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Rudolf Axamit und Wenzel Kala, Kameraden im Guten wie im Bösen, beugten sich über die Beute. Du blauer, schwarzer und grüner Wald, du brauner und nebliger Wald! Eine wilde Freude durchläuft ihre Wilderernerven; sie hatten den Leib eines Tieres unter den Fingern, den schönen Leib eines Rehs. – Es gehörte ihnen.

»Wenzel – Wenzel«, zischte Axamit. »Rudi, ach Rudi«, seufzte Wenzel Kala. Sie bebten vor Bezauberung; begeisterte Freude riß sie hin und her, durch das Blut schäumte trunkenes Schwindelgefühl. Du liebe, runde Welt, das ist uns heut' gelungen! Das läßt sich gar nicht sagen.

Wenzel und Rudi beugten sich über das Reh, unter den Fingern hatten sie den Leib des Tieres, nachgiebig, noch warm, noch herrlich gespannt, da drang der Heger aus dem Gebüsch und brüllte: »Halt!« Das waren alte Rechnungen; die Stimme des Hegers ist heiser vor Wut. Du freigebiger, wilder Wald! Der Rehleib, noch warm und gespannt! Die wilde Freude hält in ihren Adern mit einem Schlag inne und wallt durch einen plötzlichen Überdruck in eine Lava roten Zornes auf. Rudi duckt sich ein wenig hinter dem Reh, das wütende Raubtier in ihm ist sprungbereit, Wenzel spürt, wie er dem Heger an die Gurgel springt. Indem flammt schon das Feuer der Rache auf, der Schuß dröhnt, Rudi schießt nach dem Heger. »Luder!« schreit der Feind auf und fällt ins Gras, den Kopf zur Seite. Und noch ein paar Schüsse in ihn hinein, wie er fällt und sich streckt. »Der hat genug!« stößt Wenzel hervor, und Rudi haut noch oben mit dem Kolben in den gefällten Körper, den die Seele bereits verlassen hat.

Ihr habt mir gegeben – röchelt der Körper, aber die überströmende Lava ist noch nicht zu Ende, brodelt und wälzt sich bis unter die Fingernägel, bis in die heißen Ohrmuscheln, bis in die Augenlider.

Der hat genug, heulen Rudi Axamit und Wenzel Kala; der hat genug, der tote Körper, noch warm, noch gespannt, dieser nachgiebige Körper, der nie mehr ein Heger sein wird. Der wird uns das Reh nicht mehr nehmen, der wird nicht mehr in den Wäldern den Herrn spielen, der holt sich keinen Tabak mehr! – Der Körper ist doch schon ohne Leben, weder Mut noch Seele regt sich mehr in ihm, er fühlt nichts mehr, nimmt nichts mehr wahr, und doch schlagen und stoßen sie ihn noch. Denn da ward Wut durch Wut gemordet, Haß durch Haß, Ordnung durch Verbrechen und Recht durch böse Angst; dieser Leichnam wurde deshalb so grimmig geschlagen, weil er immer noch nicht tot genug schien.

»Der hat genug!« jappt Wenzel nach Luft. Dem haben wir's gegeben, der wird niemanden mehr aus dem Wald hinausjagen; unter seinen Füßen werden nie mehr trockene Tannennadeln knistern; holla, dieser Tote wird nie mehr sein jüngstes Kind auf den Schoß nehmen, ein kleines, hellblondes Mädchen, das noch nicht Vati sagen kann! Der kehrt nicht mehr als der zurück, als der er fortgegangen ist!

Beim Heger daheim werden sie warten, aber der Vater kommt nicht. Da zieht sich das Weib des Hegers die Schuhe an, wirft sich das Kopftuch über und läuft: Macht auf, ich bin's, die Hegerin, der Mann kam mir nicht aus dem Wald zurück! Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist, ob sie ihm nicht am Ende was angetan haben! – Ach Gott, Hegerin, und was! Wir haben ihn schon gefunden. Eure Angst war nicht umsonst, seht doch, wie sie ihn Euch zugerichtet haben!

Sie werden den Heger finden, er ist roh zerschlagen, und werden nachforschen, wer das getan hat.

Das? Das sieht meiner Treu ganz nach Wildererrache aus. Ich hoffe, die Wette kostet mich wohl nicht Feld und Haus, wenn ich sage, daß ihr nicht einmal besonders weit suchen müßt. – »Wenzel, fort!« zischt Rudi Axamit, »wenn uns hier jemand sieht! Fort von hier, fort!« Flink packen die Wilderer das Wild an und lassen den toten Heger hinter sich. Der liegt und rührt sich nicht; Käfer werden über sein Gesicht krabbeln, Schnecken werden mit ihren silbrigen Spuren seine erkaltete Stirn beschreiben, ein grauer Nachtfalter wird sich in seinem Haar verfangen. Ist ja seine Schuld. Er hat es selbst gewollt; warum pirscht er auch hier herum! Sie schleifen das Reh, jetzt gehört es ihnen, ganz sicher gehört das Stück ihnen und niemandem andern. Der Tote, der nimmt es ihnen nicht mehr. »Verdammt, was sollen wir jetzt mit dem Reh«, knirscht Wenzel, »Himmel, Herrgott, wozu plagen wir uns mit dem Zeug, zum Teufel damit!« Sie werfen das Reh weg: Na, Heger, wenn dir so viel daran liegt, da, nimm dir's halt!

Man geht freier, wenn man keine Last auf dem Buckel zu schleppen hat. Hei, wie leicht eilt der dahin, den nichts drückt, der weder seinen Ranzen Schlechtigkeit noch Schuld im Herzen spürt, den weder Sorgen noch Leid, noch Schmerz hemmen! So leichten Schrittes überquert der Hase den schattigen Talgrund und das Kleefeld, da er auf den Schulterblättern nichts Schwereres trägt als sein aschgraues Fell; so flitzt der Vogel im Fluge durchs Strauchwerk, denn seine Flügel und Beinchen werden durch nichts beschwert, so flink eilt der Laufkäfer durch das raschelnde Laub, denn auf seinem Rücken sitzt nichts als das Glitzern eines Sonnenstrahls.

Als die Wilderer ihre Beute weggeworfen hatten, saß weder ein flüchtiger Sonnenstrahl auf ihren Schulterblättern, noch schleppten sich ihre Füße schwer unter der Last irgend etwas, das sie getragen hätten. »Wenzel, fort!« keucht Rudolf, und schon eilen sie mit Hasensprüngen durch die Schlucht und huschen wie ein Vogel den Abhang hinab. Hei, holla, hopp! Nach Hause, hei, nach Hause, fort aus dem Walde!

Wer daheim ist, ist nicht im Wald, wer in seinem Bett schläft, zertritt nicht mit seinen Schuhen die Heidelbeersträucher, wo gemordet wird. Hei, 'runter mit den Schuhen! Die Schuhe gehen mit dem Menschen und waren im Wald dabeigewesen. Und die Kleider, 'runter mit diesen Kleidern, verdammt! Sie gingen in den Wald und wieder aus dem Wald hinaus, wo der Mord geschah. Die Kleider gehen aus dem Wald und jemand sieht sie: Ei, ihr Kleider, ihr Schuhe, was führt denn euch da her? Woher kommt ihr heute zu so später Stunde, sage ich, wen tragt ihr denn in euch? – Wenzel Kala und Rudolf Axamit. – Freilich sind sie's, in diesen Kleidern, meiner Seel, die zwei kenne ich doch gut, daß ich sie nicht gleich erkannt habe! – Nein, nein, 'runter damit, verdammt, den Stutzen hinter den Balken, 'runter mit den Kleidern, hei, und 'rein ins Bett! Wie? Soll mir jemand sagen, daß er jemals einen Wilderer im Hemd im Walde herumlaufen gesehen hat! Haha! daß solch ein weißhemdiger Schläfer einen Heger blutig morden könnte! Laßt uns in Ruhe, uns beide: was für ein Heger? Wir waren daheim, wir schlafen sanft und süß, wir zwei wissen von nichts.

Rudolf und Wenzel langen am Waldrand an. Jetzt holt sie aus dem Wald niemand mehr ein. Jetzt ziehen sie sich, hei, holla, hopp, noch vor den Kleidern den Wald aus.

Merkwürdig und auf seine Weise hübsch pflegt so ein Waldrand zu sein. Auf der einen Seite habt ihr die freie Landschaft, auf der andern erhebt sich der aufsteigende Wald; es ist ein Streifen für sich, nicht das, was der Wald selbst in seiner feuchten Tiefe ist, noch Wiesen oder trockene Felder vor dem Wald. Die Blumen, die hier gedeihen, sind nicht dieselben wie die schattenliebenden Pflanzen der Wälder, wo hohes Moos und Sauerklee grünt, sie sind auch anders als die Feldkräuter, diese vom Sonnenbrand bitteren Blumenbüschel wie Quendel, Kamille oder Mohn, der röteste von allen. Unter der Umzäunung der Gebüsche blühen hier vom Frühjahr an die gelbe Primel und das Leberblümchen, im Sommer die blaue Glockenblume, Zittergras und die Kartäusernelke. Hierher und wieder weiter zwischen Schwingel und Grasnelke jagen die zwei wilden Flüchtlinge dahin wie ein verrückter Sturmwind, wie scheu gewordenes Rind, wie zwei herunterkollernde Felsstücke. »Achtung!« zischt Rudolf, und schon sind sie fort, wo Kornblume, Kornrade und Grindkraut beginnen; Achtung! O, du elende Welt! Ach Gott, schön sind wir da hineingefallen! Mensch, warum gibst du nicht besser acht! Da geht doch der alte Schöppner mit einer Hacke unter dem Arm. Und hinter ihm die alte Schöppnerin mit einem Ranzen: Heilige Muttergottes, bin ich erschrocken! Schau mal, zuckt der Alte zusammen, das ist ja der Rudolf und der Wenzel! Hört mal, Burschen, was habt ihr's denn so eilig? Nun ja: es ist weder Sturmwind, noch sind's nächtliche Gespenster, herunterkollernde Felsstücke, noch scheu gewordenes Wild, da laufen ganz einfach Wenzel Kala und Rudolf Axamit – was für eine Teufelei treibt sie an, juckt sie wieder? – zu so später Stunde ganz unerwartet aus dem Wald hinaus, aus diesem Wald hinaus?

He, Burschen, hört mal, jetzt hab ich euch doch noch eingeholt, faucht ihnen der Atem des toten Hegers im Nacken, – ich liege dort und denk mir so, wenn die zwei nicht ordentlich aufpassen, ja, Burschen, da müßt ihr andere Beine machen, wenn euch jemand so aus dem Wald laufen sieht –.

»Schlimm steht es mit uns«, stieß Rudolf hervor, »jetzt sitzen wir drin.«

*

Aus den zottigen Wipfeln des Waldes schnellt ein Vogel hoch gegen den Himmel empor. Der bittere Reizker schwitzt Milch aus, im Moderholz knirschen die emsigen Beißwerkzeuge der Wespen. Den Baumstamm entlang bahnt sich der Bockkäfer seinen Weg, die langen Fühler hinter sich herschleppend. Der Flaum einer Distel schwebt durch den durchleuchteten Spalt zwischen den Fichtenästen. Der Friede Gottes, der Tag des Herrn liegt über dem Rücken der Wälder.

Unten auf der Straße stoppt ein Auto. Ein Herr steigt aus und macht sich am Fotoapparat zu schaffen. Hinter ihm ein zweiter im Sportanzug, zündet sich eine Zigarette an. Zwei Damen schlüpfen aus dem Auto und pflücken Knabenkraut.

»Herrlich ist es hier, was?« begeistert sich der Amateur und verbeißt sich mit dem gezückten Objektiv in die grüne Waldlandschaft. »Jetzt fahren wir fast schon drei Viertelstunden und immer noch tiefster Wald. Ein Revier haben sie da neben dem andern; man kann hier durch den Wald bis an die Grenze kommen.«

»Ja, das ist wirklich ein Wald«, meint der andere und blickt sich etwas zerstreut um.

»Ich kann das schöne Moos nicht vergessen, das wir gesehen haben«, erwidert eine der Damen, die Knabenkraut pflücken. »Wissen Sie nicht, wie dieses unerhört grüne Moos heißt?«

»Das Moos? Wie heißt denn dieses Moos nur?« überlegt der rauchende Herr und macht ein nachdenklich finsteres Gesicht, »seinerzeit wußte ich's, aber jetzt will es mir nicht und nicht einfallen –«

»Ist es nicht Torfmoos?« sagt die andere Dame.

»Nein, Torfmoos ist es nicht, vielleicht fällt es mir noch ein«, sagt der Raucher. »Im Torfmoos schlummern tagsüber die Irrlichter und der Feuermann, aber wie heißt es nur, dieses hohe, schöne Moos, welches das Ruhebett der Zwerglein und das Lager der Elfen war, dieses hohe, grüne Moos unserer Knabenzeit?«

»Sechs Aufnahmen habe ich jetzt gemacht«, meldet der Herr mit dem Fotoapparat, »rasch einsteigen, es geht weiter! Einige Kilometer von hier kommt ein Hügel, dort haben wir mal, denkt euch, weißes, blühendes Heidekraut gefunden –«

*

»Die können leicht fahren, Bande verdammte«, spuckt oben am Abhang Rudolf Axamit aus und stochert mit einem dürren Zweig im Gras herum, »wir haben nur unsere Beine.«

»Die Mutter hat mich erblickt«, erzählt Wenzel Kala, »und hat mich gefragt: ›Wohin gehst du, Wenzel?‹ ›Wohin soll ich schon gehen‹, sagte ich, ›nur so hinaus.‹«

»Ich hab mich von niemandem verabschiedet«, sagt Rudolf, »ich hab ihnen noch die ganze Milch ausgesoffen und dann geschaut, daß ich verschwinde.«

»Ob wohl die Gendarmen schon bei uns waren?«

»Kommt drauf an, ob sie ihn schon gefunden haben«, brach Rudolf den Ast entzwei.

»Und jetzt sind sie hinter uns her.«

»Mag sein.«

»Wie machen sie's? Mit dem Hund –«

»Meinetwegen mit dem Kamel; wenigstens haben sie was zu tun. Weißt du, Wenzel, ich will dir was sagen: sollen sie uns nur jagen! Sollen sie uns nur jagen in den Wäldern hier! Da, mein Lieber, fangen sie uns nicht so leicht! Sie sollen nur jagen, herumschnüffeln, sich anstrengen, sie fangen doch niemanden, und wenn sie niemanden zu fassen bekommen, vergißt man darauf. Solche Fälle hat es schon gegeben. Erinnerst dich doch: den Paduba haben sie auch gesucht, der in Hurka sein Mädel erschlagen hat; zwei Jahre haben sie ihn gesucht und nicht gefunden –«

»Aber dann haben sie ihn doch geschnappt.«

»Warum war er nicht gescheiter, der Esel der, hat sich fangen lassen: das Mädel hat ihn angeblich nicht schlafen lassen. Gewissensbisse hat er gehabt, das ist's. – Da gibt es noch eine Menge andere Fälle. Nimm dir den, den sie gesucht haben, der den Wirt samt der Wirtin in der Krakorka-Baude erschlagen hat. Sechs Jahre ist es schon her und sie haben ihn noch immer nicht. Wissen nicht einmal, wer es war. Und fast niemand erinnert sich mehr daran. Vielleicht geht es ihm irgendwo ganz gut.«

»Vielleicht lacht er sie alle aus.«

»Wir können auch lachen. Wenzel, Wenzel, sie sollen uns nur fangen in den Wäldern da, Gott mit ihnen; sie sollen's nur versuchen, mir ist es einerlei! Unsern dicken Wachtmeister möcht' ich gern sehen, wenn der kurzbeinige Schmerbauch wie eine alte Schabe im Wald herumjagt. Wenn es drauf ankommt, verschwinde ich eins, zwei, dann such, such, findest mich doch nicht, und am Ende sagst du noch, ich bin unsichtbar. Wenn sich der Mensch nicht im Wald verstecken kann, wo denn sonst!«

»Aber ihn – den Heger – werden sie doch finden.«

»Das ist eine andere Sache. Warum sollen sie ihn nicht finden, das ist nicht so wie wir; ein Toter – der versteckt sich nicht, der will sich gerade den Leuten zeigen.«

»Hm – auch nicht jeder: da hast du wieder Tote, die sich ganz besonders verstecken. Schau, so ein Selbstmörder. Der will sich nicht zeigen, der versteckt sich manchmal, Mensch – und wie! Verkriecht sich irgendwo auf dem Boden, in einem Winkel, in der Scheune oder im Schuppen oder irgendwo im Wald, damit ihn nur ja niemand sieht, und so finden sie ihn auch Gott weiß wann.«

»Oder auch nicht. Manchmal will sich so ein Selbstmörder ja gerade zeigen, als ob ihm wer weiß was daran liegen würde. Richtet alles so ein, daß er nur ja recht gesehen wird. Es gibt welche, die machen es mit Absicht, den Hausleuten zum Trotz, um sich für irgendwas zu rächen. – So wie mein Schwager: um fünfzig Kronen haben sie gestritten, um fünfzig Kronen, sag ich dir, und mit Kreide hat er es ihnen noch auf den Tisch geschrieben, damit sie's ja wissen …«

»Hübsche Sachen erzählen wir uns da auf dem Weg, Rudolf, alles, was wahr ist.«

»Das? Das kann mir nicht die Stimmung verderben. Ich hab mich nur so erinnert. – Freilich, geht es uns denn da in den Wäldern nicht gut genug? Mensch, es ist ja wie auf einem Ausflug; diese Bäume, die Sonne, Vögel gibt's, Blumen blühen, die Nächte sind jetzt wie Wein. Nichts zu tun, mein Lieber, gar mancher würde uns darum beneiden!«

»Das schon: der Wald ist von allem das Beste.«

»Es gibt Millionäre, die würden weiß Gott was zahlen, wenn sie so im Wald wohnen könnten, im Wald umherfahren und bleiben, wo es ihnen paßt, und dann wieder weiter – aber sie haben keine Zeit dazu.«

»Oder wie die Einsiedler. Gingen fort von den Menschen und lebten im Wald sorglos ihr ganzes Leben lang bis zum Tod. Alle Schätze der Welt hätte man ihnen anbieten können, der Wald war ihnen lieber.«

Über dem Walde wölbt sich die blaue Kuppel des Himmels wie ein unendliches Lächeln. Der Friede aller Frieden selber gelangte auf seiner unbeständigen Wanderung durch die Welt in diese Waldgegend; im grünen Netzwerk aller Vegetation hängend, sonnt er sich hier im flutenden Licht. Er blickt hinauf zur Kuppel des Himmels, sieht sich darin mit süß geöffnetem und friedlichem Auge und gibt ihr liebevoll das breite Lächeln zurück. Im stillen Frieden pulst das rote Blut und der weiße Saft all dessen, was lebt. Man hört nicht einmal den tickenden Laut eines jungen Rehes. Friede, atmet der süße Windhauch die Gräser an; Friede, flüstern die Gräser den Blüten zu, Friede, küßt die Blume mit ihrem Duft den Falter und der Falter schläft in ihrer Krone ein, berauscht von seinem zarten Leben. Friede, Friede, atmet alle warme Ferne.

»Schau mal, Wenzel«, fährt Rudolf auf und zieht eine automatische Pistole aus der Tasche.

»Die ist gut, das muß ich schon sagen«, wägt Wenzel sie neidisch in der Hand. Die ist verdammt besser als sein Messer, wenn es auch beiderseitig geschliffen ist.

»Und eine ganze Schachtel Scharfe dazu. Wenzel, ich sag dir was: schwören wir einander, daß – komme, was wolle – wir zwei immer Kameraden bleiben. Daß wir zwei uns nie verlassen.«

»Freilich, Rudolf, freilich!«

Alle Fernen atmen Frieden; die Kraft eines unbegrenzten Vertrauens hebt die Brust der beiden Kameraden. Vor Wohlbehagen die Glieder schüttelnd, wandern sie weiter.

Alles Licht und aller Schatten atmen Wonne. Unten, seht ihr, führt die Straße über einen Wildbach. Auf der Holzbrücke war ein Rudel Jungen stehengeblieben. Der zauberhafte Wirrwarr der Sonnenstrahlen, Schatten und rauschenden Wasser sprühen das Felsenbett hinab. Die Burschen singen und johlen. Hüpfen mit Koboldsprüngen umher und werfen Tannenzapfen und Äste in den schäumenden Wirbel.

Du seliger Lärm der Freiheit! Je iee, iee, uidy uidy ioo, ra raa! Die zwei dort oben im Jungwald atmen den Frieden all des Friedens ein; an diesem Tage ist's, als würde Musik spielen; unbegrenztes Vertrauen. Wie wohl wäre ihnen, so zu jauchzen; o überschäumender Becher der Freiheit, o Freundschaft! Ach, a uidy uidy ioo ra raa! Mit Koboldsprüngen umherhüpfen, aus vollen Händen dem Gischt des Wirbels nachwerfen, der hier in raschem Gefälle schneller als das Leben dahinschäumt.

»Gehen wir«, kommt Rudolf zu sich.

Hinter ihren Schritten schließt sich geschmeidig der Jungwald. Sie gehen sachte und gewandt, kaum ein Zweiglein rührt sich. In der dunklen Wölbung ihrer Brust sind alle übermütigen Koboldsprünge, alles fröhliche Jauchzen fest verriegelt. Umsichtig, klug und scheu dämpfen sie bei sich jeden Lebenslaut.

Ach, johlt, springt, lustige Jungen, beim Brückengeländer! Werft mit vollen Händen Erlenzweige in das Gefälle, das hier im glitzernden Wirrwarr der Sonnenstrahlen und Schatten schneller als das menschliche Leben vorüberjagt, unbekannt wohin.

Den vierten, nein, erst den dritten Tag verbergen sich Rudolf Axamit und Wenzel Kala in den Wäldern. Ihr Weg geht im Zickzack und führt Gott weiß wohin. Zwar sagen sie sich, sie gingen, wohin es ihnen beliebt, aber sicherlich ist es die Angst, die sie auf ungemerkte Pfade führt. Ihre Fahrten vermengen sich mit denen der Füchse und Hirsche, der Pfad, auf dem sie behutsam einer hinter dem andern schleichen, ist von der Blindschleiche und der Schnecke ausgetreten. Wahrhaftig, es sind Wege, die Menschen mit ehrlicher Tagesarbeit nicht gehen.

Sie lagern auf Buchenblättern, unter Birkenzweigen und im Himbeergebüsch. Die groben Finger sind vom Saft der Beeren befleckt und aus dem verdammten Loch der Münder, die voller Gewalttätigkeit sind, riecht es nach Erdbeeren. Oh, sage doch, schwarze Seele, hast du jemals etwas so Reines und Weißes wie eine Erdbeerblüte geschaut? Ich? sagst du, und wie oft! Was soll schon daran sein: die weiße Helle des Morgens, der mich (wie lange noch?) immer von neuem aus dem gestaltlosen Schoß der Nacht in den irdischen Tag geleitet, mich mit der menschlichen Gestalt umkleidend.

Die beiden halten sich aber lieber in der Nähe der weißen Erdbeerblüten und dunklen Efeuranken auf, noch lieber aber im Schatten, der der Schatten des Farnschattens ist, doch am liebsten im dumpfen Zwielicht, wo das wilde Unkraut des Bärenknoblauchs in die Nase beißt. Denn wenn sie die Angst treibt, was sind ihnen die menschlichen Gestalten? – Und noch eines ist sicher: Kameraden dieser Art können sich weniger vor der Nacht als vor dem Tag fürchten.

Aber nein! Sie fürchteten sich und fürchteten sich nicht, je nachdem, wie der Tag vorüberging und die Nacht sich heranschlich; weil sie wachsam und abgehärtet, weil sie stumpf und wild waren. Anscheinend, sagten sie sich, anscheinend ist das Glück auf unserer Seite; aber wir dürfen es uns nicht verscherzen. Und wirklich: obwohl ihre Fersen, vor der Strafe Reißaus nehmend, mit Blut gezeichnet waren, verfolgte sie niemand und der Flucht des Mörders war Schönwetter und Ruhe vergönnt.

Schweigend bot ihnen das Dickicht Durchlaß und streckte nicht sein Astwerk nach ihnen aus, um sie zurückzuhalten.

Obgleich die Einsamkeit immer dieselbe ist und ihr Wesen nirgends sich ändert, konnten sie sie doch in ihren zwei Wesensarten kennenlernen: die weiße Einsamkeit und die schwarze Einsamkeit. Was war sie ihnen jedoch, wenn sie auch in kleinlichem Gewimmel in den weiten Falten ihres Gewandes herumkrochen, während sie durch die Schatten und Lichter an den südlichen und nördlichen Hängen zogen, kaum wahrnehmbar unter der Sonne und ganz verborgen im Dunkel?

*

»Du schöner Wald, du großer, duftender Wald, du schöner, schöner Wald!« freut sich Rudolf Axamit über die Flut des senkrechten, waagrechten und schrägen Grüns. Hoch oben schwankt ein Tannenzweig unter dem leichten Sprung eines rostroten Eichhörnchens; ein zweites, noch feurigeres, läuft ihm nach. Unten blühen Vergißmeinnicht längs eines Wässerchens, das unsichtbar im Grase sprudelt. An einem nicht wahrnehmbaren Faden schwankt eine kleine Spinne, bedrückt von der kleinen Sorge ihres Lebens. O Leser, wenn auch wir in dieser Weile all das mit friedlichem Sinn erschauen könnten!

Hingerissen von der Schönheit und Mächtigkeit des Waldes sucht Rudolf etwas, womit er ihm sein blutsverwandtes Einvernehmen ausdrücken könnte: so hält er in der einen Hand einen frischen Zwerg und steckt sich eine rosa Blüte in den Mund.

Wenzel hinter ihm. Er sieht den Wald und den Zweig in Rudolfs Hand, erblickt auch die rosa Blüte zwischen dessen Lippen. Aber so wie das Innere einer Beere vom Kern erfüllt zu sein pflegt, so hat sich in seinem Innern eine Vorstellung festgesetzt:

»Der Heger hat wohl Begräbnis.«

Da erinnert sich Wenzel an daheim: merkwürdig scharf, eindringlich; ohne daß die klare Sammlung in seinem Herzen irgendwie mitleidig bewegt wäre, sieht er das Leichenbegängnis des Hegers.

Die staubige Serpentine längs der Ziegelei windet sich ein schwarzer Zul zum Kirchhof hinauf. Neben dem Leichenwagen gehen die Jäger mit Kränzen. Hinter dem Sarg in neuen Kleidern die vier Kinder des Hegers. Die Hegerin, ein weißes Tüchlein gegen die verweinten Augen drückend, schreitet neben einem reinlichen Alten mit weißem Backenbart; das ist der Vater des Toten; der Greis wundert sich, wie es möglich ist, daß der Vater den Sohn überlebt. Gott, wie ist das nur möglich? Ich, so hinfällig, so alt, und er wie ein Fels!

Der Zug biegt die Serpentine hinauf. Es ist ein feierliches Begräbnis. Die Herren von der Forstverwaltung sind dabei, das ganze Dorf geleitet den Toten, eine Menge Leute aus der Umgebung sind gekommen.

Wie dort, wo eine Quelle ist, sich der Felsenspalt unter lauteren Tröpfchen betaut, so sickern aus Wenzels Innerem glashelle Gedanken.

Er sieht die Ministrantenknaben in kurzen Chorhemden, sieht, wie das mit einem schwarzen Flor umrahmte Kreuz wellenartig zum Friedhof hinaufschwankt. Er sieht einen jeden aus dem Geleite; merkwürdig klar und hart erblickt er sie, wie sie da an ihm vorüberziehen, Herr oder Nichtherr, die hiesigen und die von drüben, Männer, Greise und Weiber und die versprengte Herde der Kinder. Jeden von ihnen kennt er. Die beiden Wirtsleute, den Lehrer und die Industriallehrerin, das Fräulein von der Post, den Müller vom Niedergrund und den Müller vom Obergrund, den Maurermeister aus dem Städtchen, den Kaufmann und den Schmied, die Ausgedinger von oben und unten, Leute aus den Einschichten und auch die bucklige Schneiderin. Er zählt: niemand von denen, die er hier erwartet hat, fehlt.

Der Leichenzug schreitet den sonnverbrannten Abhang hinan, Musik spielt.

Wenzel hört Elsners berühmtes Flügelhorn.

Du Stolz unserer Gegend, Elsners Flügelhorn! Es tönt, tönt, wie es immer getönt hat, wenn es Elsner Eduard, der berühmte Spieler, erschallen ließ. Es tönt, tönt mit schmetterndem und klagendem Tone, leichtflügelig erhebt sich sein heller Gesang zum Himmel, schwebt weit zu den Bergen, gleitet trunken von Gipfel zu Gipfel, wallt auf über die Wälder und vergeht wieder, weint und wehklagt; sein Klagen erfüllt weich die Täler, fährt sanft über die Abhänge, schmiegt sich innig an Hausgiebel, irrt durch Obstgärten, haftet süß an den Zweigen der Apfelbäume und läßt vor sehnsüchtigem Leid die Grashalme erzittern.

Mit diesem Flügelhorn, das er so oft zu Tanz und Begräbnis ertönen ließ, hat sich Elsner das schönste Weib der ganzen Gegend erspielt. Jäh und ohne zu überlegen folgte sie ihm, so zog die Zauberkraft dieser Musik sie an, daß sie nicht widerstehen konnte und sich von allen losriß, die sie zweifellos inniger, aus einem größeren Stück Herzen heraus geliebt hätten, als dieser hinkende und schiefschultrige Musikant, dessen ganzer Verstand und alle Kraft, dessen Seele und Herz nur in diesem seinen Flügelhorn waren. Er hatte sie hineingehaucht und hineingezaubert, als es ihm noch in jungen Jahren eines Tages schien, daß ihm Güte und Liebe und alle andern Regungen des Herzens und der Seele lästig seien. So spielte er zum Tanze, wenn sein Flügelhorn ringsum die bunten Fahnen der Freude flattern ließ, so spielte er auch zum Begräbnis, den Lebenden und den Toten, obgleich auch eine Musik von solcher Stärke, auch ein solcher Gesang, der über Berg und Tal schluchzt, keinen Toten mehr zurück ins Leben zu rufen vermag.

Elsner zaubert mit seinem Flügelhorn, öffnet dem toten Heger mit dem Ton seines Flügelhorns die Pforten des Himmels. Feierlich zieht der Heger dort ein; schon tragen sie ihn hinauf zum Kirchhofstore. Nun ja, er ist ein berühmter Heger: die ganze Gegend spricht nur von ihm. Alle im Zuge erzählen sich und reden nur vom Heger. Er war ein guter Heger gewesen: ein guter Mensch, ja, das war er, aber auch streng, wenn es sein mußte, aber wieder gerecht, ein Mensch, wie man ihn nicht so bald findet. Er hat ja auch ein großes Begräbnis, so eine Beteiligung hat man in der Gegend schon lange nicht gesehen. Niemand von denen, die hier sein sollten, ob aus dem Dorfe oder aus der Umgebung, fehlt.

Nur Wenzel Kala und Rudolf Axamit sind nicht dabei.

Berühmte, sehr wichtige Burschen sind das. Wer hat den Heger erschossen? Wer hat es getan? Wenzel Kala und Rudolf Axamit. So, so, die zwei; aber, Gevatterin, wie sollt' ich sie nicht kennen, die ganze Gegend spricht doch von ihnen; wie sollt' ich's nicht wissen! Das sind die zwei, die es getan haben, die sind bekannt, die zwei, die den Heger erschossen haben. Wo sind sie? Sie sollen nur kommen, sollen sich nur zeigen, die beiden! Wo ist Wenzel, Wenzel Kala und Rudolf, Rudolf Axamit? Flüchteten nach begangener Tat, verbergen sich, aber man sucht nach ihnen. Gut so, hoffentlich faßt man sie bald! Aber, mein Lieber: gebt acht, die zwei, das sind keine so harmlosen Gesellen. Wer einen Menschen so viehisch zurichten kann, der ergibt sich nicht so leicht.

Das sind zwei Wölfe, wilde Tiere, blutrünstige Teufel, wenn nicht noch Tollwütigeres; das sind nicht solche Menschen wie wir, wie Ihr, Nachbar, oder ich; ich wette, die haben Verwegenheit in sich, so einem wird von einem Tröpfchen Blut nicht gleich übel. – Solche Helden sind sie, die zwei.

Wenzel blickt Axamit an, wie er so vor ihm hergeht, mit den groben Rückenmuskeln die Joppe spannend, die pralle Hose von den harten Schenkeln gefüllt, die Waldblume zwischen den Lippen. Nein, das ist nicht mehr Rudolf, der durch den Dorfstaub stapft, Rudolf, der die Schubkarre vor sich herschiebt, Rudolf, mit der Ziehharmonika der Sonntagnachmittage. Schaut mal, wächst es in Wenzel, für uns war es eine Kleinigkeit, diesen Heger umzubringen – und wie sich jetzt unsere Stellung in der Welt geändert hat!

