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Vorwort

Am Oster-Heiligabend 1842.

»Für wen Sie über Goethe schreiben sollen« schrieb mir gestern mein Freund Regis, der gelehrte und geehrte Übersetzer des Rabelais und des Bojardo, »das hat er schon selbst im Divan Ihnen gesagt: ›Ins Wasser wirf deine Kuchen, wer weiß wer sie genießt.‹ Sie nehmen Ihren Stimmstein vom Altar, wie die Athener in Aeschylus' Eumeniden, und werfen ihn in die Urne der Zeit, für den Behuf eines künftigen Areopags. Ich wüßte wirklich niemand, der Goethen, in rein physiologischem Gesichtspunkte zu besprechen, jetzt selbst so viel öffentliche Autorität hätte wie Sie; denn die momentanen Kläffer verstummen sehr bald, und Ihre Sache bleibt immer. – Sie müssen sich einmal über Goethe gehen lassen und Ihr Credo von ihm ablegen, von vorn an, wenn Sie gerade Zeit haben.«

Das war das Wort und der Zuruf eines Freundes, und ihm begegnete im Innern ein langverhaltner Wunsch, ja fast das Gefühl einer Pflicht. – Wie lange wird es dauern, und wenige werden sein, welche mit Goethe einst eine Luft atmeten, eine Geschichte erlebten, eine Entwicklungsperiode der Poesie und Wissenschaft beobachteten. – Schon ich reiche nicht hinan an die Zeit, in welcher jenes merkwürdige Leben sich zu entfalten begann, und doch sind es mehr als zwanzig Jahre, daß ich ihn sah und sprach; schon sind es neun Jahre, daß er uns genommen wurde, und schon sind es fünfundzwanzig Jahre, daß ich die ersten Briefe mit ihm wechselte. Der Sohn der späteren Zeit kommt und betrachtet jene Riesenwerke dieses Geistes, seinen Götz, seinen Tasso, seine Iphigenia, seinen Faust, und gleich den Werken eines Shakespeare und gleich den Werken der Griechen scheinen sie ihm nicht von dieser Welt zu sein; sie scheinen ihm durch ein Wunder da, und wie wir jetzt fast nichts wissen von dem inneren Dasein und äußeren Sich-Darleben eines Shakespeare und Sophokles, so würden jene Werke allein dem späteren Leser das sein müssen – was er mit dem Namen – Goethe – Leben Goethes – bezeichnete, wenn nicht teils er selbst, teils treugesinnte Zeitgenossen diesem Begriffe noch einen fester gestalteten Körper hinzugefügt hätten und noch hinzufügen wollten. –

Ich spreche hier nicht von den ephemeren Geistern, welche schon jetzt die ganze Rede von Goethe als abgetan betrachten möchten, welche glauben, weil sie in der Jugend einmal von Goethe begeistert waren, und dies nun über publizistische Tätigkeit oder über eine neuere Literatur der Verzweiflung, der Médisance oder der langen Weile vergessen haben, auch der Goethe selbst sei vergessen. Sie kommen mir vor wie irgendein der Schule entwachsener junger Geschäftsmann, der das wenige, was er früher aus den Römern und Griechen sich aneignen konnte, nun bis auf einige Floskeln wieder verloren hat und im stillen alle jene Graubärte für höchst überflüssigen Ballast der alten Geschichte erklärt. – Darum aber beugen sich freilich weder Tacitus noch Cicero, weder Sophokles noch Euripides, und immer und immer widerhallen von neuem ihre unsterblichen Worte in allen feineren Blüten eines neuaufkeimenden Geschlechts! – So auch die Worte Goethes! Und wenn wir gerade jetzt häufiger gewahr werden, daß eine Gesinnung jener mißkennenden Art über Goethe laut wird, so müssen wir bedenken, daß eben die Nähe des Standpunktes, wenn dieser selbst ein niedriger ist, das Gewahrwerden der Mächtigkeit des Gegenstandes fast unbedingt unmöglich macht. – Der Verkäufer, der unter dem Gesims am Fußgestell der Trajanssäule seine Waren ausbietet, er wird am wenigsten gewahr, wie hoch und schön das Kapitäl auf dem blauen Himmelsgrunde sich abzeichnet! – Ja, aus einem ähnlichen Grunde ist jetzt auch dem Freunde des Dichters es unmöglich, die ganze welthistorische Bedeutsamkeit dieser Gestalt in ihrer Vorbereitung, in ihrer Gegenwart, in ihrer Nachwirkung aufzufassen, abzubilden, wiederzugeben; allein sei ihm auch dieses versagt, so ist ihm dagegen vergönnt, die individuellen Züge und das lebendige Verhältnis zu seiner Zeit und seinen Zeitgenossen, welche in der Länge der Jahre mehr und mehr unkenntlich und dunkel werden, und welche dann aus keiner noch so scharfsinnigen Reflexion über die Gesamtwirkung des Mannes wieder hervorkonstruiert werden können, mit Treue zu sammeln, aufmerksam zu bewahren und zu fernen Zeiten zu verbreiten.

Dankbar wollen wir aber erkennen, daß auch in dieser Beziehung schon vieles Bedeutende geschehen ist; – so manche Stimme ist laut geworden, welche Züge jenes merkwürdigen Daseins bewahrt hat, und es ist mir immer als eine höchst eigentümliche Fügung erschienen, daß ein Hirtenknabe aus den Marschländern an den Grenzen des fernen Holstein berufen werden mußte, durch mancherlei Schicksale in Goethes Nähe zu kommen, ihn in seinen hohen Jahren bis ans Ende mit Liebe und feinem Sinn zu umgeben, sein Wesen zu beobachten und wie ein treuer Spiegel die Strahlen dieser untergehenden Sonne aufzufangen, um sie den fernsten Zeiten zu bewahren und zuzuwerfen. – Ein anderer wird der Zweck dieser Blätter sein. – Ich gedenke hier zuvörderst zu erzählen, wie ich selbst in Berührung mit Goethe kam, und wie dadurch eine Reihe von Briefen desselben mein Eigentum wurde, von welchen ich die wichtigeren bei dieser Gelegenheit mitzuteilen nicht unterlassen werde, sodann aber will ich versuchen, ausführlicher darzulegen, in welchem Sinne die Individualität Goethes ihrem innersten Kerne nach aufzufassen sei, und in welchem Sinne sein Verhältnis zur Natur, zur Naturwissenschaft, zu den Menschen und zur Menschheit wohl am richtigsten festzustellen sein dürfte, endlich wie von hier aus das Verständnis seiner so sehr verschiedenartigen Werke erst in einem genügenderen Grade wirklich erreicht werden kann; ein Unternehmen, bei welchem ich hoffe und wünsche, daß eine wohlwollende und das Unvollkommene der Darstellung möglichst ergänzende Gesinnung des Lesers mir erleichternd und beruhigend entgegenkommen werde.


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