Clemens Brentano
Der arme Raimondin
Clemens Brentano

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

»Ich bin ein Elsässer und heiße Heinrich Winningen. Mein Vater hieß vor der Revolution von Winningen, aber er war ein eifriger Republikaner und einer der ersten, der seinen Adelsbrief und seine Wappen unter dem Freiheitsbaum verbrannte. Meine Mutter, aus einem alten französischen Geschlecht, litt unendlich durch die politische Ansicht meines Vaters, ihre Eltern waren rechtschaffene Edelleute gewesen und seit Geschlechtern Freunde von meines Vaters Vorfahren. Sie hatte meinem Vater Zwillinge geboren, mich und meine Schwester Antonie. Wir waren am Tage, da mein Vater jenes öffentliche Opfer seiner fanatischen Meinung brachte, beide vier Jahre alt geworden. Die Mutter hatte uns ein kleines Geburtsfest bereitet, wobei sie, gereizt von der damaligen Lage Frankreichs, uns allerlei Gutes von ihren Vorfahren erzählte, welche aus dem Hause Lusignan herstammten, das sich eines mythischen Ursprungs in der Nymphe Melusine rühmt. Sie besaß eine alte Handschrift von dem Roman der Melusine mit wunderschönen Miniaturen aus der Verlassenschaft ihrer Eltern und außerdem einen großen Stammbaum auf Pergament, auf welchem auch unten diese Sirene abgebildet war, wie sie sich von ihrem Gemahl trennt, weil er seinen Schwur, sie an den Tagen, da sie eine Fischgestalt hatte, nicht zu belauschen, gebrochen hatte. Auf diesem Stammbaum waren die Gesichtsbilder aller ihrer Vorfahren aus jeder Zeit nach ihrer Tracht aus Blättern und Blumen hervorgehend bunt gemalt. Er war für die Geschichte der Kunst und der Kleidersitte von ungemeiner Wichtigkeit und von so ungemeinem lebendigem Reiz, daß ich ihn nie wieder vergessen konnte, wenn ich ihn gleich an meinem vierten Geburtstage zum ersten und letzten Male gesehen habe. Die gute Mutter rollte den schönen Bilderbaum, wie wir ihn nannten, nach und nach vor uns auf. Zuerst sahen wir nichts als die schöne Meerfei Melusina und hörten ihre Geschichte mit kindischem Entzücken. Dann rollte sie weiter auf und erzählte uns einige Züge von jedem Bildchen, das in einer Blume saß; denn in solchen waren immer die ausgezeichneten ihrer Vorfahren abgebildet worden. Als wir schon beinahe zum höchsten Gipfel gebildete hatten und der Großvater und Großmutter aus zwei Lilien schauend uns viele Freude gemacht hatten, sagte die Mutter: ›Wer kömmt nun?‹ ›Du, liebe Mutter!‹ erwiderte meine Schwester Melusine; ich aber sagte: ›Der Vater kömmt‹, und wendete mich gegen die Türe; denn ich hörte seinen raschen und festen Schritt die Treppe herauf. Die Mutter ward sehr ernsthaft und wollte den Stammbaum schnelle in ihren Schreibeschrank verschließen, aber wir Kinder waren von Schauen und Hören so bewegt, daß wir uns an das Kleid der Mutter mit freudiger Angst anhielten und baten, sie möge den schönen Bilderbaum uns erst auszeigen bis auf das alleroberste Blättchen, und der Vater müsse ihn auch sehen, den wir aufforderten, seine Bitten mit den unsrigen zu vereinen. Die Mutter stand, den Schlüssel in der Hand, verlegen bei dem Schranke, der Vater war freundlich und sagte: ›Ich werde euch auch einen Baum zum Geburtstage schenken; aber‹, wendete er sich zur Mutter, ›Citoyenne, warum verbirgst du bei meinem Eintritt, womit du den Kindern in meiner Abwesenheit Freude machtest?‹ Bei dem Worte ›Citoyenne‹ veränderte meine Mutter die Farbe, der Vater nannte eine geborne Marquise zum ersten Male so; doch, unsre Gegenwart achtend, sammelte sie sich und erwiderte mit einem begütigenden, aber doch schmerzhaften Lächeln: ›Weil eine Citoyenne nicht auf solchem Baume gewachsen ist; es war mein Stammbaum.