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III. Goethes Verhältnis zur Natur und Naturwissenschaft

Obwohl wir alle in Gottes großer Natur existieren und nur in und durch sie unser Dasein haben, so stellt sich doch das Leben der Menschen so vielfach und wunderlich dar, daß wir gar wohl zwischen Menschen der Natur angehörig, und zwischen Menschen eines künstlichen Daseins – Stubenmenschen – wie man wohl zu sagen pflegt – unterscheiden dürfen. – Wir finden Individuen, deren Existenz dergestalt an freie Luft, an Wald und Gebirge, an Land und Meer geknüpft ist, daß sie ein gesundes Dasein nur unter der Bedingung fortzusetzen vermögen, daß sie immer und immer wieder aus den engen Räumen des täglichen Lebens hinaus müssen, und daß nur unter freiem Himmel sie wieder die Kraft einsaugen, das Kunstwerk ihres eigenen Daseins mit Schönheit und Liebe fortzubilden. Andere hinwiederum gibt es, denen ein solches Bedürfnis gar nicht einzuwohnen scheint. Mit lauter artifiziellen Gebilden umgeben, möglichst abgeschlossen gegen die, namentlich in strengeren Klimaten allerdings den Menschen nicht immer auf das Sanfteste erfassende Natur, ganz sich versenkend in Erscheinungen und Produkte derjenigen menschlichen Bestrebungen, welche zum Zweck haben, sich eine eigentümliche, eine künstliche Welt zu erschaffen, bleiben sie oder werden sie den Erscheinungen des tellurischen Organismus fremd und fremder und können endlich dahin kommen, Feld und Wald und Gebirge und Tal nur noch vom Hörensagen oder aus Büchern und Bildern zu kennen. – Eine solche Verschiedenheit, ja ein solcher Gegensatz ist aber keineswegs etwas rein Zufälliges oder Willkürliches, sondern er wird teils bedingt durch die Natur des Menschen, teils aber auch durch die äußere Umgebung. Die Hinsicht auf das letztere erklärt es, warum man diesen Gegensatz eigentlich selbst in den verschiedenen Stämmen gesamter Menschheit gar wohl durchführen könnte. Der Unterschied zwischen dem Bewohner tropischer Gegenden und dem der kalten Zonen ist schon im wesentlichen der des Naturmenschen und des Stubenmenschen, und es wäre eine ganz interessante Aufgabe, einmal recht im einzelnen nachzuweisen, wie die gesamte künstliche Existenz des Nordländers, seine Bücherwelt, seine Komforts, seine Gelehrsamkeit und seine Kränklichkeit, seine Entdeckungen und sein Philistertum wesentlich darauf ruhen, daß ein im ganzen widerwärtiges Klima ihn mehr und mehr von der freien Natur absondert, während der hellere, mehr nach außen gewendete Geist des Südländers, seine Sorglosigkeit und seine Unwissenheit, seine eigentümliche Lebendigkeit und seine Trägheit hauptsächlich dadurch bedingt wird, daß die Milde und Schönheit der freien Natur ihn immerfort sich selbst entreißt und in eine mehr heitere, freiere Existenz zerstreut. – Indes auch abgesehen von dem Äußeren liegt ein anderer wichtiger Grund davon, ob ein Mensch mehr in der einen oder in der anderen Richtung sich entwickeln soll, in der Besonderheit seiner eigenen körperlichen Anlagen. – Ob wir gesünder und fester, oder ob wir kränklicher und verletzlicher sind, wird es allemal wesentlich mit bestimmen, ob wir mehr der freien Natur uns hinzugeben geneigt und geschickt sein, oder ob wir auf eine künstliche Existenz im Inneren unsrer Wohnungen uns beschränken sollen. – In letzterer Beziehung fand nun Goethe allerdings durch die Frischheit der inneren Gesundheit seines Wesens sich vollkommen befähigt und berechtigt, bis in seine hohen Jahre einen steten Verkehr mit freier Natur zu unterhalten, und wie bedeutend dieses Moment auch für seine eigene Entwicklung sowie für den Charakter seiner Werke genannt werden darf, kann niemand entgehen, der nur irgend genauere Betrachtung anwenden will. Goethe war auch in dieser Beziehung ein Naturmensch, und wenn man die lebhafte Sehnsucht verfolgt, welche ihn nach Italien, nach einem schöneren, freies Naturleben im höheren Grade begünstigenden Klima drängte, so mag auch dies zu jener Eigentümlichkeit seines Daseins einen neuen und charakteristischen Zug beifügen. Aber wir wollen damit nicht sagen, daß ihn bloß die Anmut der Natur ins Freie habe locken können; wer keinen Sinn hat, die Natur auch in ihren finsteren, harten und gewaltigen Formen zu lieben, der liebt sie überhaupt noch nicht recht. – Wie wer einmal liebt, auch das Geliebte ganz und gar umfaßt, und die von dessen Wesen nun einmal unzertrennlichen Fehler und Schwächen auch mit Liebe trägt und festhält, so liebt auch die Natur nicht recht, wer ihr nur im Festkleide, in Sonnenschein und Frühlingslust nachgeht, wer ihre Macht und Schönheit nicht auch im Herbststurm und Winterwetter, in Nacht und Dämmerung aufzusuchen und zu lieben imstande ist. – Goethe vermochte beides. Wenn man liest, wie er im Winter allein das Harzgebirge durchstrich; wie eigentümlich ihn diese große Natur in ihrem herben Gewande aufregte, und welch schönes poetisches Resultat sein Geist aus diesen Eindrücken zu ziehen vermochte, so mag man erkennen, daß nicht bloß das Anmutige und Weichgefällige, sondern auch das Gewaltige, Finstere und Rauhe im freien Naturleben ihn mit Macht an sich zog. – Könnte auch sonst dieses tiefe, wunderbare Naturgefühl seine Dichtungen, seine Schilderungen durchdringen! – Doch seine Liebe zur Natur beruhigte sich nicht bei der innigen und nachhaltigen Erfassung ihrer äußeren Erscheinungen, sie wollte das Wesen der Erscheinung durchdringen, sie sehnte sich nach Ergründung ihres geheimsten Lebens, sie strebte, mit einem Worte es zu sagen, nach der Erfassung der Idee ihres Daseins! –Von hier aus ist nun der Grund seiner naturwissenschaftlichen Bestrebungen erkennbar! – Nicht eine ursprüngliche analytische Tendenz seines Geistes, nicht ein Bestreben, sich selbst durch möglichst feine Zergliederungen des Naturlebens hervorzutun und Ruhm zu schaffen, noch weniger irgend das Bedürfnis, in die Untersuchung der Natur für Zwecke des praktischen Lebens einzugehen, brachten ihn der Naturwissenschaft näher, sondern, wie Plato sagt, daß die Philosophie überhaupt mit der Bewunderung beginnen müsse, so war es bewundernde Liebe und tieferes Vereinleben mit der Natur, welches ihn nötigte, auch einer wissenschaftlichen Naturbetrachtung sich angelegentlich zu widmen und hinzugeben.

