Halle ein Automobil ankurbelte, wie es wegfuhr, wie vom Bahnhof ein Zug pfiff. Dann kam unten wieder ein Lastwagen vorbei, die Scheiben klirrten leise ...

In einem Zimmer nebenan schlug eine Uhr. Er zählte sechs Schläge ...

Da hörte er die Türe zum Salon gehen. Fernande kam herauf ... es war ihm, als ob ihm plötzlich der Atem still stünde ...

Er hatte die Augen geschlossen, als sie hereintrat. Er stellte sich schlafend. Es kam ihm wie eine Feigheit vor, aber er fühlte nicht den Mut zu einer Auseinandersetzung in sich. Er hörte ihre Stimme. Sie sprach leise, zärtlich, als hätte sie Sorge, ihn in seinem Schlummer zu stören, während zugleich etwas sie drängte, mit ihm zu sprechen.

»Was mag sie auf dem Herzen haben?« überlegte er. Vielleicht bekäme alles ein anderes Gesicht, wenn sie erst redete. Vielleicht war sie noch viel gequälter als er.

Er hörte sie wieder hinausgehen.

* * *

Er hatte keine Ahnung, welche Zeit es war, als er in der Nacht aufwachte. Er hatte irgend etwas Dumpfes, Schweres geträumt, das er noch jetzt wie eine leise Angst vor etwas Unbestimmtem und Quälendem in seinen Nerven fühlte. Er griff nach dem Nachttisch, wo eine runde Weckuhr mit freiliegenden Zeigern stand. Er tastete das Zifferblatt ab und fand, daß es zwanzig Minuten nach drei war.

Er war erstaunt, daß er so lange hatte schlafen können. Fernande war später noch einmal zu ihm hereingekommen, aber er hatte wieder nicht die Kraft gehabt, etwas zu sagen. Er hatte Furcht davor wie vor etwas Schrecklichem. Er wußte jetzt, daß er sie verlieren mußte. Es stand in seiner Überlegung unabänderlich fest. Zugleich dachte er: »Wenn ich es nicht könnte, wenn ich nicht den Mut dazu fände ...« Was für Demütigungen würden noch kommen, was für schreckliche Demütigungen. Er würde immer irgendwo in einem Stuhl oder auf einer Gartenbank sitzen müssen oder in der Nacht schlaflos in seinem Bett sich wälzen, bis ihre Geschichten mit irgendeinem Geliebten zu Ende wären. Er würde verdammt sein, als ein Mitwissender zu warten. Jetzt log sie noch, hielt noch alles geheim, später würde sie ihm zumuten, dies ganz einfach anzunehmen.

Er fühlte sich in allen Gliedern wie zerschlagen. Die Arme, die Beine waren vor Müdigkeit ganz steif. Ein schmerzhaftes Würgen und Zerren ging ihm durch die Knie. Nur der Kopf war ganz wach und von einer bohrenden, quälenden Klarheit. Am Morgen mußte irgend etwas geschehen, das ihn erlöste. Diese Qual war nicht mehr zu ertragen. Was er nachher tun wollte, wußte er nicht. Für ein paar Augenblicke hielt er alles für unmöglich und für einen wüsten Traum. Er dachte wieder an Fernande und ihr schmales Kindergesicht. War es denn wahr? Hatte sie es vollbringen können? Vielleicht sah sie selbst darin gar nichts Tragisches, sondern nur eine Liebelei, die für sie eine Spielerei gewesen war, die ihr jetzt schon unangenehm und gefährlich wurde. Jedenfalls bestand zwischen ihr und Tott schon ein Konflikt.

