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Zweite Stunde: Im Vollmondschein

1

Nachdem der Doktor oben gewesen war und nach dem Patienten gesehen hatte, setzte er sich wieder in die Wohnstube zu Frau Helwig und machte es sich in einem der breiten Lehnstühle bequem.

Fräulein Sindal kam aus dem Eßzimmer, wo sie Whisky, Selters und Gläser vom Büfett geholt hatte.

»Sehen Sie, Doktor, hier komme ich mit dem bösen Instinkt!«

Der Doktor schüttelte sich vor Freude.

»Gott segne Sie!« sagte er und rieb seine Bärentatzen, bevor er sich ans Einschenken machte. »Das wird gut tun!«

»Frau Hjarmer – ein Tröpfchen in der Sommernacht?« Er hielt die Flasche über ihr Glas.

»Verlorene Liebesmüh!« sagte Fräulein Selma; Frau Helwig aber ergriff ihr Glas und hob es zur Flasche empor.

»Schenken Sie nur ein!«

Doktor Sylts kleine, scharfe Augen sahen hastig von der Seite zu ihr auf.

»Das ist recht!« sagte er und schenkte ihr ein.

Fräulein Selma, die immer solch schweren Kopf von starken Getränken bekam, hielt die Hand über ihr Glas.

»Danke! Ich muß lieber zum Kind hinauf.«

»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe!« Doktor Sylt schob ihre Finger ganz einfach beiseite und schenkte trotzdem ein. »Ellen soll schlafen. Setzen Sie sich nur her zu uns.«

Frau Helwig stieß ihr Glas gegen das seine.

»Prost, Doktor!«

Ihre Oberlippe kräuselte sich zu dem unbestimmten, halb schmerzlichen Lächeln, das ihre Umgebung so gut kannte, sich aber nicht zu deuten vermochte; und während die dunkle Glut in ihren großen, grauen Augen entzündet wurde, hob sie das Glas und sagte:

»Es leben die Instinkte – die guten wie die bösen!«

»Dies Wohl trinke ich nicht mit!« sagte Fräulein Selma und setzte ihr Glas lächelnd nieder.

Der Doktor blinzelte mit seinen kleinen, scharfen Augen:

»Dann sagen wir: ›Es lebe die Sommernacht!‹ – Dieses Wohl kann ein jeder mittrinken – und es kommt auf dasselbe heraus.«

Er leerte sein Glas langsam, zog die Luft tief durch seinen Schnurrbart ein und wandte seinen Kopf zu den hellen Vierecken um, die der Mond auf den Teppich zeichnete.

»Denn sehen Sie, meine Damen,« fuhr er mit seiner tiefen Stimme fort, die jetzt ganz ernst klang, – »in so einer gesegneten, hellen und stillen Sommernacht wagt Pan sich aus seinen Wäldern hervor und geht mit seiner Flöte auf Abenteuer aus.«

Frau Helwig lehnte den Kopf gegen den Rücken des Stuhles und starrte unter den halbgeschlossenen Lidern in den Mondschein hinaus.

»Glauben Sie, daß er so weit nach Norden streift, Doktor?«

»Na, und ob! – Er ist der letzte Nomade!« – Der Doktor senkte den Ton und gab sich ganz seiner Stimmung hin. – »Der Mondschein lockt ihn über die Felder – ganz bis zu den Wohnungen der Menschen –«

Dann beugte er seinen schweren Oberkörper zum Licht und zeigte in den Garten hinaus, dessen schweigende Atemzüge durch die geöffneten Fenster ins Zimmer wogten.

»Still! – Hören Sie ihn nicht draußen im Garten? Hören Sie nicht, wie er mit seiner Flöte lockt? – Alles das hervorlockt, was das ganze Jahr hindurch in uns verborgen liegt. Wir wissen selbst kaum, daß es da ist, bis wir merken, daß es in uns gluckst und rieselt. Und während der Mond uns bescheint, fällt es uns wie Schuppen von den Augen, und wir fühlen mit einem Schlage, daß wir ganz natürliche Menschenkinder sind.«

»Und der Mensch sah, daß er nackt war!« zitierte Frau Helwig, den Blick in den Garten des Edens verloren, das der Mond ihren Augen vorzauberte.

»Stimmt, Frau Hjarmer!« erklang die tiefe Stimme des Doktors. »Denn die Schlange, die Eva in einer hellen und stillen Sommernacht lockte – das war niemand anders als Pan mit seiner Flöte. Und die Elfe, die den Ritter in Bande schlug – das war Pan. Er ist es, der uns arme Menschen von Ordnung und Gesetz fortlockt – fort von dem Sicheren und Gewohnten – hinaus zu dem großen, befreienden Sündenfall.«

Selma wandte ihren Blick vom Mondlicht fort, das auch sie angezogen hatte.

»Pfui, wie Sie nur so reden können, Herr Doktor!« sagte sie und sah ihn schmollend an.

»Sündenfall, das ist nur ein Wort, kleines Fräulein!« klang Doktor Sylts Stimme still und überzeugend. »Ist nur eine verkehrte Etikette, die ein verhungerter Dichter in grauen Zeiten erfunden haben mag, um sich mit den allmächtigen Priestern, die die Welt in böse Bande schlugen, zu vertragen. Später ist es Sprachgebrauch geworden. Aber die wirkliche Bedeutung des Wortes – das ist – Freimachung der Instinkte.«

Frau Helwig antwortete aus ihren eigenen, geheimen Gedanken heraus:

»Man nennt es auch wohl die Stimme des Herzens – dessen einzig seligmachendes Gesetz!«

Im selben Augenblick erhob sie sich, als wolle sie irgend einer Sache ein Ende machen.

»Ja, oder auch die Schlange, Frau Hjarmer!« sagte Doktor Sylt, ohne den Blick vom Mondlicht zu wenden. »Oder Pan! – Oder das Elfenkind! – Es kommt alles auf dasselbe heraus.«

Ein Wagen rollte draußen auf dem Wege und hielt vor der Treppe.

»Wer ist denn das?«

Fräulein Selma hob den Kopf und lauschte.

»Das ist wohl der Herr Amtsvorsteher!« sagte Doktor Sylt und faßte sich langsam.

»So zeitig?« Frau Helwig blieb neben dem Flügel stehen und blickte zur Tür.

Fräulein Selma lief durchs Kontor.

»Ja, es ist Herr Hjarmer!« rief sie zurück.

*

 

2

»Gute Nacht, Anders!« klang des Amtsvorstehers klare, etwas nervöse Stimme durch die offene Tür.

Dann kam er durchs Kontor herein, von Fräulein Selma gefolgt. Sie trug das große Notariatsprotokoll und legte es auf den Rauchtisch vor dem Bücherbord.

»Wie zeitig!« sagte sie.

Der Doktor hatte sich erhoben und zog den Hosenbund hoch.

»Guten Abend, lieber Hjarmer!« sagte er und reichte ihm die Hand.

Hjarmer war angenehm überrascht, ihn zu sehen.

»Ah – guten Abend, Doktor – sind Sie hier?«

Dann fiel ihm das Unwohlsein seines Kindes ein, und er fragte mit ängstlichen Augen, indem er vom Doktor zu seiner Frau sah:

»Es ist doch nicht Ellens wegen?«

Frau Helwig trat zu ihm.

»Nein – sie hatte etwas Fieber, aber jetzt schläft sie wieder!«

Hjarmer atmete erleichtert auf.

»Na, Gott sei Dank!« sagte er und küßte seiner Frau die Wange, die sie ihm hastig zukehrte, während die feine Falte an der Nasenwurzel sichtbar wurde.

»Guten Abend, Liebste!«

Frau Helwig erfaßte seinen Paletotärmel, ohne ihn anzusehen:

»Komm, soll ich dir helfen?«

»Aber nein, nein, ich bitte dich!«

Hjarmer machte sich frei, entledigte sich selbst des Überziehers und gab ihn Fräulein Sindal, die ihn ins Kontor hing.

»Danke, Fräulein!«

»Na, also denkt euch,« sagte der Amtsvorsteher, nachdem er's sich im Lehnstuhl bequem gemacht hatte, »das hätte ich mir sparen können.«

»Die Alte hatte sich vielleicht eines Besseren besonnen?« fragte Doktor Sylt und nahm wieder Platz.

Hjarmer rieb seine weißen, wohlgepflegten Hände gegeneinander.

»Sie war zehn Minuten, bevor ich kam, gestorben!«

»Wird das einen Leichenschmaus bei Jens Peersen geben,« lachte der Doktor, »wenn sie keine Zeit mehr gehabt hat, ihm das Silberzeug wegzunehmen.«

»Ja – nicht wahr?«

Der Amtsvorsteher strich sich mit seinen mageren Händen müde über die Stirn.

»Ah, es tut gut, wieder zu Hause zu sein!« sagte er und lehnte sich behaglich in den Stuhl zurück.

»Bist du müde, mein Freund?« fragte Frau Helwig teilnehmend.

»Na – müde –«

»Es ist wohl wieder der Kopf?« sagte Fräulein Selma und betrachtete prüfend seine nervösen Augen.

»Ja, Fräuleinchen.« Der Amtsvorsteher wandte den Kopf und lächelte ihr müde zu, »es ist wieder der Kopf.«

»Haben Sie noch von Ihren Pulvern?« fragte der Doktor mit einem hastigen Seitenblick aus seinen kleinen, scharfen Augen.

»Ja, ich habe noch drei, vier Stück.«

Doktor Sylt schlug ihm auf die Schulter.

»Nicht nachgeben, Hjarmer! Was chronisch ist, muß man bekämpfen – vor dem Akuten muß man sich beugen; das ist meine Theorie.«

Dann nahm er die Whiskyflasche und schenkte in das vierte, noch leere Glas.