Wenn wir aber jetzt versuchen wollen, die Eigentümlichkeit der Goetheschen Naturwissenschaft uns deutlich zu machen, so wird es zuvor nötig, zu bemerken, daß auf diesem Felde gar verschiedenartige Wege gezogen sind, den Forschenden dem Schleier der Isis näherzuführen. Die wesentlichste Verschiedenheit zeigt sich, je nachdem der Weg geht vom Besonderen zum Allgemeinen oder vom Allgemeinen zum Besonderen. Der erste Weg ist der betretenste, der auch dem schwachen Talent geöffnete; – eine rein spezielle Untersuchungsmethode mit großer Sorglichkeit und Treue durchgeführt, gewährt immer ein Resultat für die Wissenschaft, sammelt Materialien zum Gesamtbau derselben, bringt es aber schwerlich jemals zum frischen, gesunden Überblick der Natur und des Lebens; – und hinwiederum eine sich ganz im allgemeinen haltende Forschung wandelt am Abgrunde der Phantasie und wird leicht veranlaßt, ein bloß Subjektives für ein Objektives zu halten. Wenn jedoch die letztere in ihrem höheren Sinne nur denjenigen offensteht, in welchen die Idee vorwaltet, so wird sie auch alsdann, wenn sie von einem höheren Standpunkte niederwärts mit Umsicht und Schärfe zur Betrachtung des einzelnen sich wendet, deshalb die schönsten Resultate gewähren, weil das helle geistige Auge, von der Idee der Welt belebt und durchdrungen, nun auch dieses einzelne richtiger, ja am richtigsten versteht und deutet, denn sie erfaßt es nicht mehr einseitig, sondern aus seinem Urgrunde hervor, und folglich vielseitig, ja allseitig. – So sieht das Auge eines Raffael die Erscheinungen des Lebens in einem anderen und reineren Lichte als das des Unbefähigten, und nur zwar, weil in Raffael selbst die Idee des Schönen der Welt auf andere und höhere Weise lebte, als in gewöhnlichen Naturen. Für Goethe, der zu etwas anderem berufen, nie auf den Ruhm eines speziellen Forschers im Reiche der Natur Anspruch machen sollte, den aber die innige Liebe zur Natur durchdrang und festhielt, konnte nur der zweite Weg der angemessene sein, wenn er die Erscheinungen der Natur im einzelnen zu deutlicherer Erkenntnis sich zu bringen bestrebt war. – Bedeutungsvoll ist es für ihn und seine naturwissenschaftliche Richtung, in früher Zeit die Andacht zu erkennen, die bewundernde Liebe zur Natur, worin seine Forscherlust zuerst sich betätigte. Ich kann mich nicht entbrechen, die hierher gehörige Stelle aus Wahrheit und Dichtung selbst einzuschalten. – Er schreibt: –

»Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten. Der Gott, der mit der Natur in unmittelbarer Verbindung stehe, sie als sein Werk anerkenne und liebe, dieser schien ihm der eigentliche Gott; der ja wohl auch mit dem Menschen wie mit allem übrigen in ein genaueres Verhältnis treten könne und für denselben, ebenso wie für die Bewegung der Sterne, für Tages- und Jahreszeiten, für Pflanzen und Tiere Sorge tragen werde. Einige Stellen des Evangeliums besagten dies ausdrücklich. Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen; er suchte ihn also in seinen Werken auf und wollte ihm auf gut alttestamentliche Weise einen Altar errichten. Naturprodukte sollten die Welt im Gleichnis darstellen, über diesen sollte eine Flamme brennen und das zu seinem Schöpfer sich auf sehnende Gemüt des Menschen bedeuten. Nun wurden aus der vorhandenen und zufällig vermehrten Naturaliensammlung die besten Stufen und Exemplare herausgesucht; allein, wie solche zu schichten und aufzubauen sein möchten, dies war nun die Schwierigkeit. Der Vater hatte ein schönes, rotlackiertes, goldgeblümtes Musikpult in Gestalt einer vierseitigen Pyramide mit verschiedenen Abstufungen, die man zu Quartetten sehr bequem fand, obgleich sie in der letzten Zeit nur wenig gebraucht wurde. Deren bemächtigte sich der Knabe und baute nun stufenweise die Abgeordneten der Natur übereinander, so daß es recht heiter und zugleich bedeutend genug aussah. Nun sollte bei einem frühen Sonnenaufgang die erste Gottesverehrung angestellt werden; nur war der junge Priester nicht mit sich einig, auf welche Weise er eine Flamme hervorbringen sollte, die doch auch zu gleicher Zeit einen guten Geruch von sich geben müsse. Endlich gelang ihm ein Einfall, beides zu verbinden, indem er Räucherkerzchen besaß, welche, wo nicht flammend, doch glimmend den angenehmsten Geruch verbreiteten. Ja, dieses gelinde Verbrennen und Verdampfen schien noch mehr das, was im Gemüte vorgeht, auszudrücken als eine offene Flamme. Die Sonne war schon längst aufgegangen, aber Nachbarhäuser verdeckten den Osten. Endlich erschien sie über den Dächern; sogleich ward ein Brennglas zur Hand genommen und die in einer schönen Porzellanschale auf dem Gipfel stehenden Räucherkerzen angezündet. Alles gelang nach Wunsch, und die Andacht war vollkommen. Der Altar blieb als eine besondere Zierde des Zimmers, das man ihm im neuen Hause eingeräumt hatte, stehen. Jedermann sah darin nur eine wohlaufgeputzte Naturaliensammlung; der Knabe hingegen wußte besser, was er verschwieg.«