Er stand auf, öffnete das Fenster und neigte sich hinaus. Unten war alles ganz still. Von der Straße hörte er Stimmen, es drang wie ein fernes Gemurmel herauf. Es waren zwei Männer, die auf dem Trottoir standen und sprachen. Jetzt hörte er es wieder deutlicher. Es kam ihm sonderbar vor, wie sein Ohr sich seit einiger Zeit an die leisesten Geräusche gewöhnt hatte. Er hörte Dinge, die ihm früher nicht zum Bewußtsein gekommen waren. Eine ganze Welt von Lauten, die gleich fernen, kaum merkbaren Schwingungen in der Luft lagen, drang jetzt in seine Nerven. Von fernher hörte er das dumpfe Klopfen eines Motorbootes, das sich zu nähern, sich darauf wieder zu entfernen schien.

Er legte sich wieder ins Bett. Zugleich war ihm, als ob er mit der Stirne gegen eine Mauer stoße. So stand er mit allen Gedanken wieder vor demselben Hindernis. Ein zuckender, fiebernder Schmerz rieselte ihm über die Haut. Der Zustand war zum Schreien unerträglich. Er begann leise Verwünschungen auszustoßen, dann überlegte er, ob er mit ihr nicht abreisen könnte. Sie könnten vielleicht nach Montreux oder nach Lugano fahren. Doch was wäre mit dieser Flucht erreicht. Es würde sich sofort ein anderer Tott oder Siret einstellen. Und vor allem wollte er wissen, was geschehen war. Er wollte ein Geständnis ... um jeden Preis ein Geständnis!

Wie ihm dieses Wort wohl tat. Es war ihm, als ob er es jetzt eben für sich selbst entdeckt hätte. Das war doch etwas, das man erreichen konnte, das war ein Ziel ...

Er sah Fernande ganz geknickt vor sich, wie sie ihm Wort für Wort alles eingestand. Sie hatte dabei ein gequältes, doch etwas trotziges Gesicht, aber er wußte dann alles, er war der Stärkere, an ihm lag es zu entscheiden.

Plötzlich empfand er wieder die ganze Demütigung, die er dabei erlitt, das Lächerliche, Schmähliche, Kränkende des Betrogenseins. Und dann kam ihm ein Gedanke, den er noch nie gehabt, den er in diesem Augenblick zum erstenmal dachte. Vielleicht war diese Ehe mit ihr von Anfang an eine Verirrung gewesen. Sie war doch zuletzt von einer ganz andern Rasse als er. Er wies diese Idee instinktiv zurück. War er nicht gerade darum mit ihr so glücklich gewesen, weil sie verschieden war von ihm? Hatte er für dieses Glück, das sie ihm gegeben, nicht dankbar zu sein? Eine weiche, große Rührung überkam ihn. Er sah sie wie ein verirrtes, halb unverantwortliches Kind ... Dann stieg plötzlich, wie eine heiße Welle, der Haß wieder in ihm, auf. Er konnte es im Bett nicht mehr aushalten, er brachte fast den Atem nicht mehr herauf. Er setzte sich in den Fauteuil ans Fenster.

Er fühlte in seinem ganzen Wesen, daß er sie trotz allem entsetzlich liebte, daß er ihr mit jeder Faser seines Körpers, mit allen Qualen seines Herzens ausgeliefert war. Er wollte aufstehen, er hatte die Hände schon auf der Lehne des Stuhls. Da war ihm, als ob er eine Türe knarren hörte. Er erschrak, drehte nur etwas den Kopf, saß mit offenem Munde da. Die Halsader klopfte laut, er hörte vorerst nur dieses Klopfen, das ihm auf den Atem drückte und wie ein dumpfes Hämmern ins Gehirn drang. Dann hörte er wieder einen Laut. Es war deutlich das Geräusch einer Türe. Die vom Salon konnte es nicht sein, also war es die von Fernandes Schlafzimmer.

Es war jemand hinein oder hinaus gegangen. Es ging ihm ein Frösteln über das Genick. Wie mit einem unheimlichen Ruck war ihm alles vor das Gesicht gestellt. Er hatte ein Gefühl wie einer, dem man plötzlich etwas Schreckliches vor die Augen hält und der während einer Sekunde entsetzt zurück weicht.