»Trinken Sie ein Glas mit, bevor ich zu meinen vier mutterlosen Jungen zurückkehren muß.«

Der Amtsvorsteher gebot ihm Einhalt, nachdem er ein wenig ins Glas geschenkt hatte.

»Was für 'ne Wagenfahrt, nicht?« sagte Doktor Sylt und ließ das Selterswasser in Hjarmers Glas brausen.

»Na, ich muß nun sagen, heute abend war es gar nicht so schlimm.«

»Schlimm?« Der Doktor schüttelte den Kopf und sah zur Decke hinauf. »Gott verzeih es Ihnen! Solche Nacht!«

Dann wandte er sich zu Frau Helwig, die sich etwas am Kamin zu schaffen machte.

»Kommen Sie heran, Frau Hjarmer, und trinken Sie aus.«

»Danke, ich habe genug!« sagte sie, ohne sich umzudrehen.

»Was soll denn das heißen? Erst wurden Sie doch ganz poetisch. Sie dürfen sich von Ihrem Mann nicht anstecken lassen. Das wissen Sie doch, daß diese trockenen Juristen Kanzleitinte statt Blut in ihren Adern haben.«

Hjarmer lächelte müde.

»Sind wir wirklich so schlimm, Doktor! Aber im Ernst – wenn man still in einem Wagen sitzen muß und die Wiesen um einen herum dampfen, wird es einem auf die Dauer doch recht kalt – nicht?«

Frau Helwig näherte sich vom Kamin.

»Freilich – und mit Ihnen, Doktor Sylt, kann man gar nicht rechnen!« sagte sie. »Sie sitzen ja den ganzen Tag auf Ihrem Rad. Aber mein Mann ist an Zimmerluft gewöhnt.«

»Und der Herr Amtsvorsteher,« fiel Fräulein Selma ein, »bekommt fast immer Kopfschmerzen, wenn er sich von einem Wagen durchrütteln lassen muß.«

Der Doktor schlug mit der Hand aus, als fächelte er eine Fliege fort.

»Ja – ja – das kommt von dem ewigen Im-Zimmer-Hocken. Wissen Sie was, mein lieber Amtsvorsteher – ich hätte Lust, Ihnen dasselbe zu verordnen wie neulich Mamsell Berg auf dem Ziegelhof.«

»So, Mamsell Berg!« sagte Hjarmer und lachte.

»Wer sollte übrigens glauben,« fuhr Doktor Sylt fort, »daß dieses Reibeisen einst eine junge, gefeierte Dorfschönheit gewesen ist. Jetzt ist sie vor jahrelangem Wohlleben bei dem alten Hilsöe gottesfürchtig geworden.«

»Na, was war's also mit ihr?« fragte Hjarmer und verbarg ein Gähnen mit seiner weißen Hand.

»Sie plagt mich immer mit ihren sauren Absonderungen, wie sie ihr kleines, eingebildetes Magenübel nennt – und die Mixtur –«

»Es war wohl der rote Saft?« Frau Helwig verzog die Oberlippe zu einem Lächeln.

»Ja,« antwortete Doktor Sylt mit unerschütterlichem Ernst, »mein bekannter Universal- und Wundersaft wollte nicht wirken.«

»Was verordneten Sie ihr dann?«

»Also da verlor ich neulich die Geduld. Ich fühlte ihr den Puls, sah mir die Zunge an, und dann sagte ich: ›Sie müssen tanzen, Mamsell Berg!‹ – ›Tanzen?‹ – ›Ja, Sie müssen durchaus tanzen!‹ – sagte ich – ›ebenso wie in alten Zeiten auf den Erntefesten; und wenn Sie können, müssen Sie auch dazu singen, damit wir die Säure aus den Absonderungen herauskriegen.‹«

»Mamsell Berg und tanzen!« Hjarmer lachte beim Gedanken daran.

»Was ist denn dabei? Sie ist doch erst um die fünfzig herum; und Tanzen soll einst ihre schwache Seite gewesen sein.«

»Au!« sagte Fräulein Selma und lachte, daß ihre starken, weißen Zähne sichtbar wurden. »Da wurde sie wohl böse.«

»Sie zog ein etwas saures Gesicht, das will ich nicht leugnen; denn seitdem sie Haushälterin ist, mit schwarzem Kleid und doppelter Goldkette, erinnert sie sich nicht gern der Zeit, als sie nur Christine Hansen war und ein jeder sie zu einem Sechstritt auffordern konnte.«

»Was antwortete sie?« fragte Frau Hjarmer und setzte sich auf ihren gewohnten Platz zwischen Tisch und Kamin.

»Sie strich mit ihren harten Lederhänden über ihr schwarzes Kleid und sagte, es wäre ja leider eine bekannte Tatsache, daß das Böse die Welt regiere.«

Es läutete heftig an der Haustür. Der Amtsvorsteher sprang nervös auf.

»Wer kann das sein – mitten in der Nacht?«

Fräulein Selma lauschte angestrengt, mit offenem Mund.

»Ich habe keinen Wagen gehört!«

»Das ist natürlich einer der lieben Patienten,« sagte der Doktor mit tiefer Resignation, »der ausfindig gemacht hat, daß sein Arzt sich einen Augenblick Ruhe gegönnt hat! Ich will mich nur lieber gleich aufmachen!«

Doktor Sylt stützte die Hände auf die Armlehnen und hob seinen schweren Oberkörper aus dem bequemen Stuhl. Der Amtsvorsteher aber, der niemals mit Bewußtsein seine Pflicht versäumte, sei sie groß oder klein, beeilte sich, ihm zuvorzukommen.

»Nein – bleiben Sie doch sitzen, lieber Doktor! – Ich gehe schon, um zu öffnen.«

Er ging durchs Kontor und ließ die Tür hinter sich offen stehen.

*

 

3

»Ach, Herr Jesus!« klang eine trockene, bebende und knarrende Frauenstimme aus dem Kontor. »Was 'n Unglück, was 'n Unglück!«

Doktor Sylt erhob sich überrascht.

»Das ist, meiner Treu, Mamsell Berg!« sagte er und lauschte.

»Ich bin gelaufen, was meine Beine mich tragen wollten!« klang es wieder.

Dann hörte man des Amtsvorstehers hohe, nervöse Stimme:

»Kommen Sie doch herein und sagen Sie, was geschehen ist!«

Kurz darauf stand eine große, eckige Frauengestalt in der Tür. Sie war schwarz gekleidet und trug eine kleine Spitzenhaube auf dem farblosen, glattgekämmten Haar, das in der Mitte gescheitelt war. Die Züge waren regelmäßig und schienen einst schön gewesen zu sein; aber die Jahre hatten die Rundung der Wange und des Kinns genommen, alle Linien gestrammt und die Züge streng gemacht.

Die lange, knochige Nase gab dem Gesicht etwas seltsam Vogelartiges. Die großen, hellgrauen, etwas hervortretenden Augen hatten einen dunklen Rand um die Pupillen, wodurch der Ausdruck gleichzeitig gierig und scheu, aufmerksam und berechnend wurde. Darunter saßen zwei scharf abgegrenzte, blaurote Flecke gerade auf den Backenknochen.

Sie stützte sich einen Augenblick gegen den Türpfosten und warf einen hastigen, scheuen Blick auf die Anwesenden; dann raffte sie sich zusammen und grüßte.

»Guten Abend!« sagte sie und strich sich mit der groben, knochigen Hand über das stramme, verzerrte Gesicht, und stöhnte gleich darauf wieder.

»O, du mein Gott, mein Gott!«

Sie wankte und griff durch die Luft, als ob sie fallen würde.

Der Amtsvorsteher faßte sie bei der Schulter, um sie zu stützen, und führte sie langsam zu dem nächsten Stuhl am Tisch.

Frau Helwig war einige Schritte auf sie zugegangen. Eine plötzliche Angst verursachte ihr solches Herzklopfen, daß ihre Beine zitterten.

»Aber so sagen Sie doch, was geschehen ist!« sagte sie.

Doktor Sylt drehte den Lehnstuhl zu Mamsell Berg um, schob ihn dicht zu ihr hin und sagte befehlend:

»Setzen Sie sich!«

Mamsell Berg sah ihn verschüchtert an und ließ sich in den Stuhl fallen, während sie jappte, als könne sie in der strammsitzenden Taille keine Luft bekommen.

Hjarmer sah sie mit seinen bleichen, nervösen Augen unverwandt an.

»Ist der Hof abgebrannt?« fragte er.

Mamsell Berg schnappte nach Luft, während die groben Knöchelhände auf und nieder tasteten.

»Herr Hilsöe ist tot!« brachte sie schließlich heraus.

»Wer?« rief Frau Hjarmer und griff sich ans Herz, während ihr alles Blut aus den Wangen wich. Es klang so angstvoll, daß sowohl Hjarmer, Doktor Sylt und Selma sich zu ihr umdrehten.

»Der alte Hilsöe?« fragte Hjarmer und beugte sich zu der Fremden.

Im selben Augenblick fühlte Helwig, wie nah sie daran gewesen war, sich in ihrer Nervosität zu verraten. Das Blut stieg ihr gewaltsam zu Kopfe, und ihre Beine zitterten unter ihr.

Doktor Sylt ging hinter ihrem Stuhl vorbei und setzte sich auf den Puff vor Mamsell Berg.

»So – fassen Sie sich jetzt, Mamsell Berg!« sagte er ruhig und hart. »Sie sind doch sonst ein vernünftiges Frauenzimmer. Also der alte Hilsöe ist gestorben. Wann und wie?«

Wieder tastete sie mit ihren groben Knöchelhänden über die strammsitzende Taille, als ob sie keine Luft bekommen könne.

»Herr Hilsöe – ist – ermordet!« platzte sie schließlich in einer so heftigen Erregung heraus, daß die Stimme überkippte.