Mir hat diese Stelle immer sehr merkwürdig geschienen, denn wie in der Physiognomie des Kindes schon auf geheimnisvolle Weise die Züge des Mannes vorgebildet sein können, so spiegelt sich hier in diesen Träumen des Knaben viel von der eigentümlichen naturwissenschaftlichen Tendenz, welche Goethe im gereiften Alter immerdar eigen blieb. Es ist schwer, diese Tendenz mit einem einzigen, gemeinsamen Namen zu bezeichnen, versucht wären wir indes, sie geradezu die poetisch-pantheistische zu nennen, pantheistisch jedoch in dem schönen Sinne gebraucht, daß es nicht sowohl bezeichnet »alles als Gottheit«, sondern vielmehr »alles als in Gott seiend« zu denken. – Goethe betrachtet daher das Schauen der Natur als ein Erhabenes, als ein Menschheitfortbildendes, als ein Priesteramt, und indem, eben weil nicht in das Spezielle der Wissenschaft vollkommen eingeweiht, er von künstlichen Experimenten und Vorrichtungen sich größtenteils fernhielt, sondern immerfort nach dem Erfassen von dem strebte, was er das Ur-Phänomen nannte, so erhielt seine Art der Naturforschung etwas vom Sinne des Altertums und lag schon eben dadurch einer poetischen Anschauung der Natur näher. – »Mikroskope und Teleskope verrücken beide den eigentlich menschlichen Standpunkt« – ist ein Wort, auf welches er mehrfach zurückkommt und wodurch seine Sinnesweise in dieser Beziehung sehr entschieden bezeichnet wird.

Übrigens darf man sagen, daß diese Richtung seines Geistes im Naturwissenschaftlichen auch in der Wahl der Gegenstände sich mit kundgab, denen sein Eifer sich widmete. Das Urwesentliche der Pflanze – die Grundgestaltung des Skeleton – das Licht – die Erscheinungen der Atmosphäre – dies waren würdige Vorwürfe, an welchen seine Kräfte sich versuchten. Wir wollen es gewiß dankbar anerkennen, wenn ein Naturforscher uns die tausenderlei Arten von Schlupfwespen unterscheiden und kennen lehrt, wenn ein anderer die Pilze und Schimmelfaden sondert und ein Dritter die Auswurfsstoffe der Tierwelt mit größter Genauigkeit chemisch zu bestimmen sucht, aber man wird keine detaillierten Beweise fordern, daß es für Goethe unmöglich war, sich in Forschungen dieser Art einzulassen. – Übrigens ist ihm dann auch gerade hieraus mancherlei Unangenehmes erwachsen, denn es fehlte nicht, daß von den Geistern, deren Reich gerade die peinlichste Kleinforschung war, ihm jene Richtung als eine Art von Hochmut ausgelegt wurde, als eine absichtliche Verwerfung ihrer Bestrebungen, und daß er darüber vielfältig angefeindet wurde; wobei ihm denn abermals jene Gesinnung sehr gut zustatten kam, welche auf Mißgunst und Widerspruch solcher Art gar nicht einzugehen pflegte und welche höchstens zu einer kleinen poetischen Verwünschung veranlaßte, wie das Bekannte:

»Es bellt der Spitz aus unserm Stall
Und will uns stets begleiten
Und seiner lauten Stimme Schall
Beweist nur, daß wir reiten.«