Aber er stand plötzlich aufrecht, hielt die Hände in die Luft, schritt aus. Es war ihm, als ob er in Wolken ginge. Als ob von unten herauf eine Lähmung in ihn käme, verlor er jede Kraft und dennoch kam er vorwärts. Er stand mitten im Badezimmer, griff mit der rechten Hand aus, hielt einen Ständer, wo Frottiertücher hingen, rang nach Atem, glaubte niedersinken zu müssen, tappte sich vorwärts an die Wand, stellte sich mit gespreizten Fingern daran auf, indes es in seinem Gehirn schrie: »Ich muß hinüber ... ich werde ihn fassen, alle beide ... ich werde ...« Er keuchte, kam mit keinem Gedanken weiter, sah immer nur schreckliche, wahnsinnige Bilder.

Er schob sich vorwärts, verlor die Wand, stand plötzlich wie im Leeren, drehte sich, wußte nicht, wo er war, hörte wieder ein Knarren ... war es eine Türe, ein Fenster? Er wollte vorwärts stürzen, schlug mit der Stirn an eine Kante, die wie ein Messer war, glaubte Feuer zu sehen und fühlte nur noch, wie es langsam niederging, als ob das Parkett tiefer und tiefer sänke.

Es war ihm als ob er lange gelegen hätte, als er sich wieder aufrichtete. Er tastete das Gesicht, die Schläfe ab, er blutete jedenfalls nicht. Im Hotel war es still. Es war also noch Nacht. Auf den Knien rutschte er vorwärts, bekam einen Stuhl zu fassen, richtete sich auf, schlich sich der Wand entlang wieder ins Schlafzimmer zurück.

Jetzt, da er mit bebenden Knien auf dem Bettrand saß, kam es wie ein großes Entsetzen über ihn. Er fühlte dumpf, daß er sie trotz allem noch liebte. Er dachte: Sie könnte mir das Schlimmste, das Entsetzlichste antun, und ich käme nicht von ihr los ... nicht von ihr los ...

Dann umfingen sie seine Gedanken plötzlich wieder mit einer unendlichen Zärtlichkeit. Ihm war, als ob er sie um ihre Jugend, um ihr ganzes Leben betröge, da er sie an sich kettete, und zugleich konnte er sich keinen Morgen und keinen Abend mehr denken ohne sie ... Zuletzt befiel ihn eine große Niedergeschlagenheit, er überlegte: Ich bin nur noch ein halber Mensch, etwas Schweres und Hilfloses, gleich einem Block, den man irgendwohin gewälzt, liege ich da und warte, bis man mich weiter bringt. Und wieder dachte er: Ich müßte Mut haben, ich müßte so stark sein, um sie von all dem zu erlösen.

Er ging jetzt im Zimmer herum und zog sich an. Er suchte in seiner Reisetasche ein Lederetui. Darin war eine Mauserpistole. Mit einem Druck zog er das Magazin heraus. Er fühlte mit dem Zeigefinger die runden Stahlköpfe der Patronen, es waren noch vier darin. Er setzte sich wieder auf das Bett. Er wußte, daß er diesen Mut nie haben würde. Er dachte: Man kann über ein Feld kriechen, und tausend Kugeln rings um sich pfeifen hören, man kann im Dampf der Granaten liegen, aber dieses Ding an seine Schläfen setzen, das kann man nicht ... Er legte sich wieder in den Kleidern aufs Bett.

Sein ganzer Körper schmerzte ihn.

Er lag wach. Es dünkte ihn entsetzlich lang, bis der Morgen kam. Er griff von Zeit zu Zeit nach den Zeigern der Uhr, die auf dem Nachttisch stand. Die Straße erwachte, die ersten Trambahnen fuhren. Er dachte nur immer: »Wie soll das enden ... wie soll das enden ...?«

Er verfiel wieder in einen traumhaften Schlaf. Später hörte er, wie das Zimmermädchen den Tee in den Salon stellte. Die Tassen klirrten leise. Türen gingen. Dann kamen Tritte.