»Hör mal, Rudolf, jetzt sind wir was Kostbares geworden; von was anderm als von uns spricht man wohl nicht mehr daheim. Den Heger werden sie begraben – mit dem ist's Schluß – aber mit uns, mit uns haben sie den Kopf voll!«

»Das will ich meinen! Und in den Zeitungen schreibt man über uns –«

»In den Zeitungen! Und sicher suchen sie uns, da können wir Gift darauf nehmen.«

»Ich will es niemandem geraten haben. Es könnte sie reuen, könnte für so manchen schlecht enden.«

Wenzel stellt sich seinen Namen in den Zeitungen gedruckt vor. Hoho, das ganze Dorf wird vor Staunen das Maul aufsperren. Ja, staune nur, Welt: Wenzel Kala und Rudolf Axamit! So ist es also. Da fühlt er, wie sein Schicksal ungewöhnlich anwuchs: Wenzel, du hast dich ja bisher selbst nicht gekannt, wußtest nicht einmal, wen du in dir trägst!

»Rudolf! Mit uns, Rudolf, ist das jetzt anders als früher. Anders als bei den andern; das ist nicht nur so.«

»Ach«, sagt Rudolf, »das kann man gar nicht vergleichen.«

*

»Schau, Wenzel«, sagte Rudolf und legte den Fingernagel auf die rauhen Mauerüberreste dort oben, wo in fernen Zeiten einmal eine Raubritterburg gestanden hatte. »Damals hätten wir auf der Welt sein sollen, mein Lieber, das wäre was für uns gewesen. – Aber jetzt?«

Das war einmal eine Burg und ist es nicht mehr. Das waren Zeiten und sind nicht mehr. Wenzel denkt nach, wie sein Schicksal anwuchs. Ich wundere mich selbst darüber, aber es ist schon so, daß sich mit uns nicht so bald einer messen kann. Den Heger haben wir des Rehes wegen umgebracht, und wenn sie uns jagen werden, meint Rudolf, könnte es für so manchen schlecht enden. Und ich bin auch so einer wie er, mein Kamerad. Ja, das sind wir; das ist Schicksal, so hat sich unser Leben gestaltet. Wo hätte ich geahnt, daß wir solche Herren über Tod und Leben werden würden, wir zwei!

Der Wunsch nach Unvergänglichkeit wallte in ihm auf. Er stellte sich auf den Stein und begann mit der Spitze seines Taschenmessers ein großes W. K. zu ritzen und darunter Tag und Jahr.

»Hör auf damit, du Narr, was denkst du denn, wenn das jemand hier findet?«

Die Arbeit war schon fast fertig und Wenzel führte sie auf andere Weise fort: mit der Messerspitze kratzte er alles wieder aus, zerstörte, was er mühevoll angefertigt.

Sein Namenszug verschwand, die Zeitangabe verschwand. Wenzel Kala löschte sein Ich auf dem Stein aus. Gründlich und geduldig, mit der angenehmen Befriedigung einer ordentlich getanen Arbeit.

»Macht nichts«, brummte er, als er damit fertig war, »man wird uns ohnehin nicht so bald vergessen!«

*

»Wir sind aber Kerle, wir zwei –«, erhob sich am Morgen Rudolf von seinem Lager aus dürren Blättern. Zwei wilde Waldtiere, Löwen, Falken, zwei wilde Tiger der Walddickichte, wir. Hoho! An uns kommt man nicht so leicht 'ran.

»Ich denke, sie haben Angst vor uns.«

Was? sieht denn dieser Wenzel da aus, als ob er sich fürchte? Finster und mutig blickt er drein, als führte er eine ganze Kumpanei Teufel in den Kampf. Auf den, mein Lieber, kann man sich verlassen. Die zwei, glaub' mir, hätten ihren Mann gestanden in früheren, tapferen Zeiten. Da hätte die Welt was gesehen! Was?

Man nannte sie den Schrecken der Wälder, fabelt Rudolf Axamit.

Zwei Raubtiere der Schluchten und Dickichte treten aus dem Wald.

»Heut bin ich bei guter Laune«, streckt sich Wenzel, und schon marschieren sie keck geradeswegs auf die Straße zu. Uns sollte was verboten sein? Wir sind heute mehr wert, als daß wir uns immerfort nur durch Unterholz und Geißfuß, durch Sumpfboden, ekelhaftes Geröll und Reisig durcharbeiten müßten, wir husten auf alle Gefahr.

So, so, Kamerad, nur immer fröhlich weiter; wer weiß, ob uns dort vorn nicht was Besseres erwartet!

*

Halt, sagt der Leser, das scheint mir irgendwie nicht zu stimmen. Etwas wundert mich da: wie kommt es, daß diese zwei, Wenzel und Rudolf, einer solchen Stimmungsschwankung unterliegen? Sie haben einen Heger auf viehische Weise umgebracht und flüchten nach getanem Verbrechen; das stimmt. Sie laufen aus Furcht vor der Verfolgung, ducken sich vorsichtig wie Hasen, verbergen sich im Grase, denn sie sind voller Angst, die Gendarmen könnten sie jeden Augenblick schnappen. Möge ihnen diese flammende Angst die Lunge ausbrennen, möge sie die Bösewichte an der Gurgel packen und sie erwürgen, möge sie den Strolchen mit ihren wütenden Zähnen nach Verdienst die Gedärme ausreißen!

Und da auf einmal begeben sie sich ganz keck auf die offene Straße, unüberlegt und geradezu mit einer blinden Frechheit. Wo ist da die Folgerichtigkeit? Wie kann jemand zugleich feige und gleichermaßen frech sein?

O doch, Leser! Zum Beispiel Wenzel Kala und Rudolf Axamit. Und nicht nur sie allein. Jeder von uns trägt irgendwo etliche Erfahrung, daß Furcht und rohe Bosheit zugleich in einem Körper wohnen können, ohne in so unerträglichen Widerspruch zu geraten, daß dem Betreffenden sein eigenes Leben unmöglich erschiene.

Und warum eigentlich, so frage ich, sollte ihre Stimmung nicht wechseln? Manchmal flohen sie im Sonnenlicht, ein andermal duckten sie sich im tiefen Schatten; vielleicht änderte sich das auch in ihnen, je nach dem Charakter der Gegend. Und warum sollte sie nicht auch vollständig grundlos wechseln, in jähen und unlogischen Sprüngen, warum sollte sie sich nicht ändern, da doch die Stimmung ihrem ganzen Wesen nach unstet und veränderlich ist! Und was das Wesentlichste ist: ein kranker Körper setzt sich mit der Krankheit auf solche Art auseinander, daß er ihren Stürmen ebenso gesteigerte Duldsamkeit wie Tatkraft entgegenstellt. So auch der, wer in Drangsal ist und verfolgt wird. Ist er Herr seines Schicksals? Weiß er, was die nächste Stunde birgt? Das ist die untätige Rolle. Aber in dem Maße, wie er es nicht über sich bringt, sich gegen dieses Geschehenlassen nicht aufzulehnen, geht er in die tätige Rolle über. Er flieht, will aber zugleich handeln. Er ist in schlimmer Bedrängnis, bäumt sich aber nach der Sorglosigkeit auf. Der Schrecken kitzelt ihm die Fersen, und doch treibt es ihn, den Herrn zu spielen. So ist das Bessere mit dem Schlimmeren in ständig schwankendem Gleichgewicht in ihm. Wen nimmt es dann noch wunder, daß sich seine Stimmung ändert!

Ihren Mord werden sie ohnehin nicht so leicht geschenkt bekommen. Zweifellos fragt die Gerechtigkeit nach ihnen, sie bleibt ihnen auf den Fersen, sie werden verfolgt. Aber wie wir sehen, weist diese Jagd bisher noch keine sichtbaren Umrisse auf. Sie ist formlos; kein bestimmtes Muster tritt bis jetzt aus ihr hervor; noch hat sich ihnen kein solches Zeichen in den Weg gestellt, das augenscheinlich bewiese, daß sie noch mehr der feigen Scheu achten sollten, als ihnen an diesem schönen Morgen erträglich schien.

An diesem Tage also fühlen sich Rudolf und Wenzel auf freiem Fuße. Sie sind Herr ihrer Schritte und – das wird sich vielleicht noch zeigen – auch die Herren wer weiß wessen noch. Sie können tun, was sie wollen; kein fremder Wille, keine fremde Macht kann den beiden für heute noch für später etwas vorschreiben. Da hat ihnen das tätige, unternehmungslustige Element des Fangenspielens seine schönere Seite zugewendet und leuchtet ihnen auf dem Marsch die Straße entlang. Lustig geht es auf ihr zu und sie benehmen sich so laut, als wäre ihrer eine ganze Bande; es marschieren ja auch mit ihnen die Kühnheit, die Verwegenheit und der Erfolg, die ungekämmte Brüderschaft grober Manieren, frecher und lärmender als die verzehrende und grünlichbleiche Angst, die nur lispelt, immerzu lispelt, und zwar immer und immer dasselbe.

*

Eins, zwei.

Eins, zwei.

Ho! strafft sich Wenzel: wir begegnen Leuten, wir zwei! Da bin ich selber neugierig, wie sich unsere Freiheit äußert!

»Schau – ein Junge!«

Auf der Straße kommt halb gehend, halb hüpfend ein Junge mit einer Tasche daher.

Hoho! sieht wie ein Mensch aus und ist doch kein Mensch: ist nur ein Junge. Wenzel findet die erste Begegnung mit der Menschheit komisch: ich erwarte Gott weiß was, und inzwischen ist's nur ein halber Mensch, ein Stückchen nur, ein kleines Muster Mensch. Du krausschopfiger Bengel du, wenn du wüßtest, was für eine Macht ich an dir erproben könnte! Wenn du mal groß bist, könntest du erzählen.

Der Junge schlenkert mit der Tasche und summt mit gekräuseltem Schnabel ein selbst ersonnenes Liedchen.

Ich könnte dir das Lied von den Lippen nehmen und es in Angstgekreisch verwandeln, ich könnte dich hier mit einem Schlage festbannen, durchschütteln, könnte deinen Hüpfern ganz verdammt Beine machen!

»Komm, Rudolf, nehmen wir ihm die Tasche!«

»Ach, laß sein!«

Der Junge beginnt zu rennen; mit den bloßen Füßen auftappend, dreht er die leere Tasche im Kreise.

Nun, sagt sich Wenzel, auch wahr; was sollen wir damit? Es ist, als würde ein Spatz über die Straße hüpfen.

»Du Narr!« knurrt Rudolf durch die Zähne, »was für ein Teufel sitzt dir im Hintern? Übrigens, schau: da kommt jemand.«

»Wo?« fragt Wenzel, obwohl er es selber sieht. Jemand kommt ihnen auf der Straße entgegen. Was wird das wieder sein? Was für einen Abgesandten sendet ihnen die Menschheit da wieder in den Weg?

Ein barfüßiger Alter taucht auf. Sein Gewand hat die Farbe verwitterten Pferdemistes und ist aus hunderterlei fadenscheinigen Flecken genäht. Ein krummbeiniger Alter, voller Spreu, auf beiden Beinen hinkend, schwach auf den Augen. »Gelobt sei …«, flüstert er und schlurft weiter, langsam, ausdauernd und sorgenvoll, damit er das Seine nicht versäume.

Ach Gott, Menschen! Wenzel stieß verächtlich in einen Stein, und der Stein flog weit fort; ach Gott, Welt, übel sieht es mit dir aus. Was ist das für uns, für solche zwei!

Ja, wirklich wenig; klein war es, unscheinbar und schwach. Die Welt zeigte sich gleichgültig, kindisch, altersschwach und machtlos. Griff weder an noch wehrte sie sich, offenbarte weder Kraft noch Willen. Wenzel wurde heiter gestimmt. Die unübersehbar weite, vielbeinhaltende, von der Sonne überflutete Materie ergab sich mit herausfordernder Schwachheit dem Gelächter des Ausgestoßenen.

In einer Biegung des Waldweges erhob sich unter einem kleinen Dache auf schiefem Pfahl das Bild der Muttergottes. Irgendein Gottloser hatte das Glas aus dem morschen Rahmen herausgeschlagen, und irgendwer in Demut zu ihren Füßen Rosenknospen, verwelktes Löwenmaul und Wucherblumen gelegt. Wenzel begegnete dem verblaßten und abwesenden Blick des Bildes, als er frohgelaunt um sich sah, womit er seine Herrschaft kundgeben könnte. Wenigstens das! sagte er sich und zog mit leichtem Ruck den Pfahl aus der Erde. Darauf begann er Rudolf nachzulaufen, über sich das Marienbild als Banner schwingend. Rudolf grinste. Wenzel tat, als stellte er sich an die Spitze einer Prozession und plärrte ein Wallfahrtslied durch die Nase.

Rudolf nahm jedoch den Spaß irgendwie unwillig auf.

»Hör auf mit dem Geplärr! Und das da« – er entriß Wenzels Hand das Spielzeug und warf es in ein Dorngebüsch – »hättest du auch lieber stehenlassen sollen!« Mit jähem Flügelschlag flatterte unterm Dornbusch eine Schar Rebhühner auf. – Nein, darin ist kein Zusammenhang, das scheint nur so, erschrak Wenzel, der den Sturz der Muttergottes und das Hochfliegen der lärmenden Vögel mit Ohren und Augen verfolgte.

»So, damit du keinen Blödsinn mehr machst«, stieß ihn Rudolf an. »Schau, du Dummkopf, dort. Das ja, das ist was!«

Da sieh mal! Dort vorn in der Birkenallee, meiner Seel, das sieht fast aus wie ein Weibsbild und noch dazu ein junges. Verdammt und zugenäht, das ist was, das könnte sich lohnen. Bist doch ein verflixter Kerl, Rudolf. Mensch, komm, die Ware müssen wir uns doch aus der Nähe begucken!

Rudolf leckt sich die Lippen ab und pfeift ein Liedchen, ein gut bekanntes aus früheren Tagen, eines von Elsners Liedeln. Wenzel nimmt es etwas tiefer und untermalt es mit der zweiten Stimme. Die Beine schreiten militärisch aus, die Hände baumeln fesch vor- und rückwärts. Rudolf denkt sich inzwischen eine scherzhafte Anrede aus.

Lieblich bewegt sich der zimtfarbene Rock des Mädchens, das sich darin wie eine junge Henne emporreckt. Sie hat wohl feiertägliches Zeug an! Auf dem Kopfe ein Seidentuch steif wie aus Papier, Schnürstiefeletten bis zur halben Wade, o du meine Güte, das sehe ich gern!

»Guten Tag, Fräulein Ännchen, mein Herr Kollege da streitet mit mir, daß Sie Marie heißen, ich wieder sage, daß Sie eine Toni sind; um was wetten wir, daß man Sie Rosa ruft, nicht wahr, Fräulein Fanni?«

Die Kameraden segeln vorwärts, jeder auf einer Straßenseite, Rudolf rechts, Wenzel links, Kopf hoch, Brust heraus. Die Schnauze hebt sich zu unternehmungslustigem Lächeln: so, nun los, werden gleich sehen, ob das Mädel zu was taugt oder nicht.

Das Mädchen will sich nicht einmal umblicken.

»Wohin denn, Fräulein, so früh am Morgen, wohin denn, wohin? Nehmt uns mit, damit wir uns nicht verirren, wir haben im Wirtshaus Auto und Schofför vergessen.«

Aber das Mädel ist spröde, will sich nicht umschauen und starrt hartnäckig geradeaus. Und jetzt rasch, o verdammt, den hat auch der Teufel hergeführt, steht da nicht ein alter Onkel mit einer Holzfuhre! Das Mädchen läuft auf ihn zu und beginnt ein Gespräch.

Also Rückzug, Jungens! Verdammt noch mal, ein Mädel wie eine Knospe, wie ein Röslein, und der Hutzelmann ist ihr lieber! Das Ding fühlt sich nun in Sicherheit und blickt jetzt so unschuldig drein, als würde es nichts mehr auf der Welt außer Fassung bringen. Der Alte beim Wagen wirft einen prüfend sinnenden Seitenblick auf die beiden.

Mein lieber Freund, da sind wir abgeblitzt!

Also wieder nichts!

Rudolf und Wenzel marschieren weiter; nun, nichts haben wir ausgerichtet, das Mädel ist erschrocken, hehe, und dann war der Alte da und weiß Gott wer noch alles um das Holz herum war – verdammt, jammerschade, ist das ein Elend! Wird sich schon noch eine andere finden! In den Burschen tobt es vor Übermut. Uns ist es erlaubt, was fällt euch ein, so was macht uns doch nicht zahm! Wenzel maß Rudolf mit einem Blick; du Mordskerl du, wir stehen einander nicht nach!

Wenzel betrachtete Rudolf: hei, die Joppe, wie die Muskeln sie spannen, die starken Schenkel, zum Bersten in die Hosenbeine hineingepfercht. Ja, und der Hintern fadenscheinig, zerlumpt, der ungekämmte Schädel voller Tannennadeln, Moos und trockenem Laub; alles was recht ist; so ein Quartier im Wald gereicht niemandem zur Eleganz. Die Schuhe gerade gut für den Galgen, überprüft Wenzel seine Garderobe; der Rock, als hätte er ihn irgendwo aus einem Straßengraben geholt, von dem übrigen gar nicht zu reden. Na servus, was erlauben wir uns denn mit so einer Parade, das ist für so ein Feiertagsmädel doch etwas zu viel. Und diese herrliche Bartpracht, Gott segne sie! Mit dem Bart ist es uns nicht sonderlich gelungen; mit Verlaub, Herr, womit begießen Sie denn das? Auf Rudolfs Wangen sproßt es rötlich; ein Höllenküchlein brütet sich aus seinem Kinn aus.

»Hm, denk ja nicht, daß du anders aussiehst. Solche Barone – verflucht, da sollen sich die Mädel nicht vor uns fürchten.«

»Rudolf, so können wir uns nicht zeigen. Es geht nicht nur um die Mädel – so können wir nicht aus dem Wald 'raus.«

Rudolf blickt die Straße hinab und hinauf. Sie sind ordentlich zugerichtet, schade um jedes Wort. »Na, dann wieder 'rein in den Wald. Es wird schon anders werden. Wir lassen das nicht so, es wird sich schon was finden.«

*

Toni, daß du mir mit Peppi nicht wieder in den Hühnerstall kriechst, das sag ich' dir!« ruft der Vater und nimmt die Zügel.

»Ja, ja«, läßt sich die Mutter hinterm Tor vernehmen, »gib schön acht, daß Peppi nicht irgendwo 'runterfällt. Ich bin in einer Weile wieder zurück, du weißt schon, was du sonst kriegst!«

So fuhren die Horaks mit dem Mädchen um Heu und ließen Toni allein da, damit er auf den kleinen Peppi achtgebe.

Da sitzt nun Toni auf der Bank neben dem kleinen Peppi, sieht, wie sie wegfahren und ist mißmutig. So viel gibt's auf der Welt, was er tun möchte, aber er muß Peppi behüten. Und Peppi ist zu nichts. Ist erst zwei Jahre; was soll man da mit ihm anfangen!

So sitzt er neben Peppi, blickt über die Zehen seiner nackten Füße auf die harte, unwirtliche Erde und merkt, daß er sein Brüderchen nicht genug gern hat. Wir sollen den Bruder in brüderlicher und christlicher Liebe lieben; aber er kann nicht, weiß Gott, er kann nicht. Wie soll er ihn genug lieben, wenn die trübselige Pflicht, Peppi zu behüten, ihm die gebührende Entfaltung seines Lebens nicht erlaubt, wenn ihm der kleine Bruder alle Freuden des Daseins verkürzt! Traurig und öde hat es Toni in der Welt; schlecht ist es auf der Welt eingerichtet, leidvoll muß Toni in der Knechtschaft des kleinen Peppi schmachten. Er könnte mit den Jungens in den Erlenwald gehen, aber er muß Peppi hüten; er könnte mit den Kameraden zum Bach, aber da ist Peppi; er könnte in den Steinbruch, aber kann er denn mit Peppi? Peppi beschränkt seine Freiheit, tritt seine Persönlichkeit mit Füßen; mit den schwachen Beinchen behindert Peppi seinen Tätigkeitsdrang, fesselt ihn mit seinem unbeholfenen Körperchen, unterdrückt seine Seele mit seiner zweijährigen Dummheit, bindet auf der Erde, in der Luft und unter Wasser all seine Flugkraft.

Der kleine Peppi hockt sich neben ihn auf die Bank, ganz mit sich selber beschäftigt, und macht sich nichts aus Tonis schmerzhaften Gedanken.

»Peppi, kau' nicht an dem Hölzchen, schluckst es noch.«

So, und jetzt heult Peppi noch dazu.

Also, was jetzt? Toni packt Peppi und geht mit ihm in den Schuppen. Dort setzt er ihn in die Pritsche und sich selber auf den Bock. Ärmlich und dumm ist das Spiel, er weiß, es ist nicht viel wert, aber doch besser als nichts; und vielleicht schläft Peppi dort ein. Aber Peppi hat nicht die Absicht einzuschlafen und kriecht zu Toni auf den Bock. »Also komm! Schau, Peppi, wir fahren zum Onkel Heinrich auf Kirchweih. Hüo, Pferdchen, hüo, Schimmel, hüo!«

»Jüo!« plappert Peppi und fährt. Er fährt zum Onkel zur Kirchweih, aber Toni fährt nicht: die Pritsche bewegt sich nicht, nichts bewegt sich, die ganze Welt steht still in unbeweglichem Bann. Nichts geschieht auf der Welt, alles ist stehengeblieben, nichts ist was wert. In tauber Blödigkeit ist die ganze Welt erstarrt, hat sich wie ein vom Star befallenes Auge ganz mit der farblosen Haut des Nichtseins überzogen, nur Peppi schreit »Jüo!« und fährt. Toni fühlt sich als Peppis Gefangener und noch ärger. O Bruder, fühlst du denn nicht, daß du mein Kain bist? »Jüo, jüo!« schreit Peppi wacker und fährt seinen Bruder auf der Pritsche, deren Räder sich nicht bewegen, durch eine freudlose Welt, in der es weder Bewegung noch Wirklichkeit gibt, durch eine Welt, tot wie ein Grab, leer wie eine taube Nuß, eine Welt, die in Verzückung stumpfsinnigsten Nichts steckenblieb, in der nichts, aber rein nichts ist. Ach, seufzt Toni, könnt ich doch lieber sterben!

Toni – Toni –«, durchdringt ein liebliches Stimmchen die stumpfe Leere und arbeitet sich munter durch die tote, glatte Schale dieser reglosen Welt.

Toni rührt sich nicht.

»Toni –«, pickt sich keck durch die schon geborstene Schale der Leere das goldgelbe Hühnchen der Stimme.

»Toni –«, erklingt es hinterm Tor aufmunternd und energisch.

»Toni, komm zu uns«, lockt eine unwiderstehliche Stimme.

»Was?« kommt es aus Toni. Das sind Zölestin und Adalbert Suchy, seine besten Kameraden.

»Toni, komm zu uns.«

»Ich kann nicht«, kommt es heiser aus Toni, »ich muß auf Peppi achtgeben.«

»Toni«, lockt Zölestin, »die Unsern haben eine Kuh gekauft, komm sie dir anschauen!«

»Ich muß bei Peppi bleiben!«

»Toni, wir machen uns eine feine Schaukel!«

»Wenn ich nicht kann!«

»Oder gehen wir Frösche fangen, Toni –«

»Kommt ihr zu uns, ich muß daheim bleiben.«

»Ach, was sollen wir da, da ist nichts.«

»Wenn ich aber bei Peppi bleiben –«

»Jüo!« schreit Peppi und fährt. Lieber Gott im Himmel, erbarme dich, die Jungens laufen mir sonst davon, wird es Toni bitterweh, und ich bleib wieder mit Peppi allein, ich Unglücklicher. »Jüo!« schreit Peppi; sein Mäulchen ist vergnügt speichelnaß, er fährt zum Onkel Heinrich, die Räder der Pritsche bewegen sich nicht und die Welt steht still.

Lalala, rarara, hoho, lala, rara – im Dorf unten erhob sich plötzlich ein übergroßes Gelärme und Geschrei. Die Triebfeder der Welt begann sich zu bewegen, etwas Gewaltiges geht los. Hoho, lala, rara! Hunde kläffen, ein Gewirr von Männer- und Frauenstimmen quillt bis herauf.

»Dort ist was geschehen, Toni, Toni, komm rasch mit!«

Toni kann sich nicht mehr halten und ist mit einem Sprung vor dem Tor.

»Das ist bei Holovskis! – Wahrscheinlich brennt's!«

Unten brodelt ein wirres Durcheinander.

»Jungens, laufen wir hin. Toni, rasch, nimm Peppi mit, rasch, rasch, kommt zuschauen!«

Sie packen Peppi, Peppis kleine Beinchen kommen nicht nach, sie schleifen ihn den Hügel hinunter, Toni mit Zölestin. Rasch, Jungens, rasch! Hüo! Wie die Welt in Bewegung geraten ist!

Den Holovskis ist ein Fohlen in die Kellerluke gefallen und jetzt können sie's mit aller Gewalt nicht heraufziehen.

*

Als Rudolf gesagt hatte, daß sie sich schon auf irgendeine Weise helfen würden, hatte er weder eine klare Vorstellung von der Zeit und dem Orte, noch von der Art der Hilfe, die sich ihnen darbieten sollte. Es dünkte ihn nur, daß Menschen, die etwas nötig und Mut haben, eher entschlossen sind sich zu helfen als jene, denen es um nichts geht und denen an einer Veränderung nichts liegt. Weiter dann, daß diese übrigens ziemlich unvollkommene Welt doch hie und da unbeherrschbare Gelegenheiten bietet, die man – wenn es nicht anders geht – wenigstens im bösen ergreifen kann.

Eine Welt, die dem Menschen Gelegenheiten bietet, sich zu helfen, ist noch nicht die ärgste aller denkbaren Welten. Rudolf und Wenzel waren zufrieden und gleichzeitig gespannt, wann sie mit dem Ort und der Zeit zusammentreffen, wo die offene Gelegenheit auf sie warten würde.

*

Sie lagen oben im jungen Birkenwald und blickten hinab, was ihnen so am nächsten läge. Die Hausleute fahren mit dem Wagen fort und überlassen die Wirtschaft der Vorsehung und zwei Kindern zur Aufsicht. Die Kinder laufen davon und anvertrauen Haus und Hof der göttlichen Fürsorge. Die göttliche Fürsorge senkt sich herab auf die Kinder und das Füllen, das in die Kellerluke gefallen ist und nicht herauskann, und überläßt Haus und Hof der Gelegenheit, die – obwohl nicht groß an Gestalt – es sich hier recht bequem und breit macht, überlegend, wem sie hold sein könnte. Die zwei Stromer im Birkenwald gefallen ihr, und so beginnt sie ihnen mit den Augen zuzuzwinkern. Ja, ja, sagt sie sich, die Leute nennen mich Gelegenheit, und doch versteht man mich so wenig: einige überschätzen mich und nicht gerade zu ihrem Schaden, ein andermal wieder werde ich nicht richtig ausgenützt. Die beiden dort, würde ich sagen, haben Bedarf und Mut. –

Und so winkt sie ihnen zu, neugierig, wie sie sich helfen werden.

*

»Komm dort 'runter«, kommandiert Rudolf, Witterung nehmend. In Wenzels Mundwinkel blitzen die Zähne; ihm ist ein Stein vom Herzen gefallen, weil die Kinder fort sind. So ist es besser. Reine Luft, nichts wird sie behindern. Nur die Gelegenheit lächelt ihnen mit ihrem ausdruckslos glatten Gesicht zu.

»Das haben wir gut getroffen!« sagt Rudolf, und schon sind sie, ohne viel große Worte zu machen, dabei.

Das Fenster rückwärts unterm Birnbaum gibt ohne viel Widerstand Rudolfs Kraft nach. Schon sind sie drin, schon schließt sie dieser merkwürdige Geruch der Bauernstuben ein, dieser mehlige und säuerliche Geruch des bäuerlichen Wohlbehagens: der Geruch von Sauerteig, Milch und Käse, der Geruch von Schweiß, Lederstiefeln, locker gefüllten Federbetten, Hühnermist und Hahnenkamm, und Hinterm Fenster der Duft der Myrtenstauden und Kranichschnäbel, das große, friedliche Vieh, die große, warme, weißliche Kuh des ländlichen Daseins, das diese zwei fremden und unbewußten Gäste aus seinen sanften, weit geöffneten Augen anstarrt. Oha, Alte, oha! Das ist ein anderes Zuchttier als ein Pavian oder geiler Mandrill, dressierter Pudel oder abscheuliches Krokodil, als ein stolzer Pfau oder kalter Salzwasserfisch, das ist ein hundertmal besserer Geruch als der Geruch von Gipsstaub, glänzendem Messing und verbranntem Öl, als der Gestank von Phosphor, Lack oder Eisenfeilspänen. Das ist das Beste von allem, was Fell oder Haar hat und warmes Blut, von allem, was sein Dasein durch den Geruch seines Wesens bezeugt. Das ist ein anderes Haustier Gottes, ein besseres Zuchttier als die piepsende Maus, dieses kleine, gefräßige Luder, das in den Bergen im Werg der Weberstube haust!

»Hm –«, schlaucht Wenzel mit weit geöffneten Nasenlöchern den Geruch ein, »das ist was anderes als dort im Wald.«

»Such nur herum und schnüffle nicht so viel, damit wir bald fertig werden!«

Flink gehen sie an die Arbeit. Der Fußboden knarrt unter den hastigen Schritten, Schlüssel klirren, Truhendeckel und Kastentüren kreischen. Ein alter Kalender fällt klatschend zu Boden, Glaskorallen rasseln. Der rasche Griff läßt den Kleiderschrank krachen, ein aufgehängter Rock zuckt in jähem Krampf, daß der Aufhänger abreißt. Papiere, Bestätigungen, Heiligenbilder und Fotografien fliegen durcheinander. Laden springen unter dem kräftigen Zugriff auf, sind bald erledigt, schieben sich halb zurück, sich verspreizend, wo ein grober Stoffzipfel hervorsteht und hindert.

Die große, weißliche Kuh des ländlichen Friedens weiß nicht, was sie von all dem halten soll. Verständnislos steht sie da inmitten der heftigen Unordnung und glotzt die beiden wilden Gäste stumm an aus ihren sanften, weit geöffneten Augen. Oha, Alte, oha! Du würdest anders muhen, wenn sie dir so das Dach über deinem weißen, gehörnten Kopf anzündeten, wenn so ein Krieg über deinen Rücken hinwegfegte; erinnerst du dich noch, wie es zu jenen Zeiten war, als das Soldatenvolk bei den Bauern schaltete und beschlagnahmte! Das hier verstehst du auf keine Weise. Du Dumme, du würdest schon anders muhen, wenn es die Hausleute wären, die mit so eilfertiger Hast ihre Ranzen schnürten und dich Hals über Kopf, atemlos und wehklagend verließen! Die zwei haben es auch sehr eilig, tragen aber ihre Ranzen in Stille fort.

Nur die Henne gackert laut auf, sich unter das Fenster rettend, durch das sie hinaussprangen.

*

Leichtfüßig läuft der Hase durchs schattige Tal, da er auf seinen Schulterblättern nichts Schwereres trägt als sein aschgraues Fell. Leicht flattert der Vogel durchs Geäst, denn seine Flügel und Beinchen werden durch keine Last beschwert. Und eilig entkommt der Laufkäfer im trockenen Laub, denn auf seinem Rücken sitzt nichts als das Glitzern eines Sonnenstrahls.