»Ermordet?« rief der Amtsvorsteher, während Frau Helwig und Fräulein Selma zusammenfuhren und die Fremde entsetzt anstarrten.

Der Doktor erhob sich hastig.

»Wo liegt er?« fragte er schnell und leise, während seine kleinen, scharfen Augen sich in den großen, hervorstehenden, bebenden Vogelblick bohrten.

»Im Park – vor der Verandatreppe!« brachte sie mühsam hervor.

»Wer hat ihn gefunden?« fragte Hjarmer. Er fühlte sich plötzlich mitten in seiner Amtstätigkeit, jede Nervosität war wie fortgeblasen.

Mamsell Berg hatte sich etwas beruhigt. Die Hände tasteten nicht mehr umher, und die Stimme klang trocken und schneidend in ihrer Schärfe, aber knarrte nicht mehr vor Aufregung wie vorher.

»Ich fand ihn, als ich ihm seinen Kamillentee bringen wollte und er nicht in seinem Zimmer war.«

»Ich radele sofort hinüber!« sagte Doktor Sylt zu Hjarmer. »Vielleicht ist noch Leben in ihm.«

Der Amtsvorsteher nickte in hastiger Überlegung:

»Ich werde dem Arrestvorsteher telephonieren, daß er und Schutzmann Petersen sofort antreten sollen. Dann können wir gleich die Leichenschau vornehmen, wenn er tot ist.«

»Meinetwegen! – Die Nacht ist jetzt ja doch verdorben.«

Als Hjarmer ins Kontor gehen wollte, um zu telephonieren, glaubte Fräulein Selma, daß er gleich zum Ziegelhof hinüberwolle. Sie hielt ihn zurück und sah ihn mit ihren großen, fürsorglichen Augen bestimmt an: »Sie müssen erst etwas essen, Herr Hjarmer!«

»Ich habe jetzt keine Zeit!«

Der Amtsvorsteher wollte an ihr vorübergehen, aber da sagte Frau Helwig:

»Doch, mein Freund – denk an deine Kopfschmerzen.«

Hjarmer blieb stehen und faßte sich an den Kopf.

»Nun, also gut! – Aber dann schnell, Fräulein Sindal!«

»O Gott, o Gott!« begann Mamsell Berg wieder zu stöhnen. »Er hätte hundert Jahre alt werden können.«

Der Doktor sah sie hastig und scharf an.

»Wer hat ihn ermordet?« fragte er.

Sie zuckte zusammen.

»Himmel, woher soll ich das wissen!« sagte sie und sah ihn erschrocken an.

»Na, auf Wiedersehen!« Doktor Sylt winkte Frau Helwig und den anderen mit der Hand zu.

Dann ging er durch die offenstehende Kontortür hinaus, während Fräulein Selma durch das Eßzimmer in die Küche eilte, um Stine wegen des Nachtmahles Bescheid zu sagen.

*

 

4

Hjarmer ging ins Kontor und klingelte am Telephon.

»Das Arresthaus – bitte! Hier Amtsvorsteher Hjarmer! – Ist der Arrestvorsteher zu Hause? – Dann muß er wieder aufstehen. Wollen Sie ihm sagen, daß er sich so bald wie möglich mit Petersen bei mir einstellen soll. Wir müssen eine Leichenbesichtigung auf dem Ziegelhofe vornehmen – der alte Hilsöe ist ermordet worden! – Haben Sie mich verstanden? – Schön – gute Nacht!«

Hjarmer klingelte ab und kam zurück, hastig und geschäftig wie ein Mann, der in voller Tätigkeit ist.

Er setzte sich auf den Puff gerade vor Hilsöes Haushälterin und begann:

»So, Mamsell Berg, lassen Sie mich jetzt etwas Näheres erfahren!«

Frau Helwig erhob sich.

»Soll ich gehen?« fragte sie.

»Nein, bleib nur, Liebste! – Wenn es dich nicht zu sehr angreift.«

Frau Helwig setzte sich schweigend nieder und nahm die Stickerei zur Hand, aber sie arbeitete nicht.

»Um wieviel Uhr kamen Sie mit dem Kamillentee?«

Mamsell Berg hatte sich selbst wiedergefunden. Sie saß kerzengerade da und gab ihre Erklärungen ab.

»Ich brachte Herrn Hilsöe immer seinen Kamillentee, bevor er zu Bett ging – das lindert, sagte er, und –«

»Zu welcher Zeit?« fragte der Amtsvorsteher und zog sein Notizbuch hervor.

»Es war gewöhnlich Punkt elf Uhr. Er mußte ihn ja neben seinem Bett stehen haben, damit er recht heiß wäre, wenn er ihn trank.«

»Er war also nicht wie sonst in seinem Schlafzimmer?«

»Nein. Dann ging ich zum Kontor; aber niemand antwortete, als ich anklopfte. Und als ich die Tür öffnete, war er nicht da. Aber die Papiere lagen noch ebenso auf dem Schreibtisch wie am Nachmittag, als ich drinnen war, um als Zeuge zu unterschreiben.«

Der Amtsvorsteher spitzte die Ohren.

»Als Zeuge? Für was?«

»Für etwas, das man eine Beglaubigung nennt.«

»Ja, ja, aber für welche Papiere? Wer war außer Ihnen und Hilsöe zugegen?«

Frau Helwig wurde unruhig. Sie fürchtete, daß Werners Name genannt werden würde.

»Der Pferdehändler Sörup – er war gekommen, um mit ihm wegen einiger Fohlen zu verhandeln, die er gekauft hatte; und dann hatten sie ein Papier wegen einiger Stück Vieh geschrieben, die er nach der Ernte für Herrn Hilsöe übernehmen sollte.«

»Na – und dieses Papier sollten Sie zur Beglaubigung unterschreiben?«

»Ich glaube wohl.«

»Sahen Sie, ob der Viehhändler Sörup ihm das Geld für die Fohlen bezahlte?«

»Jesses, ja! Er bekam wohl so an tausend Kronen!«

»Woher wissen Sie, daß es tausend waren?«

»Er zählte sie auf, während ich dabeistand. Es waren lauter große Hundertkronenscheine, und er schrieb die Nummern auf, wie er immer zu tun pflegte, wenn es große Scheine waren.«

Der Amtsvorsteher machte einige Notizen, dachte einen Augenblick nach und fragte dann weiter:

»Wo ließ er das Geld?«

Mamsell Berg schluckte vor Bewegung beim Gedanken an das viele schöne Geld und wischte sich die Nase mit ihrer Knöchelhand.

»Er steckte es in die große Brieftasche, die er immer bei sich trug.«

»War außer Ihnen, Hilsöe und Sörup noch jemand zugegen?«

»Nein!«

»War jemand auf dem Hof, der wußte, daß Hilsöe Geld bekommen hatte?«

»Nein! – Das weiß ich bestimmt. Denn Herr Hilsöe sprach ja mit niemand außer mit mir und dem Verwalter. Und der ist ja augenblicklich im Krankenhaus.«

Der Amtsvorsteher machte wieder einige Aufzeichnungen, während Mamsell Berg über ihre strammsitzende schwarze Taille strich.

»Was war die Uhr, als Sie das Kontor verließen?« begann er wieder.

»'s mag wohl eine Stunde nach dem Abendessen gewesen sein.«

»Also nach acht Uhr?«

»Ja, es war wohl so gegen neun.«

»Und später haben Sie Herrn Hilsöe nicht gesehen?«

»Nein – nicht bevor ich ihn von der Veranda aus sah. Die Türen waren zum Park geöffnet – und da lag er vor der Treppe – auf dem Rücken – die Arme von sich gestreckt – und hatte einen Hieb auf den Kopf bekommen.«

Der Amtsvorsteher notierte, während er fragte: »Sie meinen also, daß es zwischen halb neun und halb elf geschehen sein muß?«

Mamsell Berg blickte nachdenklich vor sich hin.

»Das mag wohl sein – ja. Herr Hilsöe pflegte seinen Abendspaziergang gegen zehn Uhr zu machen, wenn er die Abendzeitung gelesen hatte.«

Der Amtsvorsteher fing ihren scheuen Blick mit seinen klugen Augen auf.

»Der Mörder scheint ja mit den Verhältnissen auf dem Gutshof vertraut gewesen zu sein,« sagte er. »Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es sich zeigen, daß die Brieftasche gestohlen ist.«

Es zuckte um Mamsell Bergs dünne Lippen, und die Haut über den Backenknochen spannte sich.

»Jesses, ja!« sagte sie mit Tränen in ihrer trockenen, schneidenden Stimme. »Sie ist fort!«

»Woher wissen Sie das?« klang es scharf.

»Das war das erste, wonach ich sah, als ich wieder zu Atem gekommen war.«

Der Amtsvorsteher stand auf und fixierte ihr knochiges Gesicht mit den blutroten Flecken scharf.

»Haben Sie die Leiche untersucht, Mamsell Berg?«

»Die Leiche untersucht?« wiederholte sie und zog sich im Stuhl zurück, während ihre hervortretenden Augen hastig die seinen streiften. »Da soll Gott mich vor bewahren! – Ich rüttelte ihn nur so 'n bißchen, um zu sehen, ob noch Leben in ihm sei. Und da fühlte ich an der Rocktasche, daß sie nicht da sei. Denn ich dachte mir gleich, daß das schöne Geld den bösen Menschen gelockt habe.«

»Wen meinen Sie?« fiel der Amtsvorsteher hastig ein.

»Heiliger Himmel – woher soll ich das wissen?«

Hjarmer nahm wieder auf dem Puff gerade vor ihr Platz.

»Es tut mir wirklich leid für Sie, Mamsell Berg!« sagte er und betrachtete seine weißen, wohlgepflegten Hände. »Sie verlieren jetzt ja Ihre gute, feste Stellung.«

»Ach, Jesses ja!« klagte sie und wiegte den kerzengeraden Oberkörper hin und her.