Wir müssen dagegen noch auf eine andere Frage näher eingehen: nämlich, oh Goethes naturwissenschaftliche Bestrebungen wirklich einen Einfluß auf den Gesamtbau der Wissenschaft gewonnen, ob sie ein Resultat gelassen haben in der Geschichte der Naturwissenschaft. – Es ist hier zuvörderst eine allgemeine Bemerkung vorauszuschicken! – Beobachten wir nämlich, wie der Baum der menschlichen Erkenntnis durch die vielfältigen Geschlechter der Menschen hindurch fortwächst, so dürfen wir zwischen den mannigfaltigen Früchten desselben wohl drei verschiedene Formen unterscheiden. Die erste mag diejenige genannt werden, welcher bei weitem die Mehrzahl angehört, welche höchst vergänglicher Natur ist, kaum eine Bedeutung für den Augenblick hat und nicht vor- und nicht rückwirkt; die zweite können wir diejenige nennen, welche zwar in ihrer Zeit wahrhaft das Wachstum des Wissens fördert, welche darum immer in der Geschichte der Wissenschaft in Ehren gehalten werden wird, welche aber im Laufe der Zeit sich allmählich und notwendig von anderen Formen verdrängt findet und in der Folgezeit kein Material mehr dem Bau der Wissenschaft darbietet. Die dritte Form endlich ist diejenige, welche nicht nur für ihre Zeit das Reich des Wissens erweitert und befestigt, nicht mehr bloß mittelbar noch Anteil hat an seinem ferneren Ausbaue, sondern durch welche Entdeckungen, luminose Gedanken, Ideen ausgesprochen und eingeführt werden, welche für alle Zeit und für die gesamte Menschheit ihre volle Geltung behalten. Diese Form ist natürlich so wie die höchste so die seltenste. Ihr gehören an die großen Gedanken und Entdeckungen eines Euklides und Archimedes über Mathesis, ihnen die Erkenntnisse eines Kepler über Gesetze der Weltkörperbewegung, ihr die Anschauungen eines Plato, die Naturphilosophie eines Baco, das erste richtige Schauen der Blutbewegung von Harvey, die Erkenntnisse über Kontakt-Elektrizität von Galvani und über magnetische Elektrizität und Erdmagnetismus von Oerstedt und ähnliche mehr. In die zweite Form gehört so vieles, was zu seiner Zeit mächtig in das Getriebe der Wissenschaft eingriff, aber in seiner Form nicht mehr zu brauchen ist, dahin so viele frühere naturgeschichtliche Systeme, dahin die ersten unvollkommenen Versuche, eine vergleichende Anatomie zu geben, dahin Werners Geologie, Galls Organenlehre, dahin die früheren Systeme der Chemie usw. – Von der dritten Form bedarf es keiner Beispiele, denn täglich entstehen und vergehen Ephemeren dieser Art, wie im poetischen und politischen, so auch im Felde der Naturwissenschaften. – Messen wir nun nach diesem ernsten Maßstabe das, was Goethe im Felde der Naturwissenschaft getan hat, so finden wir zwar manches, was vergänglicher Natur, obwohl immer von einer bedeutenden und großen Gesinnung in der Darstellung durchdrungen, allein wir finden auch Ideen angeregt und in schöner Anwendung durchgeführt, welche für alle Zeit nachhaltig fortwirken, und, weil sie wahrhaft der höchsten jener oben aufgestellten drei Kategorien angehören, auch in dieser Beziehung seinen Namen unsterblich machen müssen. – Als vergänglicher Natur können wir unter Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten am meisten bezeichnen, was über Bildungsgeschichte der Erdoberfläche in seinen Heften zerstreut ist. Merkwürdigerweise und gleichsam zum Beleg, daß niemand wahrhaft universal sein kann, berührten die großen Wahrnehmungen in der Geologie, über plutonische Erhebungen, Vulkanismus und Verwerfung der Erdschichten, wie wir sie Leopold v. Buch, Elie de Beaumont und anderen verdanken – Goethe nie auf eine ansprechende Weise. Ein gewisses Prinzip der Stabilität und Widerwillen gegen alle revolutionäre Zerwürfnis verleidete ihm entschieden diese neueren Ideen und machte, daß er sie höchstens im Munde des Mephistopheles im zweiten Teile des Faust statuierte. – Er, der in so viel anderen Dingen weit seiner Zeit vorausgriff und in der Gegenwart das Künftige ahnte, blieb hier hinter der Gegenwart zurück – etwas, das ihm außerdem vielleicht nur in manchen Richtungen der bildenden Kunst begegnet ist.

Unter dem hingegen, was in seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen unvergänglicher Natur ist, stellen wir mit Recht oben an seine »Metamorphose der Pflanzen«. – Der Gedanke, die Pflanzenwelt in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit als entstehend zu erfassen durch rastlose Metamorphosen der Elementarglieder jener einen Idee der Pflanze überhaupt, welche unter dem Namen der Urpflanze ihn lange Zeit wachend und träumend beschäftigt und verfolgt hatte, ist von höchster lebendigster Einwirkung auf das gesamte Gebiet der Botanik gewesen. Diese ganze Anschauung war aber – und das ist hier besonders hervorzuheben – der Zeit, in welcher Goethe zuerst sie aussprach, noch so fremd, daß dieses sein kleines Buch über Pflanzenmetamorphose die wunderlichsten Schicksale erfuhr: kein Buchhändler wollte es drucken, kein Zeitgenosse es anfänglich für mehr als Phantasie gelten lassen, und einzelne wirklich Wohlwollende hielten es höchstens für eine hübsche Anweisung, wie man etwa Arabesken aufzeichnen könnte. – Nur nach und nach, und indem diese Bestrebungen mit anderen, überall erwachenden genetischen Arbeiten zusammentrafen, gewann diese Vorstellungsweise sich Grund und Boden, und gegenwärtig wird kein noch so sehr in Spezialitäten versenkter, aber sonst nur wahrhaft wissenschaftlicher Botaniker gefunden werden, welcher es nicht anerkannte, daß Goethe zuerst die folgenreiche, späterhin einzig eine natürliche Systematik begründende Idee der Metamorphose der Pflanzen ausgesprochen habe. – Weniger eindringend waren seine Arbeiten über das Skeleton, mindestens das, was als eigne Darstellung bekannt geworden ist, können wir nicht mit der Metamorphose der Pflanzen an wissenschaftlicher Bedeutung gleichstellen. Nichtsdestoweniger ist das Bestreben, die Gestaltung des Knochensystems im höhern genetischen Sinne aufzufassen, überall durchleuchtend und machte, daß zu einer Zeit, wo zum Beispiel viele Anatomen noch das Zwischenkieferbein im menschlichen Haupte nicht anerkennen wollten, ihm doch die Notwendigkeit dieser Annahme vollkommen einleuchtete. – Noch merkwürdiger aber war es, daß eine der folgenreichsten Anschauungen auch in Beziehung auf Gestaltungslehre des Skeleton, zuerst im Goetheschen Geiste sich erschloß, und dies ist die Anschauung vom Wirbelbau des Hauptes, dessen Schädelgebilde ihm vielleicht unter allen Sterblichen zuerst als entschiedene Fortsetzung der Gebilde der Rückenwirbelsäule erschienen sind. Bekanntgemacht wurde dies zwar später, und Oken hat das große Verdienst, im Jahre 1807 zuerst die Theorie vom Wirbelbau des Schädels öffentlich wissenschaftlich begründet zu haben; nichtsdestoweniger scheint es ohne Zweifel, daß Goethe diesen luminosen Gedanken eine gute Reihe Jahre früher erfaßt habe, und ganz entschieden liegt auch hierin ein Beweis, wie mächtig und naturgemäß sein Genius auch in diesem Sinne immerdar mit den Erscheinungen zu gebaren wußte.

