Casanova
Erinnerungen, Band 2
Casanova

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Zweiunddreißigstes Kapitel

Ich verlasse meinen Kerker. – Lebensgefahr auf dem Dach. – Ich verlasse den Dogenpalast, schiffe mich ein und gelange aufs Festland. – Pater Balbi bringt mich in große Gefahr. – Ich muß eine List anwenden, um mich für den Augenblick von ihm zu trennen.

Ich kroch zuerst hindurch, Balbi folgte mir. Soradaci, der uns bis an das Loch des Daches begleitet hatte, erhielt Befehl, die Bleiplatte wieder zurecht zu legen und hierauf zu seinem heiligen Franziskus zu beten. Ungeachtet des Nebels waren alle Gegenstände so ziemlich zu erkennen. Auf allen Vieren kriechend, packte ich mit fester Hand meinen Spieß, stieß ihn schräge in die Fuge zweier Bleiplatten und packte dann mit vier Fingern den Rand der von mir umgebogenen Platten. So kam ich allmählich bis an den First des Daches. Der Mönch, der mir folgte, hielt sich mit vier Fingern seiner rechten Hand an meinem Hosenbund fest. So befand ich mich in der unangenehmen Lage eines Lasttiers, das gleichzeitig ziehen und tragen muß, und noch dazu auf einem abschüssigen Dach, das von einem dichten Nebel schlüpfrig geworden war.

Als wir diesen gefahrvollen Aufstieg erst zur Hälfte hinter uns hatten, rief der Mönch mir zu, ich solle halten; eins von seinen Paketen habe sich losgelöst, er hoffe aber, daß es nicht über die Dachrinne hinausgerutscht sei. Mein erster Gedanke war, ihm einen Fußtritt zu versetzen und ihn hinter seinem Paket herzuschicken. Gottseidank beherrschte ich mich und tat es nicht; die Strafe wäre für beide Teile zu hart gewesen, denn mir allein hätte meine Flucht unmöglich gelingen können. Ich fragte ihn, ob es das Paket mit den Stricken sei, er antwortete mir jedoch, es sei sein eigenes Päckchen, worin sich ein von ihm auf dem Dachboden gefundenes Manuskript befinde, das ihm großen Gewinn bringen werde. Ich sagte ihm, diesen Verlust müsse er ertragen; ein Schritt zurück könne uns ins Verderben stürzen. Der arme Mönch seufzte, und wir kletterten weiter.

Nachdem wir mit außerordentlicher Anstrengung über fünfzehn oder sechzehn Platten hinaufgeklettert waren, kamen wir auf dem First an. Hier setzte ich mich bequem rittlings hin, und Pater Balbi machte es so wie ich. Wir saßen mit dem Rücken nach der kleinen Insel San Giorgio Maggiore, und hatten auf zweihundert Schritte vor uns die zahlreichen Kuppeln der Markuskirche, die zum herzoglichen Palast gehört; denn San Marco ist eigentlich nur die Kapelle des Dogen, und kein Monarch kann sich rühmen, eine schönere zu besitzen. Vor allen Dingen legte ich mein Bündel ab und forderte meinen Kameraden auf, das gleiche zu tun. Er legte seinen Pack Stricke so gut er konnte unter seine Schenkel; als er aber seinen Hut abnehmen wollte, der ihm lästig war, benahm er sich dabei ungeschickt; der Hut rollte von Platte zu Platte bis an die Dachrinne und folgte dem Kleiderpaket in den Kanal. Hierüber war mein armer Kamerad ganz verzweifelt, und er rief: »Böses Vorzeichen! Jetzt habe ich schon gleich im Anfang kein Hemd und keinen Hut mehr und habe noch dazu eine kostbare Handschrift verloren, die die interessante und gänzlich unbekannte Geschichte aller im Dogenpalast abgehaltenen Festlichkeiten enthielt.« Meine Wut hatte sich inzwischen gelegt, und ich sagte ihm ruhig: die beiden Unfälle hätten weiter nichts Außerordentliches an sich und könnten darum nur von einem abergläubischen Geist als böse Vorzeichen angesehen werden. Ich hielte sie nicht dafür und ließe mich durchaus nicht von ihnen entmutigen. »Sie müssen Ihnen, mein Lieber, zur Lehre dienen, daß Sie vorsichtig und vernünftig sind. Sie müssen daraus entnehmen, daß Gott uns ohne Zweifel beschützt; denn wäre Ihr Hut, statt nach der rechten Seite, nach der linken gefallen, so wären wir verloren gewesen, denn er wäre in den Palasthof gefallen. Dort hätten die Wachen ihn gefunden und dadurch notwendigerweise erkennen müssen, daß sich irgend jemand auf dem Dach befinden müßte. Und dann wären wir sofort wieder eingefangen gewesen. Nachdem ich einige Minuten lang nach rechts und links mich umgesehen hatte, sagte ich dem Mönch, er solle warten, bis ich zurückkäme, und sich nicht von der Stelle rühren. Nur meinen Spieß in der Hand haltend, ritt ich ohne Schwierigkeit den Dachfirst entlang. Fast eine Stunde lang untersuchte ich alle Dächer des Palastes, aber vergeblich; denn ich sah nirgends etwas, woran ich einen Strick hätte befestigen können. Ich war vollkommen ratlos. An den Kanal oder an den Palasthof war nicht zu denken, und die Kirche bot mir zwischen ihren Kuppeln nur tiefe Abgründe dar, die nach allen Seiten umschlossen waren. Um über die Kirche nach der Canonica zu gelangen, hätte ich über so abschüssige Dächer steigen müssen, daß ich keine Möglichkeit sah, diesen Weg zu wählen; denn natürlich verwarf ich sofort alles als unmöglich, was ich nicht für ausführbar hielt. Meine Lage erforderte kühnes Wagen, verbot aber jede Unvorsichtigkeit. Hier das Richtige zu treffen, war ungeheuer schwierig.

Ein Entschluß mußte gefaßt werden: ich mußte entweder in meinen Kerker zurückkehren, um ihn vielleicht nie wieder zu verlassen, oder ich mußte mich in den Kanal stürzen. Da mir nur die Wahl zwischen diesen beiden Möglichkeiten blieb, so mußte ich vieles dem Zufall überlassen und vor allen Dingen irgend etwas tun. Mein Blick fiel auf eine Dachluke nach der Kanalseite. Sie war von der Stelle, von der ich ausgegangen war, weit genug entfernt, um mir die Annahme zu gestalten, daß der von ihr erhellte Dachboden nicht zum Bereich der Gefängnisse gehörte. Sie mußte auf einen Dachboden über irgendeiner der Wohnungen des Palastes führen, deren Türen ich natürlich offen gefunden haben würde. Ich war fest überzeugt, daß die Diener des Palastes, sogar die der Dogenfamilie, wenn sie uns bemerkt hätten, uns bereitwillig unsere Flucht erleichtert haben würden. Ganz gewiß hätten sie uns nicht der Gewalt der Inquisitoren ausgeliefert, selbst wenn sie in uns die größten Staatsverbrecher erkannt haben würden. So verhaßt war die Inquisition in den Augen aller Venezianer.