»Es ist ein großer Verlust für Sie, nicht?«

»Ach du großer Gott, freilich! – Und wenn man nur wüßte –«

»Was?« Der Amtsvorsteher sah hastig mit seinen bleichen Augen auf.

Mamsell Berg zögerte einen Augenblick, als wolle sie nicht mit der Sprache heraus. Dann brachte sie trotzdem stoßweise hervor:

»Herr Hilsöe war ja immer so außerordentlich gut zu mir und ließ hin und wieder auch was davon verlauten, daß er mich in seinem Testament bedenken wolle.«

Jetzt waren sie endlich bei dem interessantesten Punkt angelangt.

»In seinem Testament, so so?«

Um sie nicht einzuschüchtern, sah der Amtsvorsteher auf seine weißen Hände herab und fügte in einem gleichgültigen Ton hinzu:

»Ja, natürlich! – Was für Erben sind sonst noch da, Mamsell Berg?«

»Tja, damit weiß unsereins ja nicht so recht Bescheid!« sagte sie zögernd.

»Ich bin so wenig bekannt hier in der Gegend – aber Sie, die Sie sein Haus während so vieler Jahre geführt haben, müssen doch mit den Familienverhältnissen vertraut sein.«

»Ja, freilich!« – Mamsell Berg starrte mit ihren scharfen Vogelaugen, die keine Bewegung verrieten, vor sich hin. »Ja, sehen Sie, da war ja wohl so eine Art Sohn – einst –«

»Ein Sohn?«

Der Amtsvorsteher blickte erstaunt zu ihr auf, während Frau Helwig sich über die Stickerei beugte. Ihr Herz klopfte stark. ›Jetzt kommt es,‹ dachte sie.

»Ja, so 'n Adoptivsohn, oder wie man es sonst nennt,« erklärte Mamsell Berg. »Aber nach dem, was ich so erfahren habe, waren sie verfeindet.«

»Weswegen?«

»Darüber weiß ich nichts!« sagte sie und preßte die Lippen fest über die großen, falschen Zähne zusammen.

»Der Sohn ist wohl im Ausland?«

»Ja, er soll drüben in Amerika sein. Aber Herr Hilsöe sprach nicht gern von ihm; – und ich glaube, er hat ihn enterbt.«

»Was Sie sagen!«

Hjarmer legte seine weiße Hand auf Mamsell Bergs Knöchelhände, die sie im Schoß gefaltet hielt, und sagte mit einschmeichelnder Freundlichkeit:

»Aber dann sind Sie ja eigentlich die nächste Erbin, Mamsell Berg – Sie, die Sie ihn so treu gepflegt haben.«

»Ja–a! – Ach so!« Sie blickte ihm hastig in die Augen, als sie aber keine Spur von Hinterlist in seinem Blick fand, fügte sie hinzu:

»Ja, er hat manchmal gesagt, daß er mich in seinem Testament bedenken wolle.«

Dann zuckte es wieder in ihrem Gesicht. Sie begann zu schluchzen, während es um ihren strammen Mund bebte:

»Aber wenn man nur wüßte, wo er das Testament aufbewahrt hat!«

»Es lag also nicht in seiner Schublade?« fragte Hjarmer ganz unschuldig und blickte auf seine Hände herab.

»Nein – denn der Schlüssel steckte noch ebenso wie damals, als er das Zimmer verließ – ach Gott, ja – und ich sah ja gleich nach, ob der böse Mensch noch mehr als die Brieftasche geräubert hatte.«

»So, das taten Sie!« – Der Amtsvorsteher merkte es sich wohl. – »Und das Testament lag nicht da?«

»Nein – aber die Obligationen – oder wie man es nennt – und das andere – das lag alles unberührt an seinem Platz.«

»Sie wissen mit diesen Sachen Bescheid, Mamsell Berg?«

»Ja, ich mußte ihm ja immer mit den Schlüsseln und so was behilflich sein – wenn er einen Anfall seines alten Leberleidens bekam und zu Bett lag.«

»So, so!«

Der Amtsvorsteher erhob sich und veränderte seinen Ton.

»Ja, sehen Sie, Mamsell Berg – ich sage es nicht, um einen Verdacht auszusprechen. Was Sie taten, taten Sie natürlich in bester Absicht. Aber das Eigentum eines Ermordeten darf nicht berührt werden, bevor das Gericht dagewesen ist und seine Erlaubnis dazu gegeben hat.«

Sie fuhr vor Schreck zusammen und sah scheu zu ihm auf, während ihre groben Hände über die strammsitzende Taille strichen:

»Gott im Himmel – nein! – Es war ja bloß –«

»Schon gut – schon gut!« sagte der Amtsvorsteher abschließend.

Im selben Augenblick wurde an die Kontortür geklopft, die nur angelehnt stand.

Hjarmer wandte sich überrascht um. Dann ging er hastig, um zu öffnen.

*

 

5

In der offenen Tür stand Werner Hilsöe.

»Entschuldigen Sie, bitte!« sagte er und grüßte. »Die Haustür stand offen.«

Frau Helwig fuhr in die Höhe und griff sich ans Herz, während ihre großen Augen der hohen, breitschultrigen Gestalt in ängstlicher Erwartung entgegenstarrten.

Hjarmer betrachtete den Fremden voller Erstaunen. Dann beugte er den Kopf zum Gruß und lud ihn mit einer höflichen Handbewegung zum Nähertreten ein.

»Bitte! – Mit wem habe ich –?«

Werner Hilsöe maß die schmächtige, nervöse Gestalt, die vor ihm stand, mit einem langen, festen Blick. Und indem er ins Zimmer trat, sah Helwig, die ihn unverwandt betrachtete, den Schatten eines höhnischen Lächelns um seine vollen, festgeschlossenen Lippen.

»Mein Name ist Ingenieur Werner Hilsöe!« sagte er schließlich.

»Hilsöe?« wiederholte der Amtsvorsteher und trat erstaunt einen Schritt zurück, während Mamsell Berg sich umwandte und das fremde Gesicht mit ihrem scharfen, forschenden Vogelblick musterte.

Als Hjarmer nicht zu verstehen schien, erklärte der Fremde:

»Ich bin ein Adoptivsohn des alten Hilsöe auf dem Ziegelhof.«

»Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen!« sagte Hjarmer zurückkommend und wandte sich vorstellend zu Frau Helwig, die den Kopf neigte, ohne den Fremden anzusehen.

»Meine Frau! – Herr Hilsöe!«

Dann wies er mit der Hand auf die Haushälterin des alten Hilsöe und fügte hinzu:

»Das ist just Mamsell Berg vom Ziegelhof!«

»Ja, wir beide kennen einander von früher her!« sagte Hilsöe und betrachtete sie mit einem eigenen Lächeln.

»Bitte – wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Der Amtsvorsteher wies auf den Lehnstuhl hinter Mamsell Berg und nahm selbst auf dem Puff Platz.

»Ich kann mir denken, Herr Hilsöe, daß Ihr Kommen mit dem traurigen Ereignis in Verbindung steht, das Mamsell Berg eben ...«

»Ich hörte auf dem Bahnhof, daß mein Onkel ermordet sei. Als ich deshalb im Vorbeigehen beim Amtsvorsteher noch Licht sah, erlaubte ich mir näherzutreten, um den Mord zu melden.«

Frau Helwig sah von ihrer Arbeit auf.

»Dann sind Sie wohl mit dem Nachtzug gekommen, Herr Hilsöe?« fragte sie.

»Was meinen Sie, gnädige Frau?« Werner sah vorsichtig zu ihr hin.

Hjarmer erklärte:

»Mit dem Zug, der um neun Uhr sieben von der Stadt geht, meint meine Frau – der, der eben gekommen ist.«

Jetzt verstand Werner, was sie befürchtete.

»Ja, ja!« beeilte er sich zu sagen. »Mit dem Nachtzug.«

Hjarmer beugte sich zuvorkommend zu ihm:

»Sie kommen vom Ausland, wie ich annehme?«

»Ja – vom Ausland.«

Frau Helwig sah wieder von ihrer Stickerei auf. Sie war jetzt ganz Herr der Situation und fiel in einem leichten Konversationston ein:

»Sie kamen wohl her, um Ihren Onkel zu besuchen – und das erste, was Sie hören, ist die Nachricht von seiner Ermordung. Wie entsetzlich!«

»Ja, nicht wahr?« Hjarmer beugte sich zu Hilsöe und sagte in einem feierlichen Ton:

»Gestatten Sie mir, Ihnen meine herzlichste Teilnahme auszusprechen!«

Frau Hjarmer blickte verstohlen über ihre Stickerei zu Werner hinüber. Und wieder sah sie den Schatten eines höhnischen Lächelns auf seinen festen Lippen, als er antwortete:

»Danke! – Es bestand kein herzliches Verhältnis zwischen Herrn Hilsöe und mir.«

»Ach so!« Hjarmer betrachtete diskret seine weißen Hände, und die Unterhaltung geriet ins Stocken.

Mamsell Berg benutzte die Pause, um sich zu erheben.

Hjarmer wandte sich zu ihr.

»Ich kann mir denken, daß es Sie unter diesen Verhältnissen nach Hause treibt – es gibt ja viel zu bedenken und zu ordnen.«

Er erhob sich, um sie zur Tür zu begleiten.

»Wie gesagt, ich muß Sie darum bitten, alles unberührt liegen zu lassen. Sobald die Rechtszeugen hier sind, werden Doktor Sylt und ich die legale Leichenschau vornehmen, damit die Sache ohne Verzug weiter verfolgt werden kann.«

»Besten Dank!« Mamsell Berg stand hochaufgerichtet und eckig da, die Hände vor sich auf dem Magen gefaltet. Dann wandte sie sich zu Frau Helwig: »Gute Nacht!« sagte sie, grüßte Werner Hilsöe mit dem Kopf, ohne ihn anzusehen, und ging zur Kontortür.