Schlecht ist so ein Hasendasein, denkt Wenzel, und unvollkommen ist der Anteil der Vögel und Laufkäfer. Was haben schon Hase, Vogel und Laufkäfer, um das sie der Mensch beneiden könnte? Hoho, schlecht stünde es um den Menschen, der die Täler des Lebens durcheilen müßte gleich dem Hasen, dem Laufkäfer oder Vogel, niemandes Geschöpfe, die selbst sich nicht angehören! Ob denn nicht derjenige zu den ärmsten und elendsten Kreaturen dieser Welt zu zählen ist – gleich dem scheuen Tiere oder dem Käfer –, der nichts besitzt, kein anderes Gut und Eigentum außer seinem nackten Leib und seiner nackten Seele, unter deren Gestalt er macht- und hilflos in die Knechtschaft des Alls einging! Der Körper gehört der Natur, die Seele einem, von dem wir nicht wissen, wer er ist, einem unnahbaren, hochfahrenden, von allen am übermütigsten Herrn, der sich gar wenig um sein Eigentum kümmert, denn das Hausen auf dieser Erde ist ihm viel zu eng. O Seele! Der Stoff deines Körpers wird in Fäulnis geraten und das Verderben des Fleisches, das nicht dein Eigentum war, wird dich ausstoßen und dich zur Bettlerin der Winde machen; o Körper! diese Seele, die keiner deiner grimmigen Kräfte auf immer in dir festzuhalten vermag, entflieht und geht verloren aus dir in der Todesstunde, denn – niemandem gehörend – war sie nicht einmal dein. So nackt und niemandes Eigentum ist der Mensch gleich dem Tiere, dem Käfer oder dem Vogel, der außer seiner nackten Seele und seinem nackten Körper nichts hat, was er sein greifbares Eigentum nennen könnte. O, um wieviel fester und sicherer fühlt sich der Mensch auf dieser Welt, wenn er darin irgend etwas sein eigen nennt; tausendmal blutsverwandter, anhänglicher als die Natur, das All, sehnt sich das Eigentum, den Menschen als sein Eigentum zu besitzen. Glücklich, du Mensch, solange du deinem Eigentum angehörst: deinem Feld, deiner Hütte, deinen Dingen, deinen Kleidern, deinem Geld; wohl dir, solange du deinem Ranzen gehörst, den du – besser daran als ein Hase, Käfer oder Vogel – mit dir schleppst.

»Einen feinen Ranzen hab ich mir gemacht.« Fiii – pfeift sich Rudolf eins – fein haben wir uns geholfen! Nichts hatten wir und – sieh mal – jetzt haben wir! Alles was wahr ist, den Bauernsack haben wir ja gut gerupft. Der wird Augen machen, wenn er die Bescherung sieht! Und Frau Muttern auch, wenn sie heimkommt. Mensch, Strolch verdammter, Narr dummer, es ist auf der Welt nicht alles so einfach! Und auch nicht so sicher, wie du dir's dachtest. Hast du einen Baum, kann dir die Äpfel wer anderer wegpflücken, den es gerade danach gelüstet, eignest ein Schwein, freu dich nur, soviel du willst, jemand trägt's dir fort, macht sich Würste daraus und schon sind sie sein; oder hast dein Leben und der andere nimmt es dir! Hast Geld, aber niemals ist es so dein, wie du denkst: kommt jemand, der es noch lieber hätte und schnappt es dir weg. Nun, wo ist dein Geld? Sein ist's, Dummkopf, jetzt gehört es ihm! Haha, Mensch, nie bist du der wirkliche Besitzer deines Eigentums, solange jemand anderer Lust darauf hat. So ist es: es ist nicht genug mein, was ich habe; wirklich mein ist erst das, was ich jemandem nehme. So sieht meine Philosophie aus: mein ist, was ich dem andern nehme und alles übrige ist Wirrwarr und Unsicherheit. Jeder muß an sich denken, das ist klar; aber ich sehe das so: es kommt darauf an, wer mehr an sich denkt. Und darauf, wem's gelingt.

»Fein haben wir das gemacht«, dreht sich Rudolf nach Wenzel um. »Hab ich dir nicht gesagt, daß wir uns schon irgendwie helfen werden? Auf mein Wort, mein Lieber, kannst du dich verlassen.«

»Ausgezeichnet, Rudolf, fein haben wir das Ding gedreht. Wir sind halt zwei Kerle! Mensch, ich hab dort gewirtschaftet! Die werden Augen machen, wenn sie sehen, was wir angerichtet haben!«

Ach ja, meint Rudolf, das war schon ein Mordsspaß. Ein Sack Kaffee auf dem Fußboden verstreut, die Sonntags-Kaffeetöpfe zerhauen, Wüstenei und Vernichtung, die Tinte auf die gehäkelten Decken verschüttet, die Petroleumlampe in die Federbetten geworfen, alles das noch zum übrigen Schaden.

»Die können noch froh sein!« lacht Rudolf. »Andere hätten ihnen zu all dem noch den roten Hahn aufs Dach gesetzt!«

*

Laut dröhnte der Waldboden, bröckelte unter dem heftigen Gepolter, trockenes Laub raschelte, Äste sausten, dem rücksichtslos herankommenden Stoß nachgebend. Die beiden Männer blieben stehen, hielten den Atem an. Hoho, der Angriff der Rache, schon und so plötzlich? Rudolfs Hand fährt in die Tasche zur Pistole. Eine Rehgeiß mit einem Kitz bricht aus dem Wald, aufgescheuchtes Wild; Wenzel, du irrst, wenn du glaubst, daß der Angriff der Rächer schon gegen dich und deinen Ranzen stürmt. Obwohl ihr erschrakt, daß euer Herz stürmisch pocht, daß das Blut in eurem Körper einen Augenblick erstarrte, seid es doch nur ihr, von denen in diesem Wald Angst ausgehen könnte, und auch das nur überflüssig. Denn auch die Geiß flüchtet ohne Ursache mit närrischen Sprüngen, ängstigt sich um sich und das Kitz, obwohl niemand, ja auch ihr nicht, vorhabt, den Tieren in diesem Wald ein Leid anzutun. Anscheinend hat der Wald seine heimliche Liebe: er verliebte sich in den Schrecken, denn allzusehr gefällt es ihm, von Zeit zu Zeit durch eine andere Berührung als der des Windhauchs zu erbeben, jenes Windhauchs, der, vor männlicher Lust zitternd, den befruchtenden Blütenstaub in die Blumenlager trägt. Nun, der Wald erschauerte unter dem Überfall der Angst, seufzte und erstarrte, den Krampf der verflüchtenden Lust erlebend, und nun ruht er wieder unbeweglich, gesättigt in seiner Sehnsucht, wohlig, stumm und zufrieden.

Rudolf warf seinen Ranzen ab.

»Ein hübsches Plätzchen. Da können wir richtig nachsehen, was wir uns eigentlich mitgebracht haben.«

Sie machten es sich zwischen den Felsen bequem und öffneten die Ranzen. Ein hübscher Jahrmarkt; lauter schöne und nützliche Ware. »Na, Rudolf, was sagst du dazu? Eine herrliche schwarze Hose, Rock und Weste dazu, ein Sonntagsgewand und fast neu. Der Rock paßt mir, als wäre er für mich genäht, und das andere wird auch gehen.«

»Ich hab das«, zeigt Rudolf einen senffarbenen Anzug, rauhhaarig und schön gesprenkelt, »diese Farbe hab ich just gern.«

Dann sind da Schuhe, ordentliche Schuhe mit starker Doppelsohle aus Kernleder und mit Hufeisen.

Und das, Junge, was ist das, da schaust du, was? Das sind Hemden, Männerhemden, prächtige Hemden, ein wenig steif von der Stärke, mit Beinknöpfen, farbigen Streifen und gemustert. O du schönes, sauberes Hemd, du gebleichtes und gebügeltes Hemd, du ganzes und geflicktes Hemd, das lasse ich mir gefallen, ja, alles was recht ist: ein richtiges Hemd für einen Freier, der auf sich hält, wenn er in die Welt hinausgehen und einem Mädchen nachsteigen will. In einem solchen Hemd, meine Herren, verspreche ich mir, den weiblichen Stolz aller Art zu brechen, am Weg und am Feldrain, im grünen Hain und in jedem Bett, wo immer und zu jeder Stunde; in einem solchen Hemd wage ich mich auch vor die Königin von Saba und alle ihre Hofdamen! – Und da habe ich noch Socken mit guten Fersen und Spitzen, aus denen die Zehen vorläufig nicht herausgucken, und herrliche Herrenunterhosen aus grobem Gradel, haltbar, für besser und für Strapazen.

O Ware, schöne Ware, Faden neben Faden, du Stoff, ganz, greifbar, sichtbar und wirklich, ich will mich noch über dich freuen, ehe ich dich anziehe, und dann noch einmal und immer wieder von neuem! Du meine schöne Ware, mein, mein, du neuer Stoff, dem Körper zu Diensten und zur Schönheit gereichend, hoho, ihr frischen Kleider! Die alten, zerschlissenen ausziehend, macht der Mensch einen Schritt vom Schlimmeren zum Besseren. Mensch, das ist ja geradezu, als würde man die alte Haut abstreifen, ein Stück des alten, verdrossenen Lebens und noch manches dazu, was darin war; oder ist es, als ob man durch ein neues Tor hindurchginge: was, wenn sich nun mit einemmal ein neues und besseres Leben vor dir auftäte?

Und noch andere gute Dinge sind da. Eine runde Mütze. Ein schönes Halstuch. Ein Spiegel. Ein Rasiermesser. Mein Lieber, das kann man brauchen und wie! Und noch eine überzählige Weste. Und ein kleiner Porzellankopf, weiß der Teufel, wie der sich hierher verirrt hat, weg damit! Vielleicht von einer Puppe, vielleicht von einer Marienstatue. Trockener Quarkkäse. Und sechzig Kronen hat Wenzel aus der Schublade gefischt.

»Fein haben wir's angestellt. Das ist uns gelungen!«

»Aber jetzt, Wenzel: Was sagst du dazu! Da schaust du, was?« Ein Trommelrevolver.

»Herrgott, Rudolf – ein Revolver! Daß ich ihn nicht gefunden hab! Und fortwährend –«

»Weißt du was, Wenzel, wir machen ein Geschäft. Ich hab schon meine Pistole, eine zweite Knallbüchse brauche ich nicht. Schau: gib mir die Röhrenstiefel – und der Revolver gehört dir.«

Die Stiefel sind schön, eigentlich noch wie neu, in denen wird sich's gut marschieren; das glaub ich, daß Rudolf ein Aug auf sie hat. Ja, wenn ich nur wüßte, was mir besser zustatten kommt …

»Gleich, wie ich den Revolver geklaut habe, hab ich an dich gedacht, Wenzel, nur an dich.« Ach ja, wenn der Mensch nur wüßte, was alles bevorsteht! Vielleicht wird ein Revolver doch besser sein als die Stiefel.

»Nimm dir halt die Stiefel.«

»Da hast den Revolver, damit du siehst, daß ich ein guter Kamerad bin. – Und noch was hab ich. Da schau: fünfhundert Kronen hab ich aus dem glasierten Topf 'rausgeangelt. Weißt du überhaupt, was fünfhundert Kronen sind, so ein Kapital?«

»Und ich hab nur sechzig. Hast du ein Schwein, Rudolf!«

»Wir können es gut brauchen. Schwein? Ja, das hab ich auch. Aber warte nur, Wenzelchen, uns wird's noch beiden gut gehen!«

*

Zwei schmucke Gestalten steigen flink den Hang hinab.

»Das lasse ich mir gefallen, dazu bin ich wie geschaffen!« Rudolf ist frisch rasiert, nur die unternehmungslustigen Koteletten ließ er sich stehen, trägt einen senffarbenen Anzug, an den Füßen glänzende Stiefel mit Hufeisen. Wenzel ist in Schwarz wie ein Geselle, der auf Hochzeit geht, aber in der Tasche hat er einen Revolver.

»Heute haben wir geschmaust! Und werden's wieder tun. Ich meine, warum sollten wir's auch nicht?«

Sie haben sich ja den Wanst mit Würsten und Bier vollgefüllt; haben in Waldwirtshäusern gesessen, bestellt und verzehrt; die Kehle hat bekommen, was sie begehrte. Sie sind angetrunken und sattgegessen, fröhlicher Dinge und zufrieden, zu rauchen gibt es eine Menge und Geld ist auch noch da.

Ein Stück Weg sind sie mit dem Autobus gefahren; der Mensch schont gern seine Beine, plagt sie nicht unnütz auf dem Fußweg durchs Leben, auch wenn die Waden noch jung und elastisch sind und die festen Knie noch nicht das Reißen haben. Jeder menschlichen Anstrengung kommt es erwünscht, wenn sie so rasch als möglich ans Ziel gelangt; und gibt es kein Ziel, ja nicht einmal dann – unter allem, was der Mensch zu erleben fähig ist – ist das Vergnügen, ja selbst der Schmerz, den die Schnelligkeit verursacht, nicht das Schlimmste. Ob denn ein schneller Weg nicht am meisten der Energie, der Tat und dem Erfolg ähnelt, oder wenigstens der hoffnungsvollen Flucht, deren Gelingen immer im Verhältnis steht zur Schnelligkeit, mit der wir uns – vorwärtsgelangend – entfernen? Gewiß ist aber das Beste von allem, genug Geld zu haben, und das, was erledigt ist, so rasch als möglich weit hinter sich zu lassen.

»Das ist ein Leben«, lobt sich's Rudolf, »so sollte es alle Tage sein und so weiter bis Allelujah. Das hätte ich schon längst wissen sollen. Siehst du: und es geht auch! Siehst du, wie man sich hilft! Mich könnte jetzt jemand in den Steinbruch zurückholen! Von mir mag jetzt jemand verlangen, ich solle wieder schuften! Mir sollte sich jetzt so jemand auf den Nacken setzen!«

»Haha, Rudolf, waren wir aber Ochsen! Wenn ich mir so denke, was hab ich daheim gerackert! Was hab ich daheim ausgestanden! Was hab ich vom Leben gehabt!«

»Mir wirst du was erzählen. Die Arbeit auf dem Feld und die Arbeit im Steinbruch, das kann man gar nicht vergleichen. Schau dir meine Hände an: so eine Arbeit ist das, mein Lieber, mit den Steinen. Die Zentner, die harten Ecken und scharfen Kanten, blutige Hände hab ich vom Tragen bekommen! Soll mir einer einen zweiten Menschen auf der Welt zeigen, der so viel aushalten kann wie ich ausgehalten hab. So ein Proletarier war ich, mein Lieber!«

»Was weißt du, Rudolf, was ich ausgestanden hab; geschunden hab ich wie das liebe Vieh und dazu noch die Prügel. Ich wurde mit Stock, Riemen, Holzscheit und Hacke geschlagen, wurde mit Strick, Pfahl, Holzschuh, Peitsche, Kette und Schaufel geprügelt, bei der Arbeit, beim Essen, beim Schlafen, mit allem geprügelt, was ihnen unter die Hände kam – solche Eltern hatte ich! Schade um jedes Wort. Hoho, jetzt hab ich's, Gott sei Lob und Dank, schon hinter mir, aber wenn ich dir erzählen wollt' –«

Ich weiß, denkt Rudolf, du willst mir erzählen, damit ich dich bemitleide, aber das macht mir jetzt kein Vergnügen mehr. Ich habe mich nur zufällig an die schlechten Zeiten dort zu Hause erinnert, weil ich jetzt pikfein aussehe, weil wir uns geholfen haben und es uns jetzt besser geht: ich habe mir ja immer gedacht, daß ich zu was Besserem geboren bin. Aber es ist nicht das richtige Vergnügen, nur dir zuzuhören, Wenzel! Ich will von mir reden, von mir, und das sofort.

Er zerriß plötzlich das grobe Gewebe von Wenzels Erinnerungen und knüpfte eine neue Kette mit einem Faden, dünn und glänzend wie Kunstseide.

»Aber dabei hatte ich immer Glück bei den Weibern, das muß ich schon sagen. Denk dir ja nicht, nur bei solchen Mariannen vom Land, die zähl ich gar nicht, ich, Wenzel, hatte auch bei großen Damen Glück. Da gibt es dir in Prag solche reiche Damen, die fragen den Mann gar nicht, woher und wer er ist, wenn er ihnen nur gefällt.

Ich war einmal in Prag, ein Bekannter hat mich herumgeführt und mir alles erklärt. ›Axamit‹, sagte er schließlich zu mir, nachdem er mir alles gezeigt hatte, ›jetzt sollst du was sehen, was du in deinem Leben noch nie gesehen hast.‹ ›Zeig nur‹, sag ich drauf, ›wenn's nicht sehr viel kostet, ich kann von der Stadt nicht genug kriegen.‹ Da führte er mich in einen wunderschönen Saal, Spiegel, Musik, alles vergoldet, Marmortischchen, Stühle und Kanapees aus lauter Plüsch und darauf sitzen schöne Damen, eine feiner als die andere, teure Zigaretten im Mund, trinken nur teuersten Wein und Likör und schauen sich die Männer an, ob ihnen der eine oder andere gefällt. ›Kannst dir aussuchen‹, sagte der Bekannte zu mir. Ich hab mir eine Schwarzhaarige mit großen Augen und hoher Gestalt ausgesucht; was soll ich dir erzählen, Wenzel, sie hätte nicht schöner sein können, und wenn's eine Herzogin gewesen wäre. ›Ich kann Ihnen nicht meinen ganzen Namen nennen, Herr‹, meinte sie dann zu mir, ›nur so viel kann ich dir, mein Liebling, verraten, daß ich Valerie heiße und aus besserm Hause stamme.‹

Jüdinnen waren auch dort und überhaupt die verschiedensten Weiber, die man sich nur denken kann. Aber meine Schwarzhaarige – die geht mir nie mehr aus dem Sinn. Sie nannten sie Valerie.«

Rudolf zündete sich eine Zigarette an. Die versonnenen Züge an der Zigarette glichen Seufzern.

»Solange ich lebe, werde ich die nicht vergessen, Mensch.«

Aber ich weiß ja, Rudolf, was das eigentlich war, denkt sich Wenzel, wir kennen diese Dinge auch ein wenig. Aber weil du's bist, mein liebster Kamerad, nehme ich es so, wie du's haben willst, dir zur Freude und damit du weißt, daß ich dich gern hab. Mir liegen ja auch höchst merkwürdige Dinge auf dem Herzen, ich will darin auch nicht hinter dir zurückstehen. Freund, Rudolf, einziger Gefährte auf dieser Welt, liebster aller Brüder: dir erzähl ich's, du mußt es hören!

Rudolfs Luchsaugen, die in diesem Augenblick wirklich von Zärtlichkeit verdunkelt waren, blickten sehnsüchtig und bang ins Leere:

»Meine Valerie.«

Da begann auch Wenzel seine Kunstseide zu spinnen:

»Ich kenne mich auch bei Weibern aus, mein Lieber; auch ich hab in Prag so manches erlebt, was mir niemand glauben würde. Ich war nur so dort, die Stadt ansehen, gehe durch die Straßen, guck' mir die Läden an, irre wie eine verlorene Seele herum, überall alles voller Lichter, aber, versteht sich, ich bin halt fremd dort und treffe keinen Bekannten. Es wimmelt von Menschen wie auf einem Ameisenhaufen, keiner von ihnen kennt mich und auch ich kenne keinen. Weibsbilder, versteht sich, alle Straßen voll. Merkwürdig, denke ich mir, was machen diese Frauenzimmer eigentlich, wenn sie den ganzen Tag und noch abends so auf der Straße umherspazieren? Ach, Wenzel, sag ich zu mir, das ist nichts für dich. Gewiß sind's lauter reiche Damen, die wollen halt den ganzen Tag zeigen, was für schöne Kleider sie haben, die brauchen nichts anzurühren, Stubenmädchen und Köchinnen machen schon alle Arbeit für sie. Wie ich so nachdenke, tritt so ein Stubenmädel auf mich zu, angezogen wie irgendein Fräulein und drückt mir ein duftendes, schmales Briefchen in die Hand. Ich dachte, das Schreiben ist von ihr, aber dann sagt sie zu mir: ›Kommen Sie nur, ich führe Sie, meine Gnädige wartet schon auf Sie.‹ Was sollte ich tun? So ging ich halt mit ihr; sie führte mich durch verschiedene Gassen, bis wir beim Tor eines großen Hauses anlangten. Das Tor öffnete sich von selbst, und jetzt gingen wir durch einen langen Flur in einen schönen, großen Garten. In diesem Garten stand ein Häuschen mit vielen Schnitzereien, ganz weiß, so was Herrliches hatte ich noch nie gesehen. ›Gehen Sie hinein‹, sagte das Stubenmädel zu mir, ›dort erwartet Sie eine Überraschung.‹ Ich ging hinein. Drinnen stand ein goldenes Himmelbett und darin lag unter einer seidenen Daunendecke die schöne Dame, die um mich geschickt hatte; es roch herrlich; neben dem Bett war ein Tischchen mit den wunderbarsten Delikatessen und Wein, auch das Hemd, das sie anhatte, war aus rosa Seide. Nun – und dann führte mich das Stubenmädel wieder fort. Die Dame winkte mir noch nach, sie hatte Hände weiß wie Schnee, und rief mir noch zu: ›Wenn Sie am Ende der Welt wären, Herr Kala, ich würde mich Ihrer erinnern.‹«

»Ich wundere mich, Wenzel; du glaubst wohl, ich bin so blöd, daß ich mich von dir lackieren lasse!«

»Meiner Seel, Rudolf, ich schneid nicht auf; was hätte ich davon! Ich hab mich selber darüber gewundert, Ehrenwort! Sie hat mir noch ein Seidentüchlein zum Abschied geschenkt, ich könnte es dir zeigen, aber ich hab's mal im Zug verloren und nicht mehr gefunden.«

»Quatsch nicht! Und wenn's so ist, wie du sagst – hehe – wie war denn das eigentlich mit deiner Dame?«

Rudolf fragt ihn eingehend nach allen Seiten und mit grobem Vergnügen aus.

O, sehr schön, mein Lieber, und ein richtiges Weib. So wie du willst, Rudolf, so kannst du es ohneweiters glauben. So enthüllt, wie du es dir wünschst, Kamerad, wie du es dir wünschst, verliert das Trugbild all seinen Trug und läßt mit schamloser Wehrlosigkeit aus sich ein Weib machen, ein Weib aus Fleisch und Knochen, wie du es dir wünschst, ganz nach Belieben; und Wenzel, der dir das alles erzählt, erweist sich als der Mann, der zu sein er sich rühmt.

Die Männer gefallen sich in groben Späßen, an Worten ist keine Not, aus vollem Maule spritzen sie die kernigen Fluten der Schweinigelei.

Hoho, Kamerad, so sind wir, das sind wir mit allem, was wir je erlitten und erlebt haben. Uns soll einer erzählen, was Rackerei ist! Uns wird einer erzählen, was Freude und Wonne ist! Uns mag einer übers Leben belehren! Auf den Nachttopf soll er sich damit setzen; wir aber gehen unseren Weg!

Wenn Rudolf ein gewisses Übergewicht dadurch hatte, daß er älter und frecher war, so war Wenzel zweifelsohne der größere Gaukler. Er erdachte sich die unglaublichsten Dinge, log, was Platz hatte, indem er sich grober Leiden und merkwürdiger Zufälle seines Lebens rühmte. Aber auch Rudolf war kein sonderlich fleißiger Arbeiter im väterlichen Steinbruch gewesen, der mit seinem bröckligen Gestein sechs Menschen ernährte, zwei Alte und deren vier Kinder, von denen er, der älteste der Knaben, am wenigsten geraten war. Er liebte mehr den Wald als den Stein, das ist sicher; war es doch nicht der harte Stein, sondern der krause Wald, dieses glänzende, zitternde, grüne Blatt des Waldes gewesen, das ihn ins Unglück gebracht hatte.

Der überfließende Strom der kräftigen Reden kam unten an der Wegkreuzung zum Stillstand. Sie schlugen den besseren Weg nach links ein. Ein hübscher, neuer, ebener und glatter Weg wie eine Tenne; hier ging und plauderte es sich schön, die beiden neu gekleideten Burschen paßten gut zu diesem Weg. Wenzel in seinem schwarzen Anzug, als ginge er zu einer Hochzeit, und Rudolf Axamit im senffarbenen Rock.

»Ach ja, wir haben so manches erlebt und werden noch so manches erleben.«

»Ja, ja; aber schau dorthin, guck mal: Jägersleute.«

Da ging der bärtige Hüter dieser Wälder, der untersetzte, krummbeinige Heger, in eine Unterhaltung vertieft, mit dem hageren Forstadjunkten.

Rudolf und Wenzel traben im leichtfüßigen Marsch und setzen sich kühn jeder Besichtigung aus. Prüfend richtet der Heger die hellen Augen auf die beiden herausgeputzten Burschen, während sie der Adjunkt unter seinem Kneifer mit einem gleichgültigen Blick streift.

Schau uns nur gut an, du bärtiges Luder. Meinst, wir stehen nicht fürs Angucken? Wenzel pfeift durch die Zähne. Rudolf blickt ruhig vor sich hin, als würde es überhaupt keine Heger geben. Sie sind vorbei, Rudolf und Wenzel grinsen einander an; das ist ein Spaß, was?

»Wohin denn, Burschen, woher und wohin?« Jetzt, wo schon alles vorüber ist, ließ sich plötzlich hinter ihnen die Stimme des Hegers vernehmen.

»Zur Hochzeit!« warf Rudolf die Antwort hinter sich; kichernd gingen sie weiter. Hehe, mein Lieber, bei uns kommst du nicht so leicht an; wir verstehen's mit den Hegern. –

Bei einer Wegbiegung blicken sie sich um; der Heger stand breitspurig mitten auf dem Weg und sah ihnen unsicher und forschend nach. Der Adjunkt ging gleichgültig weiter.

»Was glotzt du denn!« preßte Rudolf aus sich heraus.

»Rudolf, das will mir gerade nicht gefallen –«, flüsterte Wenzel.

Aus den beiden werde ich nicht klug, sagt sich der Heger, eh, der Teufel soll sich darin auskennen, hm – hm; er eilt dem Adjunkten nach und blickt sich noch einmal nachdenklich um, als schon nichts mehr zu sehen war.

»Sollte –«, erwog Wenzel.

»Ach nein, Wenzel, das sind nicht die Kleider. Wir müssen auf der Hut sein: wenn was ist, dann ist's, verflucht, nur der erschossene Heger!«

*

Es ist schon so: sie hatten den toten Heger ein wenig vergessen, und inzwischen war ihnen ihr Ruhm vorausgeeilt. Schneller als der behendeste Schritt, schneller als die Gummiräder eines Autos, ja schneller als alles, was Flügel, hohle Knochen und einen weithin krächzenden Schnabel hat, war ihr Ruhm, sich mit seinen Kenntnissen brüstend und weit und breit von sich hören lassend, vor ihnen in diese Gegend gelangt. Auch hier war ihnen dieser eitle Vogel schon vorangeflogen, dem es in der menschlichen Gesellschaft so behagt, daß er niemals die Einsamkeit aussucht, niemals auf dem einsamen Stamm in der Einöde nistet.

Sieh, Mensch, einen so widerwärtigen Pfau hast du mit deinen Taten großgezogen! Hast ihn von klein auf großgepäppelt, wo er ohne deine fürsorgliche Anstrengung leicht ein stinkendes Ei hätte bleiben können; aufopfernd hast du ihn mit deinem Atem gewärmt, denn das Junge schien dir etwas schwächlich und unausgetragen und weckte die Befürchtung, es könnte jeden Augenblick in seiner Hinfälligkeit kläglich krepieren. Und siehe, als was für ein kräftiges Biest es sich schließlich entpuppte! Jetzt, wo es schon groß genug ist, um die Wärme deiner Hände entbehren zu können, macht es sich selbständig, verläuft und verfliegt sich. Ist dicker und fetter als du selbst; sogar tüchtig arm gefressen hat es dich und ist ein Tunichtgut, aber jetzt kann man es nicht mehr zähmen. O, könntest du es doch einmal einfangen, es zwischen deinen Knien zusammendrücken und in einen Käfig sperren, von wo es nicht nach Belieben entkommen könnte. Aber es läßt sich nicht fangen und macht, was es will.

Rudolfs und Wenzels Ruhm, der hier sichtlich ihren Schritten voraneilte, war etwas anderes als die Berühmtheit in Politik und Künsten. Er war leichter und ohne viel Plage erworben; brütete sich rasch und plötzlich aus und zeigte sich gleich sehr kräftig. Rasch stieg er auf und flog in die Weite, das Verbrechen mit offenem Schnabel verkündend. Es schmeichelte ihnen, daß er so groß war, doch konnten sie nur mit Sorge seinen Eifer verfolgen. Hört, ihr Leute und liebe Christen, so krächzt dieser Ruhm, dies und jenes ist geschehen, staunt nur! Schade, daß ihr den erschlagenen Heger nicht gesehen habt; der Anblick war furchtbar. Der Heger liegt schon in seinem Grabe; den bekommt niemand mehr zu Gesicht; aber zwei scheue Wanderer irren auf ihren Wegen umher, wer Glück hat, kann ihnen vielleicht irgendwo unerwartet begegnen, ja, wer weiß, vielleicht sind sie sogar irgendwo in der Nähe. Die zwei, sage ich, die es angeht, werden sicher wo zu sehen sein; o, sicher werden sie wo zu sehen sein!

»Sie suchen uns schon, sie wissen schon von uns, wir sind beschrieben, das ist sicher, aber der Esel hat uns nicht erkannt.«

»Das machen die Kleider. Hast du bemerkt, wie er uns angegafft hat? Sind sie's oder sind sie's nicht? Aber in den Kleidern kam es ihm doch nicht geheuer vor.«

»Ja, die Kleider haben uns geholfen, die haben uns verändert; da wußte er nicht, wen er vor sich hat. Wenn sich der Mensch einmal so ganz verändern könnte, wie ihn die Kleider verändern!«

Ach ja, träumt Wenzel einen sonnigen Traum, es wäre zu schön, wenn er mit diesen Kleidern plötzlich ein Bauernsohn von einem großen Hof werden könnte. So irgendwie wäre es: er heißt zwar Wenzel, ist aber nicht Wenzel Kala. Wenzel Kala hat die alten Lumpen an, die er dort oben unterm Felsen mit dem andern, dem Rudolf Axamit, vergraben hat. Diesem Wenzel gilt die Rache für den erschossenen Heger, es kann ihn ja jeder in den elenden Kleidern, die gemordet haben, erkennen. Hier aber steht der Wenzel in neuem, schwarzem Gewande, ein anderer, veränderter Wenzel, ein ehrsamer Bauernsohn, der da mit Abscheu auf den Mörder, diesen trotzigen und heruntergekommenen Burschen, blickt. Dem ehrsamen schwarzen Gewande behagen nicht die abscheulichen Hadern des Wilderers, diese schmutzigen und vom Wald zerdrückten Hadern, dem ehrsamen Bauernsohn Wenzel behagt nicht das grausame Verbrechergesicht. Das ist er, sagt er, der den Jäger im Zorn erschossen hat, fesselt ihn nur und führt ihn ab: so einen sollten sie ohne viel Federlesens aufknüpfen! Sehr richtig, stimmt Rudolf Axamit, der Metzgergeselle im schmucken, senffarbenen Anzug zu; und den andern Kumpan, den ich da neben ihm sehe, diesen andern Lumpen, der meinem Namen Rudolf Schande macht, diesen andern hängt auch dazu. Damit sie uns nie mehr unter die Augen kommen: und jetzt, lieber Wenzel, komm zu uns ins Wirtshaus. Die Mörder haben wir gesehen, jetzt gehen sie uns nichts mehr an; die Gendarmen führen sie ab und alles ist in Ordnung. Wir aber haben Bier und frische Wurst daheim. Rudolf, Rudolf, flüstert Wenzel, die zitternden Lippen fröhlich in den Bierschaum tauchend: du, Rudi, das ist uns gelungen!

»Die Kleider waren unsere Rettung. Da war der alte Schnüffler nicht mehr sicher. Wenn sich aber einmal der Diebstahl herumgesprochen hat, dann wird's ärger, vielleicht ganz arg. Nicht, daß ich mich fürchte, du weißt, Wenzel, mir ist alles eins, aber ich mein' nur, so einfach wird das nicht gehen.«

»Was?« Wenzel fuhr aus seinem Traume auf.

»Was? Jagen ist eine Sache, und Fangen die andere!«

»Ach so. Na freilich, das wird nicht so einfach sein.«

Rudolf zog die Schultern ein und knurrte:

»Mit mir sollen sie nicht lang spielen. Die werden noch Augen machen, was sie zu sehen bekommen.«

»Das werden sie. Rudolf, komm lieber da.«

»Mir ist's einerlei.«

Sie stiegen auf einem Nebenpfad den Berg hinan.

Oben duckten sie sich im niedrigen Unterholz. Nach allen Seiten freie Aussicht in die weite, weite Welt.

Überall hier, überlegt Wenzel, breitet sich vielleicht unser Ruhm aus. Und wir müssen uns hier verbergen wie Mäuse, wie Schlangengezücht, was, noch zu wenig? Wie stinkende Käfer. Nein, nein, wir waren nicht genug vorsichtig. Dort auf diesem Hang oder hier oder vielleicht dort unten könnten wir jemandem begegnen, der von uns weiß. Es ist schon so, der Heger ist uns hier zuvorgekommen. Wer weiß, wie alles hier herum voll ist vom Heger – und auch vom Gerücht über uns. Und dazu läuft uns noch der Einbruch voraus. Rudolf sagt, er fürchte sich nicht. Ich auch nicht, das soll nur keiner denken; aber es ist ein verfluchtes Leben.

Das ist zum Auswachsen, frißt es in Rudolfs Innerem, gerade jetzt, wo wir uns ein wenig ausstaffiert haben. Jetzt müssen wir nur trachten, von hier fortzukommen.

»Wohin jetzt, Rudolf?«

»Geradeaus.«

Da blitzte plötzlich tief unter ihnen der Helm eines Gendarmen auf. Klein, winzig, weit unten am Abhang.

Ein kleiner Gendarm, winzig klein; Spanne um Spanne wellte sich der Helm durch die grüne Schlucht des unsichtbaren Weges, klein schwankte er auf und ab, langsam den Schritt und die Richtung anzeigend. Aus der weichen Stille der Ferne schien es jetzt, als ob Handschellen klirrten und ein Kerkergitter hart zufiele. »Halt!« zischte Rudolf.

»Halt! siehst du ihn dort, hier können wir nicht weiter!«

Gespannt, begierig blickten sie dem Gendarmen nach. Der Gendarm zeichnet seine langsame Linie, als würde er dort auf jener Seite ein Stück Landschaft abschneiden, als würde er das beste Stück auf jener Sonnenseite abgrenzen.

Sie wandten die Köpfe wie Wild, das Witterung nimmt. Dann schlugen sie die entgegengesetzte Richtung ein, wo sich Nebelwolken auftürmten.

*

Weder Rudolf noch Wenzel wußten, welche Stunde die Turmuhr der Tage schlug, als sich – ohne daß das Knarren des Uhrwerks sie angezeigt hätte – vor ihre Augen die ersten Figuren der großen Uhr schoben, kantig geschnitzte und buntfarbige Apostel von bedenklichem Äußeren: nämlich die des Hegers und des Gendarmen.

Welche kommen denn noch, welche werden noch nachfolgen, begleitet von der schnöden Gestalt des Geizhalses und vom häßlichen Teufel, ehe der Tod sein dünnes Glöckchen ertönen läßt? Auch ihnen wird am Ende der ehrwürdige Christus seinen Segen erteilen, aber spät, wenn ihre Stunde bereits geschlagen hat. Und zum Schluß wird der Hahn mit den Flügeln schlagen und sein Kikeriki krähen; doch das Krähen des Hahnes wird nicht Ruhmessang bedeuten, sondern den Aufschrei des Endes und des Unterganges: nur über der Stunde, die verlosch und über dem, was vergangen, läßt dieser Vogel seine Stimme ertönen.

Mißmutig waren Rudolf und Wenzel, als sie inmitten der Wälder diese ersten Figuren der großen Turmuhr ihrer Tage erblickten, diese unheilvollen Zeichen, die ihnen zu Bewußtsein brachten, daß die Uhr in Gang ist und zu schlagen anfängt, daß sich zu erfüllen beginnt, was vorbestimmt war: ungern vernimmt der Wanderer die Klingel des Todes inmitten sonniger Wälder. Da wandten sie sich, wortlos und in erschrockener Eile, der nebligen Seite zu, denn wenn man auch dem Heger und dem Gendarmen und sonst irgendwem, was menschliche Gestalt trägt, und sei es selbst Tod oder Teufel, entkommen kann –, am schwersten entflieht man doch der Zeit, die eilt und kommt, abläuft, und das Ihre erfüllt.

Ganz im Ungewissen, welche Stunde es jetzt schlage, eilten sie, um sich vor den Dingen und der Zeit in der dunkleren Richtung zu verbergen. Es stand schlimm; in den geschlossenen Mündern gefror alle grobe Schweinerei.

Zu beiden Seiten rauschte der Nebel und blieb in den Fichtenästen hängen. In Millionen Tröpfchen herabsickernd, durchnäßte er das Unterholz, Heidelbeersträucher und Moos, die zähe Haselwurz und das kleinblättrige Laub des Bergglöckchens, das vor Feuchtigkeit glänzte. Alles hier war naß und kalt. Der Boden, dicht durchfurcht von den Adern und dem Nervennetz sumpfiger Wässerchen, eingerahmt von Dotterblumen und Milchdisteln, schwarz und schwammig, dämpfte den Schritt. Der dünnfadige und dichte Sprühregen saugte sich durch alle Poren in die finstere Waldlandschaft.

Wenzels neues schwarzes Gewand spiegelte vor Feuchtigkeit, klebte am Rücken und an den Schenkeln. Rudolfs grobfaseriger Stoffanzug wurde zu einer schweren nassen Decke, aus der Tiergeruch dampfte.

Sie befanden sich in der Gegend des Granits.

Vor Nebel war fast nichts zu sehen. Hier, abgeschlossen durch den dichten Wasserschleier von allen warmen menschlichen Behausungen, sind sie vor aller Augen sicher, deren Schärfe durch den Nebel verhüllt werden kann, der genügend dicht ist, um daraus die Wesen der Waldgeister und des Waldspuks so körperlich zu weben, daß der Druck ihrer kalten Arme einem verspäteten Wanderer tödlich sein könnte.

Aber die beiden sind keine Geister; es ist kaltes Fleisch, das der boshafte Regen einhüllt, indem er ihm alle menschliche Wärme nimmt.

Wenzel friert und schluckt unaufhörlich, um den Schmerz zu verscheuchen, der ihm in der Kehle sitzt. Sie tauchen zwischen den grauen Felsen unter, von denen es schlüpfrig tropft.

»Das ist ein Stein, mein Lieber«, unterbricht Rudolf mit rauher Stimme das rauschende Schweigen des Nebels, des Regens und der Wasser, »das ist ein anderer Stein als der in unserm Steinbruch.« Er fuhr mit der Hand über den nassen Felsen: »Mein Lieber, das ist ein Stein für Bildhauerarbeit, für schöne Grundmauern oder Gehsteige, was du nur willst.« – Daheim, wo sie weichen Sandstein, roten Ton haben, brechen sie roten, spröden und mürben Perm, der sich für größere Arbeiten nicht eignet. »Das ist ein alter Stein, uralt, der ist schon vom Anfang der Welt da, als es hier noch nichts Grünes gab. Der hatte genug Zeit, hart zu werden, mein Lieber, der hält was aus.«

Schwer legt es sich auf Wenzel inmitten der uralten Granitfelsen, im Dämmerlicht des Waldes und des Regens. Ein allzu kalter Atem weht aus ihnen. Er verspürt Schmerzen im Hals und versucht vergebens zu schlucken, um sie zu vertreiben. Die beiden setzten sich unter einen überhängenden Felsen, wo es ein wenig trockener war und zündeten sich eine Zigarette an, deren Rauch beißend durch Wenzels Hals zog. Ach, sagt sich Wenzel, das Rauchen schmeckt mir nicht, es kratzt mich im Hals, was hab ich nur? Es scheint mir gar, als komme noch zu allem eine Krankheit über mich. Brrr, wie naß der Boden hier ist, wie kalt der Felsen, wie mich friert, wie mich der Regen quält!

»Da war schon jemand, aber lange vor uns.« Rudolf stocherte in den verkohlten Überresten eines Feuers herum, an dem sich früher einmal jemand bei schlimmem Wetter gewärmt haben mochte, der vielleicht auch vor etwas auf der Flucht gewesen war.

Ach, Feuer, warmes, fröhliches Feuer, sehnt sich Wenzel, bang und vor Kälte erbebend, was gehen die mich an, die einmal vor uns da waren, aber, ach, ach, wie wohl würde ich mich heute beim Ofen fühlen! Diese kalte und nasse Gegend gefällt mir nicht, nein, ganz und gar nicht. Ein Federbett könnte ich brauchen. O Bett, warmes, goldenes Bett! In dir schüttelt's einen nicht; ob ich wohl noch einmal in dir schlafen werde! Ach, wie zuwider ist mir dieser graue, nasse Felsen, aber schön ist ein rotgestreiftes Federbett; und wenn es noch so schmutzig und zerwühlt wäre, wenn es nur trocken ist. Und diese schwarzen, durchnäßten Überreste des Feuers, hu! Wie ekelhaft! Ich würde einen Ofen brauchen mit einem leibhaftigen Feuer drin, das prasselt und lodert, und im Ofenrohr einen ordentlichen Topf Kaffee wärmt.

»Was ist dir?« schüttelte sich Rudolf, »warum redest du nicht?«

»Ich denke – ich werde mich hier niederlegen müssen, eine Krankheit kommt über mich.«

»Verflucht, das würde uns noch so fehlen! Damit hättest du daheim bleiben können.«

Wenzel duckte sich kläglich. Rudolfs aburteilender Blick stach in sein schmerzhaftes Fleisch und blieb wie ein Messer darin stecken.

»Ach, Rudolf – ich – ich kann doch nichts dafür!«

»Schon recht, aber – hm. Wenn wenigstens ein ordentliches Glas Rum da wäre, das könnte dir helfen.«

»Ja, wenn wir das hätten!« freut sich Wenzel mühsam und schläft in der Dämmerung des Nebels und dem Rauschen des Regens ein.

Rudolf wirft einen mißmutigen Blick auf den schlafenden Wenzel, auf dessen eingesunkene Augen und den Mund, der so armselig offensteht. Du bist mir ein feiner Patron! spuckt er weit von sich, um sein Inneres von einer überflüssigen Last zu befreien: du bist mir ein feiner Hecht! Was soll ich jetzt mit dir anfangen, was denkst du dir eigentlich, was ist dir nur eingefallen?

Ah freilich! Ihm kam ein Gedanke.

Ah freilich, sagte sich Rudolf; am besten wäre, ich pack mich zusammen, geh meines Weges und laß Wenzel hier; soll er tun, was er will. Der Blödian will krank werden, das kann ich nicht brauchen. Glaubst du denn, ich laß mich deinetwegen fangen? Hoho, da geh ich lieber allein und du bleib, wo du bist.

Zu zweit haben wir's ohnehin schwerer. Zu zweit weiß man von uns; zu zweit erkennt man uns besser; zwei waren es gewesen, zwei sind miteinander geflüchtet: fangt sie, wenn ihr zwei trefft, den Wenzel Kala und den Rudolf Axamit! Allein schlag ich mich schon leichter durch und hab's sicherer; Wenzel soll dann tun, was er will.

Und, wer weiß? Vielleicht stirbt Wenzel bis morgen und dann ist's ohnehin aus.

Also was?

Ich sollte lieber gleich fortgehen und Wenzel dalassen. – Wenn aber Wenzel nicht stirbt? Dann liegt er am Morgen allein da, beginnt in seiner Krankheit zu brüllen und zu flennen und sie finden ihn noch! Wenn sie einen von uns haben, fangen sie an auch den andern zu jagen. Da müßte ich trachten, bis früh so weit als möglich zu sein, aber für heute hab ich gerade genug, mir will sich's heute nicht mehr.

Also was: soll ich oder soll ich nicht?

Rudolfs Augen wanderten mürrisch zu Wenzel. Sein Mund verzog sich zu einem Grinsen: ja, mein Lieber, du kannst mir in meiner Verlegenheit nicht viel raten. Wenzel schläft hier, in ein graues Bündel zusammengekauert. Er tut nur eines; er braucht sich nicht zwischen zwei Möglichkeiten zu entschließen; er schläft, seinen Atem aus der kommenden Nacht und der seligen Bewußtlosigkeit des Schlafes schöpfend.

Obwohl alles mit Wasser vollgesogen ist, obgleich durch das dichtgewobene Regennetz der rauhe Atem der Felsen dringt, trägt die hereinbrechende Nacht dennoch den süßen Schlaf in ihrem weiten Mantel. Er ist hier anwesend, mag auch das Unwetter andauern, mag die Kühle und all die kalte und feuchte Gärung anhalten, er, der Schlaf, ist hier anwesend, freundlich, weich und unüberwindlich.

Man sagt, der Schlaf sei von allem dem Tod am ähnlichsten, da er den Sterblichen Erleichterung, Unbewußtsein und Vergessen bringe. Gewiß weiß jeder von uns gut, was Schlaf ist, aber niemand von uns Lebenden ist bisher gestorben und so können wir nicht bezeugen, ob der Tod wirklich dem Schlafe so ähnelt. Sicher ist, daß alles, was lebt, der Macht des Schlafes verfällt und daß alles Lebende auch stirbt. Doch der Schlaf bringt in seinen Armen den Traum, beim Tode jedoch ist es möglich, daß er uns keineswegs in den Traum versetzt, sondern im Gegenteil in die Wirklichkeit, die allem, was lebte und schlief, vielleicht allzusehr unfaßbar blieb. Alles, was lebt, träumt auch seine Träume; mögen sie stets licht sein! Der Tod kennt vielleicht überhaupt keinen Traum. Wenn die Ewigkeit nicht die Nacht des höchsten Nichts, wenn sie die Vorladung zum Gerichte ist, dann ist sie also Erwachen, das endliche große Wachsein. Wenn die Ewigkeit der helle Tag ist, dann wacht der Richter und wacht auch der Gerichtete.

Auch ich, sagt sich Rudolf, möchte am liebsten schlafen.

Ach was, lassen wir das für morgen. Warum sollte ich mich entschließen? Wenn ich ausgeschlafen habe, werde ich schon weiter sehen.

Ich werde es mir über Nacht überlegen, sagte sich Rudolf und schlief, neben Wenzel liegend, ein.

Ihr Schlaf glich insofern dem Tode, als er traumlos war.

Als es zu dämmern begann, riß sich Wenzel aus dem Schlaf, und in den grauen Nebel und Regen starrend, sah er weder Dunkelheit noch Licht, noch Gestalten vor sich, an denen er hätte erraten können, aus welcher Welt sie stammen. Und weil er weder das Gekreisch der Hölle, noch den Schall der Engelshörner, noch den Befehl des Richters hörte, konnte er nicht verstehen, in welchen Gegenden des Seins er sich befand und begriff nicht, was er da um sich und vor sich hatte. Die Angst benahm ihm den Atem. Da sah er in der Dämmerung seinen Kameraden Rudolf neben sich liegen, lächelte ein über alles Erdenken süßes und dankbares Lächeln, und schlief, die Augenlider in vertrauensvollem Troste schließend, wieder ein.

Sein Schlaf glich dem Leben, denn er war voller Träume. Wenzel träumte, er sei daheim und schlafe – ach, du mein Gott – im Bett, das Federbett war schmutzig und rot gestreift, nicht so fahl wie der mit Regen gemischte Nebel, doch wärmte es nicht, Kälte war darin wie im Märzwind. Dann träumte ihm, daß er klein und schwächlich sei; und obwohl er nichts angestellt hatte, prügelte ihn Rudolf.

Hierauf erwachte Rudolf aus dem Schlaf und sah Wenzel an seiner linken Seite liegen. Was ist eigentlich mit dir, was steckt in dir? dachte er, auf Wenzels durch das Dämmerlicht verwaschenes Gesicht blickend. Was ist? Stirbst du oder stirbst du nicht, was wird eigentlich mit dir? – Er drehte sich auf die andere Seite. – Er liegt hier wie tot. Wie geht das wohl aus? dachte er unbeteiligt und schlief, sich der Ohnmacht des Schlafes von neuem hingebend, wieder ein.

*

Als er gegen Morgen erwachte, sah er Wenzel neben sich sitzen. Den Augenblick erwartend, wo der Kamerad die Augen öffnen würde, um Tageslicht in sie zu schöpfen, lächelte ihm Wenzel mit süßem und vertrauensvollem Lächeln zu.

Rudolf stützte die Ellbogen auf.

»Also was ist – wie geht's?«

»Gut. Alles in Ordnung.« Wenzel blickte Rudolf aus feuchten Augen treuherzig an und schüttelte sich, heftig und rauh hustend. »Es ist schon wieder vorüber.«

»Glaubst du?«

Wenzel gefällt Rudolf irgendwie nicht, es scheint ihm ganz und gar nicht in Ordnung, daß er so bald aufgestanden, daß er so lächelt, daß er die Plage seiner Krankheit leugnet. Schau, schau, wie er sich zwingt, wie er sich etwas einredet. Mit dir, lieber Freund, steht es nicht so gut, wie du vorgibst: wahrscheinlich wirst du sterben, wenn du nicht schon ein Toter bist.

»Jetzt am Morgen fühl ich mich schon wohl«, streckt sich Wenzel und spuckt, als wollte er alle seine Innereien ausspeien. Er zündet sich eine Zigarette an:

»Jetzt ist mir wieder leichter, aber gestern abend war es arg.«

Er zündet sich noch zum letztenmal eine Zigarette an, und in einer Weile ist er vielleicht schon tot. Er weiß nichts, und inzwischen umarmt ihn der Knochenmann, das ist meist so – erschauert Rudolf. Er sieht ja auch aus in dem schwarzen Gewand, nur in den Sarg hineinzulegen. Dich hat's erwischt, Wenzel! – wer weiß – vielleicht ist es besser so – ich schlag mich allein leichter durch. –

»Rauch nur, das reinigt. Und bleib nur sitzen, ruh dich aus, wir müssen ja nicht gleich aufbrechen.« Rudolf schlängelt sich ein Stück weiter und schweift in Wenzels Sehweite ziellos hin und her.

Ach was, sagt sich Rudolf und geht, bis ihn Wenzel nicht mehr sieht. Also jetzt, Rudolf, jetzt, jetzt! zuckt es ihm in allen Gliedern; er beschleunigt plötzlich die Schritte. Und du, Wenzel, mach' was du willst.

»Rudolf, Rudolf«, ruft Wenzel hinter ihm her.

»Rudolf, was fällt dir nur ein?!« tönt hinter ihm Wenzels wehe Stimme.

Verdammt, flucht Rudolf, jetzt wird mich der Wenzel noch jagen! Jagen, und ist vielleicht schon ein Toter.

»Rudolf! Mein Gott! – Warum denn? – Das kannst du mir doch nicht antun!«

Rudolf beginnt schweigend zu traben.

»Bist mir ein schöner Kamerad!« keucht Wenzels Stimme hinter ihm. »Mir fehlt doch nichts, schau doch, wie ich gehe, wie ich marschieren kann, alles kann ich – ich will doch mit.«

Haha, streng dich nicht an, pocht das Blut in Rudolfs Schläfen: krepierst wohl, fällst wohl kalt hin, ehe du mich einholst!

»Rudolf!« spürt er Wenzels Keuchen im Nacken, »willst mich also auf dem Gewissen haben?«

Da bleibt Rudolf stehen. Wenzel atmet schwer, die Haare kleben ihm an der Stirn, der Mund steht offen, die Augen sind feucht und ohne Lächeln:

»Rudolf, wer hat denn geschworen, daß wir einander nie verlassen?«

Rudolf sann nach. Was sollte er darauf sagen. Schwer, sehr schwer fiel es ihm. Er wußte nichts. Es fiel ihm nichts ein.

»Es –«, stieß er hervor, »– ich meinte es ja gut mit dir, Wenzel.«

Und Wenzel, tot oder lebendig, schreitet wieder an Rudolfs Seite. Ob es ihm wohl genügte? »Ach was, ich –«, meinte er und schwieg wieder, wahrscheinlich hatte er schon alles gesagt.

Rudolf suchte noch nach einem Wort.

»Na«, grub er in den Taschen, »da hast du.«

Ein zerknülltes Taschentuch, noch von dem Gestohlenen.

*

Sie gingen schweigend. Nach alldem erübrigten sich Worte.

Überall Stille, als bereite sich etwas vor.

Nur Wenzel, ob tot oder lebendig, stört sie durch seine geräuschvolle Gegenwart. Er hustet, spuckt und schneuzt in das gestohlene Sacktuch.

Wieso eigentlich, bohrt es in Rudolf, gelang es mir nicht, davonzulaufen?

Ich dachte, Wenzel sei so schlecht daran, daß er mich nicht mehr einholt.

Er schielt seitwärts auf Wenzel; wie er sich bemüht, mit ihm Schritt zu halten, wie er ihn nicht ausläßt, ab und zu von einem groben Husten geschüttelt! Jetzt, wo er die Augen nicht geschlossen hält wie in der Ohnmacht des Schlafes, der an den Tod erinnert, erscheint er Rudolf nicht mehr wie ein unkörperlicher Schatten, ein Widerschein auf dem Wasser, noch wie der bereifte Atem, der, als würde die Seele auf und davon, dem menschlichen Mund entströmt. Er ist noch lebendig genug, sicherlich, und tut, was er kann. In diesem Falle, sagt sich Rudolf, wo sich der Körper mit der Seele an der Grenze des Abschieds befindet, wäre es gewiß angezeigt, Wenzels Aufmerksamkeit auf die Dinge dieser Welt zu lenken und zu prüfen, wem seine Seele nähersteht.

Schwerfällig suchend, was er erzählen könnte, stieß Rudolf in seinem Nachdenken geradeswegs auf das, was ihn am meisten bedrückte. Ich kann mir nicht helfen, sagte er sich, als er sich reden hörte, aber es muß heraus. Wir werden ja sehen, wie sich Wenzel dazu verhält, was er dazu meint:

»Da hat sich dir – in Vset – so eine Sache zugetragen; starb da eine Bäuerin, man legte sie schon in den Sarg, um sie herum die Verwandten, kannst dir denken, nichts als Jammern und Flennen, und wie sie so im Sarg liegt, wollen sie den Deckel draufgeben und den Sarg zunageln. In dem Augenblick fängt sie an die Augen zu bewegen, öffnet sie, richtet sich auf, blickt verwundert um sich und sagt: ›Was macht ihr denn alle hier?‹ Sie war dir wieder lebendig geworden, stieg aus dem Sarg und ging geradeaus in die Scheune, wo die Gänse schrien, gab ihnen zu trinken und trieb sie mit den Jungen in den Garten hinaus. Dann kam sie in die Stube zurück, schimpfte, daß sich niemand um die Gänse kümmere, und im gleichen Augenblick stürzte sie zusammen und war wirklich tot. So legten sie sie halt wieder in den Sarg und trugen sie auf den Friedhof. – Sie trugen sie durchs Fenster aus dem Haus, damit sie ihnen nicht mehr zurückkommt.«

Während er diesen Vorfall erzählte, blickte Rudolf unsicher nach Wenzel in der Erwartung, jeden Augenblick unterbrochen zu werden. Was dir nicht einfällt, Rudolf, könnte Wenzel sagen, ich bin nicht wie diese Bäuerin. Ich bin weder tot, noch geistere ich herum, meiner Seel, ich bin lebendig, ganz springlebendig.

Aber Wenzel sagte kein Wort, sondern hörte Rudolf wie gewöhnlich zu. Seine halb geöffneten Lippen waren nicht fest aufeinandergepreßt, eher angeschwollen, er atmete schwer, doch er atmete. Einen Augenblick lang verbarg er das Gesicht im Taschentuch und schneuzte sich lang und pfauchend; Rudolf bemerkte, wie sich Wenzels Stirn runzelte. Ein Toter würde die Stirn nicht runzeln, sagte sich Rudolf aufatmend; ein Toter hätte auch die Augen starr nach oben gerichtet.

Ach, zweifellos, dachte Rudolf, er lebt. Aber er soll reden, soll was sagen, damit ich höre, was ich wissen will!

Wenzels Augen glotzten mit einem gewöhnlichen und gleichzeitig bösartigen und stumpfen Blick über das zerknüllte Taschentuch hinweg, mit einem Blick, in dem sich nichts, aber rein gar nichts als diese stoffliche Welt widerspiegelte.

Merkwürdige Dinge, verbohrte sich Rudolf in seinen Gedanken; also wie ist das eigentlich mit dem Wenzel? Tot ist er nicht, das steht fest: es ist ihm nur etwas über den Rücken gelaufen – ich habe mich sehr getäuscht: er ist und bleibt lebendig.

»Wenzel, hat dir nichts vom – Heger geträumt?«

»Nein.«

»Nichts?«

»Gar nichts. – Warum denn?«

»Ich mein' nur so.«

Ach, was also, wie also – was geht mir da eigentlich nicht aus dem Kopf, marterte sich Rudolf mit seinen Gedanken.

»Kusch, Luder!« fluchte Wenzel, über die herausragende Schleife einer Kiefernwurzel schwerfällig stolpernd.

O Luder aller Luder und noch tausendmal mehr! blitzte in Rudolf der stechende Schreck der Gedanken auf, die ihm nun endlich leicht kamen – jetzt weiß ich's! Ach, ach, er also, er, der tote Heger nämlich: er nicht, er trachtet Wenzel nicht nach dem Leben – o nein – im Gegenteil: nein, nein, er will, daß Wenzel am Leben bleibt. Damit Wenzel – damit wir beide –

Der tote Heger will, daß sie uns lebend erwischen, beide.

*

Schlecht, sehr schlecht meint's nun das Schicksal mit uns! Rudolf dachte über den erschossenen Heger nach, wie sich dieser Tote vorgenommen hat, ihnen seinen Tod nicht zu verzeihen.

Es stand elend mit ihnen, schade um jedes Wort: schwer werden sie dem rächerischen Toten entkommen können, der ihnen über unsichtbare Wege auf den Fersen folgt, um sie mit seinem verwesenden Zeigefinger zu kennzeichnen mit dem Male des schlechten Endes. Um sie zu peinigen, um ihnen hinderlich zu sein, um sie zu Fall zu bringen, um dabei zu sein, wenn man sie fängt. Wenn Wenzel und dann er, Rudolf, gefangen werden, wird sich dieser tote Heger seines Triumphes unbändig freuen und aus übergroßem Frohlocken darüber, gerächt zu sein, mit den Kiefern klappern. Alles muß darangesetzt werden, sagt sich Rudolf, um dem Ende zu entfliehen, genau so wie ich weiß, daß es auf der Welt schon mehr als einem geschickten Menschen gelungen ist, dem Ende zu entkommen. – So wie ein Hase, ein Käfer, ein Vogel durchs Dickicht schlüpft – träumt Rudolf Axamit.

Wenzel wurde von einem Hustenanfall befallen.

»O verflucht, huste doch nicht so laut, im ganzen Walde ist's zu hören! Das ist ja schrecklich, wie dein verdammter Husten im ganzen Wald widerhallt!«

»Huste nicht so laut, sage ich, kannst du nicht ruhiger husten?«

Wenzel würgte an dem unterdrückten Husten, brachte ein heiseres Gebrüll hervor, heulte, pfiff und verschluckte sich, hockte sich nieder, schlug sich in die Brust und preßte die Hand gegen den Mund, um den Krampf der Stimme zu ersticken, die sich roh aus seinem Innern drängte. Meiner Seel, das ist ja wie das häßliche Rufen irgendeines seltsamen Wildes, das wert wäre, gehetzt und gejagt zu werden, was dieser Narr, der Wenzel da, von sich gibt. Das ist wahrscheinlich die Stimme, hinter der sie unfehlbar her sind, um uns zu fangen, erstarrte Axamit. Pfui und verdammt, was für ein abscheuliches Gebrüll, welch ein klägliches Gekrächze; ein verfluchter Gesang in diesem verdammten Wald!

»Das war nur so, ärgere dich nicht, Rudolf, ich konnte es nicht zurückhalten.«

Der Sonne gelang es, durch Wolken und Nebel hindurchzudringen. Alles, was aus Wasser war, glänzte und zitterte in ihrem Schein. Nach allen Seiten lauschend, wartete Rudolf, wann Wenzel wieder loslegen würde. Eine Schweinerei, ärgerte sich Wenzel in schuldbewußter Angst; der Rudolf hat immer das größere Glück: mußte ich es gerade sein, der den Husten bekam! – Und zudem fürchte ich, daß dem Menschen, der schon einmal in der Klemme ist, immer noch Schlimmeres beschert wird.

*

Sie gingen zwischen jungen Lärchen und Birken. Die Bäume sind so sonntäglich, schien es Wenzel; der Mensch hat's schwer auf dieser Welt, aber den Bäumen, mein' ich, den Bäumen geht's halt gut! Was ist das eigentlich – möcht ich wissen –, was haben die Bäume so Beglückendes, daß sie sich im besseren und schlechteren Schwanken der Welt nicht zu rühren brauchen, daß sie auf einem Fleck stehenbleiben dürfen, auf ihrem Fleck, und lächeln? Die haben's gut. Viel besser als die Menschen und Tiere und alles andere, was sich aus der Welt bewegt, was jagt und gejagt wird; wenigstens kehren sich ihre Taten nicht gegen sie.

»Halt, Wenzel, Achtung! Da ist jemand!«

Sie traten zwei Schritte zurück. Auch ihnen gegenüber im Gebüsch trat jemand zurück.

Wer kann das sein? Sie lugen gespannt nach vorn, ihre Nasenflügel zittern, die Muskeln der Beine sind sprungbereit. Gegenüber öffnen sich die Zweige, als würde jemand einen Vorhang auseinanderziehen.

Aus dem grünen Rahmen der Hartriegelzweige taucht ein unerwartetes Gesicht auf.

Auch dessen Augen heften sich unruhig auf sie. Ein Paar Katzen-, Schweins-, Iltis- oder böse Hundeaugen oder wem immer sie angehören mögen, irren stechend umher, stehen dann still über dem gesträubten Fell eines schmutzigen Vollbartes. So halten sich beide Fronten mit den Augen im Schach, belauern gegenseitig die Bewegungen, suchen ihre gegenseitigen Absichten abzuschätzen.

Wahrscheinlich hatte er schon genug beobachtet, da der Mann mit dem zerzausten Vollbart jetzt die Lippen öffnete und einen Teil seines Gebisses zeigte, lange, spärliche, von Heidelbeeren blau gefärbte Zähne. Hierauf lüftete er mit sehr lächerlicher Bewegung einen Hader, der einst auf einem andern Kopf ein Hut gewesen sein möchte, entblößte seine über alle Maßen wilden dichten Haare und verbeugte sich mehrere Male mit der übertriebenen Begeisterung eines Possenreißers: »Ah, schön willkommen, ich habe die Ehre, gnädige Herren, guten Morgen wünsch ich!«

»Guten Morgen«, brummte Rudolf in unwirscher Verlegenheit und blickte sich unsicher nach Wenzel um.

»Kommt mir nicht näher!« knurrte der Mann, im Augenblick sein spöttisches Lächeln auslöschend.

Sie traten einen Schritt zurück. Zufrieden über diesen Erfolg, zündete der Fremde im Gebüsch sein spöttisches Lächeln wieder an und unterzog sie, den Kopf wiegend, einer sorgsamen Prüfung. Er weidete sich sichtlich an dem gespannten Schweigen, das er hervorrief, nach Belieben verlängerte und schließlich auf den Höhepunkt brachte; dann aber brach er es plötzlich mit einer fast singenden Stimme ab.

»Ihr Burschen, ihr habt was auf dem Kerbholz, ihr habt sicher was ausgelöffelt.«

Neuerlich eine kürzere und noch zugespitztere Pause einlegend, fuhr er dann fort:

»Ja, ja. – Und so jung!«

Wenzel hustete.

»Er hustet, der arme Teufel!« sagte der Landstreicher mit spöttischem Mitleid, »hat im Wald den Luftzug erwischt.«

»Was schert Ihr Euch um uns?« Es waren nicht nur die Pausen des Mannes, die Rudolf nicht gefielen.

»Natürlich, im Wald ist's schlecht«, fuhr der Landstreicher fort, ohne sich von Rudolfs Frage beirren zu lassen, »aber das Kriminal, nicht wahr, Burschen, das Kriminal ist noch schlimmer.«

»Ausgelöffelt. – Was wir ausgelöffelt haben? Was sollen wir ausgelöffelt haben?« ging Wenzel zum Angriff über. »Laßt uns in Ruhe, Mensch, mit Euch redet doch niemand.«

»Erzähl nichts. Ich kenn das.« In der Stimme des Landstreichers klang eine merkwürdige Müdigkeit: »Mir, mir wirst du was erzählen! Ich sag dir, im Wald ist's schlecht. Wartet nur, was ihr noch ausstehen werdet. Schlimmes und Schlimmes. – Und ihr entgeht dem nicht, ihr nicht, ihr zwei blöden Blödiane. Und schaut, daß ihr fortkommt von hier!«

»Wer ist da ein Blödian?« drängte sich Rudolf nach vorn. »Ich?«

»Keinen Schritt weiter, oder – – du bist blöd, ihr seid beide Schafsköpfe, Maulaffen und Kälber. Wartet nur, ihr werdet's schon noch genießen, bis da her kriegt ihr's satt, ihr blöden Blödiane, ihr zwei Ochsen!« Der Vorhang der Zweige schloß sich. Der Landstreicher verschwand so rasch im Grünen, wie er aufgetaucht war; nicht ein Blatt bewegte sich mehr.

»Du bist ein Blödian und Hornochse!« sandte Wenzel dem verschwundenen Gesicht nach, in der Hoffnung, daß wenigstens eine Rauferei diese merkwürdige Begegnung enträtseln könnte.