Am ausführlichsten und nachhaltigsten hatten sich seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen dem Lichte zugewandt. Über Licht- und Farbenerzeugung haben wir allein ein größeres selbständiges Werk von ihm, und dessen ungeachtet wird vielleicht gerade von diesen Bestrebungen das wenigste als ein festes aus der Zeitflut sich herausraffendes Eigentum der Wissenschaft betrachtet werden dürfen. Nur von den Urerscheinungen der Farben in der Atmosphäre, inwiefern sie als durchscheinende zwischen Licht und Finsternis sich bilden, haben wir durch Goethe eine schöne, naturgetreue und durchaus originelle Darstellung erhalten. Es ist dagegen schon früher beiläufig erwähnt worden, daß diese seine Farbenlehre wohl schon deshalb nicht unbedingt Platz greifen konnte, weil die beiden anderen nicht minder ursprünglichen Farbenentstehungen, die durch Lichtbrechung und die durch Lichtspiegelung in den Pigmenten, über der zu lebendigen Auffassung der Entstehungsart im Durchscheinen ganz unbeachtet geblieben waren, und weil ihr ebendeshalb die vollkommene innere und allgemeine Wahrheit doch abging. – Bei alledem ist auch in diesem Werke eine gewisse innere griechische Einfachheit der Form und der Darstellung lebhaft zu bewundern. Ich kann nicht unterlassen, um das, was ich hier meine, sogleich zu deutlicher Vorstellung zu bringen, folgende Stelle aus der Einleitung zur Farbenlehre mitzuteilen: –

»Eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßte wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.

Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar untereinander in dem genauesten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der ganzen Natur angehörig denken; denn sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges besonders offenbaren will.

Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem anderen Sinne. Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.«

Eine solche Vollendung und Schönheit der Darstellung ist übrigens keineswegs der Farbenlehre allein eigen; die morphologischen Hefte, die Aufsätze über Wolkenformen, deren Beobachtung und Schilderung nach Art Howards ihm ebenfalls eine bleibende Teilnahme abgewann, und über geologische Wahrnehmungen zeigen fast überall eine Schönheit des Stils und Klarheit der Auffassung, welche um so mehr sie musterhaft erscheinen lassen, je mehr im allgemeinen der deutschen wissenschaftlichen Literatur noch jene Ausbildung der Form fehlt, welche wir selbst in streng wissenschaftlichen Werken französischer Gelehrten größtenteils anerkennen und oft bewundern müssen, ja welche um so wichtiger ist, da sie nicht nur das Verständnis erleichtert, sondern den Verfasser selbst nötigt, den Gedanken zu höherer Klarheit in sich durchzubilden, ehe er ihn niederschreibt.