»Also auf Wiedersehen!« sagte Hjarmer und folgte ihr. »Ich habe niemand, der Sie begleiten kann, Mamsell Berg, aber die Nacht ist ja hell.«

»Besten Dank! – Das ist auch nicht nötig.«

Während Hjarmer den Rücken kehrte, versuchte Werner Frau Helwigs Blick zu sich zu zwingen, aber sie hob die Augen nicht von der Stickerei.

Als der Amtsvorsteher die Tür hinter Mamsell Berg geschlossen und sich wieder gesetzt hatte, räusperte Hilsöe sich und sagte:

»Sehen Sie, Herr Amtsvorsteher, ich kam her, um mit dem alten Hilsöe in Geschäftsangelegenheiten zu sprechen. Jetzt, da er tot ist, habe ich hier nichts mehr verloren. Nur würde es mich interessieren zu erfahren, wer ihn beerben soll.«

»Ich stehe selbstverständlich mit jeglicher Aufklärung, die Ihnen von Nutzen sein kann, zur Verfügung; nur fürchte ich, daß ich noch weniger weiß als Sie.«

Herr Hjarmer rückte etwas auf seinem Stuhl, während er nervös auf seine weißen Hände herabsah.

»Darf ich mir die Frage erlauben, Herr Hilsöe, Sie sind wohl der nächste Verwandte des Verstorbenen?«

»Der einzige!«

Werner betrachtete festen Blickes das bleiche Gesicht des Amtsvorstehers mit dem blonden, gepflegten Vollbart und fügte dann so ruhig und gleichgültig hinzu, als spräche er vom Wetter:

»Aber er enterbte mich vor vier Jahren. Und es würde mich interessieren, wen er statt meiner als Erben eingesetzt hat.«

Der Amtsvorsteher wich seinem festen Blick aus, der ihn nervös machte. Er rieb seine weißen Hände gegeneinander und sagte:

»Ja, nach dem, was Mamsell Berg sagte – und sie scheint ja das Vertrauen des Verstorbenen besessen zu haben – so findet sich kein Testament in seinen Fächern. Wenn eines existiert, ist es natürlich zu Zeiten meines Vorgängers im Notariatsprotokoll eingetragen worden. Wenn Sie sich also morgen ins Bureau bemühen wollen, können wir das Protokoll zusammen durchsehen.«

Frau Helwig sah interessiert auf.

»Du hattest es ja heute abend mit, mein Freund.«

»Das ist auch wahr.«

Hjarmer sah zum Rauchtisch hinüber.

»Da liegt es ja.«

»Gut!« sagte Werner und erhob sich. »Dann wollen wir der Qual ein schnelles Ende machen.«

Sie gingen zusammen hin, und Hjarmer schlug das schwere Protokoll auf.

»Also Sie meinen vor ungefähr vier Jahren?«

»Ja, bevor Sie – und Ihre Frau hier in die Gegend kamen.«

»Das stimmt, ja!«

Der Amtsvorsteher blätterte.

»Ich finde den Namen Hilsöe nicht!« sagte er kurz danach. »Vielleicht weiter hinten.«

»Kaum!«

»Doch hier –«

Der Amtsvorsteher beugte sich interessiert herab und verfolgte den geschriebenen Text mit dem Finger, während Werner über seine Schulter sah.

»Sehen Sie hier: Just Joachim Werner Hilsöe – Testamentarische Bestimmungen – lesen Sie bitte selbst.«

Ja, da stand es wirklich.

Hjarmer wendete hastig die Seite um und las weiter:

»Ziegelhof genannt – mit allem Grundbesitz, der Ziegelei und allen übrigen dazu gehörigen Bauten testiere ich meinem Adoptivsohn Harald Werner Hilsöe –«

»Sind Sie das?« fragte Hjarmer.

Werner sah ins Protokoll und nickte.

»Das ist also das ursprüngliche Testament,« sagte er. »Aber wo ist nun das, das dieses umstieß?«

Hjarmer richtete sich auf und sagte mit einem Lächeln.

»Ja, wie Sie sehen, Herr Hilsöe, ist kein solches vorhanden.«

»Seltsam!« Werner runzelte die Brauen und dachte nach. – »Er war ein Mann der peinlichsten Ordnung.«

Helwig sah von der Stickerei auf. Zum ersten Male begegneten sich ihre Blicke, und ihre großen, grauen Augen verbargen nicht die Freude, die sie empfand.

»Sie sollen sehen, Herr Hilsöe,« sagte sie, »es war nur eine Drohung!«

Hjarmer schlug das Protokoll zu, trocknete seine weißen Hände im Taschentuch und trat an den Tisch.

»Ich glaube, daß meine Frau recht hat!« sagte er. »Wenn alle Enterbungen in Kraft treten würden, die alte, reizbare Leute im Zorn herausschleudern, dann wären die Erbverhältnisse noch verzweifelter und verwickelter, als sie es schon im voraus sind. Sie ahnen nicht, welche Erfahrungen wir Juristen darin machen. Wenn sich das Blut beruhigt hat, dann bereut man, und die Enterbung gelangt selten zu Papier, geschweige bis zum Notar, wenn nicht ganz besondere Gründe vorliegen, die – die –«

»Vielleicht lagen hier solche vor!« sagte Werner und sah ihn fest an.

»Gott bewahre!« Hjarmer betrachtete diskret seine Hände. »Mir ist der vorliegende Fall ja ganz unbekannt. Aber dennoch – wenn sich nichts im Notariatsprotokoll findet und ebensowenig in seinen gewohnten Fächern – dann halte ich mich für berechtigt, Sie als den glücklichen Erben eines großen, des größten Vermögens im Amtsbezirk zu beglückwünschen.«

*

 

6

Fräulein Selma kam aus dem Eßzimmer. Als sie Werners ansichtig wurde, entschlüpfte ihr ein Ausruf der Überraschung.

Hjarmer wendete sich interessiert zu ihr um.

»Ach, Sie kennen sich?«

Sie faßte sich und wandte hastig ihre Augen von dem Fremden fort.

»Nein – es war nur« – sie suchte vergebens nach einer Erklärung.

»Herr Hilsöe! – Fräulein Sindal!« stellte der Amtsvorsteher vor und wandte sich fragend an das junge Mädchen, dem das Blut in die runden Wangen gestiegen war.

»Ich wollte nur sagen, daß Ellen wach ist und weint. Das Fieber scheint gestiegen zu sein; und ich mußte ihr versprechen, hinunterzugehen und ihren Vater zu holen.«

Frau Helwig erhob sich hastig.

»Ich werde gehen!« sagte sie und erhob sich.

Hjarmer aber kam ihr zuvor.

»Ach nein, Liebste! – Ich habe sie den ganzen Nachmittag nicht gesehen – und jetzt ist sie ja wach! – Du bist gewiß so freundlich und leistest Herrn Hilsöe so lange Gesellschaft!«

Dann wandte er sich an seinen Gast und sagte zuvorkommend:

»Entschuldigen Sie mich, ich bin gleich wieder da!«

Werner Hilsöe neigte den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Sagen Sie mal, Fräulein Sindal ...« sagte Hjarmer und ging mit dem jungen Mädchen zum Eßzimmer.

Frau Helwig wurde es plötzlich angst, mit Werner Hilsöe allein zu sein, und sie rief hinter Selma her: »Ach, Fräulein Sindal, seien Sie so freundlich und räumen Sie den Tisch ab!«

»Das kann Stine tun, wenn sie mit dem Essen kommt!« sagte der Amtsvorsteher. – »Ich möchte gern Näheres über das Kind hören.«

Dann winkte er Fräulein Selma, die ratlos mitten im Zimmer stehen geblieben war – sie hatte Frau Helwigs Angst gleich verstanden.

»Kommen Sie also, Fräulein!« sagte er. Und sie verließen zusammen das Zimmer.

*

 

7

Als Frau Helwig mit Werner Hilsöe allein geblieben war, nahm sie sich mit aller Kraft zusammen. Ein Seitenblick in den Kaminspiegel überzeugte sie davon, daß ihr Gesicht ruhig sei; und ohne ihn anzusehen, sagte sie mit kühler Zuvorkommenheit, als sei er ein fremder Gast, den sie zum ersten Male bei sich sah:

»Bitte! – Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Werner antwortete nicht. Er blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen, die Hand auf den Stuhlrücken gestützt, und sah sie unverwandt an.

Sie merkte, wie ihr das Blut unter seinem festen Blick in die Wangen stieg, und sie biß sich in die Oberlippe, damit deren Beben nicht ihre Bewegung verraten solle. Zuletzt wurde sie so nervös bei seinem andauernden Schweigen, daß sie sich nicht ruhig verhalten konnte, sondern den Kopf über den Tisch beugte und zwischen dem Garn im Nähkorb zu suchen begann.

Schließlich nahm er ihr gegenüber im Stuhl Platz und sah ihren schlanken Händen zu, die suchten und suchten.

Sie merkte es und konnte sie nicht ruhig halten.

»Weshalb zittern Ihre Hände?« fragte er.

Die Stimme, mehr als die Worte, ließ ihr Herz stärker schlagen.

»Ich zittere nicht!« sagte sie, ohne den Blick zu heben.

»Doch! – Und soll ich Ihnen sagen weshalb?«

Er sprach leise und zärtlich, als seien sie beide ganz allein im Hause in der hellen Sommernacht.

Helwig beugte den Kopf und schwieg. Sie fühlte, wie ihre Nasenflügel und die halbgeschlossenen Lider zu zittern begannen.

Als er die Wirkung seiner Worte merkte, wurde er kühner, beugte sich vor und legte seine Hand auf die ihren.