»Du hast die ganze Nacht so gelegen?« fragte Fernande erschrocken. Sie hatte wirklich etwas von Angst und Erstaunen in der Stimme.

»Ja,« sagte er. Es tat ihm wohl, daß er lügen konnte. Es kam ihm wie eine Vergeltung vor.

Sie hatte ihm die Hand auf die Stirne gelegt: »Aber du bist doch nicht krank ... du hast doch kein Fieber?« fragte sie wieder ganz entsetzt.

»Nein,« antwortete er kühl und trotzig. Sie schwieg. Sie schien offenbar gar nichts zu begreifen. »Was für eine Komödiantin,« überlegte er. Er hörte aus jedem Wort nur eine grausame Verlegenheit, die ihn anekelte. Eine leise und zugleich drohende Raserei stieg in seinen Nerven auf.

Er hörte, wie sie das Fenster schloß, sich auf einen Stuhl setzte.

Er sagte plötzlich: »Ich möchte dich um etwas bitten.« Es klang so verlegen, als ob er ihr ein Geständnis machen müßte ...

»Was ist es?« fragte sie. Er hatte sich aufgerichtet und auf den Bettrand gesetzt.

Plötzlich sagte er, und er wußte kaum, wie ihm das Wort aus dem Mund kam: »Ich gebe dich frei ...« Er schwieg. Es war ihm, als ob er die Erschütterung fühlte, die durch ihren Körper ging.

»Was sagst du?« kam es ganz tonlos aus ihrem Mund. Er hielt inne, hörte nur sein Blut, das ihm in einem dumpfen Hämmern an die Schläfen pochte: »Ja, ich gebe dich frei,« wiederholte er, nachdem er Atem geschöpft hatte.

»Ich verstehe dich nicht – erkläre dich!« sagte sie leise und enerviert.

»Ich weiß, daß du mich betrügst,« erwiderte er kühl und hart.

»Du bist wahnsinnig,« stammelte sie, »wie kannst du so etwas denken.« Er hörte, wie sie aufgestanden war, wie sie auf ihn zukommen wollte, wie sie plötzlich wieder still stand, als ob sie vor seinem Gesicht zurückschreckte. Dann jammerte sie: »Es ist ja nicht möglich ... wie kommst du nur auf so etwas?«

Er saß eingeknickt da. Er horchte in einer furchtbaren Spannung auf jeden Laut, der von ihr kam. Er fühlte zugleich eine riesengroße Befreiung in sich. Es tat ihm unsäglich wohl, daß jetzt alles ans Licht gezerrt wurde, was in ihm gewühlt und gebrannt hatte. Wie eine Wollust nach Wahrheit glühte in ihm auf. Er sagte langsam, fast feierlich und doch etwas entgeistert: »Aber ich will, daß du mir vorher ein Geständnis ablegst ...«

Sie antwortete leise und entsetzt: »Aber ich habe doch nichts verbrochen ... ich hab' doch nichts einzugestehen ...« Er hörte ihren gedämpften Tonfall. Es kam ihm vor, als ob ihr bange wäre, daß jemand ein Wort dieses Verhörs erhaschen könnte. Sie hatte natürlich ein Interesse, alles zu verbergen. Er fühlte, wie eine grausame harte Kraft in ihm wuchs. Es lag sonst nicht in seiner Natur, einen Menschen zu demütigen, aber er wollte, er mußte jetzt alles wissen. Zugleich war ihm, als ob er mit einer schrecklichen Waffe in seinem eigenen Fleisch wühlte. So entsetzlich schmerzte das. Sie schwieg jetzt. Er wußte nicht, ob es Ratlosigkeit oder Erschöpfung war.

