Clemens Brentano
Die Schachtel mit der Friedenspuppe
Clemens Brentano

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Hierzu ließ sich nun Frenel bereit finden, und erzählte folgendes:

»Der Chevalier Montpreville war Witwer; er hatte eine einzige Tochter, die ihrer verstorbenen trefflichen Mutter nicht würdig war, doch durfte man sie damit entschuldigen, daß sie ihre Mutter früh verloren und ihr Vater eben nicht glücklich in der Wahl ihrer Erzieherinnen mag gewesen sein. Er hatte einen Geschäftsfreund, den Advokaten Sanseau; dessen Frau, welche auch eine Tochter und einen Sohn hatte, ward die Pflegemutter der Mademoiselle Montpreville. Als sie erwachsen war, nahm sie der Chevalier wieder zu sich, denn er liebte sie, als sein einziges Kind und den letzten Sprossen seines Hauses, das mit ihr erlöschen sollte. Die Revolution brach aus, die Prinzen, der Adel wanderten aus. Der Chevalier blieb; er wagte es weder sein Kind zu verlassen, noch sie dem Verlust seiner Güter auszusetzen, überdies lebte er einsam und ohne Zusammenhang mit dem Hofe. Sein Ratgeber war immer der Advokat Sanseau, dessen Familie seine Tochter fleißig besuchte, und dort recht in eine Schule des neuen Systems ging. Der Advokat Sanseau war ein naher Verwandter des bekannten Bierbrauers und großen Revolutionärs Sanseau. Dieser besuchte täglich sein Haus, und wenn der Advokat nicht ganz in sein System einging, so war es nur, um sich mancherlei Verhältnisse mit Andersgesinnten zu schonen, die ihm einträglich waren. Er suchte nach und nach überzutreten, doch sein Sohn und seine Tochter standen schon mitten im Haufen der Freien und Gleichen. Mademoiselle Sanseau wurde einst von dem Bierbrauer eingeladen, die Freiheit bei einem allegorischen Zuge vorzustellen, und da Mademoiselle Montpreville zugegen war, machte er ihr den Antrag, die Rolle der Gleichheit zu übernehmen. Sie hatte große Lust dazu, nur fürchtete sie, ihren Vater, der solche Grundsätze noch nicht bekannt hatte, dadurch zu kränken. Der junge Sanseau, welcher bereits einen Teil der Geschäfte seines Vaters übernommen hatte, und als einer der feurigsten republikanischen Redner im Klub und an den Straßenecken bekannt war, war schon seit mehreren Jahren der Liebhaber der Mademoiselle Montpreville. Der Advokat, sein Vater, unterstützte dieses Verhältnis in der Stille, weil er noch die Gesinnungen des Chevaliers fürchtete, den er nach und nach zu dem neuen System, und endlich zu dieser Verbindung zu stimmen gedachte.

Zu dem Feste hatte der junge Sanseau mehrere Gedichte verfertigt; er bestürmte seine Geliebte, die Mademoiselle Montpreville, die Rolle der Gleichheit zu übernehmen, und sie wich endlich seinen Beschwörungen, und ihrer Eitelkeit, öffentlich zu erscheinen. Der Gleichheitsrock wurde geschneidert und angezogen. Der dezenteste war er eben nicht; die Gesellschaft fand die Mademoiselle bezaubernd, der junge Sanseau umarmte sie, und der ganze Unterschied zwischen ihr und der schlechten Gesellschaft, in der sie sich befand, ihre Unschuld, gingen an diesem Tage verloren. Sie waren alle frei und gleich, obschon sie eine ziemlich garstige Gleichheit vorstellte, denn sie war häßlich; und so gleich und eben sie überall war, wo man Unebenheiten nicht uneben findet, so war sie doch auf der einen Schulter etwas zu uneben, und die Pariser Witzlinge bemerkten, als sie in dem Tempel der Vernunft spazierte, daß sie etwas hautaine, daß sie eine Achselträgerin, daß sie noch nicht ganz gleich sei. Der Advokat schien den Schritt der Mademoiselle Montpreville zu ignorieren, aber er benutzte ihn; er bearbeitete den Chevalier zu dem Entschluß, auf seinen Adel zu resignieren, um sein Vermögen zu retten. Der Chevalier war beinahe entschlossen; den letzten Stoß sollte eine rührende Szene geben. Am Abende vor dem öffentlichen Feste lud er den Chevalier zu sich ein. Da erschien auf einer kleinen Bühne der junge Sanseau als der Patriotismus, der zum Kampfe ziehen wollte; er sah die Noblesse, