Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Auserwählten

Im linken Flügel des Sankt Gertrud-Hospitals feiern beim Inspektor die »Auserwählten« das Weihnachtsfest. Kummer oder Verbrechen haben den Geiste dieser Menschen verwirrt. Sie sind sanft und friedlich und lieben ihre Pflegerin, die im Hospital nie anders als »Fräulein« heißt. Der Flügel der »Auserwählten« gehört zur ersten Abteilung. Nur wer reif befunden ward, findet hier Aufnahme. Der älteste unter ihnen, der »Pfarrer«, hat ihnen den Namen »die Auserwählten« beigelegt.

Sie speisen in dem dreifenstrigen Zimmer, das »Saal« heißt, weil es im alten Kloster als Speisesaal benutzt wurde. Der Inspektor läßt seine Blicke über die Schar hinweg, hinüber zum »Fräulein,« das am entgegengesetzten Ende der Tafel sitzt, und durch das Fenster hinausgleiten, wo der Schnee vom Dach des langen Klosterganges blinkt, der das Hospital mit der uralten Kirche verbindet. Hier hat er ein zweites Heim gefunden; und er kann sie dort drüben, mit dem reichen blonden Haar, das in Wellen die Stirn umrahmt, nicht mehr entbehren. Niemals, selbst nicht, als er noch mit seiner einstigen Gattin lebte, von der er nun seit zehn Jahren geschieden ist, war ihm so warm ums Herz wie jetzt.

Und nun sollte es vorbei sein. Das längliche blaue Kuwert, das er heute morgen erhielt, das Weihnachtsgeschenk des Ministeriums, hat allem ein Ende gemacht. »Wie Ihnen bekannt sein wird, gibt es keinen rechtsgültigen Grund, irgend welche Veränderungen vorzunehmen ...«

Seit er von den entsetzlichen Ereignissen in dem großen Londoner Asyl gelesen hatte, läßt es ihm keine Ruhe mehr. Nächte lang hat er gegrübelt, berechnet, Entwürfe gemacht. Die uralten Schornsteine, die offenen Kamine und die Balkendecke! Unverantwortlich!

»Keinen rechtsgültigen Grund!« Punktum. Abgemacht! »Wollen Sie die Verantwortung nicht übernehmen, – bitte: es gibt andere, die es gern tun.«

Jetzt sollte man eigentlich standhaft bleiben und nicht nachgeben, sondern die Zustände an die Öffentlichkeit bringen. Dann bekam er seinen Abschied in Ungnade und ohne Pension und endete wohl wie der arme »Pfarrer« dort, der Personen, die einmal geschieden waren, nicht trauen wollte und die Folgen auf sich nahm. Aber das Fräulein mit dem krausen Haar und den Augen: er kann nicht. Mag kommen, was da will, – er hat jedenfalls seine Pflicht getan.

Der Inspektor erstickt den Seufzer in seinem Vollbart und schiebt den Stuhl zurück. »Gesegnete Mahlzeit!« Dann gehen sie durch das grüne Zimmer hinüber nach dem »Konsistorium,« wo im offenen Kamin die blauen Flammen der Birkenkloben lustig prasseln und ihren Widerschein auf die Stuckengel an der Decke werfen.

Der »Pfarrer« bleibt mitten im Zimmer stehen, beugt seinen krummen Rücken noch tiefer und spricht leise: »Uns ist heute der Heiland geboren!«

Kirsten, die »Braut«, setzt ihren Myrtenkranz vor dem Spiegel über dem Kamin zurecht, während ihre sanften und zugleich unsteten Augen von überirdischem Glück strahlen. Heute kehrt gewiß der himmlische Bräutigam wieder, der ihr durch die Gewalt böser Menschen entrissen wurde. »Fräulein« legt den Arm liebkosend um ihre schlanke Taille: »Wie fein unsere Kirsten heute ist!« Kirsten beugt den Kopf zurück, lehnt ihn an Fräuleins Schulter und lächelt selig unter geschlossenen, zitternden Augenlidern: »Ich bin so glücklich, so glücklich!«

Jetzt kommen die Mägde mit den weißen Schürzen und präsentieren Kaffee und Weihnachtsstollen. Der Inspektor nimmt ein versiegeltes Paket, das unter dem Kuchen liegt, und gibt es Karen, der Fischersfrau mit den bleichen Augen, der das Meer in einer Nacht den Gatten und den Vater geraubt hat.

»Andreas und Jens lassen grüßen und wünschen Karen ein frohes Fest!«

Karen ergreift das Paket; mit weit geöffneten, matten Augen und einem rosigen Hauch auf den blassen Wangen öffnet sie es hastig und nimmt den Kuchen heraus.

»Wie steht es mit dem Haus?« fragt sie atemlos.

»Ja ... jetzt arbeiten sie schon am Dach.«

»Gott sei Dank! Dann kann es nicht mehr lange dauern!«

Karen wollte seit jener Nacht keine Nahrung zu sich nehmen; denn die Toten erwarten sie zum Abendmahl im Himmel. Sie ißt nur, was Andreas und Jens ihr von dort durch den Inspektor senden. Beide bauen an der himmlischen Wohnung; ist sie fertig, so kommen sie und rufen Karen.

In der Fensternische kauert »Klein-Annchen«. Beim Schein des Kaminfeuers näht sie hastig die letzten Stiche am Weihnachtskleidchen für ihr kleines Mädchen. Die dunklen Kinderaugen irren hinaus zu den Engeln an der Decke; sie nickt ihnen zu und trocknet die Augen. »Klein-Annchen« hatte einen Seemann lieb und bekam ein Kind, dessen Vater sie verließ. Da stürzte sie sich mit dem Kind in den Kanal, um ihr Kleines dem unbarmherzigen Leben zu entreißen. Man mußte das Kind mit Gewalt aus ihrer krampfhaften Umarmung befreien.

Ringsum hockt es in den Winkeln. Lauter »Auserwählte«, die mehr mit den Augen als mit dem Munde reden. Sie starren in die blau lodernden Flammen, die ihnen das Geheimste ihrer Herzen künden.

Der Inspektor reicht dem »Kaufmann« eine Zigarre. Der dreht sie zwischen langen, rastlosen Fingern, während seine schwarzen Augen hin zum Pfarrer spähen, der mitten im Zimmer steht und die Hand über den langen, buschigen Bart gleiten läßt.

»Sie verstehen mich doch?« flüstert er dem Inspektor zu: »Ich wars nicht, der ihm die Silberlinge gab. Ich kann mein Alibi nachweisen. Zu der Zeit, wo der Kontrakt geschlossen wurde, war ich auf der Börse. Sie wissen ja, daß ich das große Geschäft mit Levy & Nathan eingeleitet hatte. Weshalb sollte ich mich auch in die Sache mischen? Zumal ich stets die größte Achtung vor dem Heiland hatte. Wenn er auch das Gesetz verletzt und seine Zinsen nicht bezahlt hatte, so ...«

Der Kaufmann war einer der schlimmsten Blutsauger der Stadt gewesen. Vielen nahm er ihren Hausrat, wenn sie ihm den Zins nicht zahlen konnten. Aber eines Morgens erhielt er einen Brief, in dem nichts anderes stand als: »Jesus Christus.« Ein zorniger Schuldner, dachte er, lachte sich ins Fäustchen und ging auf die Börse. Doch an dem Tage, da der Bankerott von Levy & Nathan ihm den großen Verlust brachte, lief er die Treppe hinab, hinaus auf die Straße und rief allen zu: »Ich wars nicht, der ihm die Silberlinge gab!«

»So, Fräulein,« sagt der Inspektor, der nach seiner Uhr gesehen hat, »jetzt müssen sie drinnen fertig sein; und wir können anzünden.« Seine runden Augen ruhen zärtlich auf dem dichten, krausen Haar, und als sie im Dunkeln vor ihm her durch die grüne Stube geht, muß er sich Gewalt antun, um nicht seinen Arm um ihre weichen Schultern zu legen, die ihm so lieb geworden sind.

Im Saal ist der Eßtisch auseinandergenommen und an die Wand gerückt worden. Der große Weihnachtsbaum steht mitten im Zimmer auf dem Fußboden und streckt seine Spitze bis in die Balken hinauf. Mit Gold- und Silbergehänge, das sich von Zweig zu Zweig windet, ist er geputzt; Engel mit glänzenden Flügeln tanzen an Gummifäden zwischen den weißen Kerzen.

... Fräulein steht auf der obersten Sprosse der hohen Leiter und hängt Konfekt an die Zweige, während der Inspektor die lange Stange des Laternenputzers Peter, die selbst die höchsten Lichte erreicht, zum Anzünden benutzt. Dabei fällt ihm ein, wie oft sie und er hier schon gestanden und den Weihnachtsbaum für die »Auserwählten« angezündet haben. Vielleicht ist es heute das letztemal ... Ein tiefer Seufzer ringt sich aus seinem Herzen los.

»Weshalb seufzen Sie?« fragt sie, aber mit einem weichen Klang ihrer Stimme, der verrät, daß sie es weiß.

»Über die Schwäche der Menschen, Kind! Man setzt alles ein, um seine Sache durchzuführen, und erhält als Antwort eine Ohrfeige. Trotzdem bleibt man.«

»Weshalb bleiben Sie?« fragt sie leise und streckt die Arme aus, um eine herabgefallene Goldpapiergirlande zu befestigen. Die Leiter kommt dabei ins Wanken und es sieht aus, als ob Fräulein herunterfallen wollte.

»Um Gottes Willen!« ruft der Inspektor, lehnt die Stange gegen den Baum und stürzt herbei. »Liebste, geben Sie acht!« Mit den Armen umfaßt er ihre Knie, um sie zu stützen. Sie lächelt zu ihm hinab, um die Angst in seinen runden Augen zu beschwichtigen. Darauf steigt sie, an seiner Hand, vorsichtig die Sprossen herab.

»Und gerade Sie fragen mich,« sagt er, »weshalb ich bleibe?«

Sie antwortet nicht. Leise streichelt sie mit ihrer weichen Hand sein Haar. Er legt den Arm um ihren Leib, jetzt, da sie unten ist. Sie geht an den Tisch und läßt sich auf einen Stuhl fallen; die Erregung raubt ihr den Atem. »Lisbeth!« flüstert er und sieht ihren feuchten Augen an, daß endlich ihr Widerstand gebrochen ist, daß sie endlich seine erste, wegen seines Ehebruches geschiedene Ehe vergessen hat. Er beugt sich zu ihr, küßt ihr Haar, ihre Stirn. Da reicht sie ihm selbst den Mund.

Es knistert oben im Baum. Im Glasrahmen der Bilder über ihren Häupten leuchtet der Widerschein von flackernden Kerzen. Der Zündstock hat die Spitze des Baumes in Brand gesteckt. Ringsum an den Wänden flammt es rot von den Bildern längst verstorbener Direktoren des uralten Krankenhauses.

Der Inspektor ist leichenblaß; seine Blicke haften wie gebannt an der prasselnden, flackernden Spitze unter der Balkendecke. Vergebens bemüht er sich, den Baum loszurütteln, den Lars Peter am Fußboden befestigt hat.

»Reiße die Gardinen herab!« sagt er zum Fräulein. Sie steht an der Tür und drückt mit aller Kraft auf den Knopf der elektrischen Klingel. Schnell springt sie hinzu und tut, wie ihr befohlen. Entsetzt bleibt der herbeieilende Verwalter in der Tür stehen; hinter ihm kreischen die Mägde vor Angst.

»Eine Axt, schnell eine Axt!«

Fräulein packt ihn am Arm; sie ist so bleich wie er.

»Die Auserwählten!« flüstert sie.

»Um Gottes Willen! Sie könnten den Brandgeruch merken, das Prasseln hören. Die Zellen drüben sind sicher – vorläufig, – diese hier nicht; wenn sie jetzt durch die grüne Stube gelaufen kämen!« Er erteilt dem Verwalter seine Befehle, kurz und bündig, bleibt stehen und denkt einen Augenblick nach: dann geht er hinaus in den Gang und hinüber ins »Konsistorium«.

Mitten auf dem Fußboden sitzt der »Pfarrer«, das Gesicht dem Kamin zugewandt, und um ihn her kauern die Auserwählten und untersuchen aufmerksam seine ausgestreckten Hände.

»Seht, liebe Kinder,« sagt der Inspektor scheinbar vergnügt, »gleich sind wir so weit. Aber die Christmesse ... Unser lieber alter Pfarrer ist krank; was fangen wir da an? Sie müssen die Predigt halten, Ehrwürden; wollen Sie?«

Der »Pfarrer« erhebt sich, richtet seine tiefen Augen mit dem in sich gekehrten Blick auf den Inspektor und sagt leise: »Uns ist heute der Heiland geboren!«

»Er ists. Kommt alle und laßt uns hinüber in die Kirche gehen.« Der Inspektor führt die Auserwählten die Treppe hinab, hinaus in den langen Klostergang, wo die kalte Dezemberluft durch ein klapperndes Fenster hineinpfeift. Jetzt stehen sie in der uralten Kirche mit den vier dicken Säulen in der Mitte, die die Kuppel tragen, und den hohen, schmalen Fenstern.

»Nun hole ich unser Fräulein!« sagt er, zündet die Gasflamme am Eingang an, dreht den Schlüssel im Schloß hinter sich um und eilt zurück. Eben rollt die Spritze vom Magazin durch den Hof über den knirschenden Schnee, und von dem Flügel her, wo die Zellen sind, klingt durch das klappernde Fenster das Brüllen des »gefangenen Löwen« und das idiotische Lachen der »Primadonna« herüber.

Als der »Pfarrer« die Kanzel erblickt, stürmen alte Erinnerungen aus seiner Vergangenheit auf ihn ein. Er steigt hinauf und beugt seinen Rücken über das Pult hinweg den emporgerichteten Häuptern zu, deren Schatten wie ungeheure Fledermäuse über die weiße Decke des Altars mit seinen großen Armleuchtern hinhuschen. Dann streckt er den Arm aus und singt. Mählich stimmen alle mit ein; Kirsten-»Braut« singt im Jubel der Erwartung aus voller Brust. In ihrer Kindheit sang sie im Kirchenchor mit.

Auf! Der Tag ist nun erwacht,
Der die Welt glückselig macht;
Und in alle Herzen ein
Dringt der Gnade Sonnenschein.

Der Pfarrer faltet die Hände und richtet den so lange in sich gekehrten Blick der tiefen Augen zur Decke empor. Dann predigt der Irre vor Irren: »Und das Licht leuchtete in der Finsternis und die Finsternis verstand es nicht. Denn ihn, der uns zur Erlösung gesandt ist, ihn ergriffen sie und nagelten ihn ans Kreuz. Ihn ... ihn schlugen sie ans Kreuz.«

Kirsten birgt das Gesicht in die Hände und schluchzt laut um ihren strahlenden Bräutigam.

»Für dreißig Silberlinge verrieten sie des Menschen Sohn mit einem Kuß, – hört ihr: mit einem Kuß! Es steht geschrieben: Ihr sollt nicht ehebrechen, und ein jeglicher, der ein geschiedenes Weib zur Ehe nimmt, bricht die Ehe. Und er weigerte sich, sie zu trauen. Der Minister sagte, daß das Gesetz es heische, aber er weigerte sich trotzdem. Der König befahl es ihm, aber er tat es nicht. Denn es stehet geschrieben: Du sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen. Da ergriffen sie ihn und schlugen ihn ans Kreuz zwischen zwei Schächern.«

Kirstens Wehklage tönt von der Wölbung wider.