»Ich hätte den Kerl anschießen sollen«, brummte Rudolf, die Hand an der Pistole, »er glich ja einem Tier, wie er so aus dem Gebüsch heraussah. Weiß Gott, was der auf dem Kerbholz hat! Womit der sich da versteckt!«

»Ja, das möcht ich wissen.« Wenzel versucht sich vorzustellen, wieviel Blut unter der mitleidslosen Hand dieses elenden Strolchs geflossen sein mochte, der sich jetzt unter dem grünen Dach des Waldes verbirgt. Die hat sicher so viele Wunden gesät, daß sie auf einem Körper nicht Platz hätten. Wenzel stellt sich die Fahlheit und Verkrampftheit der Körper vor, die Mord und Raub zu Boden schlug. Dieser Vagabund hat wohl viel auf dem Kerbholz! Aber schließlich werden sie ihn doch erwischen. Der, glaube ich, wird sich verdammt wehren und dabei alles, den Henker, seine Mutter und noch den Herrgott dazu beschimpfen. Aber schließlich werden sie ihn doch packen, o ja, den werden sie fassen, das gönn' ich ihm. Ihn sollen sie kriegen, nur uns zwei nicht!

Bin ich erschrocken – nagte es an Rudolf.

Wie war ich doch stolz auf das Werk, das wir mit Rudolf vollbracht haben, sinnt Wenzel, und dieweil sind wir nicht allein, die ihre Kraft im Wald verbergen müssen. – Gut, daß er verschwunden ist. Ihn sollen sie fangen, aber nicht uns, nicht uns.

Ich hätte schießen sollen, ärgert sich Rudolf, ich hätte auf ihn schießen sollen und gut wär's gewesen. Ja, das hätte ich tun sollen. Aber ich hab manchmal ein zu gutes Herz, das ist's. – Wie zum Beispiel mit Wenzel. – Vielleicht wär's besser gewesen. Wirst sehen, Rudolf, du zahlst noch einmal drauf, weil du gar so weich bist.

*

Der silbrige Sonnenglanz trocknete die Waldpfade aus. Der Fuß glitscht über weichen Lehm. Die dunklen Nadeln alter Fichten, mit grauen, struppigen Flechten behangen, bleiben irgendwo am Weg zurück.

Die Hänge haben ein durchsichtig strahlendes Kleid an, einen krausblättrigen Hain.

In dieser Zeit weist die Vegetation nicht mehr viel Blumen auf, dennoch spricht etwas Unbestimmtes – wenn wir auch nicht auf den ersten Blick dessen Farbe und Gestalt erkennen – durch seine Jugend und seinen lächelnden Reichtum aus ihr. Das ist eine andere Landschaft als die naßkalte und wortlose, durch die sie gestern im tropfenden Nebel und unter dem Schleier des Regens gegangen sind.

Es ist Kalkboden, worauf sie wandern.

*

Wievielerlei Gestein es doch auf der Welt gibt, staunt Rudolf über die helle Farbe der Felsen, die aus dem Grün emporragen. Ich sah Gestein der verschiedensten Farben und jeder Körnung, und überall wächst etwas, überall wohnt der Mensch darauf und werden menschliche Dinge gesponnen. Merkwürdig, sagt er zu sich, sei es welche Art immer, eigentlich ist kein Stein dem Menschen schlecht und feindlich gesinnt; jede Art läßt zu, daß sich der Mensch darauf breitmacht und seiner Arbeit nachgeht. Wenigstens bei uns zu Lande ist das Gestein so (und besonders dieses scheint mir so zu sein); vielleicht haben sie anderswo, in fremden Ländern und überm Meer einen Stein, der niemandem den Lebensunterhalt ermöglicht; das gibt es bei uns nicht, bei uns nährt jede Steinart irgendwie seinen Mann. Was für Menschen leben wohl auf diesem hellen Kalkstein – und was kann uns hier erwarten? Diese Gegend sieht aus, ich weiß nicht einmal wie: es ist fast zu schön da.

Es ist wirklich schön da: auch Wenzel wird von dem weichen Zauber der Landschaft erfaßt. Da sind wir in eine hübsche Gegend geraten; warm und Sonne; ich werde mich wieder erholen, aber, was nützt es, das Leben haben wir nun mal verdorben …

Sie steigen die Felsen höher hinauf.

»Schau, Wenzel, das ist was! Ich hab's schon unten gespürt, daß wir da irgendwo ein feines Quartier finden werden, vom Weg aus war's nicht einmal zu sehen.«

In dem von Spalten durchfurchten Fels war eine Höhle.

*

Sie berochen sie von allen Seiten und durchforschten jeden dunklen Winkel in ihr. Sie räumten darin aus und fanden sie ausgezeichnet. Als sie alle Vorzüge genug gelobt hatten, setzten sie sich vor dem Höhleneingang nieder und blickten ins Tal hinab. Das Bächlein, das unten launig den Weg einsäumte, glänzte zeitweise wie die Silberseite eines Fisches. »Vielleicht sind auch Fische da«, sagte Rudolf, »wenn wir nur eine Angel hätten!«

Sobald sie einmal verblüht ist, kann die goldköpfige Lilie niemanden mehr durch die orientalische Schönheit ihrer Blüten mit den betupften und nach oben umgebogenen Blättchen, noch durch ihren Geruch anlocken, der im Monat Juni die Sinne durch das Versprechen merkwürdiger und noch unbekannter Dinge umgarnt. Wenzel brach ihren Schaft ab und zerbröckelte ihn zwischen den Fingern. Mit schmutziger Kralle das Fruchtgehäuse öffnend, sah er senkrechte kleine Fächer darin, überreich mit Samensäulchen angefüllt. Er schüttete sich den flachen Samen freigebig auf die Hand.

»Das denk ich mir. Die Hauptsache auf der Welt ist das Geld. Mein Lieber! Genug davon haben, die Hände voll davon haben, mit beiden Händen darin wühlen können und so, daß nie weniger wird! Wer Geld hat, hat alles; der kann sich die Welt einrichten wie es ihm beliebt, kann sich kaufen, was ihm gerade einfällt, bezahlt alles, was er will. – So einen, Rudolf, würden sie nicht so jagen wie unsereinen –«

Ach, Wenzel, gärt es in Rudolf, wenn du nur nicht so viel reden wolltest! Ich, ich bin es, der Geld haben sollte, ganze Haufen, alle Laden voller Geld. Von uns beiden bin sicher ich es, der mehr Geld haben sollte, weil ich damit besser umzugehen verstünde, weil ich fähiger bin, weil es bei mir mehr am Platze wäre. Ich, Rudolf Axamit. Aber du? –

Mißmutig bückte er sich nach einem trockenen Knochen, der zu seinen Füßen lag, ein auffälliger, weißlicher, von grünem Schimmel gefleckter Knochen. Wer war das wohl? Wem hat dieser Knochen gehört? Und ob er dir, ja dir, Wenzel – mich meine ich jetzt nicht –, ob er dir ähnlich war? Es fehlte nicht viel, scheint mir, und auch du hättest ein gebleichter Knochen im Walde sein können. Glaubst du, daß der da Geld gehabt hat? Oho, vielleicht ist der arme Teufel zu Lebzeiten gerade so wie du dagesessen und hat so wie du diese leere Spreu auf seine Handfläche ausgeschüttet und dabei an Geld gedacht.

Was für eines Todes ist dieser Mensch wohl gestorben?

»Der diesen Knochen im Leib hatte, dem tun die Beine schon lange nicht mehr weh«, wiegte Wenzel den Kopf über dem bleichen Knochen. »Der braucht schon lange vor niemandem mehr zu flüchten. Es ist verdammt wenig, was da vom Menschen nach all dem Elend übrigbleibt –«

Der stumme Knochen ergibt sich den Bewegungen von Rudolfs Händen. Eine vererbte und längst schon verschüttete Regung erwacht in ihm: er gräbt sein scharfes Messer in den Knochen und versucht, aus ihm ein scharfes und zugespitztes Ding zu schnitzen, eine Waffe, einen Keil, einen Dolch oder Spieß, einen Knochen, der schneidet und sticht, etwas, womit man töten kann.

Sieh doch, begleitete Rudolf seine Arbeit mit den Gedanken, wie man so einen toten Knochen wieder der Welt zurückgeben kann. Sieh doch, so geht es auf dieser Welt zu, daß der, der getötet wurde, selber noch töten kann. Daß der Tote zu einem Messer wird: nur ein Knochen bleibt von ihm übrig und der muß noch seins leisten. Alles auf der Welt ist schließlich und endlich auf den Tod zugerichtet. Welchen Wert kann schon dieses menschliche Leben haben, wenn der Tod immer Sieger bleibt? Und ob denn der Tod wirklich so schrecklich ist? Nicht eher unliebsam und häßlich?

Nun, grinste er in wilder Fröhlichkeit, darüber möchte ich den toten Heger gerade nicht befragen!

Aber er konnte sich nicht überwinden; eine eigentümliche Neugierde ballte sich in ihm zusammen und zwang ihn, in sich die Vorstellung zu wecken, wie wohl der Tod sein mag. Er bemühte sich vorzustellen, wie das Leben den Körper verläßt, bemühte sich zu fühlen, wie sich der Körper zersetzt und wie ihm alles, was in ihm und außer ihm ist, vollständig gleichgültig erscheint. Er schloß die Augen und versuchte, alle Fangarme seiner Sinne in sich einzuziehen, versuchte, diesen Höhepunkt aller Ruhe zu finden.

Er hörte das Rauschen der Blätter; nein oder ja, das ist es vielleicht, das bin nicht ich! Aber er vernahm seinen Atem; ihn anhaltend, hörte er nicht mehr das Blätterrauschen, dagegen spürte er das Blut in den hohlen Adern seiner Hände kreisen und den warmen Kitzel in den Fingerspitzen. – Eh, öffnete er die Augen, es geht nicht, eher geht die Welt unter, aber ich bleibe: nein, ich werde kein vertrockneter Knochen im Walde sein!

In die offenen Augen strömte die Helle der Landschaft. Seine Ohren traf die rauhe Stimme des Kameraden.

»Was ist dir, Rudolf, willst du schlafen?«

»Nein, woher denn!«

Rudolf schleuderte den Knochen in weitem Bogen ins Gebüsch.

*

Was aber die beiden nicht wußten: daß das kein Menschenknochen, sondern nur ein Rindsknochen war.

*

O, ich lebe und vernehme, o, ihr freigebigen Sinne! Noch ähnle ich weder dem verblichenen Gebein, noch dem erschlagenen Heger!

Der Weg unten hallte von jauchzenden Rufen, von hellem Singen und Plaudern wider, vielleicht noch süßer, erinnere dich nur, als das Jauchzen jener fröhlichen Burschen, die damals Zweige ins schäumende Wasser warfen.

Rudolf, wenn es die sind, die auf diesem lichten Gestein hausen – ausgenommen allerdings zwei Mörder, von denen du auch weißt, daß sie hier nur heimliche Gäste sind –, dann wäre diese Gegend wahrlich schöner, jünger und glücklicher als alle andern. Aber von allem, und wäre es noch so schön, was sich im Wald bewegt unter dem Getier und den Jägern, unter der Beute und dem dunklen Schatten der Büsche, unter der allzu breit flutenden Sonne, dem allzu freien Atem der Winde und der allzu großen Freiheit der weiten Waldräume erwartet man am wenigsten Kinder, außer man fände sie verirrt und weinend vor Angst an diesen Orten, die denen ihrer heimlichen Freuden und Spiele so wenig ähneln. Ist es denn möglich, daß irgendeine Gegend der Welt nur von Kindern bewohnt wäre, damit sich zwischen ihren hellen Gesichtchen zwei Mörder und ein Landstreicher, deren Missetaten noch nicht gezählt wurden, vor den Strafen der Welt der Großen verbergen?

Der Kinderausflug – denn die Kinder können hier doch nur zu Gaste sein, wo zur selben Zeit eher Mörder zu Hause sind – schlängelte sich durchs Tal längs des Baches, dessen silbriges Kräuseln jetzt durch den überbunten und schwatzhaften Wirrwarr verdeckt wurde. An den Kleidern der kleinen Mädchen wehten Farben aller Blumen. Die Jungen hielten einander umschlungen, einige liefen lärmend um die Wette, die Mädchen trugen Kränzlein im Haar. Dort gingen sie in überschäumender Schar, die schlanken Beine in ununterbrochenem Gehüpfe, wanderten in melodischer Anarchie zwischen dem Dust der Bäume und dem warmen Schatten der Felsen.

»Kinder!« stieß Wenzel erstaunt hervor.

Einer der Jungen löste sich von der Schar los und spähte zum Felsen hinauf. Er hatte eine Höhle erblickt; Jungens, kommt! Georg, Georg, wohin kriechst du, bleib da, du kannst abstürzen! Der Junge kroch hinauf, die Augen glänzend und das Gesicht stammend, Georg, Georg, gleich kommst du zurück, aber gleich, warte nur, warte! – Der Junge hielt inne: er erblickte in der Höhle mehr, als zu sehen er sich versprochen hatte. Zwei Paar Augen; zuerst ein schwer, überschwer feindlicher Blick, dann ein anderer, noch dunklerer, noch schwärzerer. Eilig kroch der Junge wieder hinab: glitt lautlos ab und warf sich in scheuer Eile in den Knäuel der Freunde. Hier erst atmete er auf, hier erst fand er die Sprache wieder: ach, Jungens, Jungens, was ich gesehen habe! Das läßt sich gar nicht erzählen: zwei schreckliche Männer, sicher Mörder!

»Waren es nicht Riesen?«

»Vielleicht.«

»Oder Teufel.«

»Vielleicht Teufel.«

»Oder vielleicht noch was anderes, Schrecklicheres?«

»Ich weiß nicht, was es war. Aber ich fühlte die entsetzliche Angst des Todes.«

*

»So ein Blödsinn«, meinte Rudolf, als sich am Abend über ihnen der unendliche Abgrund der Milchstraße und der Sternbilder wölbte, »was es da Sterne am Himmel gibt. Wozu gibt es ihrer eigentlich so viele! Als ob so viele nötig wären! Wenn es nur die Hälfte, nur ein Viertel, ja noch weniger dort gäbe – es wären immer gleich viele, weil man sie ohnehin nicht zählen kann.«

»Ich wundere mich auch, Rudolf, denn wozu sind die Sterne überhaupt da? Wenn sie nur zum Anschauen da wären, würde es genügen, sie kleiner zu machen, vielleicht ganz klein, und sie näher zu hängen. Wozu so viele Welten und solche Ausdehnungen? – Als ob an dieser einen Welt nicht schon genug, mehr als genug wäre.«

Und überhaupt, sagte sich Wenzel, die größeren Sterne mit den kleineren, die glänzenden mit den flimmernden vergleichend, es nimmt sich ganz schön aus; aber wenn ich so nachdenke, will mir die riesige Anzahl der Sterne gar nicht gefallen. Wer beweist mir, daß sich dort diese unsere Welt nicht weiß Gott wie oft wiederholt? Wozu sollte es denn sonst so viele Sterne geben? Wer weiß, vielleicht ist es auf jedem zehnten Stern genau so wie hier, vielleicht sitzt auf jedem zehnten Stern im Wald genau so ein Wenzel, der einen Heger erschossen hat, der blickt wieder von seiner Seite auf die Sterne ringsum, als würde er aus einem Gefängnisfenster sehen, wenn er auch vielleicht im Augenblick nicht gerade dasselbe denkt wie ich jetzt. Oder – wer weiß, vielleicht denkt er dasselbe wie ich. Ach, was für ein Elend das ist! Welch eine Quälerei! denkt Wenzel Kala erstarrend; wie konnte nur irgendein Gott, ein in übergroßer Verantwortungslosigkeit wahnsinnig gewordener Gott in seinem Übermute etwas Derartiges erschaffen!

Ich ertrage schließlich schon meins: was geschehen ist, ist geschehen, aber wie – so ein abscheuliches Spielzeug wäre doch jedes Gottes unwürdig – wie kämen dann dort drüben die andern Wenzel dazu? Denn es ist doch klar, daß nur einer von ihnen schuldig ist, daß die andern doch nichts dafür können. Herrgott, Herrgott, das ist mir eine schöne Einrichtung!

Furchtbar schwer und gramvoll legte sich die Vorstellung auf Wenzels Sinn, daß er nur eine der Tausenden gleichgestalteten Spielpuppen sein sollte, in die unsinnige Vielzahl der Sterne verdammt, und vielleicht die allerletzte unter allen unzählbaren und ebenso leidvollen, von denen keine weiß, ob sie es nicht gerade ist, die für das Unglück aller andern Schuld und Verantwortung trägt. Ihn dauerten alle diese Wenzel, die mit der gemeinsamen Trübsal behaftet waren, einen Heger erschlagen zu haben. Aber am meisten dauerte ihn der Nächste von ihnen, er selbst.

Ich bin ein armer Teufel, seufzte er aus ganzer Seele, als er einschlief; das alles ist so schwer, so schrecklich häßlich und verworren. Und der Heger? Der Heger – und wenn es tausende Heger auf allen Sternen gäbe – kein Heger tut mir leid. Er soll nur offen heraussagen (wenn noch etwas Menschliches in ihm ist), er soll nur bekennen, was er angestellt hat!

*

Niemand auf der Welt weiß, nicht einmal ich selber, legte Rudolf in der Kühle der blauen Nacht seinen Körper zur Ruhe, was ich vielleicht morgen verüben werde. Ich fange schon an, das alles satt zu bekommen. Die Welt kann erstaunt sein, was vielleicht geschehen wird.

Als er eingeschlafen war, träumte ihm, er sei so wachsam und boshaft wie immer, ihm sei alles auf der Welt gleichgültig und er sei imstande, jede Grausamkeit und jedes Leid ebenso zu empfangen wie zuzufügen.

Es schien ihm, als ginge er unter mächtigen Eichen, bis er zu einem besonders schönen Platz kam, wo ein Heckenrosenstrauch stand. Der trug eine einzige leuchtende Blüte mit herrlich rosa Blütenblättern, der ein solcher Duft entströmte, daß alles ringsum vor Erstaunen über diesen Zauber zu erstarren schien, als ob alles, jedes Blatt, jeder Grashalm, jeder Nachtfalter sich an dem Anblick dieser Heckenrosenblüte nicht satt sehen könnte.

Sonderbar, sagte Rudolf zu sich, daß dieser Strauch noch blüht und dazu mit einer so schönen Blüte, wo es doch schon dem Herbst entgegengeht. Da begann sich der Strauch mit Knospen zu bedecken und die Knospen öffneten sich gleich und wurden zu lieblichen Blüten wilder Rosen; ein zarter Windhauch verstreute ihre rosigen Blütenblättchen ringsum, aber unaufhörlich sprossen und öffneten sich neue Knospen. In der Mitte des Strauches saß ein Vogel auf einem Zweig und sang; das weiße Kehlchen blähte sich glitzernd unter dem perlenden Reichtum des Gesanges auf, und während es so trällerte, entfalteten sich die Blüten, dufteten, fielen ab und neue erblühten wieder.

Plötzlich schien es Rudolf, als würde sich der trillernde Vogel durch seinen Gesang in ein schönes Weib verwandeln. Er sah, wie sie die Arme über der Brust kreuzte, um in anmutiger Scham ihre weißschimmernde Büste zu verdecken. Ach du, mein Gott, staunte er, das ist ja Valerie, sie ist es, das süße Märchen meines Lebens! Da wollte er ihr in den blühenden Strauch nachfolgen, um sich ihrer zu bemächtigen, doch seine Hände, die in so übermächtiger Sehnsucht sich an den Dornen blutig ritzen wollten, griffen ins Leere und die Erscheinung verschwand.

Rudolf atmete schwer im Traume; heftig richtete er sich auf und erwachte. In seinem Herzen war tiefe Unruhe und Bangigkeit. Ach, Valerie! erbebte sein sehnsüchtiges Herz in der Dunkelheit, also ist es doch wahr, daß du – du wirklich meine Liebe von dieser Welt bist, denn du verlangst nach mir, du meine Traumgestalt! Ich suche sie auf, entschloß er sich im Überschwall freudiger Sehnsucht, siehe, jetzt ist mir der Entschluß meines Lebens aufgegangen! Ach ja, jetzt weiß ich endlich das eine, das einzige, was ich zu tun habe: sollte ich nicht morgen in der Helle des Tages den Weg aller Wege finden, der zu ihr führt, den richtigen Weg, an dessen Ende sie, Valerie, meiner harrt! Daß ich, gejagt und durch die Wälder fliehend, daß ich, ich Tor, dies früher nicht erkannt habe! O Reichtum, o Schönheit, o Wonne des Leibes und der Seele und was alles du bist, ich soll zu dir gehen! Gedulde dich nur ein wenig, du Leben meines Traumes; verlasse dich, vertrau so sicher, wie ich es dir verkünde: sei gewiß, ich komme.

Er schloß die Lider, um wieder einzuschlafen in der Hoffnung, Valerie nochmals im Traume zu begegnen. Aber der Traum stellte sich nicht mehr ein. Sein Schlaf war stumm, war höchste Leichtigkeit und zugleich tiefste Last, wie es das Wachsein niemals, wie es nur der traumlose Schlaf kennt.

*

Er erwachte am Morgen mit bitterem Speichel im Mund, noch benommen von der Last seines Schlafes und Traumes. – Ach, so ist es also, und welch einen wundervollen Traum ich geträumt habe! sagte er zu sich, als er Wenzel neben sich erblickte; er erwog, was bisher Unbestimmtes und doch Mögliches der anbrechende Tag bringen mochte. Nein, meinen Traum, obwohl er so wunderschön war, erzähle ich nicht einmal dem Kameraden; der Teufel hole dieses verfluchte Leben, aber diesen Traum werde ich für immer in mir verschlossen tragen, für immer, bis zum Tode.

Wenzel schabte an den Schwielen seiner Fußsohlen und schmatzte dabei vor Aufmerksamkeit und bescheidener Lust.

Rudolf spuckte seinen bitteren Speichel auf ein paar Ameisen, die den Silberflügel eines Nachtfalters schleppten. Ja, ich werde diese schöne Erscheinung bis an mein Lebensende in mir tragen. Diesen Traum – wenn sie auch in der Stadt eine Hure ist; diesen Traum – wenn ich auch ein Mörder bin; diesen Traum – wenn ich auch fliehen und mich in den Wäldern verbergen muß. Ach, müßig alles Nachdenken: ich trage auf meinem Rücken eine ganz andere Sorge als traumverrückt zu werden, o du verfluchtes Leben, ach, du süßer, lieblicher Traum!

*

Und doch gibt es, sagte er sich nach einer Weile, und doch gibt es irgendeine Schönheit auf der Welt (so habe ich es in meinem Traum erfahren), doch was nützt alle Schönheit, wenn es im Leben des Menschen nicht klappt! Es sei angeblich alles auf der Welt schön, jedes Blatt, jeder Käfer, jede Blume, alles sei schön, möge es sein was immer. Blödsinn; was ist das für eine Schönheit, die zu nichts nütze ist, niemandem dient. Niemals, höchstens ich wäre ein Narr gewesen, schien mir auf der Welt alles schön – ich habe niemals so viel an Schönheit auf der Welt gesehen! Schönheit! Zum Beispiel so eine Blüte, wühlte Rudolf zwischen den Blättern eines Alpenveilchens, so eine Blume! Was sehen die Menschen so Schönes daran und wem ist das von Nutzen?

Auf dem Wegerich erwachte gerade ein Bläuling, wetzte die Flügelchen und spreizte sie gegen die Sonne, azuren wie der Himmel.

Oder so ein Schmetterling! Was sie schon an ihm finden; du brauchst ihn nur anzublasen und weg ist er; ich kann ihn in der Hand zu Brei zermalmen, oder kommt irgendein Vieh und frißt ihn; was ist denn das für eine Schönheit!

Die purpurne Blüte des Alpenveilchens mit den emporgereckten Blütenblättern, die fortfliegen zu wollen schienen, atmeten seine geöffneten Nüstern mit einem so zauberhaften Dufte an, daß ihm die Sinne einen Augenblick lang schwindelten. Was ist das? erstaunte Rudolf, so ein Duft – woran erinnert mich das? – und da fiel ihm sein lieblicher Traum ein. Der überfein gezeichnete Rand der Falterflügel blitzte in perlmutterfarbenem Schimmer auf; der Schmetterling erhob sich und schwebte zwischen den Sternblüten des Habichtskrauts. Da mußte Rudolf Axamit wieder an seinen Traum denken. Schönheit, sagte er zu sich, wie gebrechlich, welch ein Schwindel, was für ein reines Nichts das ist! Wie rasch entschwand mein Traum! Den Duft und die flammende Blüte des Alpenveilchens zwischen den Fingern zermahlend, verspürte er in ihnen noch die zerstörerische Lust, mit gewaltsamem Druck nach der trügerischen Schönheit des Falters zu fassen.

Ein koketter Breitbandäugler kreiste, die hellen Bänder seiner Flügel bewegend, zahm um Rudolfs Fuß und ließ sich schließlich mit leichtem Sprung auf seinem Schuh nieder; es war, als würden ihn die schwarzen und gelblichweißen Augen der Schmetterlingsflügel mit herausfordernd rätselhaftem Hohne anstarren. Ohne sich zu rühren, schob Rudolf hinterlistig die gestreckte Hand längs des Beines vor, doch ehe die Hand niederfallen konnte, erhob sich der Schmetterling, ihn mit den Augen seiner Flügel verlachend, und schwebte in trügerischem Fluge seiner gauklerischen Schönheit empor, bis er unsichtbar ward.

Rudolf wurde wütend. Ist doch Schönheit das Trügerischste auf der Welt, was es gibt! So einen Falter zwischen den Fingern zerdrücken, gleich würde ihm sein unerträglicher Selbstbetrug der Schönheit vergehen, die nichts anderes ist als die Gebrechlichkeit und Unbeständigkeit selbst!

Er stand heftig auf und trat schweren Schrittes unter Nelken, Hornklee und Enzian; da gesellten sich faule Bastardschwärmer zueinander, ein Posthörnchen schwebte hoch, aus dessen feuerfarbenen Flügeln sich huschend das dunkelste Blau des Himmels spiegelte. Hier zertrat denn der Wütende, als führte er einen großen Kampf, die Blumen, die mit zur Erde geneigten Kelchen verendeten; hier verfolgte er wütend den Falter und riß den Zerfetzten mit der verschwitzten Mütze zu Boden. Das, Welt, soll deine Schönheit sein? Dieses empfindlichste, vergänglichste, dieses trügerische und höhnische Nichts der Blüten und Düfte und Farben, das du ganz müßig und niemandem zu nutze verschwendest – am wenigsten noch mir zu Nutz und Vorteil! Da hast du, da, da und noch da! – Wenn ich nur mehr Zeit dazu hätte, mehr Hände, mehr Füße, eine Faust so breit wie mein Zorn, wie mein Abscheu und mein Aufruhr, dann müßtest du dich vorsehen, wie ich diesen scheckigen Schwindel kurz und klein schlagen und aus deinem falschen Antlitz löschen würde … Und du – wehre dich – wenn du kannst! Ach, ach, das ganze Weltall möchte ich so schmähen und schänden, damit man weiß, wer Rudolf Axamit ist! Hoho, was kann schon an der Schönheit so Wertvolles und Starkes sein, wenn sie derart leicht unterliegt? Schau nur: so schlage ich die Köpfe deiner Blumen, so zersetze ich die Flügel deiner luftigen Falter, so töte ich deine Wohlgerüche und wische deine falschen Farben weg, damit du nackt hier stehst, so, wie du in Wirklichkeit bist, in deiner wahren Gestalt und ohne Verstellung, und so mir ähnlicher!

Welch ein Schwindel! sagte sich Rudolf. Satt der rohen Verwüstung und bereits angeekelt, zertrat er die letzte Ameise. Eine merkwürdige Müdigkeit der Leere und rauher Widerwille stiegen in ihm auf. Er wollte das getane Werk nicht mehr vor Augen haben und fühlte die Notwendigkeit des Weitergehens.

Er wandte sich nach seinem Kameraden um und rief:

»Komm!«

*

Ein leichter Windhauch wehte über den Ort der Verwüstung. Ruhig breitete sich der Sonnenschein über allem aus, nirgend ausweichend und vor nichts zurückschreckend. Was gebrochen war, bemühte sich wieder aufzurichten, was noch kriechen konnte, schleppte sich auf den verstümmelten Gliedmaßen dahin, das übrige, das mit seinen herausgetretenen Innereien an der Erde klebte, wand sich vergebens hin und her und ergab sich dem Todeskampf.

Hu, der hat's aber getrieben! meinte Wenzel zu sich; ich dachte, er sei verrückt geworden, es habe ihn etwas gestochen, er sei rasend, er habe den Verstand verloren. Eine Schande, das mit anzusehen. Aber lieber nicht danach fragen, was er eigentlich damit wollte! Es gibt Dinge, an die der Mensch nicht herankann und wenn er noch so voll Zorn ist; aber besser, ihm nicht dreinreden, obwohl ich manches auf der Zunge habe.

Auch Rudolf schwieg. Die Grimmigkeit, die sich in ihm oberhalb des Abscheus, der Verlegenheit und der überdrüssigen Müßigkeit ansetzte, verfinsterte seine Augen.

Ich kann nicht gut sein, redeten seine Augen. Wäre ich gut, die Welt ließe mich zugrunde gehen. Es ist nicht leicht, die Bürde dieser Welt im Bösen zu tragen, aber es geht nicht anders.

Nein, es geht nicht anders; und wie es ist, so ist es; daran läßt sich nichts ändern. Ich – Rudolf Axamit –, die Heimat und all mein Leben; die Wälder, meine Liebe, die Hufe des Rehs, die schöne Kälte und Steifheit des erlegten Wildes. Was für einen Wert hat das alles? Und Valerie, mein Traum; die Sterne und der Gott Nichtgott, der nicht über mir ist. So ist es und das ist alles; aber Sinn hat es keinen.

Da ward sein Herz von Leid, von Leid ohne Umrisse und Grenzen erfüllt. Es drückte wie ein Fels, wie ein steinerner Berg, wie ein ungeheurer, toter Steinbruch, der nirgend beginnt und nirgend endet. Und nun hat dieser Schmerz ohne Umfang, in dem allzu engen Käfig der Rippen eingeschlossen, durch die unerbittliche Bewegung seiner Größe stumm alle hilflosen Riegel des Körpers überschritten und sich in überbreitem Strome ins Unendliche ergossen. Ach ja, sagte Rudolf zu sich, so hat es mich schon öfter heimgesucht: das Leid, ebenso stark wie das Leben selbst, ja oft noch stärker, dieses Leid meines Lebens. Das sind die Orte, wo sich alles in seiner ziellosen Gestalt offenbart; hier irrt die Seele umher, ohne etwas zu finden, das Mitleid in sich selbst herumtragend. Aber nicht einmal das hat Sinn noch Wert. – Ich müßte mich betrinken, um von mir nichts zu wissen, müßte Lieder hören, die meinen von Elsners Liedern, damit sie für mich sagen, was ich selbst nicht ausdrücken kann!

*

Auf dem Waldweg unterm Krähenberg eilte Marie Rous behutsam bergauf.

Sie trägt ein schönes Hochzeitskleid nach Salesl, ein weiß blinkendes Brautkleid. Sie hat es aus Seide, Gaze und künstlichen Blumen genäht und bestickt. Das Kleid ist in ein weißes Tuch gehüllt, damit weder Staub noch Sonne noch Regen dazu könne, ja nicht einmal ein schiefer Blick es bedrohe. Sie bleibt stehen, zieht die Falten des Tuches zurecht, steckt die Nadeln um, damit sich das schöne Hochzeitskleid ja nicht zerdrücke und eilt züchtigen Schrittes weiter nach Salesl, hie und da einen Blick in den Jungwald werfend, ob sich nicht irgendein Herrenpilz finde.

Marie Rous trägt weder einen Hut noch ein ländliches Kopftuch. Sie geht barhäuptig und ihr dunkles, zu einem einfachen Knoten gedrehtes Haar steht ihr gut. Sie ist weder eine Städterin noch eine Bäuerin. Fräulein Marie ist Schneiderin und geht der Braut in Salesl das Hochzeitskleid abliefern. Wenn sie nur glücklich wird, ich wünsche es ihr aus ganzem Herzen, denkt Marie Rous, aber an ihrer Stelle würde ich nicht so rasch heiraten; ich fürchte nur – soweit ich ihren Bräutigam einschätzen kann – ob sie sich nicht vielleicht übereilt und den Unrichtigen gewählt hat.

Aber das ist nicht mehr meine Sache, denkt sie weiter. Ich habe der Braut ein schönes Kleid genäht und niemand kann sagen, ich hätte nicht die größte Mühe darauf verwendet. Selbst wenn ich dreihundert verlange, ist es nicht viel für so ein Kleid. – Ja, so eine rosa Blüte, Marie Rous reißt eine verspätete Brombeerblüte ab, so eine Blüte sticke ich für das nächste Brautkleid, das ich nähen werde.