Ich mußte nun diese Dachluke näher untersuchen. Indem ich mich vom First in grader Linie sachte herabgleiten ließ, befand ich mich bald rittlings auf dem kleinen Dach des Ausbaues. Mich mit beiden Händen am Rande festhaltend, streckte ich den Kopf vor und sah und fühlte ein kleines Gitter; hinter diesem befand sich ein Fenster mit Glasscheiben, die in Blei eingelassen waren. Das Fenster brachte mich nicht in Verlegenheit, aber das Gitter schien mir, so dünn es auch war, eine unüberwindliche Schwierigkeit darzubieten; denn ich glaubte es ohne Feile nicht beseitigen zu können, und ich hatte nur meinen Spieß.

Ich wußte nicht, was ich machen sollte, und begann den Mut zu verlieren, als plötzlich das einfachste und natürlichste Ereignis meine Seele wieder aufrichtete.

Philosophischer Leser, versetze dich bitte einen Augenblick in meine Lage! Stelle dir die Leiden vor, die ich fünfzehn Monate lang zu ertragen hatte; bedenke die Gefahren, denen ich auf einem Bleidach ausgesetzt war, wo die geringste falsche Bewegung mir mein Leben kosten konnte! Bedenke endlich, daß ich nur wenige Stunden vor mir hatte, um alle Schwierigkeiten zu besiegen, die bei jedem Schritt sich vermehren konnten; und bedenke, daß ich in dem doch sehr leicht möglichen Falle des Nichterfolges verdoppelte Strenge von Seiten eines ungerechten Tribunals erwarten mußte! Dann wird das Geständnis, das ich aufrichtig und wahrheitsgetreu dir machen will, mich in deiner Meinung nicht herabsetzen, besonders wenn du nicht vergissest, daß der Mensch in Unruhe und Not natürlich nicht halb so stark ist wie im Zustande unbekümmerter Ruhe.

Die Turmuhr von San Marco, die in diesem Augenblick Mitternacht schlug, befreite mich mit einem heftigen Stoß aus dem Zustande der Ratlosigkeit, der mich lähmte. Diese Glockenschläge erinnerten mich daran, daß in demselben Augenblick der Allerheiligentag begann und daß dieser Tag der Festtag meines Schutzheiligen sein mußte, wenigstens wenn ich einen hatte; und die Weissagung des Jesuiten, der mir die Beichte abgenommen hatte, kam mir in den Sinn. Besonders aber, ich will es gestehen, erhöhte meinen Mut und vermehrte tatsächlich meine körperlichen Kräfte das weltliche Orakel, das ich von meinem lieben Ariosto empfangen hatte:

Fra il fin d'ottobre è il capo di novembre.

Wenn ein großes Unglück zuweilen einen kleinen Geist fromm macht, so ist es fast unmöglich, daß der Aberglaube nicht dazu beiträgt. Der Klang der Turmuhr erschien mir als ein sprechender Talisman, der mich zum Handeln aufrief und mir den Sieg verhieß. Meiner ganzen Länge nach ausgestreckt, den Kopf gegen das Gitter geneigt, stieß ich meinen Spieß in den Rahmen, in den es eingelassen war, und beschloß diesen ganz loszubrechen. In einer Viertelstunde gelang mir dies. Das Gitter befand sich unversehrt in meinen Händen, und ich legte es neben die Dachluke. Ohne Schwierigkeit zertrümmerte ich nun das Dachfenster, obgleich ich mir an der linken Hand eine stark blutende Verletzung zugezogen hatte. Mit Hilfe meines Spießes gelangte ich auf die vorhin beschriebene Art wieder auf den First und kehrte auf diesem an die Stelle zurück, wo ich meinen Kameraden zurückgelassen hatte. Ich fand ihn in wütender Verzweiflung. Er sagte mir die gröbsten Beleidigungen, weil ich ihn so lange allein gelassen hätte, und erklärte, er hätte nur bis Schlag ein Uhr gewartet, um in sein Gefängnis zurückzukehren.

»Was dachten Sie denn von mir?«

»Ich glaubte, Sie seien in irgend einen Abgrund gestürzt.«

»Und Ihre Freude, die Sie doch darüber empfinden müssen, daß Sie mich wiedersehen, spricht sich nur in Beleidigungen aus?«

»Was haben Sie denn so lange gemacht?«

»Kommen Sie mit, Sie werden sehen!«

Ich lud mir meine Pakete wieder auf und machte mich auf den Weg nach der Dachluke. Als wir uns dieser gegenüber befanden, berichtete ich Balbi genau über alles, was ich getan hatte, und beriet mich mit ihm, wie wir auf den Dachboden gelangen könnten. Dies war leicht für einen von uns, denn der andere konnte ihn an dem Strick herunter lassen; aber ich sah keine Möglichkeit, wie nachher der Zweite ihm folgen könnte, da der Strick sich nicht am Eingang der Dachluke befestigen ließ. Wenn ich einstieg und hinuntersprang, konnte ich Arme und Beine brechen, denn die Entfernung von der Dachluke bis zum Fußboden war mir unbekannt. Als ich ihm dies vernünftige Bedenken im freundlichsten Ton vorgestellt hatte, antwortete der Mensch mir: »Lassen Sie mich nur einstweilen hinunter, wenn ich unten bin, haben Sie Zeit genug, darüber nachzudenken, wie Sie mir folgen können.«

Ich gestehe, daß ich in der ersten Entrüstung in Versuchung war, ihm meinen Spieß in die Brust zu stoßen. Ein guter Geist hielt mich zurück, und ich warf ihm mit keinem einzigen Wort seine niedrige Selbstsucht vor, sondern öffnete sofort mein Paket mit den Stricken. Nachdem ich ihm den Strick unter den Achseln fest um die Brust geschnürt hatte, ließ ich ihn mit den Füßen nach unten sich platt auf den Bauch legen und herunterrutschen, bis er auf der Dachluke ankam. Als er so weit war, sagte ich ihm, er solle bis ans Gesäß sich in die Öffnung hinunterlassen und sich mit den Händen am Rand festhalten. Als er dies getan hatte, rutschte ich wie früher über das Dach herunter, legte mich lang auf die Dachluke hin, zog den Strick straff an und sagte dem Mönch, er solle sich nun ohne Furcht loslassen. Unten angekommen, band er den Strick los; ich zog diesen hinauf und fand, daß die Höhe mehr als fünfzig Fuß betrug. Dies war zuviel, um den gefährlichen Sprung zu wagen. Des Mönches war ich nunmehr sicher. Er hatte fast zwei Stunden angstvoll auf dem Dachfirst verbracht, in einer, wie ich zugeben will, nicht eben Vertrauen erweckenden Lage. Er rief mir zu, ich solle ihm nur die Stricke herunter werfen; er wolle dann schon für das Weitere sorgen. Natürlich hütete ich mich, diesen dummen Rat zu befolgen. Ich wußte nicht, was ich anfangen sollte. Auf eine Eingehung wartend, kletterte ich einstweilen nach dem Dachfirst zurück. Mein Blick fiel auf eine Stelle neben einer Kuppel, die ich noch nicht besucht hatte, und ich machte mich dorthin auf den Weg. Ich sah eine mit Bleiplatten bedeckte ebene Terrasse neben einer großen Dachluke mit zwei verschlossenen Läden. Auf dieser Terrasse stand ein Trog mit fertigem Mörtel, Mauergerät und eine Leiter, die mir lang genug zu sein schien, um auf ihr nach dem Dachboden hinunter steigen zu können, wo mein Kamerad mich erwartete. Dies genügte mir, um meinen Entschluß zu fassen. Ich befestigte meinen Strick an der ersten Sprosse und schleppte die unbequeme Last bis an die Dachluke. Nun galt es aber, die schwere Leiter, welche zwölf von meinen KlafternDa Casanova 1,75m groß war, also ebensoweit klafterte, wären dies 21 m gewesen. Die Kritiker, nach deren Meinung Casanova sich bei der Schilderung seiner Flucht einiger Übertreibungen schuldig gemacht haben soll, haben auch die Länge dieser Leiter beanstandet. Ich sehe wirklich nicht ein, warum. Wenn die Leiter Casanova überhaupt etwas nützen sollte, mußte sie mindestens zwanzig Meter lang sein, da die Entfernung von der Dachluke bis zum Fußboden mehr als fünfzig Fuß betrug. Übrigens scheint mir bei den außerordentlichen Verhältnissen des Dogenpalastes das Vorhandensein einer so langen Mauerleiter durchaus nichts Merkwürdiges zu haben; die Höhe des Daches betrug 28m. lang war, in die Luke hineinzubringen. Die Schwierigkeiten, die mir dies machte, ließen mich bedauern, daß ich mich der Hilfe des Mönches beraubt sah.

Ich hatte die Leiter so weit geschleppt, daß das eine Ende die Luke berührte, während sie um ein Drittel ihrer Länge über die Dachrinne hinausragte. Ich ließ mich bis auf die Luke herabgleiten, zog seitwärts die Leiter an mich heran und befestigte das Ende meines Strickes an ihrer achten Sprosse. Hierauf ließ ich sie wieder so weit hinunter, bis ihre Spitze sich unmittelbar neben der Luke befand. Ich bemühte mich nun, sie in diese hineinzubringen, aber es war mir unmöglich, sie weiter als bis zur fünften Sprosse eindringen zu machen; denn ihre Spitze stieß innen gegen das Dach der Luke an, und keine Kraft auf der ganzen Welt hätte sie tiefer hineingebracht, ohne entweder die Dachluke oder die Leiter zu zerbrechen. Hiergegen gab es nur ein einziges Mittel: ich mußte sie am anderen Ende lüpfen; durch die Neigung konnte die Spitze an dem Hindernis vorbeigelangen, und dann mußte die Leiter durch ihr eigenes Gewicht nach unten gleiten. Ich hätte allerdings die Leiter quer legen und meinen Strick an ihr befestigen können, um ohne Gefahr an ihr herabzugleiten. Aber dann wäre die Leiter dort liegen geblieben und hätte am anderen Morgen den Sbirren und Lorenzo den Ort verraten, wo wir uns vielleicht noch befunden hätten.

Ich wollte es nicht riskieren, durch eine Unvorsichtigkeit die Frucht so vieler Mühen und Gefahren zu verlieren; um alle Spuren zu beseitigen, mußte die Leiter ganz und gar verschwinden. Da niemand da war, um mir zu helfen, entschloß ich mich, selber bis zur Dachrinne hinunterzusteigen, um die Leiter hochzuheben, und so meinen Zweck zu erreichen. Dies tat ich denn auch, aber unter so großer Gefahr, daß ich es nur einer Art von Wunder verdankte, wenn ich für meine Waghalsigkeit nicht mit dem Leben büßte. Ich ließ den Strick los, ohne mich weiter um die Leiter zu bekümmern; denn ich brauchte nicht zu befürchten, daß sie in den Kanal fallen würde; sie hing nämlich mit der dritten Sprosse an der Dachrinne fest. Meinen Spieß in der Hand, ließ ich mich nun bis zur marmornen Dachrinne heruntergleiten. Ich berührte diese mit meinen Fußspitzen, während ich platt auf dem Bauch lag. In dieser Stellung konnte ich mit Aufgebot aller Kraft die Leiter unten um einen halben Fuß anheben und sie zugleich vorwärts stoßen. Zu meiner großen Freude sah ich, daß sie um einen Fuß tiefer in die Dachluke eingedrungen war. Der Leser wird begreifen, daß hierdurch ihr Gewicht sich beträchtlich verminderte. Es galt nun, sie noch um zwei Fuß weiter hineinzubringen, indem ich sie um ebensoviel emporhob; denn sobald dies geschehen war, brauchte ich mich nur wieder auf das Dach der Luke zu legen, um mit Hilfe des Stricks die ganze Leiter hineinzubringen. Um sie nun soweit emporzuheben wie es nötig war, richtete ich mich auf meinen Knien auf. Aber infolge der Kraftanstrengung glitt ich aus und befand mich nur noch mit der Brust und den beiden Ellenbogen auf dem Dach.

Entsetzlicher Augenblick! Noch jetzt schaudere ich bei der Erinnerung daran, und es ist dem Leser vielleicht nicht möglich, ihn sich in seiner ganzen Furchtbarkeit vorzustellen. Im Selbsterhaltungstriebe bot ich fast unbewußt alle meine Kräfte auf, um mich festzuhalten, und es glückte mir, ich möchte fast sagen: durch ein Wunder. Ich verlor keinen Augenblick die Kaltblütigkeit, und es gelang mir endlich, indem ich die ganze Kraft meiner Arme aufbot, mich hochzustemmen, so daß nunmehr mein Körpergewicht auf den Handgelenken ruhte, während ich mich zugleich auf den Unterleib aufstützte. Um die Leiter brauchte ich mir glücklicherweise keine Sorgen mehr zu machen, denn bei der ungeheuren Kraftanstrengung, die mir beinahe so teuer zu stehen gekommen wäre, hatte ich das Glück gehabt, sie um drei Fuß tiefer in die Dachluke hineinzustoßen, so daß sie nun unbeweglich feststand.

Indem ich mich also auf meine Handgelenke und auf die Leistengegend zwischen Unterleib und Schenkeln aufgestützt am Rande der Dachrinne festhielt, sah ich, daß ich außer aller Gefahr sein würde, wenn ich mein rechtes Bein hochheben und erst das eine, dann das andere Knie auf die Dachrinne bringen könnte. Aber meine Leiden waren noch nicht zu Ende. Infolge der Anstrengung zogen sich meine Sehnen so stark zusammen, daß ein überaus schmerzhafter Krampf mich an allen Gliedern lähmte. Ich verlor jedoch nicht den Kopf, sondern hielt mich unbeweglich, bis der Anfall vorüber war: ich wußte, daß dies das beste Mittel gegen den Krampf ist, denn ich habe es oft an mir selber erprobt. Wie entsetzlich war dieser Augenblick! Nach zwei Minuten erneuerte ich ein wenig meine Anstrengungen und erreichte glücklich mit beiden Knien die Dachrinne. Nachdem ich Atem geschöpft hatte, hob ich vorsichtig die Leiter empor, bis sie endlich parallel mit dem kleinen Dach der Luke schwebte. Dies genügte mir, da mir die Gesetze des Gleichgewichts und des Hebels genügend bekannt waren. Ich nahm meinen Spieß wieder zur Hand und kletterte in gleicher Weise zur Dachluke empor. Mit Leichtigkeit brachte ich nun die ganze Leiter hinein, deren Ende mein Kamerad mit seinen Armen auffing. Ich warf meine Kleider, die Stricke und die Trümmer des ausgebrochenen Gitterrahmens auf den Boden und stieg auf der Leiter hinunter. Der Mönch empfing mich voller Freuden und brachte die Leiter auf die Seite. Mit den Armen umhertastend, untersuchten wir nun den dunklen Ort, an dem wir uns befanden; er war etwa dreißig Schritte lang und zwanzig Schritte breit.

An dem einen Ende fanden wir eine Doppeltür, die aus eisernen Stäben bestand; dies war ein übles Vorzeichen. Als ich aber meine Hand auf die in der Mitte befindliche Klinke legte, gab diese dem Druck nach, und die Türe öffnete sich. Wir gingen zunächst an den Wänden entlang um den neuen Raum herum; als wir ihn aber durchqueren wollten, stießen wir auf einen großen Tisch, der von Stühlen und Lehnsesseln umgeben war. Wir gingen nach der Stelle zurück, wo wir Fenster gefunden hatten, und öffneten eines von diesen. Aber wir bemerkten beim Schimmer der Sterne nur Abgründe zwischen den Kuppeln des Doms. Ich dachte nicht einen Augenblick daran, hier herabzusteigen. Denn der Ort, wo ich mich befand, war mir unbekannt, und ich wollte wissen, wohin ich geriete. Ich machte das Fenster wieder zu; wir verließen den Saal und gingen nach dem Ort zurück, wo wir unser Gepäck hatten liegen lassen. Über alle Maßen körperlich und geistig erschöpft, ließ ich mich auf den Fußboden sinken; ich schob mir ein Paket Stricke unter den Kopf, und ein sanfter Schlummer bemächtigte sich meiner Sinne. Ich überließ mich ihm völlig willenlos; es wäre nur unmöglich gewesen, dem Schlaf zu widerstehen, selbst wenn ich gewußt hätte, daß er mir das Leben kosten würde. Ich erinnere mich noch jetzt sehr gut, welch ein wonniges Gefühl es für mich war, als ich einschlief.

Ich schlief drei und eine halbe Stunde lang. Das Geschrei und das heftige Rütteln des Mönches vermochten mich kaum zu erwecken. Er sagte mir, es habe soeben fünf Uhr geschlagen und es sei ihm unbegreiflich, wie ich in der Lage, in der wir uns befänden, schlafen könnte. Ihm war das unbegreiflich, mir aber nicht: mein Schlaf war nicht freiwillig gewesen; ich hatte nur meiner erschöpften Natur nachgegeben und lag sozusagen in den letzten Zügen. Meine Erschöpfung konnte nicht überraschen: seit zwei Tagen hatte ich vor Aufregung nichts essen und kein Auge schließen können, und die Anstrengungen, die ich hatte machen müssen, gingen üher das hinaus, was ein Mensch unter gewöhnlichen Umständen leisten kann. Sie würden genügt haben, um auch die Kräfte eines jeden anderen Menschen vollkommen zu erschöpfen. Übrigens hatte dieser wohltätige Schlaf mir meine alte Kraft zurückgegeben, und in der Zwischenzeit war, wie ich mit großer Freude sah, die Dunkelheit so weit gewichen, daß wir zuversichtlicher und schneller handeln konnten.

Sobald ich mich umgesehen hatte, rief ich aus: »Dieser Ort ist kein Gefängnis; es muß hier einen leicht zu findenden Ausgang geben.« Wir gingen nun nach der Wand, die der eisernen Tür gegenüberlag, und ich glaubte in einem sehr engen Winkel eine Tür zu erkennen. Ich betastete sie mit den Fingern und fand endlich ein Schlüsselloch. In dieses stieß ich meinen Spieß hinein und sprengte mit drei oder vier Stößen das Schloß. Wir betraten eine kleine Kammer, wo ich auf einem Tisch einen Schlüssel fand. Ich versuchte diesen an einer gegenüberliegenden Türe, drehte ihn herum, und fand, daß das Schloß offen war. Ich legte den Schlüssel wieder auf den Tisch, wo ich ihn gefunden hatte, und bat den Mönch, unsere Pakete zu holen. Dann verließen wir das Zimmer und befanden uns in einem Gange, worin Nischen ganz mit Papieren angefüllt waren. Es waren Archive. Ich entdeckte eine kleine, steinerne Treppe und ging diese hinunter; ich fand eine andere, ging diese ebenfalls hinunter und stieß auf eine Glastür. Diese öffnete ich und befand mich plötzlich in einem Saale, den ich kannte. Ich öffnete ein Fenster. Es wäre mir leicht gewesen herauszuklettern; aber dann hätte ich mich in dem Labyrinth der kleinen Höfe befunden, die die Markuskirche umgeben. Um Gottes willen nur nicht eine solche Torheit!

Auf einem Schreibtisch sah ich ein eisernes Werkzeug mit runder Spitze und hölzernem Griff. Es diente dem Sekretär der Kanzlei dazu, die Pergamente zu durchbohren, um mittels eines Fadens das Bleisiegel anzuhängen. Ich nahm das Instrument an mich. Ich öffnete den Schreibtisch und fand die Abschrift eines Briefes, worin dem Provveditore von Korfu die Absendung von dreitausend Zechinen zur Ausbesserung der Festung gemeldet wurde. Ich suchte die Zechinen; sie waren nicht da. Gott weiß, mit welchem Vergnügen ich mich ihrer bemächtigt hätte, und wie ich den Mönch ausgelacht hätte, wenn er mich beschuldigt haben sollte, dadurch einen Diebstahl zu begehen. Ich hätte diese Summe als ein Geschenk vom Himmel angesehen, und hätte mich ganz aufrichtig nach dem Rechte des Eroberers als ihren Eigentümer betrachtet.

Ich ging an die Tür der Kanzlei und steckte meinen Spieß in das Schlüsselloch. Aber in weniger als einer Minute erlangte ich die Gewißheit, daß es mir unmöglich sein würde, das Schloß zu sprengen, und nun entschloß ich mich schnell ein Loch durch den einen Türflügel zu brechen. Ich suchte mir die Stelle aus, wo das Holz am wenigsten Äste hatte. Schnell ging ich ans Werk und bohrte und spaltete mit schnellen Stößen meines Spießes das Holz, so gut ich konnte. Der Mönch half mir nach Kräften mit der dicken Ahle, die ich auf dem Schreibtische gefunden hatte. Aber er zitterte bei dem hallenden Lärm, den mein Spieß hervorbrachte, so oft ich ihn in das Holz stieß, und den man auf weite Entfernung hören mußte. Ich fühlte recht wohl die große Gefahr, aber es blieb mir nichts anderes übrig, als es darauf ankommen zu lassen.

Nach einer halben Stunde war das Loch groß genug, und dies war gut für uns; denn es wäre mir schwierig gewesen, es ohne eine Säge noch größer zu machen. Die Ränder dieses Loches sahen grausig aus; denn die starrten von Spitzen, an denen man sich die Kleider und die Glieder zerreißen konnte. Das Loch befand sich fünf Fuß über dem Boden. Wir stellten unter das Loch zwei Schemel nebeneinander und stiegen hinauf.

Der Mönch kroch mit gekreuzten Armen und dem Kopf voraus in das Loch hinein; ich hielt ihn zuerst an den Schenkeln, dann an den Füßen fest, und es gelang mir, ihn durchzustoßen. Daß das Zimmer, in welches die Tür führte, dunkel war, machte mir keine Sorgen; denn ich kannte die Örtlichkeit. Als mein Kamerad draußen war, warf ich ihm unsere Decken zu; nur die Stricke ließ ich liegen. Dann setzte ich einen dritten Schemel auf die beiden ersten und stieg hinauf, so daß nunmehr das Loch sich in der Höhe meiner Schenkel befand. Ich kroch bis zum Unterleib hinein, obgleich mir dies große Schwierigkeiten machte, weil das Loch sehr eng war, weil ich keinen Stützpunkt für meine Hände hatte und weil mich niemand von hinten schieben konnte, wie ich den Mönch hindurchgeschoben hatte; ich sagte Balbi, er solle mich um den Leib packen und ohne Rücksicht an sich ziehen, wenn ich auch dabei in Fetzen ginge. Er gehorchte, und ich besaß die Sündhaftigkeit, den furchtbaren Schmerz zu ertragen, den mir die spitzigen Zacken des Holzes bereiteten, indem sie mir die Flanken und Schenkel zerrissen, so daß das Blut herunterströmte.

Als ich endlich glücklich draußen war, nahm ich schnell mein Paket an mich, stieg zwei Treppen hinunter und öffnete ohne Schwierigkeit die Tür des Ganges, der zu der großen Tür der Königstreppe führt und neben welchem sich das Kabinett des Savio alla scrittura oder Kriegsministers befindet. Diese große Tür war verschlossen, wie es die des Archivsaales gewesen war, und ich sah auf den ersten Blick, daß ich ohne eine Ramme oder eine Sprengpatrone gegen diese Tür nichts ausrichten konnte. Mein Spieß, den ich in der Hand hatte, schien mir zu sagen: Hier ist es zu Ende, ich kann dir nichts mehr nützen; du kannst mich fortwerfen. Der Spieß war das Werkzeug meiner Freiheit; ich liebte ihn; er war würdig, als Dankopfer über dem Altar der Freiheit und Erlösung zu hängen. Darum behielt ich ihn.

Vollkommen ruhig und gefaßt setzte ich mich auf einen Stuhl und sagte zum Mönch:

»Setzen Sie sich ebenfalls! Mein Werk ist zu Ende; Gott oder das Glück müssen das übrige tun:

Abbia, chi regge il ciel cura del resto,
o la fortuna, se non tocca a lui.

Laß für den Rest des Himmels Lenker sorgen
Oder das Glück, wenn es nicht Ihn bekümmert.

Ich weiß nicht, ob die Leute des Palastes heute, am Allerheiligentage und morgen, am Allerseelentage, zum Ausfegen kommen werden. Wenn einer kommt, so laufe ich hinaus, sobald die Tür sich öffnet, und Sie müssen mir auf dem Fuße folgen. Wenn aber niemand kommt, so rühre ich mich nicht von hier; und wenn ich vor Hunger sterben sollte, so ist eben nichts dabei zu machen.«

Über diese Worte geriet der arme Mönch in eine fürchterliche Wut. Er nannte mich einen hirnverbrannten Narren, einen Verführer, Betrüger, Lügner; dies rührte mich nicht, ich ließ ihn schimpfen. Plötzlich schlug es sechs Uhr. Seit meinem Erwachen auf dem Dachboden war nur eine Stunde vergangen.

Am wichtigsten war es nun für mich, mich völlig umzukleiden. Pater Balbi sah wie ein Bauer aus, aber er war unversehrt; seine Kleider waren nicht wie die meinigen zersetzt und mit Blut bedeckt; seine Weste von rotem Flanell und seine Hose von violettem Leder waren heil. Ich dagegen sah erbarmungswürdig aus – blutüberströmt und in ganz zerlumpten Kleidern. Über meinen Knien bluteten zwei tiefe Schrammen, die ich mir an der Dachrinne gerissen hatte; das Loch in der Kanzleitür hatte mir Weste, Hemd, Hosen, Hüften und Schenkel zerfetzt. Überall hatte ich fürchterliche Schrammen. Ich zerriß einige Taschentücher und verband mich damit, so gut es ging. Dann zog ich meinen schönen Anzug an, in welchem ich an dem kalten Herbsttage ziemlich komisch aussehen mußte. Ich ordnete meine Haare, so gut es eben gehen wollte, in meinen Haarbeutel, zog weiße Strümpfe an, legte in Ermangelung eines anderen ein Spitzenhemd an und zog noch zwei andere darüber. Taschentücher und Strümpfe steckte ich in meine Taschen und alles übrige warf ich in eine Ecke. Meinen schönen Mantel hängte ich dem Mönch um die Schultern, und der gute Mann sah aus, wie wenn er ihn gestohlen hätte. Ich mußte aussehen wie ein Kavalier, der einen Ball mitgemacht, hierauf die Nacht an einem schlechten Ort verbracht hatte und dort etwas zerzaust worden war. Nur die Verbände an meinen Knien, die man sah, stimmten nicht zu meiner etwas unangebrachten Eleganz.

In diesem eleganten Aufzug, meinen schönen Hut mit spanischer Goldspitze und weißer Feder auf dem Kopf, trat ich an ein offenes Fenster. Einige Faulenzer, die (wie ich zwei Jahre später in Paris erfuhr) sich zufällig im Hof des Dogenpalastes befanden und sich wunderten, daß ein so vornehm gekleideter Herr wie ich zu solcher Stunde dort oben sein könnte, gingen zu dem Mann, der den Schlüssel zu diesem Saal hatte, und sagten ihm Bescheid. Er glaubte, er hätte vielleicht am Tage vorher jemand eingeschlossen, holte seinen Schlüssel und kam herauf. Ich ärgerte mich, daß ich mich am Fenster gezeigt hatte. Ich wußte nicht, daß gerade dies das größte Glück für mich war. Ich setzte mich wieder neben den Mönch und ließ mich von ihm ausschelten, als plötzlich ein Klirren von Schlüsseln an mein Ohr drang. Ganz aufgeregt sprang ich auf und spähte durch eine schmale Ritze, die sich glücklicherweise zwischen den beiden Türflügeln befand. Ich sah einen einzelnen Mann, ohne Hut, nur mit einer Perücke auf dem Kopf; er stieg langsam, einen großen Schlüsselbund in der Hand haltend, die Treppe herauf. Ich sagte dem Mönch in sehr ernstem Ton, er solle nicht den Mund auftun, sondern hinter mich treten und mir sofort folgen. Meinen Spieß hielt ich in der rechten Hand unter meinem Rock verborgen. Ich trat nun so vor die Tür, daß ich hinauskonnte, sobald sie geöffnet wurde. Ich betete zu Gott, daß der Mann mir keinen Widerstand leisten möchte; denn in diesem Fall hätte ich mich genötigt gesehen, ihn niederzustoßen, und dazu war ich entschlossen.

Die Tür ging auf. Bei meinem Anblick stand der arme Mann wie versteinert da. Ohne mich aufzuhalten, ohne ein Wort zu sagen, machte ich mir seine Verblüffung zunutze und lief schnell die Treppe hinunter, der Mönch hinter mir her. Mit schnellen Schritten, aber nicht wie ein Fliehender, wandte ich mich nach der prachtvollen sogenannten Riesentreppe, ohne auf Balbi zu hören, der mir unaufhörlich zurief: »In die Kirche! in die Kirche!« Die Kirchentür war nur zwanzig Schritt von der Treppe entfernt; aber die Kirchen boten in Venedig verfolgten Verbrechern schon längst keine Sicherheit mehr, und deshalb nahm kein Mensch seine Zuflucht dorthin. Der Mönch wußte dies, aber in der Angst vergaß er es. Später sagte er mir, er habe mich nur deshalb aufgefordert, in die Kirche einzutreten, weil ihn ein religiöses Gefühl zum Altar hingezogen habe.

»Warum sind Sie nicht allein hineingegangen?«

»Ich wollte Sie nicht verlassen.«

Er hätte lieber sagen sollen: ich wollte Sie nicht verlieren. Die Sicherheit, die ich suchte, lag jenseits der Grenzen der Durchlauchtigsten Republik, und dorthin hatte ich den Weg nunmehr angetreten. Im Geiste war ich schon da. Aber es galt auch noch körperlich dahin zu gelangen. Ich ging geraden Weges durch die Königstür des Dogenpalastes. Ohne einen Menschen anzusehen – dies ist das beste Mittel, um nicht beachtet zu werden – ging ich über den kleinen Markusplatz bis an das Ufer, bestieg die erste beste Gondel und sagte dem Gondoliere, der auf dem Hinterteil stand, ganz laut: »Ich will nach Fusina; rufe schnell noch einen zweiten Ruderer.« Es war einer ganz in der Nähe, und während die Gondel losgemacht wurde, warf ich mich auf das Mittelpolster, der Mönch dagegen setzte sich auf die Seitenbank. Die sonderbare Gestalt Balbis, ohne Hut und mit einem schönen Mantel auf den Schultern, dazu mein unzeitgemäßer Anzug, das alles mußte die Leute auf den Gedanken bringen, ich sei ein Scharlatan oder ein Astrologe.

Sobald wir um das Zollhaus herumgefahren waren, begannen die Schiffer kräftig den Kanal der Giudecca entlang zu fahren, durch den man hindurch muß, um nach Fusina oder nach Mestre zu gelangen, wohin ich in Wirklichkeit wollte. Als wir über die Hälfte des Kanals hinaus waren, streckte ich den Kopf zum Fenster hinaus und fragte den hinteren Gondoliere: »Glaubst du, daß wir vor sieben Uhr in Mestre sind?«

»Aber, Herr, Sie haben gesagt, Sie wollten nach Fusina.«

»Du bist verrückt; ich habe gesagt: nach Mestre.«

Der zweite Schiffer sagte mir, ich irrte mich, und mein dummer Mönch, als eifriger Christ und großer Freund der Wahrheit, wiederholte natürlich, ich hätte unrecht. Ich hatte Lust, ihm einen Fußtritt zu versetzen, zur Strafe für seine fürchterliche Dummheit; dann aber fiel mir ein, daß ja nicht jeder gescheit ist, der es gerne sein möchte. Ich lachte hell auf und gab zu, ich könnte mich vielleicht geirrt haben, in Wirklichkeit hätte ich aber die Absicht, nach Mestre zu fahren. Ich bekam keine Antwort; aber einen Augenblick später sagte der Gondelführer zu mir, er sei bereit, nach England zu fahren, wenn ich wollte.

»Bravo! Also nach Mestre.«

»Wir werden in drei Viertelstunden dort sein, denn Wind und Flut sind uns günstig.«

Sehr zufrieden sah ich auf den Kanal zurück, der mir nie zuvor so schön erschienen war, besonders weil nicht ein einziges Boot hinter uns her fuhr. Der Morgen war herrlich, die Luft rein, die Sonne sandte uns ihre ersten wunderschönen Strahlen, und meine beiden jungen Schiffer ruderten kräftig und gewandt. Und als ich nun an die entsetzliche Nacht dachte, die ich durchgemacht, an die Gefahren, denen ich entronnen war, an den Ort, wo ich noch den Tag vorher ein Gefangener gewesen war, ferner an alle Fügungen des Zufalls, die mir günstig gewesen waren, und an die Freiheit, die ich eben zu genießen begann und die in ihrem vollen Glanze vor mir war – da überwältigte mich Dankbarkeit gegen Gott, der Überschwang der Gefühle erstickte mich fast, und ich brach in Tränen aus.