Er sagte: »Ich werde natürlich nachher für dich sorgen ... aber sprich jetzt! ...« schrie er plötzlich auf. Er hörte gar nichts von ihr. Nicht einmal ihren Atem. Er bekam einen verächtlichen, hämischen Zug um den Mund. »Du willst mir natürlich trotzen,« hub er wieder an, »du denkst dir: der kann reden so lang er will ...« Seine Stimme widerhallte im Zimmer, es kam ihm selbst grotesk vor, wie er dies alles so vor sich hinschrie. Er hielt sich mit beiden Händen die Schläfen, er bat, er flehte: »Aber rede doch ein Wort ...«

Sie sagte langsam, milde: »Ich hab' dir doch nichts einzugestehen ... es ist ja wahnsinnig, was du dir da ausdenkst ...«

Er reckte den Kopf, schob die Unterlippe etwas vor und äußerte stolz und zugleich müde: »Du hältst mich vielleicht für kleinlich, du traust mir nicht zu, daß ich verstehen könnte, was zwischen einem Mann und einer Frau geschehen kann ... Oder zwischen einer Frau und Männern«, er sagte es leise und mit einer schmerzhaften Grimasse, dann fuhr er fort: »Glaubst du, ich halte mich für den einzigen, der von seiner Frau lächerlich gemacht worden ist?«

Er hörte ihre Stimme: »Ich schwöre dir, daß ich dich nie betrogen habe ...«

Er zuckte mit den Achseln: »In dieser Situation schwört eine Frau immer ...«

Sie stammelte bebend: »Du beschimpfst mich so entsetzlich ...« Er hörte sie leise schluchzen. Er lauschte etwas apathisch. Plötzlich raffte sie sich auf und begann zu reden, zu protestieren. Sie verteidigte sich mit ihrem ganzen Herzen, mit der ganzen Kraft ihres Gefühls. Er saß da, als ob er in eine starre Maske gehüllt wäre. Sie begann von neuem und mit aller Inbrunst. Wer es lag nicht in ihrem Wesen, pathetisch zu reden. Ihre Worte klangen unwillkürlich übertrieben.

Er hörte nur diese Übertreibung. Es klang ihm alles unwahr.

Er hatte beide Hände auf die Knie gelegt: »Gib es doch endlich auf, mich zu täuschen!« Bei jedem Wort bewegte er ruckweise den Kopf: »Daß du mich fortwährend so anlügst, ist ebenso entsetzlich wie das, was du getan hast ...«

»Ich bin müde,« sagte sie, »ich kann mich nicht länger mit dir streiten ...«

Er fuhr auf: »Bist du jetzt noch nicht fähig zu verstehen, was du getan hast?« Es schüttelte ihn, ein beißender würgender Schmerz kroch ihm in den Hals – seine Schultern begannen zu zucken, er schluchzte in einem tiefen unendlichen Weh, wie er als Junge laut und rückhaltlos geweint hatte.

Sie stürzte auf ihn zu, wollte ihn umschlingen, aber als ob ihn dies wieder zu sich brächte, stieß er sie zurück. Er hörte, wie sie sich wieder zum Fenster schleppte.

Er begann wieder bittend, flehentlich: »Gestehe mir alles ein ... wenn du mich je geliebt hast ... um unserer vergangenen Liebe willen, gestehe es mir ein ...«

Es kam kein Wort. Er dachte: ›Wie furchtbar, wie grauenhaft verschlagen sie diese Komödie weiter spielt.‹ Er sagte leise, ganz einfach und ernst: »Ich will deinem Glück nicht im Wege sein, glaube das nicht, aber sei einmal ehrlich – wenn du mich auch von Anfang an betrogen hast – sag' es mir – sei einmal ehrlich, wenn du noch etwas von Ehrfurcht in dir hast, vor dem, was zwischen uns war – laß mich nicht in diesem Zustand ...«

Er hörte nur, wie sie mutlos und schwer aufatmete ...