»Weil ein Märchen sich in Ihr Zimmer geschlichen hat!« sagte er mit dem tiefen, warmen Klang aus früheren Tagen. »Es hat Sie hier bei dem Sicheren und Gewohnten aufgesucht, wo Sie sich so geborgen fühlten. Es flüstert Ihnen in der hellen Nacht zu – und Sie wagen nicht, ihm zu lauschen.«

Helwig zog ihre Hände fort und sah hastig mit einem scheuen Blick zu ihm auf.

»Welches Märchen?«

»Von dem armen Gesellen, den Sie verstießen, weil er Ihnen keinen Platz in der Sonne bieten konnte, und der im Mondschein als reicher Erbe zu Ihnen zurückkommt; – inzwischen aber haben Sie sich dem angesehenen Mann mit den weißen Händen zu eigen gegeben!«

Die Hindeutung auf ihren Mann gab ihr Selbstbeherrschung und Stolz zurück.

»Finden Sie nicht, Herr Hilsöe,« sagte sie, während sie den Halskragen zur Hand nahm und zu sticken begann, »daß Sie dieses Thema im Hause meines Mannes lieber ruhen lassen sollten?«

Werner antwortete nicht, aber er hob die Hand und liebkoste die weißen Syringen in dem hohen Glas.

»Wie sie duften – die weißen Syringen!« sagte er und zog den Duft tief ein. Dann fügte er hinzu, zärtlich und leise:

»Solch ein Duft ist wie eine Flut von Erinnerungen!«

Nein, sie konnte es nicht länger aushalten! Sie warf die Arbeit auf den Tisch, erhob sich heftig und sah ihn mit ihren großen, grauen Augen an, die dunkel und tief geworden waren.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie, während ihre Brust leidenschaftlich auf und nieder wogte. – »Haben wir nicht Abschied voneinander genommen? Weshalb sind Sie nicht abgereist, wie Sie wollten?«

Werner hatte sich erhoben. Er machte einige Schritte und stand jetzt in seiner ganzen Größe vor ihr.

»Weil ich Sie liebe jetzt und immerdar!« sagte er still und geradezu, während er sie mit dem festen Blick ansah, der sie immer unruhig gemacht hatte.

Helwig ging an ihm vorbei und durchs Zimmer. Ihr Gemüt war in so starker Erregung, daß sie sie vergeblich zu verbergen suchte, indem sie die Brust vorschob und mit den Händen über die Hüften strich.

»Wenn Sie mich liebten,« sagte sie, »wären Sie nicht zurückgekehrt.«

Werner sah ihr nach und lächelte.

»Sollte ich meinem alten Onkel nicht die letzte Ehre erweisen?«

Helwig vertrug jetzt keinen Scherz.

»Wenn Sie mich liebten,« wiederholte sie ernst, während sie mit ihren großen, starken Schritten auf dem Teppich hin und her ging, »dann wären Sie nie gekommen.«

Werner ging auf sie zu.

»Und weshalb nicht?« fragte er hart.

Sie blieb stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu, ohne ihn anzusehen.

»Hörten Sie nicht, daß ich glücklich sei?«

»Ich hörte es wohl, Frau Hjarmer, aber ich wollte es auch sehen!« sagte er fest und entschlossen.

Wieder waren es die Stimme und der Blick, mehr als die Worte, die ihr Herz stärker schlagen machten.

Sie stand einen Augenblick und suchte nach einer Antwort. Dann sagte sie unsicher:

»Welches Recht haben Sie, meine Worte zu bezweifeln?«

Sie merkte unter den halbgeschlossenen, zitternden Lidern, wie er sie lange und zärtlich ansah.

»Weshalb zittern Ihre Hände?« fragte er wieder und versuchte vergeblich, sie zu ergreifen. »Weshalb zittern Ihre Lider, während Ihre Augen so groß und tief werden?«

Frau Helwig rang nach Luft, als wäre sie am Ersticken, und ihre Hände griffen in ihr Haar, als würde es ihr plötzlich zu schwer.

»Ich weiß es nicht!« antwortete sie und blickte sich im Mondenschein um. »Es ist so schwer und drückend hier! Und dann all das Sonderbare, das plötzlich in dieser stillen Nacht in mein Zimmer eingedrungen ist. Hier, wo sonst nichts vorfällt, – wo der eine Tag dem anderen folgt wie ein Tropfen dem anderen – hier ist plötzlich alles wie verwandelt. Sogar die Möbel scheinen mir fremd – ich kenne sie kaum mehr!«

Dieses Mal glückte es ihm, ihre Hand zu fassen.

»Es ist das Märchen,« flüsterte er, »das zu Ihnen in Ihr Zimmer gekommen ist. Wie es zu mir kam, dort draußen auf der Landstraße in der stillen Nacht, als ich das altbekannte Lied spielen hörte und Sie leibhaftig vor mir stehen sah!«

Frau Helwig neigte ihren Kopf lauschend seinen Worten.

»Weshalb reisten Sie nicht, wie Sie wollten?« sagte sie still und klagend.

»Weil das Märchen mich in der stillen Nacht überwältigte. Während ich langsam zum Bahnhofe schlenderte, erging es mir wie Ihnen. Alles wurde seltsam unwirklich. Bäume und Häuser verloren ihre Form und nahmen eine andere Gestalt an, – ach, als ob sie mich verständen – mit mir litten – mich zurückriefen. Obgleich ich zum Bahnhofe ging, fühlte ich die sonderbare Gewißheit, daß ich den Zug nicht erreichen würde; und doch war es Zeit genug. Das Märchen, Helwig, das mich das erste Mal zu Ihnen geführt hatte – ich fühlte es, würde mich zu Ihnen zurückführen. – Das, was man den Instinkt nennt, war in der stillen, hellen Nacht zu Wort gekommen.«

»Und dann kehrten Sie zu mir zurück?« fragte Frau Helwig, von der Stimmung in seinen Worten ergriffen.

»Als ich zum Bahnhof kam und den Namen meines Onkels hörte – ein Mann erzählte dem Stationsvorsteher von dem Mord – da wußte ich es gleich: das ist das Märchen! Ich begriff, daß der Mord mich zurückführen sollte. Du mußt ihn dem Amtsvorsteher melden, war mein erster Gedanke. Und mehr als das. Gleichzeitig flüsterte etwas in mir: jetzt wirst du wieder reich und glücklich werden!«

Helwig hatte ihre Hand zurückgezogen; aber seine starke, ruhige Stimme hatte sie gegen ihren Willen mitgerissen. Sie sah mit der dunklen Glut in ihren großen, tiefen Augen zu ihm auf und fragte atemlos:

»Und nun – was wollen Sie nun?«

Er fing ihren Blick auf und hielt ihn mit dem seinen fest, so daß sie nicht entschlüpfen konnte.

»Wissen, ob Sie glücklich sind, Helwig Lönfeldt!« sagte er und trat ganz nah an sie heran. – »Ob Ihr Heim bei mir ist oder bei ihm.«

Helwig wich klopfenden Herzens zurück, aber ihren Blick konnte sie nicht losreißen.

»Und wenn ich nicht glücklich bin,« sprach sie bebend, – »was dann?«

»Dann will ich Sie mit mir nehmen, Helwig Lönfeldt!«

Ihre großen, grauen Augen umfaßten mit einem einzigen Blick die hohe, breitschultrige Gestalt, die vor ihr stand – die niedrige Stirn, die scharfgezeichneten Brauen, die festen Augen und die geschlossenen, vollen Lippen – als wolle sie prüfen.

Da wurde sie von einem Kälteschauer durchrüttelt.

»Von Mann und Kind?« fragte sie.

»Von Mann und Kind!«

Einen Augenblick standen sie Auge in Auge. Dann riß sie mit einer gewaltigen Anstrengung ihren Blick los, griff sich mit beiden Händen an den Kopf – und sagte halb lachend, halb weinend:

»Das wird nie und nimmer geschehen!«

*

 

8

Im selben Augenblick ging die Eßzimmertür. Hjarmer trat herein und hinter ihm Stine mit dem Abendessen auf einem Servierbrett.

Frau Helwig ging mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, als wolle sie Schutz bei ihm suchen vor dem Märchen, das sich in ihr Zimmer eingeschlichen hatte und jetzt den Weg zu ihrem Herzen suchte.

Aber im selben Augenblick, als sie sein bleiches, nervöses Gesicht sah, mit dem blonden Vollbart, ging es wie eine plötzliche Veränderung über ihr Antlitz, und sie blieb stehen, kalt und beschämt, mit herabhängenden Armen.

Hjarmer, der ihre Bewegung mißverstand, sagte mit einem beruhigenden Lächeln:

»Liebste – ich glaube nicht, daß wir uns zu ängstigen brauchen. Sie hat etwas Fieber. Aber wir haben ihr von den Tropfen gegeben, und Fräulein Sindal bleibt bei ihr, bis sie schläft.«

Dann setzte er sich an den Tisch, wo Stine das Abendbrot hingestellt hatte.

»Entschuldigen Sie, Herr Hilsöe!« sagte er und band sich die Serviette vor. »Es ist unsere Einzige, müssen Sie wissen.«

Frau Helwig strich sich über die Stirn, als wolle sie alle törichten Gedanken fortwischen.

»Die Familie ist nur klein!« sagte sie mit einer Hindeutung, die Hilsöe nicht mißverstehen konnte. »Aber desto fester hält sie zusammen.«

»Ja – nicht wahr?«

Hjarmer sah liebevoll zu ihr hin.

Dann trat sie in plötzlicher Tätigkeit an den Tisch und stellte die Teller und Schüsseln vom Servierbrett vor ihren Mann hin.