Mein wunderbarer Kamerad, der bis dahin kein Wort gesagt hatte, als daß er den Schiffern recht gegeben hatte, glaubte mich trösten zu müssen. Er täuschte sich über die Ursache meiner Tränen, und die ungeschickte Art, wie er sich bei seinen Tröstungsversuchen benahm, hatte zur Folge, daß meine köstlichen Tränen in ein eigentümliches Lachen übergingen, das ihn auf eine andere, ebenso falsche Vermutung brachte: er glaubte, ich wäre wahnsinnig geworden. Der arme Mönch war dumm, wie ich bereits gesagt habe, und boshaft war er nur, weil er dumm war. Ich hatte mich in der harten Notwendigkeit befunden, mir seine Dummheit zunutze zu machen, aber er hätte mich durch sie beinahe ins Verderben gestürzt, wenn gleich ohne böse Absicht. Es war mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß ich den Schiffern, in der Absicht nach Mestre zu gehen, befohlen hätte, nach Fusina zu gehen; er sagte mir, dieser Gedanke könnte mir erst auf dem Kanal gekommen sein.

Wir kamen in Mestre an. Auf der Post fand ich keine Pferde; aber im »Gasthof zur Glocke« waren eine Menge Fuhrleute, mit denen man ebenso gut fährt. Mit einem von ihnen machte ich ab, daß er mich in fünf Viertelstunden nach Treviso fahren sollte. In drei Minuten waren die Pferde eingespannt; in der Annahme, daß Balbi hinter mir stände, drehte ich mich um und sagte: »Steigen Sie ein.« Aber er war nicht da. Ich befahl einem Hausknecht, ihn herbeizuholen, und nahm mir vor, ihn tüchtig auszuscheren, selbst wenn er genötigt gewesen sein sollte, ein Bedürfnis zu befriedigen. Denn wir befanden uns in einer Lage, daß wir alle Bedürfnisse unterdrücken mußten, selbst solche der natürlichsten Art. Der Stallknecht kam zurück und sagte, er könnte den Mönch nicht finden. Ich war wütend. Ich dachte daran, ihn einfach im Stich zu lassen. Ich hätte es tun müssen; nur ein Gefühl der Menschlichkeit hielt mich davon ab. Ich steige wieder aus und erkundige mich; jedermann hat ihn gesehen, aber kein Mensch kann mir sagen, wo er ist oder wo er sein mag. Ich eile die Lauben der Hauptstraße hinunter, stecke instinktmäßig den Kopf zum Fenster eines Kaffeehauses hinein und sehe den unglückseligen Mönch am Schenktisch stehen, Schokolade trinken und mit der Kellnerin schäkern. Er sieht mich, zeigt mir das Mädchen, sagt mir, sie sei hübsch, und fordert mich auf, ebenfalls eine Tasse Schokolade zu trinken. Zugleich bittet er mich, für ihn zu bezahlen, denn er habe keinen Soldo bei sich. Ich unterdrücke meine Entrüstung und sage zu ihm: »Ich will keine, beeilen Sie sich!« Zugleich kneife ich ihn in den Arm, daß er vor Schmerz ganz blaß wird. Ich bezahle, und wir gehen.

Ich zitterte vor Wut.

Wir kamen nach der »Glocke« zurück und stiegen ein. Kaum aber waren wir zehn Schritte weit gefahren, so begegneten wir einem Einwohner von Mestre, einem gewissen Balbi Tomasi, einem guten Mann, der aber im Rufe stand, Beziehungen zu dem heiligen Offizium der Inquisition zu unterhalten. Er kannte mich, blieb stehen und rief mir zu: »Wie, Herr Casanova, Sie hier? Ich bin entzückt, Sie zu sehen. Sie sind also entflohen? Wie haben Sie das angefangen?«

»Ich bin nicht entflohen; man hat mich entlassen.«

»Das ist nicht möglich; denn ich war erst gestern abend bei Herrn Grimani und würde es erfahren haben.«

Lieber Leser, du wirst dir leichter vorstellen können, in welchem Zustande ich mich in diesem Augenblick befand, als ich es dir schildern kann. Ich sah mich von einem Mann entdeckt, der, wie ich glaubte, bezahlt war, um mich zu verhaften, und der zu diesem Zweck nur einem von den Sbirren zuzuwinken brauchte, von denen es in Mestre wimmelte. Ich sagte ihm, er möchte leise sprechen, stieg vom Wagen herunter und bat ihn, mit mir ein bißchen zur Seite zu treten. Ich führte ihn hinter das Haus bis zu einem Graben, auf dessen anderer Seite freies Feld war. Als ich sah, daß niemand uns bemerkte, bewaffnete ich mich mit meinem Spieß und packte ihn am Kragen. Er sah meine Absicht, riß sich los, sprang über den Graben und lief aus Leibeskräften davon, ohne sich umzusehen. Sobald er einen gewissen Vorsprung gewonnen hatte, mäßigte er seinen Lauf, sah sich um und warf mir Kußhändchen zu, um mir anzudeuten, daß er mir gute Reise wünschte. Als ich ihn nicht mehr sah, dankte ich Gott, daß der Mann durch seine Gelenkigkeit mich davor bewahrt hatte, ein Verbrechen zu begehen; denn ich wollte ihn totstechen, und er hatte, wie es scheint, keine bösen Absichten.

Ich war in einer fürchterlichen Lage. Ich war allein und befand mich in offenem Kriege mit den gesamten Streitkräften der Republik. Vor der Vorsicht mußte alles andere zurücktreten, und meine eigene Sicherheit gebot mir, kein Mittel außer acht zu lassen, um mein Ziel zu erreichen.

Finster wie ein Mensch, der soeben einer großen Gefahr entgangen ist, warf ich dem jämmerlichen Mönch, der nun einsah, welcher Gefahr er uns ausgesetzt hatte, nur einen Blick der Verachtung zu und stieg wieder auf den Wagen. Ich dachte darüber nach, wie ich mir den Tölpel vom Halse schaffen könnte, und er saß da und wagte nicht den Mund aufzutun. Ohne weiteren Zwischenfall kamen wir in Treviso an, wo ich dem Postmeister sagte, er solle uns um zehn Uhr einen Zweispänner bereit halten. In Wirklichkeit hatte ich jedoch nicht die Absicht, mit der Post weiter zu reisen, erstens weil ich nich. so viel Geld hatte, zweitens weil ich verfolgt zu werden fürchtete. Der Gastwirt fragte mich, ob ich frühstücken wollte. Ich hatte es nötig, um mich bei Kräften zu erhaben; denn ich war halbtot vor Hunger. Aber ich hatte nicht den Mut, die Einladung anzunehmen: der Verlust einer Viertelstunde konnte verhängnisvoll für mich werden. Ich fürchtete, erwischt zu werden, und dessen hätte ich mich mein Leben lang geschämt, denn ein kluger Mann muß es auf freiem Felde mit viermalhunderttausend Mann aufnehmen können; wenn er sich nicht zu verstecken versteht, ist er ein Dummkopf.