‹ Der Vater schüttelte leis tadelnd den Kopf und sprach: ›Oh, wohl ist eine Bürgerin auf deinem Stammbaume gewachsen; das Vaterland hat einen freien Boden gewonnen, falle ab, liebe Frucht, und werde ein neuer Stamm!‹ Dabei reichte er ihr freundlich die Hand. Sie erwiderte dies, aber lässig nur mit einem Finger. Der Vater, dadurch gekränkt, hielt diesen Finger in seiner Hand fest, näherte sich ihr und sprach: ›Ist dieser Finger das einzige Zweiglein des Lusignanischen Stammes, dessen die Hand des Bürgers Winningen nicht unwürdig ist?‹ Die Mutter antwortete hierauf tief gekränkt: ›Mein Herr, ich gab die Hand einer Fräulein von Lusignan an den Baron von Winningen, für einen Bürger Winningen habe ich keinen Finger übrig.‹ Und bei diesem Schlusse riß sie mit der Hand und wollte meinem Vater ihren Finger schnell entziehen, er aber hielt sie fest dabei und sprach mit drängender Angst: ›O Melusine, Melusine, besinne dich, du redest ein hartes Wort.‹ Da ward die Mutter heftiger, weil er sie nicht losließ, und sprach, indem sie den Kopf scheinbar verwundert emporrichtete: ›Wie? Kann ein Edelmann, der das ganze Heiligtum seiner Geschichte, der die Ehre seiner Geschichte umsonst veräußert, ein so feines Gefühl haben, die Wahrheit hart zu finden? O feines Gefühl eines Bürgers!‹ Da stieg meinem Vater das Blut ins Gesicht, und mit dem heftigen Ausruf: ›Denke, denke, du Marquisenfinger, daß du in der Hand eines Bürgers warst!‹ kniff er der Mutter so heftig in den Finger, daß sie laut aufschrie: ›Weh, weh, ich Unglückselige!‹ Da riß sie sich von meinem Vater los, aber der Treuring, den ihr mein Vater abgezogen hatte, rollte an die Erde fallend in die Stube. Wir Kinder weinten, ich suchte den Ring, meine Schwester hielt die Knie der Mutter umarmt, die sie mit sich in ihr Kabinett riß, das sie hinter sich verschloß. Ich reichte dem zürnenden Vater den Ring, er sah ihn mit heftiger Bewegung an und nahte der Türe des Kabinetts und rief hinein: ›O Melusine, heute ist es vier Jahre, daß wir uns vermählten.‹ Die Mutter noch in heftiger Bewegung rief weinend und schluchzend: ›Des Edelmanns Hand ist grausam wie die Hand eines Henkers geworden, es hätte nicht bedurft, mir den Finger zu zerbrechen, um mir den Ehering zu nehmen, das Herz ist mir längst gebrochen. Ich habe nichts mehr mit Ihnen gemein.‹ Da steckte der Vater den Ring an seinen Finger, sah ihn lange an, rang dann die Hände, und heftig auf- und abgehend sprach er mit sich, wo ich öfter die Worte hörte. ›O mein Vaterland, ich muß dir ein schweres Opfer bringen, es muß biegen oder brechen.‹ Ich hatte mich währenddem wieder an den Stammbaum geschlichen, der auf der niedergelassenen Schlußplatte des Schreibschrankes lag, und versuchte umsonst der großen Pergamentrolle, welche sich immer wieder zusammendrehte, mächtig zu werden. Da meine Begierde zu sehen durch das Einzelne, was mir immer wieder von dem zusammenrollenden Pergament verborgen wurde, noch mehr wuchs, rief ich den Vater zu Hilfe mit den Worten: ›Vater, zeige mir die Mutter auf dem Baum, und mich und Lusine!‹ So nannte man meine Schwester. Der Vater war schon wieder ruhiger und rollte das Bild bis oben auf. Da war meine Mutter in einer Lilie sitzend abgemalt, und ich und meine Schwester waren auch sehr lieblich auf zwei Knospen sitzend abgebildet, und die Mutter deckte uns mit einem Schilde vor einer dreifarbigen Schlange, welche, eine rote Mütze im Maule tragend, sich an dem äußersten Gipfel emporringelte. Sie hatte uns beide und die Schlange selbst drauf gemalt. Der Vater war von ihrer Kunst und der tiefen Mutterliebe in der Darstellung seiner Kinder ganz gerührt. ›Welches Weib, welche Mutter!‹ rief er aus und nahte sich der Kabinettstüre, durch welche er zu der Mutter sprach: ›Melusine, wie allerliebst hast du die Kinder gemalt; aber sage, was soll die Schlange, Melusine, wen meinst du mit der Schlange?‹ Die Mutter antwortete lange nicht, und als er immer dringender ward, sprach sie: ›Niemand anderen als Sie selbst, mein Herr.‹ Da ward mein Vater sehr verändert und antwortete kalt: ›Nein, Sie meinten die alte Schlange, die Hoffart, welche das Weib schon im Paradiese verführte.‹ Nun nahm er mich bei der Hand und sagte: ›Komm, Raimondin, ich will dich zu einem lebendigen Baume führen.‹ Den Stammbaum hatte er noch unter dem Arme, in seiner Stube nahm er mehrere andre Dokumente mit, und so ging er, schneller als es meinen kleinen Beinen bequem war, mit mir auf den Platz, wo der Freiheitsbaum mit der roten Mütze drauf und von tausend dreifarbigen Bändern durchwimpelt von einem weiten Kreise vieler Menschen jedes Alters, Geschlechtes und Standes, die sich einander bei den Händen gefaßt hatten, umtanzt wurde. Dazu sangen sie Ça ira, von den Musikanten begleitet, die neben dem Baum spielten, bei dem ein Feuer brannte. Alles das machte einen heftigen Eindruck auf mich; ich war in meinem Leben wenig auf die Straße gekommen und zu Fuße mitten ins Getümmel nie. Als einige der Tanzenden meinen Vater bemerkten, schwieg die Musik, und der Kreis nahm ihn in seine Mitte auf. Da hielt er unter beständigem Beifallgejauchze eine Rede, bei welcher er so in Eifer geriet, daß ihm die Tränen herabflossen, und als er geendigt hatte, gab er mir die Dokumente und Schriften, die er bei sich hatte, und befahl mir, sie in das Feuer zu werfen. Ein Kind und betäubt von dem Tumult um mich her, wußte ich nicht, was ich tat. Ich trug die Rollen ins Feuer, und alles klatschte umher in die Hände. Aber welcher Jammer ergriff mich, als sich die eine Rolle von der Glut zusammengezogen etwas aufwand und ich stolz nach meinem Werke sehend bemerkte, daß ich den herrlichen Bilderbaum der Mutter verbrannt habe; ach, es war mir, als sähe ich die gute Meerfrau Melusine sich in den Flammen winden, und wie rasend wollte ich in die Flammen springen, die Rollen herausreißen, aber mein Vater hielt mich zurück und achtete nicht auf mein Geschrei: ›O ma pauvre Mélusine, Raimondin t'a brûlé le cœur!‹ In dem Augenblick begann die Musik den Carmagnoletanz. Ein Weib, welches das Holz zu dem Feuer in einem Korbe herbeigetragen hatte, der ihr noch auf dem Rücken hing, setzte mich in diesen Korb, und da der Kreistanz, dem sie sich anschloß, wieder begann, mußte ich mittanzen, und mein Geschrei wurde von dem allgemeinen Getümmel übertobt. Bald entstand eine Unterbrechung. Mein Vater ward von Herrn de Lescure, einem Freunde meiner Mutter, aus dem Kreise gezogen. Sie sprachen heftig miteinander, den Inhalt dieses Gesprächs erzählte mir mein Vater nachmals. Lescure sprach: ›Herr Baron, ein Auftrag Ihrer Frau Gemahlin zwinget mich, Sie an einem so unanständigen Orte aufzusuchen. Sie begehrt dringend ihre Familiendokumente von Ihnen, welche sie vermißt.‹ Mein Vater erwiderte: ›Das Feuer hat sie verzehrt; wollen Sie die Asche vielleicht sammeln, so verbrennen Sie sich die Finger nicht! Meine Frau in hätte niemanden besser wählen können, um mich zu ärgern, als Sie. Sie hat wohl Lust, mir, da ich mein Wappen mit dem Adler verbrannt, ein neues zu geben, in welchem Sie als Kuckuck paradieren wollen. Wie können Sie es wagen, mich hier mit Baron anzureden? Bedenken Sie, daß man Ihnen den Hals brechen wird, so ich Ihre Art zu reden laut werden lasse. Gehen Sie, meiden Sie mein Haus, am besten aber das Land!‹ Da erwiderte Lescure mit tiefem Unwill: ›Mein Herr, ich eile, Ihnen das Maß meines Degens anzubieten; Ihre Ehre ist so im abnehmenden Lichte, daß ich fürchte, wenn wir den Gang verschieben, möchte mir es zur Schande gereichen, Ihnen gegenüberzustehn.