Marie Rous ist zufrieden und trällert ein wenig auf dem Weg unterm Krähenberg, züchtigen und anmutigen Schrittes dahineilend, der ihr mit Recht in der ganzen Umgebung Achtung und Bewunderung einbringt. Alles an ihr ist lieblich und sauber: das Kleid, das nach frischer Luft, Seife und Plätteisen duftet, ihre Haut, der makellose gelbliche Elfenbeinton des Gesichts und der Schläfen, zwischen denen, unter kräftig gezeichneten Augenbrauen, der Mandelblick der sehr dunklen, doch sanften und verständigen Augen leuchtet, und die Zähne, vorn schön weiß, gerade und gleichmäßig im sympathischen Lächeln, wenn sie auch nach überstandenen Krankheiten nicht überall so tadellos erhalten geblieben sein mochten. Sie ist von hoher, schlanker und fast zu gerader, im Umriß nicht grober, körperlicher Gestalt. Sie hat eine schräggeschnittene Schürze an, die ihr besonders gut zu Gesicht steht, graue Strümpfe und schwarze Schuhe, die mit ungewöhnlich leichtfüßiger Würde über die Unebenheiten der ländlichen Wege hinwegkommen.

Nein, erwägt Fräulein Marie, diesen Menschen hätte ich nicht geheiratet. Obgleich selbst vermögend, nimmt er sie zweifelsohne nur des Geldes wegen und scheint einen ziemlich leichtfertigen und gewiß wenig feinen Charakter zu haben.

Fräulein Marie Rous hat, obwohl der Verehrung wert – senkt sich doch immer noch Liebe zu ihr hinab, die sie erahnt und deren sie sich zuweilen nicht einmal bewußt ist – keinen Liebhaber. O doch, sie hat einen! Aber das ist kein Liebhaber der üblichen Art, jenes sentimental brutale, stets unzufriedene, ichsüchtig die Aufmerksamkeit und eine bald demütige und bald wieder mitleidige Wirksamkeit vorführende und verlangende Wesen. Ihr Geliebter und Bräutigam, Julius war sein Name, ist bereits zehn Jahre tot und kann sich durch nichts mehr in diesen Punkten vergeben, noch unter ihrem Druck sich versündigen. Erde bedeckt sein Gesicht, seine einschmeichelnde Stimme ist verstummt und seine Seele weilt im fernen Jenseits. Von allem, was er in dieser Welt besaß, sind ihm nur Blumen auf dem Grabe verblieben; Stiefmütterchen im Frühling, Feuerlilien im Sommer, Astern im Herbst und das ganze Jahr das Grabmal aus Sandstein mit der schwarzen Marmortafel und dem Namen Julius in Goldlettern. Diesem toten Bräutigam und Geliebten, an den sich heute sonst fast niemand mehr erinnert, blieb Marie Rous zehn Jahre lang und für immer treu. Von der Schneiderei lebend, wies sie alle Werbungen der Männer, jede andere Liebe ab, die zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Orten scheu und arglistig an sie herankam. Julius herrschte über ihr Herz, ihr Leben und ihr Schicksal, wenn sie sich auch schon lange nicht mehr mit jedem Atemzug und jedem Tage seiner erinnerte, wie sie es noch vor acht, neun Jahren seinem Andenken schuldig zu sein glaubte. Sie ist schon einunddreißig und immer noch hübsch, diese jungfräuliche Witwe Marie Rous, die arme Schneiderin, eine lang blühende, nicht verwelkende Blume, von niemandem gepflückt, wie das Herbstkraut auf dem Grabe des Geliebten.

*

Die beiden Waldläufer erkannten sofort die Tragweite dieser Begegnung, als sie auf dem halben Wege nach Salesl ein allein herankommendes Mädchen erblickten. Die innere Stimme, die ihnen sonst riet, vor jeder Begegnung mit Menschen auf der Hut zu sein, ließ sich nicht vernehmen, da sich ein anderer Rat viel mächtiger hören ließ. Was denn sonst, sagt dieser Rat zu Rudolf, wenn es hier weder Schnaps noch ähnliches, weder Gesänge der Liebe, noch des Leides, noch der Freude gibt? Das ist alles, sag ich dir, das ist alles, weißt selbst, daß es alles ist! Von Rudolf Besitz nehmend, erschien diese Stimme im gleichen Augenblick im Aufblitzen seiner Augen und im Erbeben des Mundes; der Kamerad, der dieses heftige Zeichen bemerkte, verstand es sofort. Sie schlüpften ins Gebüsch, das zu beiden Seiten den Weg säumte und hielten den Atem an, damit ihnen nichts von dem Geklapper der Schuhe entgehe, der Schuhe, die sich nähern, ach, nähern, näherkommen, ach, kommen!

Ich habe zwei Männer gesehen, wundern sich die Schuhe der Marie Rous und jetzt sehe ich sie nicht mehr. Wahrscheinlich waren es zwei Waldarbeiter.

Da drückte sich eine harte Hand auf das sanft geschwungene Lächeln der Lippen. Mein Gott, ich habe doch nichts Böses getan, erschrak Marie Rous. – Sie sah Männer von sehr strengem Äußeren neben sich, die aussahen, als wollten sie sie strafen. Sie fühlte sich gezerrt, von der Erde hochgehoben und erschauerte, da sie, obgleich sie in einen schrecklichen Fall gerissen zu werden schien, keinen Laut von sich geben konnte. Marie Rous wandte den Männern den Blick ihrer dunklen Augen zu, in denen sie aus dem Abgrunde der Angst die beiden um Hilfe und Mitleid bat. Da aber erkannte sie, daß die Hände, die nach ihr griffen, ihr nicht aus dieser Schlucht des Schreckens heraushelfen, daß vielmehr die grausame Gewalt dieser Hände sie nur tiefer hinunterstoßen und an der Flucht hindern werden. Sie versuchte zu schreien; schwer legte sich die grobe, nach scharfem Tabak stinkende Hand auf ihre Zähne. Sie wollte diese gewalttätige Hand von ihrem Mund losreißen, wurde aber gewahr, daß ihre Hände nicht frei waren: behutsam schützte sie in ihnen das weiße Brautkleid, in großer Sorge, es könnte in diesem rohen Ringen zerdrückt werden und zu Schaden kommen. Das Kleid, ach, das schöne Kleid, schluchzte ihre verzweifelte Seele, was wird daraus, o mein Gott, es wird noch ganz zerrissen! Aber ein Gebet hat wenig Wirkung vor dem Angriff der Hölle. Das Brautkleid gleitet ihr, unbarmherzig gezaust und getreten, aus den Händen, rauscht kläglich zu Boden, während die duftigen Schleier emporflattern, die keuchenden Mäuler der Bösewichte umwehen und sich in ihre mit Henkerskraft zugreifenden Pranken verwickeln. Da reißt sich Marie Rous vor Angst und Leid hoch und beginnt wie eine Löwin zu kämpfen. Als die schmalen Nähterinnenhände ihr Werk nicht mehr beschützen können, schwingen sie sich rächerisch hoch, fahren wie der Blitz in Rudolfs Gesicht, wo sie sich einkrallen. Wie sie sich so jäh emporreckt, läßt der Druck auf ihrem Mund ein wenig nach, und da ruft sie und ihre Stimme klingt rauh und laut: »Leute, ach, Leute, zu Hilfe!«

Die schmutzige, vom duftigen Schaum der Schleier umwundene Hand greift von neuem ihren Mund an, aber Maries Finger zielen geradeaus ins Gesicht des Angreifers. An der Stirne abgleitend, verfangen sie sich fest in den Augenlidern und reißen so stark an ihnen, bis deren Weiches naß und glitschig wird, worauf sie den scharfen Druck der Nägel das Gesicht entlang hinunterführen bis zum Mundwinkel, aus dem Blut quillt. Das häßliche, von der schmerzhaften Mächtigkeit des Angriffs überraschte Gesicht beugt sich in Selbstverteidigung zurück, und da gelingt es Marie zu schreien: »Da her, Leute, da her!«

Das Ringen ermattete einen Augenblick lang. Das Gesicht senkend, lockerte Rudolf die rauhe Kraft seiner Arme, um mit sanftem Druck das gemarterte Auge abzutasten; der Blutstropfen, der im Mundwinkel zitterte, rann in einem dünnen Rinnsal über das Kinn. Die Kämpfer keuchen, der Atem kommt nur stoßweise heraus. Maries Zähne klappern; ihre Beine zittern, während sich ihre Nägel in Wenzels Hand krallen, die sich zurückzieht.

»Wenzel, jetzt aber keine Geschichten mehr!« röchelte Rudolf auf, mit dem verwundeten Auge nach den blutbefleckten Fingern schielend. Er wischte sich die Hand an der Hose ab, worauf er zu Marie hinsprang und sie von neuem bei der Hand packte. »Da her, Leute, Hilfe, da her!« schrie Marie.

Und wirklich: im gleichen Augenblick ließen sich Stimmen vernehmen, stemmten sich gegen die verkrampften Hände und lockerten deren Umklammerung; Rudolf und Wenzel ließen ab, die Hilfe für Marie Rous kam im Eiltrab daher.

Ein Trupp Pfadfinderinnen kommt in bogenförmiger Schwarmlinie leichtfüßig gerannt. Die kurzen Röcke flattern im raschen Lauf, die roten Tüchlein gleiten ins Genick, die Hände strecken sich vor und heben sich empor, wenn sich die flinken Läuferinnen die Augen beschatten; ihre roten Münder stehen in ernster Wachsamkeit offen. Hallo! sammelt der Ruf die Mädchenschar, nicht unähnlich einem Gefolge von Waldnymphen, die hinter einem Eindringling her sind, der die Ruhe des Waldgeistes, dem sie dienen, gestört hat.

Die beiden Männer stutzten. Dieses Mädchenheer, was soll das bedeuten? Dem Stutzen entwächst Unsicherheit, der Unsicherheit die Angst. Das sieht wie die Gefährtinnen Dianens aus, die kommen, um das niederträchtige Wild aufzuscheuchen und zu hetzen, in das die herbeieilende, beleidigte Göttin ihren tödlichen Pfeil senden wird. Die Wangenröte dieser jugendlichen Jungfrauen drückt Strenge aus; sie gleicht der hellflammenden Morgenröte. Aber die Farbe ihrer Kleider ist olivgrün: das ist der Wald. Das ist der Wald! Das ist der Wald, erschraken die Bösewichter, ja, daher kommt es. Da erinnert sich Rudolf des toten Hegers: er ist es wohl, der diesem Vorposten nachfolgt, der kommt, um bei dieser Gelegenheit seine Rache zu nehmen.

Die beiden Burschen ergreifen die Flucht, Marie Rous auf dem Schauplatze ihres üblen Anschlages zurücklassend, die nun bleich wie ein Maiglöckchen und mit bebenden Knien, umringt von den Waldmädchen, dasteht. Sie springen ins Dorngebüsch wahrhaftig wie wildes Getier. Aber da kommen auch schon andere Leute herbeigeeilt, denn Marie hat nach Leuten gerufen; zwei lärmende Holzfäller, und wieder zwingt es die beiden Flüchtlinge, seitwärts in den Jungwald zu springen und abermals einen Haken zu schlagen, als ein altes Weib, das einen Krug mit Vogelbeeren trägt, und ein paar jüngere, die Reisig sammelten, sie aufscheuchen. So hüpfen sie, flüchtend immer wieder auf Hindernisse stoßend, wie ein Gummiball in diesem Hain umher, ehe sie im Hochwald verschwinden; die wilden Vögel, durch diesen Einbruch aufgeschreckt, flattern hoch und geben ein abscheuliches Gekrächz von sich.

Marie Rous brach in Weinen aus. Nun ist alles wieder gut. Sie hat um sich eine Schar großäugiger Mädchen, bärtige Männer mit Äxten, ein altes Weib mit einem Krug Vogelbeeren, und die Frauen, die Reisig sammelten. Und noch zwei Skauts sind aufgetaucht, der eine mit einer Gitarre, der andere mit Brille und ungewöhnlich behaarten Knien, der, freundlich die Zähne bleckend, Marie zu kaltem Tee nötigt. Fräulein Marie schluchzt noch ein paarmal aus; die mitleidigen Weiber heben das zerzauste Brautkleid vom Boden auf, glätten die zerdrückten Falten, wobei sie den Männern vorwurfsvolle Blicke zuwerfen. Noch gut, daß es so ausgegangen ist. Uns hätten die beiden Strolche in die Hände fallen sollen, erklärten die Männer mit den Äxten grimmig, denen hätten wir's gezeigt! Die zwei Gauner kriegen noch mal ihres ab!

Marie Rous setzt ihren Weg in Begleitung fort. Sie rühmt sich nicht viel ihres Abenteuers. Ach, wie konnten sie nur das Brautkleid so gefühllos zuschanden machen! Ich weiß nicht, ob sich das noch richten läßt. – Ja, der eine von ihnen war groß, rothaarig, der andere im schwarzen Anzug war etwas kleiner, berichtet Fräulein Rous dem Revierförster. Mein Gott, wenn ich mich daran erinnere, wie roh mir die beiden das schöne Brautkleid zugerichtet haben!

Ich hätte mir nie träumen lassen, sagte Marie Rous dann zu sich, daß mir so etwas begegnen könnte. Aber ich habe mich nicht ergeben. O Julius! Wärst du am Leben, sicher hätte das nicht geschehen können. Ich hatte immer das richtige Gefühl, daß ich mich ein wenig vor Männern fürchte!

*

»Das hätten wir uns ersparen können«, sagte Wenzel, als sie sich genug sicher fühlten.

»Schweig!« herrschte ihn Rudolf an, »wenn ich dir nicht eine herunterhauen soll! Ich will darüber weder von dir noch von irgend jemand was hören.«

Abends vergruben sie sich in trockenes Laub und bemühten sich, an nichts zu denken, um leichter und rascher einzuschlafen.

*

Wir haben vor den Mädeln Reißaus genommen, da hilft nichts, ärgerte sich Wenzel, als sie frühmorgens erwachten; wie kommt es nur, daß wir vor den Mädeln davonlaufen mußten? Aber es waren auch eine Menge andere Leute dort. Das hätten wir uns ersparen können, ich sag dir's noch einmal, Rudolf, aber laut werde ich dir's nicht sagen.

Rudolf tastete schweigsam sein Gesicht ab. Über das gequetschte Auge das Gesicht hinab zogen sich rote, entzündete Streifen. Es spannt und juckt ganz abscheulich, wenn er das Augenlid und die Wange zu bewegen versucht; aus dem Mundwinkel quoll wieder Blut, als er sich den trockenen Schorf abkratzte. Auch Wenzels Hände waren kreuz und quer mit feuerroten Striemen gezeichnet.

Da haben wir wieder einen Zuwachs an Ehre, und außerdem steht es jedem von uns recht deutlich angeschrieben; das Weibsbild hat uns heimgeleuchtet, alles was wahr ist; jeder kann es da fein ablesen, sagte sich Wenzel, mit recht unruhigen Gefühlen seine Hände und Rudolfs verunstaltetes Gesicht betrachtend. Wenn man wenigstens was davon gehabt hätte –

Das, mein Lieber, das wird sich tüchtig herumschreien.

»Also komm!« fuhr er Rudolf in beklommener Unruhe an, »wirst nicht schöner. Wir müssen trachten, so rasch als möglich von hier fortzukommen.«

Rudolf hörte auf, sich mit seinem zerkratzten Gesicht zu beschäftigen und folgte wortlos dem Kameraden.

Sie gingen durch einen schütteren Wald, aber auch so konnte man nicht gut nach vorn sehen. Der Wald war dicht von Wacholderbeersträuchern durchsetzt. Sträucher, die einst ihre Kuppen verloren hatten, waren in die Breite gewachsen, die andern dagegen standen schlank, säulenartig und ungleichmäßig hoch da; einen Augenblick schien es, als seien es Zwerge, Menschen, Riesen und andere Geschöpfe von undeutlicher Gestalt, alles erstarrt in Wachsamkeit und gespannter Erwartung, hinterm Rücken ein Messer, eine laute Alarmtrompete, einen Knüppel zum Losschlagen, einen Stutzen zum Losschießen verbergend.

Hu, dachte sich Rudolf, wenn das so Soldaten oder Jäger wären, da stünde es schlecht um uns; da kämen wir nicht weit. Wir müssen jetzt überhaupt verdammt auf der Hut sein. Ich sollte mir das besser überlegen, wenn nur nicht die Kratzer so ekelhaft brennten; ich hab das ganze Gesicht voll davon. Er konnte es nicht lassen und fuhr sich neuerdings ins Gesicht, tastete mit dem Finger die angeschwollenen Rillen ab, die eitrig näßten. Damit helfe ich mir nicht, sagte er sich bitter; der Teufel weiß, warum mich das nicht in Ruhe läßt. Ich ertrage so manches, zerquetschte Finger, abgerissene Nägel, die Hand zunähen, einen zermalmten Fuß, alles habe ich schon erlebt – aber das Weibsbild muß Nägel gehabt haben wie Gift.

Wenn ich dich daheim so zerkratzt anträfe, dachte Wenzel, o Rudolf, ich würde dich auslachen! Aber das da ist kein Spaß! Es ist überhaupt kein Spaß. Da haben wir uns was Feines eingebrockt, schade um jedes Wort: manchmal wird mir schon angst und bange davon.

Da geschah es, daß – wie aus der Erde gewachsen – plötzlich ein großer alter Mann vor ihnen stand. Auf den weißen Haaren, die ihm bis auf die Schulter fielen, trug er einen aus Zweigen geflochtenen Kranz, der gelbliche Bart reichte ihm tief bis zur Brust. Auf dem Körper trug er einen alten, zerschlissenen Schlafrock; mit der einen Hand stützte er sich auf einen belaubten Aststock, in der andern hielt er einen Korb mit Pilzen. Es gab Herrenpilze, Birkenpilze, Rothäubchen, Grünlinge und Ritterlinge darin, dazwischen rote und gefleckte Fliegenpilze. Gute und giftige untereinander und ein Klumpen blauen Mooses, mit den roten Korallen der Kornelkirsche geschmückt. Sich großmächtig aufrichtend, rief der Alte mit schallender Stimme: »Friede sei mit euch!«

Hierauf hob er den Arm, der den belaubten Aststock festhielt und berührte damit leicht Rudolfs und Wenzels Arm, indes er von neuem eindringlich wiederholte: »Friede sei mit euch!«

Rudolf und Wenzel blickten einander mit weit aufgerissenen Augen an. Beide erbleichten vor Überraschung; der Atem kam in unregelmäßigen Stößen aus ihren offenstehenden Mündern. Rudolf hob die Hand, um sein zerkratztes Gesicht zu verbergen.

»Für mich hast du dein Blut geopfert«, sagte der Alte. »Fürchte dich nicht, mein Sohn; da, wo ich bin, können dir deine Feinde nichts anhaben.«

Rudolf nahm die Hand vom Gesicht und bohrte in stumpfem Erstaunen seine geröteten und tränenden Augen in die Erscheinung des merkwürdigen Alten.

»Danke nicht!« brachte der Alte beschwichtigend vor und suchte in seinem Korb. »Da hast du, das gebe ich dir für alle Wunden. Nimm es und laß niemals und unter keinen Umständen davon ab.«

Er reichte Rudolf einen Wettererdstern. Dann kramte er einen zweiten Staubschwamm heraus und schenkte ihn Wenzel.

»Hebt es gut auf und verbergt es vor den Augen der Diener der Finsternis. Das ist besonders: für körperliche Wunden, und dann, in der zweiten, der höheren Potenz, für die Wunden der Seele. Mit dreimal drei Wacholderbeeren im Honig der Waldbienen verrieben, macht es euch unsichtbar. Keine Kugel, kein Schwert, keine Fesseln noch Laugen noch Gift werden mehr Macht über euch haben.«

»Wer seid Ihr?« wagte Rudolf zu fragen.

»Ich bin der Herrscher dieser Wälder. Alles hier ist mir untertan. Ihr aber fürchtet euch vor nichts, denn ich habe euch unter meinen Schutz genommen!«

»Wer ist das?« wandte sich Wenzel an Rudolf.

Rudolf zuckte die Achseln.

»Höre nur«, sagte der Greis, indem ein breites Lächeln sein braunes Gebiß entblößte: »Höre zu, dann wirst du begreifen.«

Den Korb mit Pilzen beiseitestellend, um die Hände für die Gebärden frei zu haben, lehnte sich der Alte an seinen Knüppel und begann mit würdiger Stimme vorzutragen:

»Vernehmt die Kunde aus Ariodions Munde:
Ario ist Luft zuerst, Dion als Gott dann herrscht,
Eins es im Zweifachen ist,
Der Einheit du dienstbar bist.
Eins ist in mir vereint, Eins ist das Sein,
Mein ist die Freiheit, dein Sein nur ein Schein;
Ergründe in mir die Gründe von Himmel und Erde,
Daß ich verkünde, was werde.
Die Sterne der Ferne, die Vöglein der Wälder,
Der Wasser und Felder melden mir gerne
Der Feinde Tücken, Finken, Grasmücken, Grünlinge, Zeisige, Meisen
Singen mir ihre Weisen;
Bussarde, Falken und Adler kommen heran,
Harrend meiner Befehle, mir untertan,
Des Herrschers der Wälder, Ario –«

Wenzel zuckte die Achseln und zu Rudolf gewandt, tippte er sich bedeutungsvoll an die Stirn.

»Ich weiß ja, daß du verrückt bist«, wurde der Alte böse. »Warte nur, ich werde dir schon den Kopf zurechtsetzen, wenn ich dir noch dies da sage:

»Die heilige Jungfrau hatte einen Sohn,
eine Dornenkrone war sein Lohn;
ich aber trage einen grünen Kranz
in Macht und Pracht und im Herrscherglanz
besiegend allen Zwist und jede List,
zu rächen jeden Hohn aron und proteon.
Die Toten erweck' ich, die Geister mach' ich sprechen:
alore reale menandre deore
diurnoi moare ridion meore –«

Da griff Rudolf nach Wenzels Arm. Wenzel warf einen Blick nach vorn, fort von hier, nur heraus von da! Der Wind bewegte die Blätter im Kranz des Alten, der Wald rauschte auf und seufzte, furchtsam schrie ein Vogel auf, in der Ferne ließ sich ein Reh vernehmen. Es war entsetzlich. Ein heftiger Schreck fuhr ihnen über den Rücken und sträubte ihre Haare.

Jiriodiorimereo –

Sie rissen sich plötzlich los. In wilder Eile das Körbchen des Alten umstürzend, rannten sie fort, was der Atem hielt.

Der Alte kniete nieder und klaubte, von einem kläglichen, kindischen Weinen geschüttelt, den Inhalt des umgekippten Körbchens auf.

*

»Hui«, seufzte Wenzel, als sie nicht mehr weiter konnten. »Der närrische Alte hat uns aber ordentlich erschreckt!«

»Er war ja auch danach – der Kranz, den er auf dem Kopf hatte!«

»Und wie er anfing: Friede sei mit euch, fürchtet euch nicht, hier steht ihr unter meinem Schutz.«

»Mensch, mir gab's einen Stich, wer weiß, was das ist, sagte ich mir, vielleicht weiß der alles so wie ein Herrgott. – Niemand kann euch nahekommen, sagte er, keine Feinde, ich mache euch unsichtbar.«

»Aber dann begann ich zu glauben, daß er uns mit diesem Gerede nur verhöhnt.«

»Ich auch, daß er uns zum Narren hält. Da bekam ich Angst und Wut – aber am ärgsten war's zum Schluß. Da wußte ich schon, daß er ein Narr ist, wie er sein: moira deoira zu faseln begann; da kam es mir vor, als würde er etwas beschwören – und da gab es mir einen fürchterlichen Ruck.«

»Beschwören? Was denn?«

»Ach, du weißt schon!«

Sie schwiegen eine Weile.

»Und indessen ist's ein Narr«, spuckt Wenzel aus und wirft den Staubpilz, den ihm der Alte gegeben hatte, hinter sich.

»Nur ein Narr!« Rudolf versucht zu lachen. O du liebe Welt, da haben wir einen merkwürdigen Spaß erlebt! wollte er mit seinem Lachen ausdrücken, aber es ging nicht: das Lachen gelang nicht. Da beeilte sich Wenzel, Rudolfs Lachen zu stützen; er gab nur ein krächzendes Kichern von sich, das in der Hälfte hohl abbrach. »Wer sollte da nicht erschrecken!« fügte er hinzu, als verstopfte er einen klaffenden Spalt mit einem schlaffen Hader: »Jeder würde erschrecken!«

*

Wenzels Gedanken ließen sich auf den Wellen der Unruhe stromabwärts treiben. Durch den spärlich verstopften Spalt, der sich nach dem mißlungenen Lachen in ihm öffnete, drang er in das steuerlose Boot der Gedanken ein und eine merkwürdige Kälte benetzte seine Füße.

Woran liegt es, rann ihm das Nachdenken kalt über den Rücken, daß wir vom ersten Augenblick an, wo es begonnen hat, immer und immer wieder davonlaufen müssen? Einmal verstecken wir uns, weil es schlimm steht, ein andermal wieder, weil wir uns fürchten. Lauf nur, damit dich niemand sieht, lauf nur, damit man dich nirgend findet, lauf immerzu, vom Anfang bis zum Ende. Ach, ach, es scheint, das Ende von allem wird sein, daß wir nicht mehr weiterlaufen können.

Genau so wie das Feld- und Waldwild, das die Angst, die Wachsamkeit selbst ist und dennoch in das vollste Schwarz der Zielscheibe seiner Scheu getroffen und schließlich erlegt wird. Wir haben uns nichts Gutes auserwählt; wenn wir schon einmal so begonnen haben, bleiben wir nicht mehr stehen und entkommen dem nicht mehr. Es ist uns schon bestimmt, daß gerade wir zu so armen Teufeln werden müssen wie die Rehe und die Hasen und das andere gehetzte Wild; ihr Leben, das ist eine immerwährende Flucht, und ihr Ende? eine nicht beendete Flucht. So wird uns auch unser Ende wahrscheinlich im Lauf ereilen, in diesem gehetzten und verzweifelten Lauf, den wir laufen; und wir können und dürfen nicht einmal innehalten. Der Laufkäfer gibt in der Angst seiner Flucht einen scharfen Saft von sich, auch die Kröte bemüht sich um ihre Rettung, indem sie stinkenden Schleim von sich spritzt, der Gift ist – aber nicht einmal das hilft. Ach, wie oft habe ich sie zertreten neben dem Weg liegen sehen, den Laufkäfer und die Kröte samt ihrem Safte und Gifte. Und uns hilft es auch nichts, wir fühlen das ganz gut: was sonst würde uns zwingen, in einem fort zu laufen?

Halt! tat das steuerlose Boot von Wenzels Gedanken plötzlich einen Ruck »Warte, Rudolf, nicht hier!«

Vor ihnen ragte eine Tafel auf mit Pfeil und Aufschrift: »Zur Waldklause«.

Sie blieben stehen.

»Weißt du was, Wenzel«, arbeitete sich Rudolf aus der schwarzen Oberfläche seines Schweigens heraus, »ich will dir was sagen.«

»Was denn? Was gibt es denn?«

»Wir kaufen uns was zu trinken!« Rudolf wies auf die Tafel und breitete beide Arme vor Wenzel aus, als wären sie schwer damit beladen, was er aus den Tiefen seines Schweigens herausgefischt hatte.

»Schnaps?«

»Das ist's, was wir brauchen. Das Wirtshaus kommt wie gerufen.«

Das schwankende Boot von Wenzels Gedanken, in das es von der Seite hereinrann, schaukelte, von den Wellen der Unruhe getrieben, näher zum Ufer und blieb dort, sich hin und her wiegend, liegen.

»Ja, gut! Aber getrunken wird im Wald.«

»Natürlich. Also warte dort auf mich.«

Ist halt doch ein Mordskerl, der Rudolf, dachte Wenzel, sich hinter einem Strauch niederlassend, und ich bin ein Narr. Ich quäle mich da mit allerlei Gedanken ab, während er inzwischen Besseres ersinnt! Das ist's, was uns wieder munter machen wird!

»Wenzel! Wenzel!« Rudolf kam zurück und streckte sein zerkratztes, mit gärend entflammter Schrift gezeichnetes Gesicht vor. »So kann ich doch nicht hingehen. Unmöglich: mußt schon du gehen. Da hast du Geld, ich warte hier.«

Wenzel nahm das Geld, klopfte sich den Mist von den Kleidern, und machte sich auf den Weg zum roten Schild der Waldklause. Und was, wenn mir Rudolf davonläuft, fiel ihm ein, während ich weg bin? Hoho, das tut er mir nicht an, das ist unmöglich: warum sollte er nicht warten, wenn ich ihm bringe, wonach er lechzt! Hoho, einen guten Tropfen, hoffentlich gibt's genug davon! Das ist's, was wir brauchen.

Einen guten Tropfen und das in Menge, freut sich Rudolf, während er im Gebüsch wartet. Holla, wenn Wenzel nur gut wählt, holla, wenn er nur schon zurück wäre! Einmal sah ich so eine merkwürdige Flasche mit rotem Likör: sie hatte die Form eines Hahnes. So was möchte ich gern trinken.

Ich nehme zwei verschiedene, bereitet sich Wenzel vor. Eine solche und eine solche. Das wird am besten sein.

Hoffentlich tappt Wenzel nicht in eine Falle! Der Kamerad im Gebüsch schluckt unruhig.

Da trat Wenzel schon in die Tür. Die Schankstube war leer, nur ein etwa zwölfjähriges Mädchen fegte unter den Bänken rein.

Wieder ein Mädel, dachte Wenzel mit einem gewissen Unbehagen, da er sich an die Vorkommnisse des gestrigen Tages erinnerte. Übrigens, sagte er sich gleich erleichtert, ist es besser so, als wenn irgendein Mann hinterm Ausschank wäre. Die Waldklause, erschrak er heftig, hat ohnehin ein Heger oder so irgend wer gepachtet, und ich muß ausgerechnet da hineinkriechen. Verdammt, hoffentlich dauert's nicht lange!

»Ich möchte einen Schnaps«, rief er dem Mädchen zu, das, den Besen weglegend, den Gast in fragender Erwartung ansah.

»Schenk dem Herrn ein«, ließ sich aus der Küche eine klägliche Stimme vernehmen. In das Ticken der Uhr mischte sich das Krachen eines Bettes und das Geräusch von Linnen; das war die kranke Wirtin, der das Umwenden im Bett Mühe bereitete.

»Es hat Rum, Getreide und Kümmel. Wieviel?« fragte das Mädchen.

»Rum, aber nicht einschenken. Eine ganze Flasche.«

Das Mädchen stieg auf einen Schemel hinterm Schanktisch und schob vorsichtig zwischen den Flaschen eine mit Rum heraus.

»Und die rote dort gib mir auch.«

»Das ist Kirsch.«

»Gut. Wieviel kostet das?« Wenzel zückte das Geld.

»Ich muß fragen.« Das Mädchen ging mit den Flaschen in die Küche. Durch die halbgeöffnete Tür der Küche war die kranke Stimme, eine anstrengende Rechnung vor sich hinbrummend, in langsames Überlegen, Erwägen und unsicheres Überteuern vertieft, zu hören.

Das dauert eine Ewigkeit, quälte sich Wenzel vor Ungeduld, und wollte mit allem schon draußen und in Sicherheit sein. Er erblickte auf dem Schankbrett eine kleinere Flasche mit grellgrünem Likör, nahm sie an sich und ließ sie gewandt in die Tasche verschwinden. Wenigstens ist es mehr, kicherte er, trat vom Schanktisch zurück und wartete auf die Rückkehr des Mädchens.

Das Mädchen kam aus der Küche, wurde aber nochmals zurückgerufen. In der dämmernden Stille mischten sich in das Ticken der Uhr neue Berechnungen. Das nimmt kein Ende, fluchte Wenzel, verdammt, ich halte es nicht länger aus!

Endlich kam das Mädchen und verlangte einen übermäßig hohen Preis. »Dann gib mir noch ein Stück von der Wurst dort«, befahl Wenzel und bezahlte, ohne zu feilschen. Im Weggehen stieß er in der Türe mit einem Bettler zusammen. Und da er noch Kleingeld in der Hand hielt und froh darüber war, daß alles so gut ausfiel, gab er ihm für den demütigen Gruß und die wasserhellen Augen ein Almosen. Nur ein Bettler, wurde es ihm gleich wohlig leichter; Gott sei Dank, keine andere Begegnung!

*

»Hast du?« Rudolf ging Wenzel aus dem Gebüsch entgegen.