Ich ging zum Thomastor hinaus, wie wenn ich einen Spaziergang machen wollte. Eine Miglie blieb ich auf der Landstraße, dann aber schlug ich mich querfeldein. Ich war entschlossen, keine Straße mehr zu betreten, solange ich mich noch im Gebiet der Republik befände. Der kürzeste Weg führte über Bassano, aber ich wählte den längsten; denn es war nicht unmöglich, daß man am Ausgang des nächsten Weges auf mich wartete, während man wahrscheinlich nicht daran denken würde, daß ich über Feltre gehen würde; denn dies war der längste Weg, um in das Gebiet des Bischofs von Trient zu gelangen. Nachdem wir drei Stunden marschiert waren, ließ ich mich auf die Erde niedersinken. Ich konnte nicht mehr. Ich mußte etwas essen oder auf dem Platze sterben. Ich sagte dem Mönch, er möchte den Mantel neben mich legen und in ein nahes Bauernhaus gehen, sich gegen Bezahlung etwas Essen geben lassen und es mir bringen. Ich gab ihm das nötige Geld dazu. Er ging, aber er sagte mir, er hätte mich für mutiger gehalten. Der Elende wußte nicht, was Mut heißt, aber er war kräftiger als ich und hatte sich ohne Zweifel vor unserem Ausbruch tüchtig den Magen versorgt. Außerdem hatte er Schokolade getrunken; er war mager, er war Mönch, und Vorsicht und Ehrgefühl beunruhigten nicht seinen Geist auf Kosten seines Körpers. Obgleich das Haus kein Wirtshaus war, schicke die gute Bäuerin mir durch ein Mädchen ein reichliches Essen, das mir nur dreißig Soldi kostete. Als ich meinen Hunger gestillt hatte, fühlte ich, daß der Schlaf mich übermannen wollte, und machte mich fofort wieder auf den Weg, nachdem ich mich ziemlich genau nach der Richtung erkundigt hatte. Nach einem vierstündigen Marsch machte ich in der Nähe eines Dörfchens Halt und erfuhr, daß ich vierundzwanzig Meilen von Treviso entfernt war. Ich war völlig erschöpft; meine Schuhe waren zerrissen und meine Enkel geschwollen Ich hatte nur noch eine Stunde bis zum Dunkelwerden vor mir. Ich streckte mich in einem Wäldchen auf den Boden aus, bat Balbi, sich neben mich zu setzen, und hielt folgende Ansprache an ihn: »Wir müssen nach Borgo di Valsugana; dies ist der erste Ort jenseits der Grenzen der Republik. Wir werden dort ebenso sicher sein wie in London und können uns dort ausruhen. Aber um diesen Ort zu erreichen, müssen wir außerordentlich vorsichtig sein, und die erste Vorsichtsmaßregel ist die, daß wir uns trennen. Sie gehen durch die Wälder von Mantello, ich gehe über die Berge; Sie auf dem leichtesten und kürzesten Wege, ich auf dem längsten und schwierigsten; endlich bekommen Sie alles Geld, und ich behalte keinen Heller. Ich schenke Ihnen meinen Mantel; Sie tauschen diesen gegen einen Bauernrock und einen Hut ein, und dann wird ein jeder Sie für einen Bauern halten, denn zum Glück sehen Sie so aus. Hier ist alles Geld, das mir von den beiden Zechinen des Grafen Asquino übrig geblieben ist, es sind siebzehn Lire; nehmen Sie sie. Sie werden übermorgen Abend in Borgo sein; vierundzwanzig Stunden später komme ich an. Sie erwarten mich im ersten Gasthof linker Hand, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich kommen werde. Ich muß diese Nacht in einem guten Bett schlafen, und die Vorsehung wird mir helfen, ein solch es irgendwo zu finden. Aber ich muß ganz ruhig sein können, und dies ist unmöglich, solange Sie bei mir sind.

Ich weiß gewiß, daß wir jetzt überall gesucht werden, und unsere Personen werden so genau beschrieben sein, daß man uns in jeder Herberge, die wir zusammen zu betreten wagten, sofort verhaften würde. Sie sehen, in welchem traurigen Zustande ich mich befinde, und daß ich mich unbedingt zehn Stunden ausruhen muß. Leben Sie also wohl! Gehen Sie und lassen Sie mich allein meiner Wege gehen; ich werde hier in der Nähe ein Nachtlager finden.«

»Alles was Sie mir da sagen, habe ich längst erwartet. Ich habe Ihnen nichts darauf zu antworten, als daß ich Sie an das erinnere, was Sie mir versprachen, als ich mich von Ihnen überreden ließ, Ihr Gefängnis zu erbrechen. Sie versprachen mir, wir würden uns nicht mehr trennen. Geben Sie also die Hoffnung auf, daß ich Sie verlasse: Ihr Schicksal wird das meine sein, mein Schicksal das Ihrige. Wir werden ein gutes Nachtlager für unser Geld finden und brauchen nicht in einen Gasthof zu gehen; man wird uns nicht festnehmen.«

»Sie sind also entschlossen, den guten Rat nicht zu befolgen, den ich Ihnen gegeben habe, weil die Klugheit es verlangt?«

»Vollkommen entschlossen.«

»Wir werden sehen!«

Nicht ohne Mühe stand ich auf, maß seine Gestalt und verzeichnete seine Größe auf dem Boden; dann zog ich meinen Spieß aus der Tasche, hockte mich hin, so daß ich fast auf der linken Seite lag, und begann mit der größten Ruhe ein kleines Loch zu graben, ohne auf seine Fragen ein Wort zu erwidern. Nachdem ich eine Viertelstunde gearbeitet hatte, sah ich ihn traurig an und sagte zu ihm: »Als guter Christ halte ich mich für verpflichtet, Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Seele Gott empfehlen müssen; denn ich werde Sie tot oder lebendig hier begraben, und wenn Sie stärker sind als ich, so werden Sie mich begraben. Zu diesem verzweifelten Entschluß zwingt mich Ihr rücksichtsloser Eigensinn. Indessen können Sie sich noch entfernen, denn ich werde Sie nicht verfolgen.«

Als ich sah, daß er mir nicht antwortete, machte ich mich wieder an die Arbeit. Ich muß doch gestehen, ich begann zu fürchten, daß der Dummkopf mich zum äußersten treiben würde; ich war aber fest entschlossen, mich seiner zu entledigen.

Sei es, daß er Furcht hatte, sei es, daß er sich die Sache überlegt hatte – genug, er warf sich endlich neben mich. Da ich nicht wußte, was er beabsichtigte, bedrohte ich ihn mit meinem Spieß. Aber ich hatte nichts zu befürchten; denn er sagte zu mir: »Ich will alles tun, was Sie wünschen.«

Sogleich umarmte ich ihn, gab ihm all mein Geld und versprach ihm noch einmal, in Vorgo mit ihm zusammenzutreffen. Obwohl ich nun keinen Heller mehr hatte, und zwei Ströme überschreiten mußte, wünschte ich mir doch Glück, von der Gesellschaft eines Menschen von solchem Charakter befreit zu sein. Denn nun, da ich allein war, fühlte ich mich sicher, daß ich die Grenzen meiner geliebten Republik überschreiten würde.


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