‹ ›Ich bin es zufrieden, Sie möchten mir sonst davonlaufen mit der Erklärung, die ich Ihnen hier gebe, daß Sie ein Elender sind.‹ Lescure sagte kalt hierauf: ›Sie werden noch mehrere dazu machen, die es nicht verdienen, da Sie bei sich selbst anfingen. Meine Geschäfte sind geordnet, so es die Ihrigen auch sind, folgen Sie mir!‹ Mein Vater nahm die Aufforderung an. Er kam, eh er wegging, zu der Frau, die mich trug, und da er sah, daß ich in dem Korbe eingeschlafen war, küßte er mich und befahl ihr, mich nach ihrer Wohnung zu nehmen, bis er mich abholen werde. Dann ging er mit Lescure. Dieses Weib war die Witwe eines Gärtners, die sonst allerlei Dienste in unserm Hause getan hatte, und sie wohnte nicht fern von uns. Ich erwachte in ihrer kleinen Kellerstube, und da ich sehr nach Papa und Mama schrie und immer klagte, que javais brûlé le cœur à la bonne fée Mélusine, erzählte sie mir, um mich zu trösten, das Märchen von der Melusine ausführlich und ließ mich mit einigen Kaninchen spielen, welche sie in ihrer Kammer ernährte. So kam der Abend, ohne daß mein Vater sich einstellte, und ich mußte ihr unterdessen blaue, rote und weiße Garnstränge halten, die sie auf Knäule wickelte, um Kokarden draus zu stricken. Da ich schläfrig ward, legte sie mich auf ihr Bett, wo ich entschlief. Es mochte um Mitternacht sein, als ich erwachte und den Diener meiner Mutter, Royer, neben der Frau am Tische sitzen sah. Er zählte ihr Geld auf, gab ihr allerlei Kleider, und sie weinten beide heftig. Da ich Royer erblickte, rief ich ihn beim Namen, worüber er heftig erschrak, an das Bett trat und, indem er mich auf seine Arme nahm, zu mir sagte: ›Ach, mein lieber Raimondin, ich suchte dich den ganzen Tag, wie kömmst du hierher?‹ Dann geriet er mit Toinette - so hieß die Frau - in einen lebhaften Wortwechsel, den sie mir später selbst erklärte. Meine Mutter wollte in dieser Nacht mit uns Kindern über den Rhein entfliehen, wohin de Lescure, der meinen Vater stark verwundet hatte, früher schon entwichen war. Royer sollte sie begleiten, er war ihr sehr anhänglich und von ihrem Vater erzogen worden. Den ganzen Tag hatte er nach mir suchen müssen und kam jetzt, von Toinette, mit der er versprochen war, Abschied zu nehmen. Sie hatte mich ihm verborgen, weil sie von der Wohltätigkeit meines Vaters lebte. Als arme Dienstboten konnten sie nicht auf die äußersten Spitzen der öffentlichen Meinung treten, sie sangen dessen Lied, dessen Brot sie aßen, und wenn sie beieinander saßen, sangen sie ihr eignes, das sehr vermittelnd klang. Royer gab der Toinette bald nach, welche nicht zugeben wollte, daß er mich zu meiner Mutter bringe, die mich meinem Vater entführen wollte, weil sich dieser nachher an sie halten werde. Aber Toinette gestand auch dem Royer zu, daß es nicht vorteilhaft für sie sei, daß sie mich bei sich versteckt halte, man wisse nicht, wie die öffentlichen Händel ablaufen würden, und wenn mein Vater an seiner Wunde stürbe, so habe sie mich auf dem Hals und könne in allerlei Händel verwickelt werden. Überhaupt sei ich hier hinderlich, da er sich scheue, in meiner Gegenwart recht offenherzig vor ihr zu sein, weil ich ein aufmerksamer Junge sei und ihre Unterhaltung verraten würde. Über diesen ihren Erklärungen war ich wieder entschlafen, und sie wurden einig, daß mich Royer unter seinem Mantel nach Haus tragen und mich dort in mein Bett legen sollte. Da meine Mutter mit meiner Schwester und ihrer Kammerfrau schon an den Rhein gegangen sei, werde man glauben, sie habe mich freiwillig meinem Vater zurückgelassen, wenn man mich morgen fände. Er selbst wolle gleich wieder zu ihr kommen, da er mit einigem Gepäck erst morgen früh überfahre. So trug er mich nach Haus und brachte mich zu Bett, ohne daß ich erwachte, und verschloß dann das Haus.


 << zurück weiter >>