Betrachten wir nun dieses alles, so können wir nicht leugnen, daß Goethe wirklich auf eine bedeutende und nachhaltige Weise auf die Naturwissenschaften gewirkt hat, und es bleibt uns nur noch übrig, auch umgekehrt in Untersuchung zu nehmen, wie die Naturwissenschaften auf Goethe gewirkt haben. – Es sind nämlich die verschiedenartigsten Stimmen laut geworden, Stimmen Wohlwollender und Stimmen Übelwollender, welche behaupteten, es sei eine große Verirrung und sei nachdrücklich zu beklagen, daß Goethe, der hochbegabte und wohlberufene Dichter, sich habe beigehen lassen, auf das Feld der Naturwissenschaften auszuschweifen und Zeit zu verlieren mit allerhand Licht- und Farbenversuchen, mit Tierskeletten und Pflanzenbildungen; denn nicht genug, daß wir ohne diese Abwege in halbes Dutzend Dramen und ein paar hundert Gedichte mehr von ihm haben könnten, so wäre dies Wesen überhaupt dem Gange seines Geistes nachteilig gewesen und habe Anteil an der spätem Tendenz seiner Muse gehabt, welcher man auf dem deutschen Parnaß nun einmal keinen rechten Platz anzuweisen imstande sei!

Gehen wir nun zuvörderst gar nicht auf Gründe und Gegengründe dieser Art ein, aber fragen wir nur: Wo ist denn eben eine Individualität, die sich vermessen dürfte, einem Geiste wie Goethe gegenüber zu diktieren: dies hätte er sollen so oder so machen, dies taugte ihm, dies taugte ihm nicht usw. – Ein erwachsener verständiger Mann mag wohl einem Kinde gegenüber sagen und wohlmeinend sich vernehmen lassen, daß das Kind zur Förderung seines Wohls und zur Wahrung seiner Gesundheit dies oder jenes lassen und dies und jenes tun müsse, allein wenn eine Individualität von der innern Befähigung und Berechtigung eines Goethe sich durch beinahe ein Jahrhundert hindurch in einer gewissen bestimmten großartigen Richtung rein entwickelt, und wenn diese Entwicklung nach allen Seiten hin die folgewichtigsten Resultate ausstreut, so scheint es mir, gelind ausgedrückt, eine große Voreiligkeit, einem solchen Geiste zuzurufen und zuzupredigen: »hier bist du auf dem rechten, dort bist du auf dem falschen Wege, dies dient dir zur Förderung, dies zum Nachteile deines Talents« usw.! – Wenn irgend jemand, so war wohl Goethe mit seiner kerngesunden Natur und mit der Klarheit seines ganzen Wesens der Mann, der da wußte, was ihm diente und was nicht, und schon von dieser Seite gesehen, muß es doch wohl den Anschein gewinnen, als sei für Goethe das Studium der Naturwissenschaften ein wahrhaftes Bedürfnis und eben dadurch auch eine Förderung seines Lebens wie seines Dichtens gewesen. – Hat es mir doch überall so herrlich an Goethe geschienen, daß er nie und nirgends es so etwa besonders darauf angelegt hat, ein großer Dichter zu werden! – daß im Gegenteil: er (wie es in einem seiner früheren Briefe heißt) »weder rechts noch links fragt, was von dem gehalten werde, was er machte, weil er arbeitend immer gleich eine Stufe höher steigt, weil er nach keinem Ideal springen, sondern seine Gefühle sich zu Fähigkeiten, kämpfend und spielend, entwickeln lassen will.« – So dichtete er um so gesünder und größer und mächtiger, je bedeutender und frischer und lebendiger er sein eignes Wesen entfaltete, und daß er dies nur entfalten konnte im Vereinleben der Natur, und daß hinwiederum ein solcher Geist sich nicht bloß auf ein gefühlvolles Anschauen der Natur beschränken konnte, sondern daß es ihn treiben mußte, auch tiefer in das Wesen der Erscheinung einzudringen, wem das nicht aus seinen Werken überall entgegenleuchtet, dem werden wir es hier schwerlich zu demonstrieren imstande sein! –