»Ja. Wirst Augen machen.«

»Bist du niemandem begegnet?«

»Nein, nur einem Bettler, im Wirtshaus ist keine lebende Seele außer einem Schulmädel.«

»Dann ist's gut. Zeig her, wir müssen kosten.«

Wenzel reichte dem Kameraden die Rumflasche. »Da! Das andere trag ich selbst.«

Sie drückten den Kork mit dem Messer heraus. Der Rum roch durchdringend im herben Modergeruch des Waldes. »Mein Lieber!« lachte Rudolf, tat ein paar tiefe, glucksende Schlucke und reichte die Flasche dem Kameraden. »Ah, Mensch! Das, ach, das hatten wir nötig! Und jetzt verfrachten wir uns irgendwohin, damit uns niemand in die Flasche gucken kann.«

*

»Der Bursche?« murmelte der Bettler mit der Stimme eines alten Täuberichs zu dem Mädchen im Wirtshaus, »das könnte, meine ich, einer von den Lumpen sein, die gestern Fräulein Rous auf dem Weg nach Salesl überfallen haben.«

»Warum sollte er's denn sein?« meinte das Mädchen aus dem Waldwirtshaus, »es heißt doch, daß es zwei waren.«

»Das könnte der sein, der einen schwarzen Anzug tragen soll.«

»Schwarze Anzüge gibt's –!« erwiderte das Mädchen und faltete die Hände unter der Schürze, mit dem Wunsche, auf ihr Alter erwachsen auszusehen.

»Und seine Hände? Warum sollte jemand so zerkratzte Hände haben? Was könnte das sein?«

»Das hab ich nicht bemerkt. Er kaufte Rum und Likör, ganze Flaschen, was sollten wohl solche damit machen? Wahrscheinlich war's für eine Taufe oder Hochzeit.«

»Nananana«, gurrte der Alte, »eine Taufe oder Hochzeit in diesen Tagen, davon weiß ich nichts. Höchstens die Hochzeit in Salesl, für welche das Fräulein Rous das Kleid genäht hat. Aber warum sollte jemand aus Salesl hierher einkaufen kommen? Sie haben's doch dort näher. – Kennst du ihn vielleicht?«

»Nein«, antwortete das Mädchen.

»Na siehst du: ich auch nicht. Ohoho, das wird er schon gewesen sein: das war kein Hiesiger!«

»Nein, nein, das war kein Hiesiger«, murmelte der Bettler und ließ sich auf diese Entdeckung hin einen Wacholder einschenken. Das Mädchen ging in die Küche, die Neuigkeit erzählen. Es kamen zwei Metzger und bestellten Bier. »Er war's, meine Herren, und kein anderer«, gurrte der Alte und schlürfte an seinem Wacholder, »einer von den beiden, die das Fräulein Rous überfallen haben. Sie machen unsere Gegend unsicher, jetzt haben wir sie da. Ojojoj, ich möchte jetzt nicht durch den Wald gehen, und wenn man mir weiß Gott was verspricht.«

»Die zwei sucht man schon lang«, sagten die Metzger, »die haben mehr auf dem Kerbholz. Bei ihnen in der Gegend haben sie einen Heger umgebracht, sind geflohen und nun stehlen sie unterwegs und treiben anderen Unfug mehr. Übrigens, das Fräulein Marie Rous, die hätte schon längst heiraten sollen, dann müßte sie nicht so allein durch den Wald gehen, das ist nichts für Frauenzimmer; wir zwei hätten auch nichts dagegen gehabt, nicht wahr, Anton! Ich hatte auch ein Aug' auf sie. Aber erstens war sie ein wenig zu stolz, und dann war auch ihre Aussteuer nicht gerade groß. Aber die Kerle hat sie ordentlich zerkratzt, was? Geschieht ihnen recht, den Gaunern. Wer hätte gesagt, daß sie sich zwei solcher Kerle erwehren würde, so ein zartes Frauenzimmer! Na, nicht? Mit dem Knotenstock hätt ich's den beiden gezeigt und übrigens trage ich für alle Fälle diesen Revolver bei mir.«

Die kranke Wirtin humpelte schwer aus der Küche herein und heftete ihren besorgten und erschrockenen Blick auf die Gäste.

»Zahlen, Wirtshaus, und keine Angst! Wir haben unterwegs Gendarmen getroffen. Man zieht sie angeblich schon aus Postelberg, Salesl, Magdalenendorf, Wassergrün und Morchenstern zusammen. Wer weiß: vielleicht schnappen sie die beiden bis Abend.«

*

»So, und jetzt hauen wir uns mit den Flaschen irgendwohin ins Gebüsch«, schnalzte Rudolf; sie krochen über das nasse Felsgestein bergauf.

»Ich hab noch Wurst, Kirsch und so was Grünes«, sagte Wenzel schon zum drittenmal, während er sich durch Gestein und Farne hindurcharbeitete.

»Dann gib nur acht, daß du nicht ausrutschst; das wäre schad!«

»Hab keine Angst, mein Lieber, ich geb schon acht.« Wenzel kicherte: »So wie der Hein, der Student bei uns, du weißt doch?«

»Der Lange, der auf der Technik studiert? Was ist mit ihm?«

»Ja, der. Er trägt solche Brillen mit schwarzem Rand und will Leichtathlet sein. Also der trinkt natürlich keinen Alkohol, sondern nur Milch. Einmal kauft er sich zum Abendessen Milch, steckt die Flasche hinten in die Hosentasche, damit man's nicht sieht und er sich bei den Prager Mädeln nichts vergibt, na, und so pilgert er halt mit der Milch durch die Stephansgasse nach Hause. Er trägt Gummiabsätze, damit er einen größeren Herrn spielen kann. Aber es war gerade glatt, und so rutschte der junge Hein auf den Gummisohlen aus und setzte sich auf dem Gehsteig so scharf hin, daß es im Hintern nur so knackte. Natürlich gleich ein Auflauf um ihn, kennst sie doch, die Leute in der Stadt, er ist auch noch von dem Fall ganz benommen und denkt, daß er schier entzweigegangen ist. Jetzt guckt er, was denn da aus ihm den Gehsteig hinunterrinnt! ›Herr, was haben Sie sich denn gemacht‹, sagt einer zu ihm, ›was ist Ihnen denn, es rinnt ja was aus Ihnen!‹ Alle schauen ihn entsetzt an, weil er da wie ein gebrochenes Lineal auf der Erde sitzt und irgendwas Weißes aus ihm rinnt, was hat der Mensch nur in sich? Da ist halt der junge Hein rasch aufgestanden und hat geschaut, daß er fortkommt! Lieber hat er von der Milchflasche nichts erwähnt, damit ihn die Prager Leute nicht auslachen!«

»Hehe, Milch! Wenn wir so ausrutschen, da würde aus jedem von uns was anderes rinnen. – Was meinst du, dort oben?«

Gegen die ziehenden Wolken zeichnete sich eine Burgruine ab, Mauern mit Gras bewachsen, ein enges, halb in die Erde gerammtes Tor, ein verfallener Turm, auf dem sich eine Birke und schütteres Gebüsch festgewurzelt hatten.

»Das wäre nicht schlecht. Irgendein Loch wird sich dort schon finden.«

Unter einem Holunderstrauch wölbte sich der Bogen eines verschütteten Kellers.

»Da hätten wir gleich ein feines Plätzchen, doch vielleicht gibt es noch ein besseres.«

»So, und jetzt können wir gleich wieder zurücklatschen«, drückte Rudolf den Kameraden mehr zur Erde nieder: »Schau, dort: feine Bescherung.«

Beim Turm unter einem Halbgewölbe, das vielleicht früher einmal eine Kapelle gewesen war, saß ein Liebespaar. Sie hielten sich an den Händen: das Mädchen hatte neben sich einen Strauß Herbstblumen und er ein offenes Buch liegen. Sie blickten jedoch nicht auf die Haltung ihrer so hübsch und fest verschlungenen Hände, sondern schauten in die Höhe, wo sie die unaufhörliche Veränderung der leuchtenden Wolken verfolgten, die über die Hänge zogen. Ein leichter Windhauch, der von diesen Wolken kam, bewegte die Haare des Geliebten. Das Mädchen fuhr ihm mit zärtlichen Fingern darüber und schützte sie eifersüchtig vor dem spielerischen Wind; der Geliebte lachte in stiller Freude auf, hob ihre Hand, die er in der seinen wärmte und legte das ergebene Gesicht darauf.

Anscheinend glaubten die Liebenden, daß hier alles nur dazu geschaffen worden sei, damit die beiden in sich versunken dasitzen können; daß diese Burg nur dazu aufgebaut worden, der versunkene Halbbogen nur deshalb hier stehengeblieben war, damit er sich träumerisch über ihren Köpfen wölbe, die sich unter der Last des Verliebtseins zueinanderneigen; daß auch der verfallene Turm, die über ihnen im Winde zitternde Birke und die leuchtenden Wolken nur dazu daseien, damit die Augen der Liebenden die süße Bangigkeit und grenzenlose Weite ihrer Liebe auf sie übertrügen.

Über Rudolfs Luchsaugen senkten sich die schweren Lider. Er wandte sich ab, um still fortzugehen. O Valerie, sagte er zu sich, so möchte ich mit dir in ewiger Liebe vereint sein! Aber du siehst, daß mir ein trauriges Schicksal zuteil wurde: daß ich fortgehen muß und immer weiter fort; daß ich dem Schnaps vor dir den Vorzug geben muß: daß ich nichts mehr wert bin. Da berührte ihn der leichte Windhauch, der von den Wolken kam und der mit dem Haar des Geliebten spielte. Rudolf erschauerte, als wäre er bis auf die Knochen nackt, und im Aufblitzen der ziehenden Wolken erschien ihm das Bild der vergehenden Flüchtigkeit der Zeit.

Durch dichten Niederwald gelangten sie in die Ebene. Auf der Landstraße, durch Gebüsch verdeckt, knarrte ein Wagen, wahrscheinlich mit Holz beladen. Dahinter eine Weile später ein zweiter, ein dritter.

»In dem Wald ist es ja lebendig«, brummte Wenzel. »Wohin sollen wir mit unserer Budik?«

Ach was, mit der Budik, sträubte sich etwas bange in Rudolf, aber mit dem andern. Mit dem, was bereits geschehen ist und dem, was noch geschehen kann. Je länger desto mehr scheint es mir, daß auch in dem Wald immer weniger Platz für uns ist. Er wurde von der abscheulichen Vorstellung eines Waldes befallen, der sich immer weiter keilartig verengt, bis er in eine ganz scharfe Spitze ausläuft, wo die während der Flucht durch Dornengestrüpp ausgestreckten Hände der Flüchtlinge schließlich geradeaus in die geöffneten Handschellen schlüpfen, die ihnen ein lauernder Gendarm entgegenhält.

Dummheit, sagte er sich, die Ausgedehntheit der Wälder weit und breit prüfend, wir sind doch keine blöden Hühner, und Wald gibt es hier noch genug. Wenn wir nur irgendwo einen hübschen Platz zum Trinken fänden, ich würde schon auf andere Gedanken kommen.

Nein, das da oben ist kein Plätzchen zum Trinken, obwohl es hier sehr schön ist. Der Wind, der von den Wolken kommt, verfängt sich in den Wipfeln der Lärchen und Tannen, die Grashalme funkeln und der Boden duftet. Die geräumige Lichtung, rückwärts durch den Wall des Hochwaldes abgeschlossen, hallt von menschlichen Stimmen und dem hellen Ton des Holzes wider. Die fliehenden Wolken leuchten, und das ganze wunderhübsche Tal scheint ein Riesenbecher zu sein, bis zum Rand gefüllt im wechselnden Überschäumen und Perlen der berauschenden Freiheit und Weite. Natur und Mensch haben sich zum geselligen Werke zusammengefunden. Seines darbietend, blickt der Wald freundlich auf die lärmende Fron der Menschenkinder, die hier mit dem Holze arbeiten, und auf die glänzenden Rücken der Pferde, die vor die Schwerfuhrwerke gesträngt sind. Der Holzschlag tönt wider von Lärm und fröhlichem Fluchen. Zwei Witzbolde sind hier aneinandergeraten und bewirten einander mit den launigen Anspielungen ihrer durch üppige Bärte verdeckten losen Mäuler. Mit wohlwollender Teilnahme sehen die weiten Flanken der Wälder dem emsigen Treiben zu; in der durchsichtigen Luft und im Glanze des Himmels, der alle Räume durchwirkt, offenbart sich freigebige Gunst. Es ist, als wäre all das viele Grün dieses Tales eigens dazu geschaffen, damit sich die Arbeiter heute hier umhertummeln können, deren eifrige Äxte und Sägen das Holz ertönen lassen; als wären der Silberglanz und der kühle Wind eigens für den Schweiß ihrer Stirnen da; dieser Harzduft nur für sie; diese Fröhlichkeit des Lärms, der kreuz und quer durch den hellen Raum schwingt und tönt, nur für sie; das Geräusch des Flugzeuges, dessen Flug sie zwischen den leuchtenden Wolken verfolgen und der ihre Arbeit eine Weile ruhen läßt, ebenfalls nur für sie.

»Komm weg von hier. Weg von hier, weiter«, sagte Rudolf zum Kameraden und der Mund brannte ihn vor übergroßer Durstigkeit. »Das da ist auch kein Platz für uns.«

*

Sie stiegen in einem Bogen den Berg hinan.

»Ich möchte trinken, ich möchte trinken wie ein Faß, wie ein Sandhaufen, wie Asche, wie eine trockene Wiese, ich möchte trinken, als ob ich dafür gezahlt bekäme.«

»Und ich? Ich möchte saufen wie ungelöschter Kalk. – Wart' nur, wir finden schon einen Platz.«

Sie gelangten in einen stillen Wald; nichts ließ sich hier vernehmen als die Stimme des Windes in den Ästen und das Glucksen des Bächleins, das hier, unter dem groben Blätterwerk der Pestwurz verborgen, den Hang hinabhüpfte. »Heute ist bei uns nichts zu wollen mit Wasser!« sagte Wenzel, stellte sich breitspurig hin und pißte in das klare Wässerchen. Rudolf kniete sich ein Stück oberhalb nieder, fing das Wasser mit der hohlen Hand auf und kühlte sich das entzündete Gesicht. Es half nicht viel; die geschwollenen Striemen brannten erbärmlich.

Oben auf der Höhe fanden sie eine verfallene Hütte aus ungeschälten Baumstämmen, ein einstiges Köhlerlager. Ein großer schwarzer Kreis aus Holzkohleabfällen war hier als Zeuge ihrer Tätigkeit zurückgeblieben.

»Also bitte, da haben wir's; belieben Sie einzutreten«, schlug Wenzel die verfallene Türe ein. Drinnen war eine grobe Bank und etwas Heu zum Ausruhen und Schlafen.

»Fein, sehr fein, aber viel zu nah am Weg«, brummte der Kamerad. Es war zu sehen, daß der Pfad, der hier vorbeiführte, ziemlich begangen war. »Komm wenigstens dort hinauf.«

Sie krochen bis zum Gipfel. »Da bleiben wir und nicht einen Schritt weiter!« blieb Rudolf endgültig stehen. Der Gipfel war nicht dicht bewachsen; größere und kleinere Felsstücke bildeten hier ein Labyrinth, in dem es Stockwerke, Vertiefungen und Stübchen in allen Ausmaßen zur Wahl gab.

»So – und jetzt her damit.« Rudolf machte es sich auf dem Steinlager bequem. Sie öffneten die Rumflasche und fielen mit groben Bissen über die Wurst her; es war eine Ware, die der Metzger dauerhaft erhalten wollte, eine Wurst, bei der er weder mit Salz noch mit Pfeffer, Knoblauch und Buchenholz gespart hatte; eine Wurst, schneidig wie ein gut gelaunter Feldwebel, saftig wie das Mundwerk eines Marktweibes, vom Räucherduft durchsetzt wie ein Tabakladen vom Tabak. »Na siehst du«, sagte Rudolf, mit vollem Munde kauend, zu Wenzel, »heut geht's uns einmal gut!«

»Fein!« An etwas anderes als den Genuß wollten sie jetzt nicht denken.

Der Ton des Holzes, der aus der Tiefe des Waldes bis herauf tönte, verstummte mit einemmal und aus dem fernen Dorf drang mit dünner und hoher Stimme leises Mittagsläuten zu ihnen. Es war still und warm, im Himbeerstrauch summte eine Hummel und im trockenen Gras raschelte eine Eidechse. Süße und sorglose Faulheit legte sich schmeichelnd auf Wenzels Knochen. Wärmend und zärtlich drückte sie sich an ihn, doch sie war bescheiden und begnügte sich mit wenig für ihre liebliche Anhänglichkeit. Sie wünschte sich auf der Welt nichts, als hie und da einen Schluck aus der Flasche, die vorläufig nicht leerer zu werden schien. Wenzels Augen wurden unter der Wirkung dieses gedrängten Wohlgefühls ungewöhnlich scharf. Er sah und nahm die Dinge in der Ferne und in der Nähe merkwürdig wahr, selten leicht und ohne jede Anstrengung erfaßte sein Blick alles Sichtbare mit fast mikroskopischer Schärfe: das Sandgefüge, aus dem die Materie der Felsblöcke bestand, einen verwehten Fliegenflügel, den Schatten eines Blumenstengels, kreisende Wildtauben dort weit, weit am Himmel.

»Schön ist's hier«, seufzte er, »gut ist's hier, was könnten wir uns Besseres wünschen!«

Das klare, scharfe Sehen machte nicht bei dem kaum sichtbaren Gefüge des Steines, noch bei den am Himmel kreisenden Tauben halt; es drang noch weiter, weiter, bis nach Hause.

Daheim sind sie beim Mittagessen, fiel es Wenzel ein, und dann geht es wieder an die Arbeit. Wenzel, könntest das und jenes tun, jammert die Mutter. Warum gerade ich, warum nicht ein anderer? brummt Wenzel und wünscht sich, lieber irgendwo im Walde zu sein.

Wie ist es wohl daheim? erinnert sich Rudolf. Die Mutter hat das Mittagessen zum Steinbruch gebracht und kratzt aus den Töpfen, was die Männer übriggelassen haben. Der Vater hat sich mit der Mutter unterhalten und nun pafft er aus der Pfeife und regiert: Und du, Rudolf, du machst dies und jenes.

Laßt mich in Ruh, sträubt sich Rudolf, macht euch's allein, ich hab noch seit früh an meiner Arbeit genug.

Die Mutter, erinnert sich Wenzel, fährt sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. Was mit dem Jungen nur ist, wo er nur steckt? Von früh bis abends denke ich nur an die schlechte Nachricht; am liebsten wäre ich schon im Grab. Was soll mit ihm sein, brummt der Vater und fühlt, wie es ihm die Kehle würgt: ein Lump ist er und wird das auslöffeln, was er sich eingebrockt hat. Er hatte mit uns kein Mitleid, warum sollen wir's mit ihm haben!

Der Vater, so ist Rudolfs Erinnern, nimmt der Mutter den Suppentopf aus der Hand und fragt sie, ehe er zu essen beginnt: Und was ist mit ihm – mit Rudolf, noch immer nichts? Nichts, sagt die Mutter, ich hab nichts gehört; warum nimmst du dir's so zu Herzen? Sie, die Mutter, weint zuweilen, doch nur heimlich. Wie soll ich mir's nicht zu Herzen nehmen, pafft der Vater, aber die Pfeife will irgendwie nicht brennen; ist doch mein Blut, und so eine Schande hat er uns angetan!

Ach was, zu Hause, sprach Rudolf der Flasche zu – da, gerade da und gerade heute bei diesem Schnaps ist unser Platz. »Also was«, reichte er dem Kameraden die Flasche, »möchtest nicht lieber daheim sein?«

»Nein«, sagt Wenzel. »Daheim ist nichts. Wenn die wüßten, wie fein wir's haben!«

Nach der Wurst meldete sich der Durst, es trank sich gut. Die Worte nahmen zu, je mehr der Flascheninhalt abnahm, und der Rum und die Welt schienen je länger, desto besser.

Wenzel ist ein guter Kamerad, dachte Rudolf gerührt. Der Teufel weiß, was mir nur damals eingefallen ist, daß ich ihm davonlaufen wollte; ich hab doch den Lausejungen schrecklich gern. Und das werde ich ihm auch beweisen: ihm, aber sonst niemandem, muß ich meinen Traum erzählen.

Die ferne Musik des Holzschlages war schon verstummt. Der silbrig glänzende Tag begann vor Einbruch der Dämmerung orangerot zu flammen. Sie hatten bereits die halbe Flasche Kirsch ausgetrunken; es dämmerte geheimnisvoll, als Rudolf dem Kameraden seinen Traum zu Ende erzählte.

»Weißt du was, Rudolf«, setzte sich Wenzel zu ihm und umarmte ihn ganz verzückt, »weißt du was: wir wandern nach Prag, wir gehen zu ihr, zu deiner Valerie! Wir werden schon irgendwie hinkommen; das wäre doch gelacht, daß wir nicht bis hin kommen sollten! Und dort verstecken wir uns dann irgendwo; da müßte doch der Teufel dabeisein, wenn wir uns in Prag nicht verbergen könnten, in der Stadt gibt's doch Leute wie Bäume im Wald. Und irgendwie bringen wir uns schon durch, das möcht' ich sehen, ob wir uns in der Stadt nicht durchschlagen könnten! So ist's: wir gehen zu ihr, zu Valerie!«

»Ja, Wenzel, wir gehen, warum sollten wir auch nicht gehen!« Rudolfs Seele wurde ganz wirbelig vor Kraft und heftigen Vorsätzen.

O, Valerie, zweimal hab' ich mich in diesen Wäldern so heiß nach dir gesehnt, dich aber immer wieder verleugnet. Jetzt aber bringe ich es nicht mehr über mich: ich muß zu dir gehen! Es ist mir unbegreiflich, daß ich es nicht gleich erkannt habe!

O, Kamerad, o du süßer, berauschender Schnaps! Wie merkwürdig: wodurch nur, wo ist das, was mich so gequält hat und jetzt wie mit einem Schlage verschwunden ist? Es gibt nichts, was sicherer wäre auf der Welt, als daß mein Glücksstern nun aufgeht! Das ist es, ja, und ich kenne nichts mehr anderes.

Wenzel, lieber Wenzel, ich hab dir noch viel zu erzählen. Komm, du Dummer, warum sollen wir da draußen sitzen, die Köhler haben doch so ein schönes Haus zurückgelassen! Ich muß dir nochmals alles erzählen und will es nochmals hören und noch viele Male: von meiner Valerie. Ich will noch von meiner Valerie erzählen.

In der Köhlerhütte schien es noch tausendmal besser als draußen. Es war zwar dunkel drin, aber durch die Ritzen leuchtete noch weich die Dämmerung. Sie warfen sich ins Heu und entkorkten die Flasche mit dem grünen Likör: er füllte den Mund durchdringend mit süßlich-bitterem Geschmack. »Der ist am besten«, sagte Rudolf und reichte die klebrige Flasche dem Kameraden.

»Ich kauf mir einen neuen Anzug«, stammelte Wenzel.

»Siehst du, die Valerie; nie hätte ich gewagt zu denken, daß sie um mich so steht. Kann ich ihr das antun und nicht zu ihr gehen? Gleich morgen zieh ich los.«

»Klar, Kamerad, klar.«

»Ich geh, du kannst versichert sein, daß ich geh.«

»Klar, Kamerad, klar.«

»Aber vorerst schreib ich ihr noch einen Brief: Teuerste Valerie –«

»Und ich kauf mir einen neuen Anzug –«

»Oder nein, keinen Brief. Ich schreib nicht, sondern überrasche sie, plötzlich tauche ich dort auf. Da bin ich, Valerie, sage ich zu ihr, schau mich an, ich bin zu dir gekommen –«

»Klar, Kamerad, klar.«

Der Wenzel hat schon genug, sagt sich Rudolf; ich hab ja auch ordentlich geladen. Aber was ist das, daß wir heute beim Trinken gar nicht lustig sind? So ein guter Schnaps! Solche Aussichten! So ein Leben! »Trink, Wenzel –«

»Ja, neue Kleider schaff ich mir an, klar.«

»Du, Wenzel, damals im Winter, erinnerst du dich noch, wie wir die drei Hasen gefangen haben?«

»Klar, erinnere ich mich, klar.«

»Das war ein Spaß, erinnerst dich? Schau, Wenzel, was liegt da, sag ich gerad zu dir, wetten wir –«

Da öffnete sich plötzlich die Türe der Hütte und im Leuchtbild der abendlichen Dämmerung hob sich der schwarze Umriß einer Männergestalt ab. Der Mann bei der Türe konnte wohl nicht mit den Augen das Dunkel der Hütte durchdringen. Man vernahm das Knacken des Kontaktes einer elektrischen Lampe, aber das Licht flammte nicht auf, der Kontakt versagte.

Der Mann in der Tür räusperte sich und war daran, ein Wort von sich zu geben.

»Ich kauf mir einen neuen Anzug«, murmelte Wenzel.

Ein Gendarm! durchfuhr es Rudolf. Die Pistole krachte, Rudolf schoß.

Die Silhouette in der Tür sank zu Boden und ließ wieder die Umrisse des leeren Rechtecks sehen.

Die Burschen sprangen auf und rannten hinaus. Rudolf stolperte auf der Schwelle, daß er fast hingefallen wäre.

Sie liefen den schwankenden Lauf der Betrunkenen, stießen gegeneinander und keuchten schwer. Wenzel atmete in kurzgehacktem Gestöhne. Unter ihren Tritten knirschte und knarrte der Sand, sprangen Wurzeln und bröckelten Steine.

Sie konnten nicht mehr weiter. Rudolf griff sich an den Kopf, seine Mütze suchend. Einen langgezogenen, kläglichen Ton von sich gebend, hielt sich Wenzel an einem Baum fest, bückte sich näher zur Erde und würgte und würgte so lange, bis er alles, was er an diesem Tage genossen hatte, ausspie.

Da brach Rudolf in ein fürchterlich lautes Gelächter aus. Erst jetzt kam das Lachen des Tages über ihn. Klappernd peitschte dieses schreckliche und lange Lachen das Waldesdunkel, und die Finsternis spie dieses Lachen mit Greuel aus, sich zwischen erbebenden Ästen und Stämmen in Krämpfen windend. Das letzte Gericht! entsetzte sich Wenzel und fiel hin, mit dem Gesicht den Waldboden berührend. Rudolf warf sich neben ihn und, die geballten Fäuste in den Mund pressend, lachte er sein tollwütiges Lachen zu Ende.

Am Morgen erwachten sie aus dem bewußtlosen Schlaf und fanden sich am hellichten Tage knapp am Wegrand liegen.

*

»Rudolf, was hast du getan?« schüttelte Wenzel den faulen Schläfer, »was hast du getan?«

»Was?« verwunderte sich der Gefährte stumpf. »Was ich getan hab? Was soll ich getan haben?«

»Aber doch – gestern –«

»Gestern – was war gestern?«

»Gestern in der Hütte, wie wir getrunken haben – weißt du nicht?«

»Ja, getrunken haben wir. – Und was soll gewesen sein?«

»Aber Rudolf – komm doch zu dir! Du hast den Gendarmen umgebracht!«

»Was für einen Gendarmen?«

»Rudolf, Rudolf, so komm doch zu dir: du hast den Gendarmen erschossen!«

»Erzähl nicht: ich hab keinen Gendarmen erschossen –«

»Wir waren betrunken und du hast gleich nach ihm geschossen.«

»Wo? Geschossen – ich hab geschossen? – Ich weiß von nichts.«

»Weißt nichts. – Aber getan hast du's. Erinnerst du dich denn nicht? In der Hütte – ich war doch dabei, meiner Seel, ich hab's mit eigenen Augen gesehen –«

»In der Hütte – das weiß ich, dort waren wir, aber einen Gendarmen hab ich nicht erschossen.«

»Aber ja, Rudolf, es ist wahr: er liegt dort bei der Tür.«

»Erschossen, ich soll ihn erschossen haben. – Komm, gehen wir hin nachschauen.«

»Um Gottes willen, Rudolf, nein! Wenn du mir ich weiß nicht was gibst, ich geh nicht hin. Ich geh nicht hin und wenn ich dich auf den Knien bitten müßte – wir müssen fort!«

Da bemerkten sie, daß an Rudolfs Stiefel trockenes Blut klebte.

»Siehst du's? Siehst du? Rudolf, Rudolf, das hättest du nicht tun sollen, das hättest du nicht tun müssen!«

»Jetzt ist's schon geschehen«, brummte Rudolf finster. »Ich sollte hingehen.«

Rudolf stand erstarrt in wirrer Verwunderung. Wieso? griff er sich an die Stirn und schüttelte, ins Leere blickend, den Kopf, wie konnte das nur geschehen? Aber es wird schon so sein, es ist schon geschehen – das Blut. – Aber wie kommt das, wer kann mir das nur erklären?

Es war schon heller Tag, überzogen mit einer leichten Trübe, aus der merkwürdig helles, fast kreidebleiches Licht floß. Emsige Ameisenprozessionen eilten auf krummen Wegen durch die Nadelstreu, vorüber an Rudolfs blutbespritzten Schuhen; winzig blühte das Ehrenpreis. Kaum dreißig Schritte weiter, mitten auf dem Wege, blieb ein schlankes Reh stehen. Es stand friedlich auf den gespannten Beinen; in dem länglichen Auge, mit dem es unverwandt seitwärts nach den beiden Männern äugte, dunkelte der samtweich ruhige Schatten des Waldes, und in der lieblichen Verzweigung seines Geweihes stand eingeschrieben das Geheimnis der Bäume und der Moose. Es war ein starkes, ausgewachsenes und schönes Tier. Rührte sich nicht, schien nichts von der Scheu der Rehe zu wissen, sondern äugte nur.

Voller Staunen saugten sich die Blicke der Jäger an der Gestalt des anmutigen Tieres und an seinem großen, ruhigen Auge fest. Warum äugt es so, warum fürchtet es sich nicht? Es ist ja, fiel ihnen ein, als wäre es gar kein Tier, sondern irgendeine Gottheit dieser Wälder. Worauf wartet es, warum ist es so ruhig, ach, Seele, etwas Unaussprechliches und uns Sterblichen und Mördern Unbegreifliches ist da in den göttlichen Urteilen für uns gesponnen. So äugt es und äugt – will es uns denn festbannen? Wenzel hob die Hand und das Tier entfloh mit großen Sprüngen in den dichten Tannenwald.

Da fiel ihnen ein, daß sie fliehen müssen. Sie traten einen scheuen Marsch an. Ach, Rudolf, Rudolf, in was haben wir uns da wieder hineingehetzt, seufzte Wenzel, wie konnte das nur über uns kommen! – Ich sollte hingehen, drängte es Rudolf, ich sollte nachsehen gehen, was ich angerichtet habe.

Als er dann stehenblieb, nahm er eine Handvoll Gras und wischte das vertrocknete Blut von den Stiefeln. Es ließ sich nur schwer und nur teilweise abscheuern. Wenzel zitterte. »Noch dort und dort«, flüsterte er, »aber mach rasch, mach nur, wir müssen weiter!«

*

Zur selben Zeit wurde der Gendarm vom Heger und seinem Sohne gefunden. Der Gendarm war tot. Er war noch ein ganz junger und sehr hübscher Mensch gewesen, der erst vor kurzer Zeit in diese Gegend versetzt worden war; auch er hatte Marie Rous aus der Ferne verehrt, doch so schüchtern, daß sie nichts davon wußte.

Da haben wir's, sagten sich der Heger und sein Sohn. Das waren wieder dieser Wenzel Kala und der Rudolf Axamit. Kaum sind sie da in unserer Gegend, lassen Verbrechen und Unglück nicht lange auf sich warten. Sie standen eine Weile mit gesenkten Köpfen beim Leichnam des Gendarmen, denn sie fühlten, was eisige Kälte und Glut des Mitleids bedeuten, die das Menschenherz über dem beklagenswerten Schicksal des Nächsten umkrampfen. Und ihr Gebet über diesem armseligen Toten war eine eindringliche Mahnung an den Himmel, das göttliche Amt müsse für dieses Verbrechen Rache üben und darüber Gericht halten. Hierauf gingen sie die Bluttat anzeigen.

Die Stimme des Volkes verlangte nach dem Blute der Mörder. Seht, raunte die Stimme in den Wohnstuben, auf den Wegkreuzungen und Brücken, was ist das für eine Gerechtigkeit! Einer von den Gendarmen wurde erschossen und sie lassen die Mörder entkommen. Unsere unglückliche Gegend! Soweit mein Gedächtnis reicht, ist so etwas noch nie bei uns vorgekommen, erst jetzt. So sieht es aus, wenn man nichts als Politik macht und das Volk verlassen ist.