»Iß, mein Freund!« sagte sie liebevoll. »Du mußt ja furchtbar hungrig sein.«

»Aber Liebste!« Hjarmer sah hastig und vorwurfsvoll zu ihr auf. »Es fehlt ja ein Kuvert für Herrn Hilsöe.«

Frau Helwig wich seinem Blick aus und sagte kalt: »Ich glaubte nicht –«

»Danke, gnädige Frau!« fiel Werner ein. »Ich habe bereits im Bahnhofsrestaurant gegessen.«

»Das ist etwas anderes!«

Hjarmer nahm Brot und beeilte sich, es zu streichen.

»Sie entschuldigen, wenn ich esse, nicht wahr? – Es ist ja ein ernstes Geschäft, das mich erwartet; und ich bin heute nacht schon einmal unterwegs gewesen. – Aber darf ich Ihnen nicht eine Zigarre anbieten?«

Hjarmer stand auf und ging auf den Schreibtisch zu.

»Nein, ich danke, Herr Amtsvorsteher!« sagte Werner und hielt ihn zurück. »Ich rauche nur Shag und Zigaretten.«

»Damit kann ich leider nicht dienen!« Hjarmer setzte sich wieder zum Essen nieder. »Aber bitte, rauchen Sie, wenn Sie selbst damit versorgt sind.«

»Danke!« sagte Hilsöe, aber er machte keine Miene, zu rauchen.

Hjarmer aß, nervös und hastig, während Helwig und Hilsöe je an einer Seite des Tisches Platz nahmen. Niemand sprach.

Dann begann Hjarmer zu konversieren.

»Ja, jetzt gilt es die Spur ausfindig zu machen!«

»Welche Spur?« Hilsöe sah geistesabwesend auf.

»Die Spur des Mörders.«

»Ja, ja.«

Frau Helwig hatte dagesessen und Hjarmer angesehen, während er aß, als wolle sie ihre Gedanken zwingen, sich nur mit ihm zu beschäftigen.

Dann wandte sie plötzlich ihren Kopf Werner zu.

»Da das Unglück nun einmal geschehen sollte,« sagte sie und sah ihn fest an, »so bin ich froh, daß es in dem Distrikt meines Mannes vorgefallen ist.«

»Wieso das, gnädige Frau?«

»Dadurch bekommt er endlich mal mit einer großen Sache zu tun. Und Beförderung, Herr Hilsöe, ist etwas sehr Wichtiges für eine junge, vorwärtsstrebende Familie wie wir.«

Es ging wie eine plötzliche Freude über Hjarmers nervöses Gesicht mit den bleichen, rechtschaffenen Augen.

»Da werden Sie sich wohl kaum hineinversetzen können, Herr Hilsöe. In Ihrem Fach ist man an ganz andere Honorare gewöhnt, als wie sie bei königlichen Beamten an der Tagesordnung sind. Aber für uns ist es, wie meine Frau bemerkte, fast ein Glück, eine größere Sache unter Behandlung zu bekommen. Denn dadurch führt der Weg zu größeren Ämtern. Ich habe gerade einen Posten nachgesucht, der ledig geworden ist.«

»Und wissen Sie,« fiel Frau Helwig ihm in die Rede, »weshalb wir gerade diesen Posten haben möchten?«

»Das kann ich nicht gut wissen, Frau Hjarmer!« Werner sah sie schwer und ungewiß von der Seite an.

»Weil der, der ihn vorher inne hatte, von dort zum Landrat avanciert ist.«

»Aber Liebste!«

Hjarmer schüttelte lächelnd seinen Kopf über ihre Offenherzigkeit.

»Und dann meinen Sie, gnädige Frau?«

»Ich meine, das ist das, was man einen Präzedenzfall nennt, Herr Hilsöe!«

»Ah so, gnädige Frau wollen Frau Landrätin werden!«

Sie genoß die tiefe Enttäuschung, die durch seine Worte klang, und die seine Stimme vergebens zu verbergen suchte.

»Ja, denn sehen Sie, Herr Hilsöe – ich war eine Landratstochter!« fügte sie hinzu und sandte ihm einen großen, bedeutungsvollen, fast munteren Blick zu.

Im selben Augenblick läutete es an der Haustür – zweimal kurz und einmal lang.

»Das ist Doktor Sylt!« sagte Hjarmer froh und sah sich zur Kontortür um, von wo Doktor Sylts kurze, schwere Schritte bereits hereinklangen.

*

 

9

Doktor Sylt stand in der Tür und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Na, wieder da, lieber Doktor?«

Hjarmer streckte ihm die Hand entgegen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich sitzen bleibe!«

»Die Tür stand offen!« sagte Doktor Sylt und trat näher.

»Ja, ich erwarte die Rechtszeugen. Und das Haus kommt heute nacht doch nicht zur Ruh.«

Doktor Sylt betrachtete den Fremden forschend mit seinen kleinen, scharfen Augen.

Gleichzeitig machte Hjarmer die beiden Herren miteinander bekannt.

»Darf ich vorstellen – unser Hausfreund Doktor Sylt! – Herr Ingenieur Hilsöe!«

Werner erhob sich und grüßte schweigend.

Der Doktor aber ging auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

»Ihr Gesicht ist mir bekannt!« sagte er, und als Werner kein Zeichen des Wiedererkennens gab, fügte er hinzu:

»Ich sah Sie in der Eisenbahn im selben Coupé.«

Werners Augen hefteten sich auf den runden Kopf des Doktors, mit dem ungepflegten Vollbart unter den kleinen, klaren Augen.

»Ich entsinne mich nicht!«

»Nee, da irren Sie sich, Doktor,« sagte Hjarmer, während er sich eine zweite Tasse Tee einschenkte. »Herr Hilsöe kam erst mit dem letzten Zug.«

»I bewahre!« bestand Doktor Sylt und schüttelte den Kopf. »Ich saß sogar und zerbrach mir den Kopf, wo ich Ihr Gesicht schon früher gesehen hatte.«

Frau Helwig wandte sich nervös zu ihnen.

»Nun, das ist ja ganz gleichgültig!« sagte sie schnell. »Erzählen Sie lieber vom Mord, Doktor.«

Sylt zog den Hosenbund hoch und setzte sich auf den Puff.

»Ja, der Mord!« sagte er ernst und streckte die Beine von sich. »Ein Schlag von der Seite gegen die linke Schläfe mit einem stumpfen Instrument – Keule oder so was. Das war alles; aber es war genug. Und der alte Widder –«

Hjarmer unterbrach ihn rasch.

»Hm! – Herr Hilsöe ist ein Neffe des Verstorbenen!«

Doktor Sylt wandte den Kopf und betrachtete wieder mit Aufmerksamkeit Werner Hilsöes große Züge und breite Schultern.

»Dann habe ich Sie mal vor vielen Jahren behandelt. Mir schien es wohl, daß ich Ihr Gesicht kannte.«

»Schon möglich.« Hilsöe sah gleichgültig vor sich hin. – »Ich war während der Akademieferien auf dem Gutshof zu Besuch.«

Hjarmer, dessen Gedanken – trotz der anscheinenden Aufmerksamkeit für die Anwesenden – beständig die Aufgabe umkreisten, die so plötzlich durch den Mord an ihn herangetreten war, trocknete sich den Mund mit der Serviette und fragte:

»Wann nehmen Sie an, Doktor, daß der Mord geschehen ist?«

»So um zehn herum.«

Hjarmer sah zu seiner Frau hin:

»War die Uhr nicht ungefähr halb zehn, als ich von hier fuhr?«

»Ja! Anders war gerade mit der Abendzeitung aus der Stadt gekommen, als er Bescheid zum Vorspannen bekam.«

Der Doktor wandte sich auf dem Puff um. »Der Mörder hat ihn von einem Hinterhalt aus getroffen – wahrscheinlich vom Syringengebüsch dicht daneben. Der Tod ist augenblicklich eingetreten.«

Frau Helwig richtete sich schaudernd auf.

»Das ist entsetzlich!« sagte sie.

Werner hatte schweigend im Armstuhl zurückgelehnt gesessen und Frau Helwig heimlich angesehen. Jetzt beugte er sich vor und sagte:

»Das sieht wie Rache aus. Der Alte hatte wohl Feinde?«

Hjarmer schob den Teller zurück und sagte reserviert:

»Ich weiß es nicht! Ich kann mich ja in meiner Stellung nicht gut über die Sache äußern.«

*

 

10

Fräulein Selma kam aus dem Eßzimmer.

Hjarmer erhob sich fragend. Es war ein ängstlicher Ausdruck in ihren großen, blauen Augen.

Im selben Augenblick wurde sie des Doktors ansichtig.

»Ah, da ist ja der Doktor!« sagte sie erleichtert und eilte auf ihn zu.

Doktor Sylt erhob sich vom Puff und ging ihr entgegen.

»Ist sie wach?« fragte er.

Fräulein Selma strich die aschblonde Locke von den Augen fort.

»Ja!« sagte sie und sah ihn bedenklich an. »Ich habe ihr vor kurzem die Tropfen gegeben.«

Jetzt stand auch Frau Helwig auf und trat heran.

»Und das Fieber?« fragte sie.

Während Fräulein Selma überlegte, was sie antworten solle, fragte der Doktor kurz, fast rauh:

»Ist das Kind heiser?«

»Ich weiß nicht recht!« sagte sie schließlich. »Aber ihr wird das Atmen schwer.«

»Also Atemnot!«

Doktor Sylt knöpfte seinen Rock zu und zog die Schultern hoch.

»Ich komme, Fräulein!«

Indem er an Hjarmer vorbeiging, sah dieser ihn so ängstlich mit seinen bleichen, nervösen Augen an, daß er ihm auf die Schulter klopfte und sagte:

»Nur ruhig Blut, Hjarmer! – Bedenken Sie, daß Sie den Arzt im Hause haben!«

Es läutete an der Haustür.

Frau Helwig sah nervös zur Tür.

»Wer mag das nun wieder sein?«

»Die Rechtszeugen, Liebste!« beeilte Hjarmer sich sie zu beruhigen, indem er zur Tür ging.