Der Kaufmann kauert sich in seinem Stuhl zusammen und stöhnt mit zitternder Stimme: »Ich wars nicht, der ihm die Silberlinge gab.«

»Ja, du warst es!« donnert der Pfarrer von der Kanzel herab. »Ich kenne dich wieder, deinen schwarzen Bart und deine schwarzen Augen! Du warst es, ders in die Zeitungen setzte, du warst es, der ihn kreuzigte!«

Karen richtet ihre bleichen Augen auf den zitternden Juden und sagt: »Wir wollen ihn ergreifen und auch ihn ans Kreuz schlagen, auf daß ihm vergolten fei!«

Kirsten fährt mit geballten Fäusten auf ihn los. Ihr Antlitz brennt und ihre wilden Augen sprühen.

»Setze dich nieder, Weib!« befiehlt der Pfarrer; »denn als er am Kreuze hing, erhob er seine Stimme und sagte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Aber in der sechsten Stunde kam Finsternis über das ganze Land. Und siehe: da öffnete der Himmel seine Pforten und Blitze fuhren hernieder aus der Hand des Gewaltigen. Und die Pharisäer, die am Fuß des Kreuzes standen, sagten untereinander: Niemals sahen wir ein solches Wetter! Aber ein Feuerregen fiel herab, so daß der Himmel sich spaltete vom Scheitel bis zur Sohle. Und das Antlitz des Allmächtigen wurde sichtbar und hinter ihm die drohenden Heerscharen der Engel. Da entsetzten sich die Pharisäer und riefen: Herr, wenn Du willst, gebiete dem Feuer Einhalt! Und in ihrer Angst knieten sie nieder und flehten: Herr, wenn es Dein Wille ist, höre auf mit Deinem Zorn, so wollen wir Dich herabnehmen und zum Könige krönen. Aber er würdigte sie keiner Antwort. Der Himmel war wie ein Feuermeer anzuschauen. Die Tiere auf dem Felde brüllten und riefen mit Menschenzungen: Herr, weshalb schlägst Du uns? Weshalb suchst Du an uns heim, daß die Herzen der Menschen böse sind von Jugend auf? Und zum dritten Male sielen die Pharisäer nieder und riefen: Herr, stille den Zorn Deines Vaters, so wollen wir Dich herabnehmen vom Kreuz und niederfallen und Dich anbeten als Gottes eingeborenen Sohn! Da erhob der Erlöser sein Antlitz zu dem Allmächtigen und rief: Vater, Du kanntest sie besser als ich; sie wußten doch, was sie taten! Aber vergib, ihnen trotzdem um Deiner unendlichen Barmherzigkeit willen! Und siehe: die Schleusen des Himmels öffneten sich und ein dichter Regen strömte herab und löschte die Flammen. Das geschah aber in der neunten Stunde. Da erhoben sich die Pharisäer vom Fuß des Kreuzes und sprachen untereinander: Das Gewitter hat seine Zeit gedauert; auf Blitz und Donner folgt Regen. Und der Minister sagte zu den Soldaten: Laßt ihn nur hängen! Denn er wollte nicht die Geschiedenen trauen, aber es steht geschrieben, daß das Gesetz erfüllet werde. Da ward der Herr und Erlöser zornig und rief: Du böses Geschlecht! Wisse: wenn die Zeit gekommen ist, da sollen alle Sterne des Himmels herabfallen und alle himmlischen Kräfte sich rühren. Dann werdet ihr des Menschen Sohn in der Wolke kommen sehen in seiner Macht und Herrlichkeit. Und er wird seine Engel senden und seine Auserwählten versammeln vom Ende der Welt bis zum Ende des Himmels.«

Über dem hohen Kirchenfenster flackert die rote Flamme. Das Feuer im Saal hat die Balkendecke durchbrochen und aus den Fenstern züngeln die Flammen an der geschwärzten Mauer empor.