*

Verdammt, nagte es an Wenzel, das hätte nicht geschehen dürfen. Wenn es mit uns schlecht ausfällt und sie uns fassen, müssen wir's teuer bezahlen. – »Wohin jetzt, Rudolf, und was sollen wir tun?«

»Ich möchte die Hütte sehen, ob der Gendarm dort liegt«, sagte Rudolf, »zumindest aus der Ferne.«

»Sei kein Narr, Mensch, willst uns wohl auf dem Gewissen haben? Was läßt dir nur keine Ruhe, daß du mit aller Gewalt wieder hineinkriechst? Ach Gott, wenn wir nur schon um hundert Meilen weiter wären!«

»Weiter? Ich fürchte mich vor nichts, du Memme, mir ist alles eins. Gehen wir meinetwegen, wenn es dich so reut.« – Heftiger Durst quälte sie. Wenzel rupfte eine Handvoll Sauerklee ab und kaute die sauren Blätter. Sie schmeckten ihm nicht, so warf er sie wieder fort. Er suchte in den Taschen, wenn wenigstens eine Prise Tabak da wäre! Der Wald wurde schütterer, gleichzeitig aber mächtiger. Der Boden war reichlich mit Humus bedeckt, starke Buchenäste zeichneten sich dunkel am lichten Transparent des Blattwerkes ab. Weiße, gallertartige Schwämme, die wie Stockwerke am alten Holz angesetzt waren, schwitzten tränenartige Tropfen aus und gemahnten an Wachs, Leichengeruch, Tropfsteine und etwas unbestimmt Kirchliches. – Sie kamen wieder auf einen Weg, jedoch der troff von Wasser. Bei einer uralten Buche, unter dem Bilde des Hl. Josef, entsprang ein Quell, allen Dürstenden zugänglich, die hier vorbeikamen; auch ein kleines, rostiges Blechgefäß und eine leere Flasche lagen daneben. Da staunten sie, daß sie es ausgehalten hatten, mit so furchtbarem Durste seit früh im Walde herumzuirren. Sie tranken in endlos langen Zügen und erkannten die Größe ihres Durstes daran, wie unersättlich und endlos der andere schlürfte. O, du unendliche Wohltat! Dieser Durst, diese Fülle! Es zuckte ihnen beim Trinken in den Flanken wie durstigen Hunden; das kühle Wasser glitt über den trockenen Gaumen und befeuchtete wohltuend auch die innersten Teile des Fleisches, das verdorrtem Zunder zu gleichen schien.

Sie tranken sich ausgiebig an und fühlten sich gleich leichter.

»Ein Glück, dieses Wasser; meine Zunge klebte schon am Gaumen«, atmete Wenzel auf. »Wenn wir kein Wasser gefunden hätten, wäre ich verdurstet.«

»Es wird alles wieder gut werden, wirst schon sehen«, meinte Rudolf, war seines Vertrauens aber nicht ganz sicher: immer wieder kehrten seine Gedanken zur Köhlerhütte und zu dem erschossenen Gendarmen, der dort lag, zurück.

Jetzt marschierte es sich viel besser. Sie gelangten in einen Jungwald, der eben und gleichmäßig wie ein Rübenfeld war. Sie gingen geradeaus, als würden sie durch eine lange Bahnstraße zum Zug gehen. Rudolf war barhäuptig, in der Hand hielt er einen trockenen Zweig.

Dann kam Niederwald. Da mußten sie sich tief bücken und immer noch stießen die Fichtenäste gegen ihr Gesicht und zausten Rudolfs Haar. Rudolf arbeitete sich zähe vorwärts, mit dem Arm das Gesicht schützend, das heute fast schon schwarze Striemen aufwies. Ein scharfer Ast traf Wenzels Stirn; er schrie zornig auf. Sie krochen nahezu schon auf allen vieren. Das Dickicht hörte mit einem Male auf, ein weißer Grenzstein stand da, ein erhöhter Rain und darüber die kleine Fläche einer Waldschule; dann folgten schon offene Felder und Wiesen, und nicht weit davon ein Dorf mit Schule und Kirchturm.

In den Feldern verstreut arbeiteten Leute. Ein Mann und eine Frau richteten sich aus der gebückten Haltung auf und wiesen gegen den Wald, gerade in der Richtung, wo sich die beiden Waldläufer duckten. – »Wo sind wir da hingeraten!« brummte Rudolf, und sie zogen sich wieder ins Dickicht zurück. Nun kehrten sie sich von neuem den Waldtiefen zu, wandten sich aber mehr seitwärts, längs der Abhänge.

Jetzt, nachdem sie die freie Gegend gesehen hatten, ging es schwerer vorwärts. Es schien, als drücke etwas ihren Rücken. Die Furcht hockte sich auf ihre Schultern, griff ihnen eisig in den Nacken, ließ sich schleppen und lastete, schwer wie ein Sack voll Erde, auf ihnen. Die Glieder zuckten ihnen unter der aufblitzenden Angst; sie erschraken vor Waldgeräuschen, Entsetzen packte sie vor plötzlichen Äußerungen ihrer Gegenwart, aus allem senkte sich eine schmerzliche Wachsamkeit und jämmerliche Müdigkeit auf sie. Wenzel fühlte, wie ihn die Schwäche übermannte; als Rudolfs Hand an einen aufrauschenden Zweig stieß, fuhr Wenzel heftig herum und sagte sich: wir werden ja noch ganz krank von alldem, auch Rudolf scheint mir heute vor lauter Angst geduckt und mager. Wenn wir nur schon anderswo wären! Ob es wohl im Walde irgendwo ein Plätzchen gibt, wo diese Angst von einem abfiele, wo man aufleben, wieder zu sich kommen und vergessen könnte! Da erinnerte er sich des Landstreichers, der ihnen aus dem Gebüsch entgegengetreten war und sie so heftig beschimpft hatte, obgleich man aus seiner Stimme die überdrüssige Müdigkeit heraushören konnte. Ja, es ist wahr: im Walde ist es schlimm, schlimm. Aber immer ist der Wald noch besser als das Kriminal, sagte sich Wenzel. Ihr werdet's noch genießen, ihr werdet's noch satt bekommen bis zum Hals, ihr Dummköpfe und Blödiane, ihr zwei! hatte sie der widerliche Kerl damals gehöhnt. Ihn sollen sie fangen, aber nicht uns, ihn sollen sie erwischen, er soll das Lösegeld für uns sein und wir sollen dafür frei ausgehen. Frei ausgehen, erlöst! rief es aus den Waldestiefen und aus den Höhlen von Wenzels bangem Herzen, aber im Nacken lastete die Angst, sein Rufen brach ab und er fühlte sich zum Umfallen müde.

Der Wald, in den sie gelangten, schien Wenzel so merkwürdig. Was ist so Besonderes an diesem Wald? Etwas – was ist das? Es ist so, als wäre ich schon einmal hiergewesen. – Oder ist es vielleicht der Wald, in dem die Angst von einem fällt und man vergißt? Weiß Gott, was das ist, aber in einem solchen Wald mußte ich schon einmal gewesen sein, vielleicht früher einmal, oder war es im Traum –

»Verdammtes Leben!« rüttelte ihn das Fluchen seines Kameraden auf.

»Was ist?« fragte Wenzel schwach.

»Verflucht noch mal! Wir irren da wie Mondsüchtige herum!«

»Wieso?«

»Wieso? Weiß ich, wieso? Weil du keine Augen im Kopf hast, weil wir Dummköpfe sind und gar zu abgerackert. Siehst du denn nicht: wir sind doch wieder in demselben Buchenwald, wo wir schon einmal waren!«

»Wie ist das möglich?«

Wahrhaftig, es war derselbe Buchenwald, der Wald mit den gallertartigen Schwämmen, den Judasohren, die tränenartige Tropfen ausschwitzen, mit dem nassen Weg und der Quelle unterm Bild des Hl. Josef.

»Wie kommt das? Wir sind im Kreis gegangen. Aber wie ist das nur möglich!«

Es ist schon so, erschauerte Wenzel. Wir haben kein Ziel mehr vor uns, haben unsere eigene Richtung verloren – wahrscheinlich gibt sie uns jetzt jemand anderer an. Irgend etwas lenkt unsere Schritte irre; ich wage nicht zu raten, wer von den beiden – von den beiden Toten es sein könnte.

»Wenn wir schon da sind, trinken wir halt wieder. Ich hab Durst«, beugte sich Rudolf zur Quelle hinab. Eigentlich war es an nichts zu erkennen, aber Rudolf sah es oder fühlte es oder sah er es doch, daß hier, bei der Quelle, jemand gewesen war. Das Blechgefäß lag ein wenig anders, als sie es zurückgelassen hatten.

Oder schien es ihm nur so; vielleicht lag es genau so wie früher, und niemand hatte es berührt, vielleicht lag das an etwas anderem, was man nicht wahrnehmen, aber fühlen kann, was ohne sichtbare Zeichen und Beweise zum Bewußtsein gelangt. Mit Sicherheit? Ja, mit Sicherheit: jemand war dagewesen. Es mußte jemand hiergewesen sein – vielleicht ist er noch nicht weit im Walde – irgend jemand, der unsichtbar ist, aber doch gegenwärtig oder beinahe noch gegenwärtig. Jemand, der vielleicht noch nichts weiß oder auch alles weiß, überhaupt alles; vielleicht hat er so gute Augen, daß seine Blicke weiter dringen als die anderer Leute und alles erspähen; vielleicht hat er Ohren, hellhöriger als eine Wildkatze, eine Witterung, schärfer als die des Wolfs, einen Tritt, unhörbarer als das Werk der Verwesung in den abgefallenen Buchenblättern, ja vielleicht atmet er nicht einmal. Möglich auch, daß er einen Stutzen mit sich trägt oder vielleicht Eisenspangen oder den Strick des Galgens, vielleicht ist er nicht einmal allein, vielleicht sind ihrer mehrere.

Eilig schlürften sie das Wasser und legten das Blechgefäß genau so hin, wie es gelegen hatte. Dann trachteten sie, so rasch als möglich fortzukommen, vor allem erschreckend, immerzu auf der Hut, mit eingeknickten Beinen, und das Gesicht mit vorgehaltenem Arm schützend. So schlichen sie weiter, kamen wieder in einen niederen Fichtenwald und stießen abermals gegen den Waldrand. Wieder war die freie Gegend da mit den Feldern und Wiesen und der Ansiedelung. Aber es war nicht dasselbe Dorf, das sie vorher gesehen hatten. Es war mehr hinter Bäumen verborgen und rundherum dunkelten kleine Wälder.

Sie entschlossen sich dazubleiben, obgleich sie sich am Waldrand ungedeckt und unsicher fühlten und das, was sie im Rücken hatten, dieser irrwegige Buchenwald mit seiner Quelle, sie schreckte. Vom nebelig verzogenen Himmel begann es zu nieseln. Sie verkrochen sich ins Reisig, schliefen jedoch nicht, noch redeten sie miteinander.

*

Mit dem hereinbrechenden Abend wurde ihnen klar, daß sie in das Innere des Waldes nicht mehr zurückkönnen. Alles in ihnen wehrte sich dagegen. In der offenen Gegend vor ihnen lag etwas Verlockendes: zwar nicht Sicherheit, doch eine ganz andere Freiheit als die in den Waldestiefen. In der Ungedecktheit der Kleefelder und Äcker konnte man weithin und von weither sehen. Jetzt allerdings dämmerte es schon; im Dorf flammte das erste Licht auf, ein trübgelbliches Auge, das wachsam und wie kurzsichtig in die abendliche Landschaft hinausblinzelte. Die beiden standen auf und gingen am Rande des Fichtenwaldes weiter; gegenüber, hinter dem träge geschwungenen Bogen der Felder, wurde der Horizont durch einen andern Wald abgeschlossen. Dorthin lenkten sie querfeldein ihre Schritte. Von allen Seiten blies sie die frische Luft an. Das war etwas ganz anderes als dort im Wald. Der Mut begann sich ein wenig aus den Fesseln der Angst zu befreien; die paar Worte, die sie leise miteinander wechselten, waren nicht ganz ohne Vertrauen. Da plötzlich, als würde unerwartet eine fremde Hand nach ihnen schnappen: irgendein Mann rief sie vom Felde an. Er war nicht zu sehen, aber er rief, rief noch einmal und wieder von neuem. Sie schmiegten sich an den Rain, erstarrten wie eine Masse, die durch hohe Glut erhitzt und plötzlich wieder abgekühlt wird; nur das erschreckte Herz pochte erregt in ihnen.

Im Dunkeln schlichen sie dann weiter zum Wald, der den Horizont abschloß. Sie verbargen sich im Unterholz, konnten aber lange nicht einschlafen, obwohl sie sich trotz aller beißenden Angst jetzt von allem am meisten nach der Bewußtlosigkeit des Schlafes sehnten.

*

In dieser Nacht schliefen sie spät ein. Rudolf fuhr einigemal heftig aus dem Schlafe auf. Er wußte gut, wo er sich befand: im neuen Wald, wo er noch nie war und wohin sie jetzt schließlich gelangten, nachdem sie hinter sich die lange Wanderung, gemerkt durch ihre schlechten Taten und den rächerischen Druck der Verfolger, zurückließen. Was wird morgen sein? fragte er sich und diese Antwort offenlassend, damit es aus der Kühle der Nacht von überallher hereinwehe, näherte er sich den ruhigeren und wärmeren Gefilden des Schlafes.

Er träumte, er sei zu Hause und sitze – wo sitzt er da? – ach ja, im Wirtshaus sitzt er. Nachbarn sind da; die einen plaudern, die andern spielen Karten. Sie unterhalten sich über Pferde, über den Kreisarzt und den vorigen Winter. Es entspinnt sich ein Streit, ob es besser sei, auf Beulen essigsaure Tonerde oder Kren aufzulegen. Angeblich soll ein Umschlag mit warmer Kleie Wunder tun, meldet sich Rudolf Axamit zu Wort – du wirst was erzählen! überschreit ihn der Heger (sieh mal, es ist ja gar nichts geschehen, der Heger lebt, ganz munter und fidel lebt er! Sitzt hinter seinem Bierglas in der Ecke an dem Tisch, auf dem für gewöhnlich ein Tischtuch liegt); du wirst was erzählen, Rudolf Axamit! – Warum nicht, ich kann doch auch was sagen, das ist mein gutes Recht, ich hab mein Bier genau so bezahlt wie jeder andere. – Du – du – schau nur zu und rede nicht viel, beleidigt ihn der Heger, streit' du dich nur nicht viel mit mir. – Ich streit' mich doch nicht, Ihr streitet Euch, wehrt sich Rudolf, das möcht ich doch sehen, ob ich hier nicht zu Wort kommen kann. – Du schweig, lärmt der Heger hinter seinem Tisch, du hast hier am wenigsten zu reden, hast mich doch erschossen! Das ganze Wirtshaus ist auf, ja, jeder sieht jetzt, der Heger ist tot, Rudolf Axamit hat ihn umgebracht. – Tu nur nicht so, weißt ganz gut, daß du mich erschossen hast, Rudolf Axamit! ärgert sich und klagt der Heger, und – mein Gott, woher kommt sie auf einmal – neben dem Heger sitzt Valerie in eigener Person und tut ihm sehr schön.

Sie ist nicht mehr im Heckenrosenstrauch, aber in den zurechtfrisierten Haaren hat sie eine wilde Rose, auch das ärmellose Kleid, o, ihr nackten Arme, ist rosafarben; sie schmiegt sich zärtlich an den Heger, überflüssig viel lachend, wohl um ihm zu zeigen, daß sie ihn bedaure und es ihm jetzt vergelten wolle, weil er Lot ist. Ach, schrecklich, was für ein furchtbarer Traum, wurde Rudolf ganz betrübt und erwachte.

Wenzel träumte nichts. Sein Schlaf wußte von nichts; er wußte nichts vom Wald, wo er schlief, wußte nichts von den Bluttaten, noch von der Not der letzten Tage, noch von der Furcht von morgen. Sein Schlaf enthielt rein nichts und trug an nichts; er war so einfach und inhaltlos, daß er, der Schläfer, ohne zu begreifen und wie aus einer andern Welt kommend, erwachte und über die Morgenhelle des anbrechenden Tages über alle Maßen staunte.

*

»Rudolf, was hat der Mensch uns gestern abend im Feld zugerufen?«

»Ich weiß nicht, ich hab ihn nicht verstanden.«

»Wer konnte das sein, dort bei der Quelle?«

»Weiß ich! Ich kann doch nicht alles wissen!«

»Was für ein Tag ist heute?«

»Ich glaube Mittwoch …«

»Also zehn Tage sind wir schon fort. Und jetzt, da – Rudolf, mir will es hier ganz und gar nicht gefallen …«

Rudolf war verärgert, durch seinen Traum hart getroffen, durch die ewige Angst gereizt, durch die Unsicherheit erbittert. Seine Seele klappte hart wie eine geballte Faust in sich zusammen, und das scharfe Messer des Zornes ragte aus ihr heraus.

»Mir«, erwiderte er böse, »gefällt es gerade hier. Sie haben uns ja noch nicht und werden uns auch nicht gleich haben.«

Der Wald, wo sie geschlafen hatten, erwies sich als ganz kleines Wäldchen, als Waldzunge, als Streifen, der sich längs des Baches und der Landstraße dahinzog. Sie erreichten bald den Waldrand, wo wieder die offene Gegend mit kleinen bewaldeten Hügeln vor ihnen lag. Die großen Waldflächen hatten sie anscheinend bereits hinter sich gelassen.

Was nützt das, sagte Rudolf für sich, irgendwie müssen wir weiter, aber vorher kaufen wir uns was zu rauchen; ich halte es sonst nicht aus.

Beim Weidengebüsch stand ein barfüßiger Junge und pritschelte mit einer Gerte im Wasser herum.

»He, Junge«, fing ihn Rudolf, »da hast du Geld, und kauf uns zweihundert Zigaretten. Und wenn sie Schokolade dort haben, bringe auch Schokolade oder wenigstens Bonbons. Aber flink! Wir warten hier bei den Weiden auf dich. Bekommst was für den Weg.«

»Da hilft nichts«, wandte er sich dann den scheu blinzelnden Augen Wenzels zu, »rauchen müssen wir. Nachher«, zeigte er mit seinem großen Daumen übers Feld, »nehmen wir's dorthin auf die Seite. Wirst schon sehen, dort werden wir uns verstecken können, als ob wir Luft wären!«

Warum nicht? sagte sich Wenzel, glaubte aber nicht recht daran. Wenn was kommen soll, dann soll es nur herankommen. Wenn es uns bestimmt ist, hilft ohnehin keine Schlauheit mehr, sondern nur Verwegenheit. Aber jetzt möchte ich vor allem einmal rauchen, damit ich mir das alles überlegen kann.

*

Der Junge mit der Gerte lief längs den Weiden ins Dorf zum Krämer.

»Zwei Schachteln Zigaretten und Schokolade.«

»Hast du Geld?«

Die Kinderfaust, aus der eine Banknote hervorragte, hob sich übers Ladenpult.

»Das kaufst du für dich?«

»Nein. Zwei Herren schicken mich darum, sie warten bei den Weiden.«

Zwei Herren? wunderte sich der Krämer, warum sollten zwei Herren einen Jungen schicken, warum kommen sie nicht selber? Und bei den Weiden warten sie –

»Was sind das für Herren, Franzl?«

»Na, eben solche Herren, es sind eigentlich keine Herren, der eine hat nicht einmal eine Mütze, aber ich bekomm was für 'n Weg.«

Was sind das für zwei, dachte sich der Krämer, Mütze haben sie keine, aber einen Hundertkronenschein, wollen sich nicht zeigen und warten bei den Weiden. Das kommt mir recht merkwürdig vor. – Er hatte gestern einen Weg durch den Wald gehabt und war eine Stunde lang in Angst gewesen, er könnte irgendwo den beiden Gewalttätern, den beiden Mördern und Wilddieben begegnen, vor denen die ganze Gegend zittert. Er war sehr gelaufen, und obgleich er kein Geld bei sich hatte, waren ihm allerhand Gedanken gekommen; durch das Laufen verschwitzt, hatte er Durst verspürt und bei der Quelle haltgemacht, sich dem Schutze des heiligen Zimmermanns mit der Lilie anvertrauend. Hoho, wenn das so die zwei wären! Die Ängste, die ich gestern ausgestanden habe, die Ängste; die würde ich niemandem wünschen, die Ängste, sag ich, wenn das die zwei Lumpen sind, nein, die müßte ich ihnen nicht schenken, wenn das so die beiden Vögel wären, die zwei!

»Da hast du«, reichte er dem Knaben die Ware und gab ihm auf hundert Kronen zurück, »geh voraus, Franzl, aber lauf nicht zu sehr und zeig mir, wo die zwei Herren sind.«

Der Krämer blieb in angemessener Entfernung stehen und wartete, bis der Junge mit der Gerte die eingekauften Sachen abgegeben hatte. Zwei Männer traten aus dem Weidengebüsch, einer im dunklen Anzug, der andere barhäuptig, in senfbraunen Kleidern. – Das sind sie, meiner Seel, das sind die zwei, hielt der Krämer den Atem an, jetzt soll man sie nur bald fangen.

Die Männer begannen zu rauchen und bogen auf einen Feldweg zum Wald ein.

»Franzl«, winkte der Krämer dem Jungen, »jetzt lauf, renn zur Gendarmeriestation und sag, daß die zwei Mörder da sind!«

So, die werden ihren Lohn schon bekommen, die zwei, freute sich der Krämer und ging heim. Und, wie gerufen, fand er beim Eingang seines Ladens die Gendarmen.

»Wir kommen fragen, ob da nicht irgendwo der Kala und der Axamit gesehen wurden; haben sie nicht bei Euch was eingekauft?« erkundigte sich der Wachtmeister.

»Der Herrgott selber hat sie hergeschickt, meine Herren, rasch, ich erzähl alles später, nur rasch: dort sind sie.«

»Wo?«

»Dem Polomer Wald zu.«

»Haha! Da haben sie das Richtige getroffen. So, meine Herren«, sagte der Wachtmeister, »so wahr ich da stehe: die zwei sind heute zum letztenmal hier vorbeispaziert!«

*

Die Kameraden teilten die Schokolade. Was, Wenzel, die ist gut, hast dich ohnehin an so einer Schokolade nie sattessen können.

Schokolade gibt's, Zigaretten gibt's, und wer weiß, vielleicht sind wir schon aus allem heraus, denkt Wenzel; fein wär's schon, aber was nützt das viel. Die Angst sitzt in mir wie ein Geschwür und frißt an meinem Hirn. Nicht einmal ein Tier hat es so elend. Das hat wenigstens keinen Verstand.

O Valerie, erinnert sich Rudolf an seinen quälenden Traum, was hast du mir angetan! Wie soll ich jetzt zu dir kommen! Wahrscheinlich hast du alles in der Zeitung über mich gelesen und jetzt bin ich dir nicht mehr gut genug, jetzt willst du von mir nichts mehr wissen. Es sei, daß ich Glück hätte und es mir gut ginge und ich einmal als großer Herr zu dir käme, da würdest du gleich anders sein, da hättest du gleich ein Herz für mich, du Metze! meine Schöne! nicht wahr!

Und der Heger! Sonderbar, die ganze Zeit über hat mir nicht von dem Heger geträumt. Erst heute. Das ist nicht nur so. Der gibt uns wohl keine Ruhe mehr. Und dann kommt vielleicht der Gendarm, und dann sind's zwei. – Soll sich nur ja niemand einbilden: ich lasse mich nicht so leicht fangen! Noch haben sie mich nicht!

*

Der Polom war ein kleiner Mischwald, über dem vor langer Zeit einmal eine Windhose niedergegangen war und schwere Windbrüche angerichtet hatte. Verstreute Gruben, heute bereits mit Mulm und trockenen Blättern ausgeglichen, waren davon zurückgeblieben. In ganzen Nestern wuchs hier das schuppige Rehfellchen, ähnlich dem Habichtsgefieder, und die schwarze Totentrompete zeichnete an manchen Orten zackige Landkarten. Beim Betreten des Waldes bückte sich Wenzel nach etwas; neben einem Vogelskelett glänzte ein Geldstück, eine verlorene Krone.

»Schau, was ich gefunden hab«, hob er es auf und rieb es am Ärmel, »das bedeutet Glück.« Aber das Lächeln, das einen Augenblick lang die Lippen bewegte, hielt sich nicht lange und übertrug sich auf etwas sehr Fernliegendes:

»Einmal, als bei uns Kirchweih war, ich war damals elf Jahre alt, fand ich ein Zwanzigkronenstück. Es lag neben einer Bude mit Wollsachen, und niemand sah es. Mein Gott, ich damals und zwanzig Kronen! Ich dachte, es könnte nicht wahr sein, ich hielt es schon in der Hand und blickte es immer noch heimlich an, wollte meinen Augen nicht trauen. Wenzel, ein Wunder! sagte ich mir, jetzt kann ich mir ja kaufen, was ich will! So ging ich denn von Stand zu Stand, suchte aus und kaufte! Alles, wovon ich früher nur geträumt hatte, war nun mit einemmal auf Greifweite vor mir. Ich kaufte mir alles, aber wirklich alles, was mein Herz begehrte. Das war damals der glücklichste Augenblick meines Lebens.«

»Mein glücklichster Augenblick war damals mit dem Reh. Da dachte ich, alles, was ich mir auf der Welt wünschte, wäre in Erfüllung gegangen; ich kam mir vor wie im siebenten Himmel. Und plötzlich kommt der Heger dazu und verdirbt uns das so! Deshalb hab ich ja auch nach ihm geschossen; das hat er davon.«

»Mein größtes Glück war damals die Kirchweih. Alles, was nachher kam, war nicht mehr das.«

»Gib die Krone her, wenn du sie gefunden hast. Wir wollen werfen, ob wir hier im Wald bleiben oder weitergehen sollen.«

»Lieber weitergehen, Rudolf.«

»Gib nur her! Adler ist bleiben, Kopf gehen.«

Das Geldstück wirbelte durch die Luft und fiel auf Rudolfs ausgestreckte Hand.

»Adler.«

»Meinetwegen; aber vorher schauen wir uns noch das andere Ende an, wie es dort ist.« Unten am Hang blitzte durch die Baumstämme ein heller Lichtschein.

»Wasser; gehen wir hin.«

Unterhalb des Waldes befand sich ein großer Fischteich. Die weite Wasserfläche spiegelte den weißen Himmel wider, daß es den Augen fast weh tat; im ersten Augenblick schien es, als nähme das Wasser überhaupt kein Ende. Doch dann sah man, daß die Landschaft durch den nebeligen Umriß weiter Wälder am Horizont abgeschlossen wurde. Dort, dort weit, wurde Wenzel von der Sehnsucht nach dem fernen Nebelstreifen des blauen Zieles erfaßt, dort möchte ich jetzt sein.

Doch die klare, weite Fläche gemahnte ihn an etwas, das ihn erschauern ließ: sie gemahnte ihn an den Tod, vielleicht weil sie so ruhig und eben war, daß sich in ihr die Ferne, der weite Weg, das taube Schweigen und das stumme Hinwegfließen widerspiegelten. Warum Tod? wunderte er sich über diese unbestimmte Angst; es sind doch Menschen hier!

»O Herrgott!« murrte Rudolf, »schau, die kommen auf uns zu!«

Auf dem Damm unterhalb des Waldes tauchten Jäger und Leute mit Knüppeln und Stutzen auf. Ach nein, sagte sich Wenzel. Da hörte jedoch Rudolf zum erstenmal in diesen Tagen, da sie auf der Flucht waren, seinen Namen rufen: Rudolf Axamit! Wenzel Kala! hörte auch Wenzel den seinen und es schien ihm, als wäre es das Rufen des Jüngsten Gerichtes. Sie erstarrten wie ein am Waldsaum aufgescheuchtes Wild, doch im nächsten Augenblick rannten sie den Waldhang hinan. Vom Damm hallte ein Schuß hinter den Flüchtlingen her, bohrte sich ins Grün ein und kam aus der Ferne als Echo wieder. »Sie schießen auf uns«, lachte Rudolf auf, aber in seinen Augen war kein Lachen; so, genau so hatte Wenzel eine Katze in der Bedrängnis der letzten Stunde gesehen, auch in ihren Augen war eine solche Schwere zorniger Angst gewesen.

»Macht nichts, Junge, noch haben sie uns nicht.«

Sie liefen über den Hang und stürzten dem anderen Ende des Waldes zu, woher sie gekommen waren.

»Halt! Wir sind in der Falle!« zischte Rudolf, »da haben wir's. Siehst du dort: Gendarmen!«

Ein zweiter Schuß bellte vom Damm her. »Hunde!« schnitt Rudolf eine Grimasse. Die Gendarmen und die in den Feldern verstreuten Leute stürmten im Galopp dem Walde zu.

»Komm tiefer hinein, Wenzel, jetzt sind wir erledigt!«

Da war es also; Wenzel spürte jedoch keine Auflehnung in sich, eher eine Erleichterung, eher irgendeine wehrlose Neugier, was nun geschehen werde. Er denkt nicht mehr, er kann nur noch wahrnehmen. Rudolf läuft mit böser Miene weiter, ein wild abgehacktes Gebrüll kommt aus seiner Kehle. Aha, das soll die Internationale sein, nimmt Wenzel wahr, was fällt ihm nur ein? Rudolf entsichert im Laufen die Pistole, auch Wenzel hat bereits seinen Revolver entsichert. Axamit! Kala! echot es im lebendig gewordenen Wald. Da bin ich! gibt Rudolf einen Schuß aus seiner Pistole ab, Wenzel tut nach ihm das gleiche.

Der Wald dröhnt von Schüssen. »Da her, Wenzel!« Rudolf wirft sich in eine Grube am Gipfel des »Poloms« und versinkt in einem hochaufgeschichteten Blätterhaufen, als wäre er in der Luft zerflossen. Auch die Verfolger sind unsichtbar geworden; in diesem Augenblick ist keiner von ihnen zu sehen.

Was kommt jetzt? nimmt Wenzel wahr, vielleicht tauchen nun am Rand der Grube die zwei rächerischen Gesichter auf, das des toten Hegers und das des toten Gendarmen, um zu rufen: da her, Leute, da her! Ach ja, wenn es eine Macht gäbe, die mich packen und mit Riesenkraft von hier emporheben könnte, hoch, immer höher und weiter, über diesen Wald bis zum hellen Himmel, und mich dann in den blauen Wäldern betten würde, die weit hinter diesem großen Wasser am Horizont zu sehen sind – wäre alles gut, wäre ich gerettet. Aber nein, ich kann nicht auffliegen; die Erde hält mich und unterm Knie drückt mich ein scharfer Stein.

Sie kommen schon! Ein Mann mit einem Stock in der Hand kommt zur Grube gelaufen, denn er ist zum Treiber der Sünder geworden. Seine Augen, die, alles absuchend, nach vorn starren, sehen nicht, was sie sehen sollten, und so stolpert er über Rudolfs Fuß. Rudolf streckt den Arm aus und schießt. Blaue Augen wundern sich, ohne zu begreifen, und der Waldarbeiter Adalbert Biza gleitet den Hügel hinab, läßt den Stock fallen und sinkt, seiner drei kleinen Kinder und seines Weibes Ludmilla gedenkend, in die Knie und dann in die Arme Gottes.

Mörder! Mörder! schreien die Stutzen auf. Tod! belfern die Pistolen. »Die sitzt, Wenzel, was?« ist Rudolfs Stimme zu hören. Wenzel blickt sich nach dem schießenden Kameraden um. Rudolfs Rechte umklammert eine Handvoll trockenes Laub und sucht darin den Abzug. Die Pistole liegt doch gleich daneben, aber er beachtet sie nicht, er schluckt und aus seinem Mund quillt Blut. Was ist das? Warum schießt Rudolf nicht? staunt Wenzel. Tod! schreien die Stutzen auf. Über Wenzels Kopf fliegt ein Zweig, etwas fällt ins Laub und auf Rudolfs Stirn ist ein kleiner Fleck, aus dem ein roter Strahl aufspritzt. Warum schießen sie auf ihn, er ist doch schon tot! entsetzt sich Wenzel. Wenzel Kala! hört er von neuem rufen. Mit Rudolf ist Schluß, jetzt rufen sie mich. Plötzlich kommt ihm die wunderlich süße Vorstellung der weiten, glänzenden Fläche am Horizont mit dem nebeligen Schatten der blauen Berge. Da setzt er schon den Revolver an die Stirn und drückt ab. Mein Gott, was tu ich, dort wird der Heger sein, erschrickt er. Aber es war schon zu spät: er sieht ein großes, sprühendes Feuer und dann – nur noch Dunkel.

*

»Sie sind tot«, sagten die Männer, »das sollte nicht sein: sie haben sich der Strafe entzogen.«

In den Dörfern krähten die Hähne. – Es wird regnen.

Der Herbst begann; ein langer, kalter Regen ging nieder.

*


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