Will man daher wirklich fragen: »ja, was wäre aber wohl aus dem Dichter Goethe geworden, wenn er den Hang zu den Naturwissenschaften bekämpft und ganz und gar der Dichtkunst sich hingegeben hätte?« so gehört das etwa zu der Frage: »was aus Raffael geworden wäre, wenn er ohne Arme geboren worden sei?« und zu ähnlichen. – Nein! es gibt eine gewisse höhere organische Nötigung, durch welche die Entwicklung einer bedeutenden Individualität bestimmt wird, und nur willkürliche Eingriffe und Störungen dieses organischen Ganzen werden dem Individuum zum Nachteil ausschlagen, während das ruhige, wohlverstandene Fortgehen im Gleise des echten Naturgemäßen, wie dem Individuum, so auch seinen Wirkungen auf die Welt nur zum wahren Heile gereichen kann. Übrigens, was sollte denn auch in den Naturwissenschaften liegen, was echter Poesie hinderlich sei? – Wenn der Forscher wirklich, wie er soll, als Priester der Natur sich verhält, wenn bei jedem Schritte, den er vorwärts tut, ihm neue Schönheit, höhere Weisheit, größere Mannigfaltigkeit entgegenleuchtet, wie soll dies nicht sein Vorstellungsleben bereichern, seine Phantasie erwärmen, seine Begeisterung steigern? – Das eine freilich ist gewiß, daß ein Dichter, dessen Geist erfüllt ist von Erkenntnissen, wie sie nur wissenschaftliche Bestrebungen uns verleihen, und der nun mit diesen Erkenntnissen auch gebart, der sie bald als Gleichnisse verwendet, bald die innere Göttlichkeit der Erscheinung selbst zum Vorwurf des Gedichts werden läßt, voraussetzen muß, daß auch seine Leser einigermaßen unterrichtet seien, daß ihnen die Beziehungen, welche er in seine Dichtung verwebt, nicht ganz fremd blieben und daß der Kreis ihrer Anschauung der Welt von dem des Dichters nicht allzu weit abstehe. – Verse wie jene:

»Durchsichtig scheint die Luft und rein
Und trägt im Busen Stahl und Stein;
Entzündet werden sie sich begegnen,
Da wird's Metall und Steine regnen«

verlangen, um in ihrer Beziehung nicht nur auf atmosphärische Vorgänge und dann auch gleichnisweise auf menschliches Leben verstanden zu werden, einen deutlichen Begriff von der Geschichte der Meteore; und jene:

»Wenn zu der Regenwand
Phöbus sich gattet,
Gleich steht ein Bogen da
Farbig beschattet« usw.

oder:

»Zart Gemüt und Regenbogen
Wird nur auf dunkeln Grund gezogen.
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie«

werden erst dem recht bedeutungsvoll erscheinen, wem nicht fremd ist, auf welche Weise die wunderbare, tausendfache Farbenbrechung des Sonnenlichts im Wassertropfen zum Irisbogen sich gestaltet. Freilich wird dadurch der Kreis des Verständnisses etwas enger gezogen, und eben darum haben viele der späteren Gedichte von Goethe nicht die allgemeine Verständlichkeit seiner frühern; indes, wer darf das leichte Verständnis zum Merkzeichen des geringern oder höhern poetischen Wertes machen! – Dantes Paradies könnte dann leicht eine tiefere Stelle als Matthissons Gedichte bekommen. – In diesen Dingen ist alles zu sehr relativ, um eine bestimmte Norm im voraus festzusetzen: was dem einen schwer verständlich ist, wird von einem andern ganz leicht erfaßt werden, wo dieser Dunkelheit sieht, erfreut sich jener des Lichts, und es ist am Ende doch gerade diese Befähigung; in dem, was andern dunkel scheint, das Licht zu erkennen, welche den Alten schon die tiefere Bedeutsamkeit in den Vogel Minervens legen hieß. – Es ist freilich erschrecklich und vernichtet alles poetische Leben, wenn verwünschterweise in sogenannten didaktischen Gedichten Gelehrsamkeit zur Schau gelegt wird und der gebildete Mensch von dem Dichter mit neuer Bildung absichtlich überzogen werden soll. Die deutsche Literatur wie die französische und englische kennt dergleichen poetischen Mißwachs – aber wer hat dergleichen je bei Goethe gefunden! – Er lebte sich in die Natur ein, er suchte sie mit allen seinen Organen zu durchdringen, sie geistig sich zu assimilieren, und was nun so ihn durchdrungen hatte, was ein Teil seines geistigen Organismus geworden war, das spiegelte sich in den mannigfaltigsten Gestalten auch in seinen poetischen Gebilden wider. Wohl dem, der auch in diesen Spiegelbildern bekannte, befreundete Gestalten erkannte und wem Natur auch im Schleier der Poesie ihren ewigen Jugendreiz nicht wirklich verborgen hielt, – denn allerdings mögen wir auch hier in bezug auf Natur anwenden, was Goethe im »Divan« vom Orient aus hören läßt:

»Wer den Dichter will verstehen,
Muß ins Land der Dichtung gehen!«


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