»Seht das Licht!« schreit Kirsten.

Der Pfarrer wendet sein bleiches Antlitz mit dem langen buschigen Bart dem Fenster zu. Von der hohen Kanzel aus kann er alles übersehen. Zuckende Flammen, zischende Wasserstrahlen, eilige, stürzende Menschen.

»Das Licht leuchtet!« ruft er. »Die Stunde ist gekommen. Sehet die Unsinnigen! Noch jetzt können sie es nicht begreifen.« Und er richtet sich in seiner ganzen Größe empor. Sein Antlitz ist erhellt von roten Flammen, seine Augen strahlen in überirdischem Glanz. »Seht: er kommt! Sein Kreuz hat er abgeworfen. Er kommt, um seine Auserwählten zu sammeln vom Ende der Welt bis zum Ende des Himmels.« Dann steigt er von der Kanzel herab und geht über die Galerie an der Mauer entlang, bis er das Fenster erreicht. Die Auserwählten unten in der Kirche klettern auf die Stuhllehnen und erreichen die Galerie. Und jetzt stehen sie alle wie gebannt vor dem gewaltigen Feuermeer, das den Giebel des Klosterganges umflammt.

Karen drängt Kirsten weg: »Andreas und Jens,« ruft sie, »kommt ihr endlich? Gott sei Lob und Dank!«

Kirsten-»Braut« breitet wild die Arme nach dem Licht aus und fährt in die Scheiben, die klirrend auf das Dach hinabstürzen. »Ich komme, ich komme!« ruft sie, reißt sich die Hände an der zerbrochenen Scheibe blutig und umklammert das eiserne Gitter, um hinauszugelangen.

Klein-Annchens Kind streckt seine Ärmchen der Mutter entgegen. »Mein Kind, mein süßes Kind!« ruft sie unter freudigem Schluchzen.

»Herr, ich komme!« sagt still der Pfarrer, während seine Hände vor Seligkeit beben. Dann kriecht er durch das zerbrochene Fenster; einen Augenblick tappen seine Füße in der Luft: nun steht er auf dem schmalen Dach des Klosterganges. Und er wandert mit emporgehobenen Armen den schwindelnden Steg entlang. Ihm folgen Kirsten, Karen und Annchen, alle Auserwählten, einer nach dem anderen. Zuletzt kommt der Jude, der unausgesetzt vor sich hinmurmelt, während das Licht ihn unwiderstehlich an sich zieht: »Ich wars nicht! Ich wars nicht!«

Unten im Hof stehen der Inspektor und Fräulein und alle zum Hospital gehörigen Leute sprachlos vor Entsetzen. Dann rufen sie freundliche und drohende Worte zum Dach hinauf. Aber die Auserwählten hören und sehen sie nicht; ihre Blicke hängen gebannt an den lodernden Flammen und der leuchtenden Glut der Wolken.

Während sie mit ausgebreiteten Armen auf dem schmalen Weg dem Tode entgegengehen, tönt ihr Weihnachtsgesang über die Erde:

Jetzt der Vorhang ist gefallen!
Gottes Herrlichkeit winkt allen,
In sein Heiligtum zu treten ...

Die Flammen winken ihnen schmeichelnd. Und so, unempfindlich für irdischen Schmerz, wandern sie der ewigen Heimat zu, dem Gott entgegen, der ihnen gnädig den Verstand nahm. Noch im Tode tönt ihr jubelnder Chor:

Der in die Welt das Licht gebracht,
Zum Tag verwandelt hat die Nacht
Durch seiner Glorie heilgen Schein
Halleluja! Halleluja!


 << zurück weiter >>