»Ich gehe schon!« sagte Fräulein Selma und lief an ihm vorbei durchs Kontor.

Hjarmer wandte sich hastig zu Doktor Sylt um und ergriff dessen Hand.

»Wir verlassen uns fest auf Sie, Doktor!«

»Das ist recht!«

»Es ist doch keine Gefahr vorhanden?« fragte Frau Helwig und sah ihn forschend an.

Doktor Sylt wich ihrem Blick aus und zuckte die Schultern.

»Für uns arme Menschen,« sagte er mit seiner ernsten Stimme, »die wir den Instinkt vergeudet haben, ist stets Gefahr vorhanden.«

Der Amtsvorsteher sah ihn bei diesen verblümten Worten ängstlich an:

»Was meinen Sie damit, Doktor?«

»Das ist doch klar genug, Hjarmer!« Der Doktor wich seinem Blick aus. »Es ist Gefahr vorhanden für Sie – und für Ihre Frau und für Ihr Kind – und für uns alle.«

Frau Helwig wurde ärgerlich über seine Antwort.

»So hören Sie doch auf mit Ihrem Philosophieren!« sagte sie und wandte sich von ihm ab.

»Philosophieren?« Der Doktor sah milde mit seinen kleinen, scharfen Augen zu ihr hin. »Sehen Sie doch nur den alten Hilsöe an! Heute mittag noch griesgrämig und gallenleidend wie immer, und jetzt so tot und fromm wie ein Hering! Und Sie fragen, ob Gefahr vorhanden ist!«

Fräulein Selma kam zurück.

»Der Arrestvorsteher und Schutzmann Petersen sind da,« sagte sie, »sie warten im Kontor.«

Der Amtsvorsteher atmete tief auf und knöpfte seinen Rock zu.

»Ja, dann müssen wir also an die Arbeit!«

»Kannst du nicht warten, bis der Doktor oben gewesen ist?« fragte Frau Helwig.

»Liebste –« Hjarmer lächelte müde – »die Pflicht geht vor. Man erwartet mich ja.«

Indem er gehen wollte, fragte Hilsöe, der sah, wie Frau Helwigs Augenlider zitterten:

»Wünschen Sie, daß ich zugegen sein soll, Herr Amtsvorsteher?«

»Sie, Herr Hilsöe?« Hjarmer überlegte einen Augenblick. »Nein, danke! Es handelt sich ja nur um die vorgeschriebene Leichenschau.«

Dann fiel ihm plötzlich etwas ein, und er ging zu Frau Helwig hin.

»Liebste, ein Wort!«

Er faßte sie am Arm und zog sie mit sich zum Kamin.

»Wir müssen ihn bitten, unser Gast zu sein!«

Frau Helwig fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

»Herrn Hilsöe?« sagte sie und sah fort.

»Er erwartet es – sonst wäre er schon gegangen!«

»Ja, das hätte er richtiger tun müssen!« sagte sie mit Entschiedenheit.

»Ich kann sehr gut begreifen, daß er ungern mit dem Ermordeten allein in dem großen Hause sein möchte!«

Frau Helwig suchte klopfenden Herzens einen Ausweg.

»Er kann ja im Wirtshaus einkehren!«

»Das kann man ihm nicht anbieten – jetzt, da er der reichste Mann des Amtsbereiches ist!«

Frau Helwig antwortete nichts. Sie merkte, wie ihre Augenlider zitterten, und sie strich sich wie aus Müdigkeit über die Stirn.

Hjarmer aber ließ nicht nach.

»Wir müssen ihm freundlich entgegenkommen, du,« sagte er eindringlich. »Man kann nie wissen, wozu es gut ist, besonders jetzt, wo wir uns um die Stellung bemühen; vielleicht hat er Verbindungen – nicht?«

Werner Hilsöe Verbindungen!

Trotz ihrer Nervosität konnte sie kaum ein Lächeln unterdrücken.

»Dann bitte du ihn darum!« sagte sie schließlich. »Ich tue es nicht!«

»Liebste – ist das Gastfreiheit?« wandte Hjarmer vorwurfsvoll ein. Dann ging er auf Hilsöe zu und sagte sehr zuvorkommend:

»Ich bin überzeugt, Herr Hilsöe, daß es Ihnen peinlich sein wird unter den augenblicklichen Verhältnissen im Ziegelhof zu übernachten. Wenn ich Sie bitten darf – bei uns vorliebzunehmen!«

Werner verbeugte sich.

»Besten Dank, Herr Amtsvorsteher!« sagte er formell, indem sein Blick hastig zu Frau Hjarmer schweifte.

»Ich glaube kaum, daß ich Ihr Angebot annehmen darf!« fügte er zögernd hinzu.

Hjarmer, dem sein Blick auf die Frau des Hauses nicht entgangen war, beeilte sich, den Eindruck von dem seltsam unwilligen Benehmen seiner Frau abzuschwächen:

»Es wird meiner Frau und mir ein großes Vergnügen sein, Sie als Gast bei uns aufzunehmen!«

Jetzt wandte Werner sich offen an Frau Helwig und fragte laut:

»Was sagt die Frau des Hauses dazu?«

Frau Helwig tat, als hörte sie es nicht, während Hjarmer ihr hastig zuvorkam:

»Meine Frau ist ganz meiner Meinung – wir haben bereits darüber gesprochen.«

Er wandte sich zu Fräulein Selma, die an der Eßzimmertür stand und mit dem Doktor über Ellen sprach:

»Ach, Fräulein Sindal! – Das Fremdenzimmer ist wohl in Ordnung, nicht wahr?«

»Das Fremdenzimmer?«

Fräulein Selma sah hastig von dem einen zum andern. Sie ahnte Frau Helwigs Nervosität und sagte schnell:

»Ich glaube kaum, daß –«

Jetzt wurde Hjarmer ärgerlich. Was sollte nur diese Widerspenstigkeit bedeuten – erst bei seiner Frau und nun bei Fräulein Selma.

»Ja, natürlich,« sagte er scharf, »weshalb nicht?«

Fräulein Selma fand in der Eile einen Vorwand.

»Wir haben die ganze Wäsche dort liegen. – Morgen soll geplättet werden!«

Hilsöe verstand. Der Schatten eines schmerzlichen Lächelns glitt über seine dunklen, festen Augen.

»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, Herr Amtsvorsteher!« sagte er. »Ich fürchte aber, daß mein Besuch ungelegen kommt.«

Hjarmer war böse. Er sandte Fräulein Selma einen strengen Blick zu.

»Aber gewiß nicht!« sagte er mit Entschiedenheit. »Wollen Sie dafür sorgen, Fräulein Sindal, daß das Zimmer in Stand gesetzt wird.«

Um keine weiteren Einwendungen zu hören, trat er jetzt an Doktor Sylt heran und sagte:

»Ich erwarte Sie also drüben, Doktor, sobald Sie hier fertig sind.«

»Ja, Hjarmer. Ich komme, sobald ich kann!«

»Gut. Wir legen inzwischen die Siegel auf!«

Während der Doktor, von Fräulein Selma gefolgt, durchs Eßzimmer ging, trat Hjarmer an seine Frau heran.

»Adieu, Liebste!« sagte er und beugte sich herab, um sie auf die Wange zu küssen, die sie ihm hastig zukehrte.

»Sei ein bißchen freundlich gegen ihn!« flüsterte er und fügte eindringlich hinzu: »Bedenke, daß er der reichste Mann des Bezirks ist!«

Dann wandte er sich zu Hilsöe:

»Auf Wiedersehen! – Und tun Sie ganz, als ob Sie zu Hause seien!«

Dann ging er durchs Kontor hinaus und schloß die Tür hinter sich.

Frau Hjarmer stand noch immer über den Tisch gebeugt und suchte im Nähkorb; sie wagte nicht, sich zu Hilsöe umzudrehen, weil sie wußte, daß ihre zitternden Lider und das nervöse Beben der Oberlippe ihre innere Erregung verraten würden.

Während er so mitten im Zimmer stand und sie unverwandt anstarrte – sie fühlte seinen festen Blick im Nacken –, dachte sie einen Augenblick daran, ob sie nicht lieber zu den anderen hinaufgehen sollte. Aber was würde der Doktor denken, wenn sie den Gast allein ließ? – Und Fräulein Selma, die bereits so viel wußte! ... Sie würde glauben, daß etwas zwischen ihnen vorgefallen sei.

Sollte sie Kopfschmerzen vorgeben und zu Bett gehen? ...

Nein – nein – er sollte nicht glauben, daß sie vor ihm davonlief.

Und außerdem – während vier langer Jahre hatte sie nicht mit ihm gesprochen, nicht mit ihm musiziert – nur hin und wieder von ihm geträumt und sich gesehnt.

Sie hatte ja keine Schuld; – das Märchen hatte sie zusammengeführt; – weshalb sollten sie sich nicht an ihrer gegenseitigen Gesellschaft erfreuen und die kurze Stunde in alten, gemeinsamen Erinnerungen genießen? – Und dann morgen – adieu für immer!

Außerdem hatte Knud recht; der reichste Mann des Bezirks hatte Anspruch auf Gastfreundschaft im Hause des Amtsvorstehers!

Jetzt schlug ihr Herz ruhiger, und es schien ihr, daß sie ihr Gesicht beherrschte. Wenn sie nur einen Blick in den Kaminspiegel erhaschen könnte, bevor sie sich zu ihm umdrehte!

Da hörte sie seine Schritte auf dem Teppich.

»Fürchten Sie sich, Frau Hjarmer?«

Die tiefe, feste Stimme, mehr als die Worte, forderte ihren Stolz heraus.

»Fürchten?« fragte sie und wandte sich hocherhobenen Hauptes zu ihm um, während die Oberlippe sich zu einem Lächeln kräuselte.


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