»Laß mich nicht in diesem Zustand!« schrie er wieder auf, »es ist unmenschlich – grauenhaft.«

»Du quälst dich mit Hirngespinsten,« warf sie jammernd ein. »Komm doch zur Vernunft.«

Er lachte leise und hämisch: »Natürlich, du wirst mich für verrückt erklären, du willst mich und die andern an meinem gesunden Verstand zweifeln lassen, aber du wirst es nicht vermögen – gib es auf, du wirst es nicht vermögen ...«

Sie stammelte entsetzt: »Wenn du wüßtest, wie ich dich liebe ...«

»Komödiantin!« stieß er abrupt heraus.

»Ich kann nicht mehr,« sagte sie plötzlich entschlossen. Er hörte, wie sie aufgestanden war. »Ruh' dich aus, komm zum Verstand, du weißt ja nicht, was du redest ...« Ihre Worte klangen ruhig und doch gereizt und zugleich schwang noch etwas mit, als ob sie all dieses Streites unendlich überdrüssig wäre.

Er hatte den Eindruck, als ob sie sich der Türe nähern wollte: »Wo willst du hin? ...«

»Hinüber,« sagte sie matt.

»Du wirst dieses Zimmer nicht verlassen, ehe du mir eine Antwort gegeben hast ...« Jeder Laut aus seinem Munde war zu einer Drohung geworden.

»Ich werde jetzt hinübergehen,« erklärte sie einfach bestimmt.

»Du wirst jetzt reden – ich verlange das von dir,« stöhnte er. Ein kühler Schauer stieg ihm das Rückgrat hinauf. Er fühlte deutlich, wie er ihm ins Gehirn rieselte, wie es dort zu glühen begann, wie es ihm leise über das Gesicht strömte – gleich einer Flamme schlug es vor ihm auf: »Bleib da!« keuchte er. Er hörte ihren Tritt, der ihm entgegenkam, und an ihm vorbei wollte. »Bleib da!« keuchte er wieder. Es klang wie ein wimmerndes, inbrünstiges Flehen.

Sie rückte einen Stuhl, der an der Wand stand –

»Sie will hinaus ... ich muß es verhindern,« zuckte es ihm durch die Schläfen. Er schnellte auf, griff mit den Armen, mit den Händen aus, – er lief nach der Türe – wußte nicht mehr, wo sie war, hörte sie seitwärts laut erregt atmen.

Plötzlich schrie sie: »Laß mich durch ...« Er fuhr wie ein Wahnsinniger mit den Händen durch die Luft, bekam den Tisch zu fassen, hatte plötzlich die Pistole in der Hand, umkrampfte sie, hob den Arm, als wollte er sie ihr ins Gesicht werfen ... dann knallte es plötzlich zwei ... dreimal – ein Schrei – eine Lampe zersplitterte ... ein Fall ... er hatte den Mund aufgerissen ... Als ob er mit rasender Geschwindigkeit in einen tiefen Schacht hinuntersauste, in eiskalte Luft, gefror ihm der Schweiß auf der Stirne: »Ich habe sie getötet –« durchflammte es ihn – »ich habe sie getötet – mag sie mich betrogen haben – was ist das, was bedeutet das – nichts ... nichts ... wenn sie nur noch lebte – himmlischer Vater – wenn sie nur noch lebte ...«

Er schlug sich die Hände vor das Gesicht, brach zusammen, Geräusch kam auf dem Korridor und plötzlich war ihm, als ob ihm etwas näher käme, als ob jemand auf den Knien vor ihm rutschte. Er stammelte: »Du lebst? ...« Da fühlte er, wie sie die Arme um ihn schlang, als ob sie ihn mit einer unendlichen, himmlischen Kraft umklammern wollte, ihre Lippen brannten auf den seinen, wie ein süßes, schwelendes Feuer. Dann flüsterte sie hingegeben und leise: »Ich liebe dich ...«


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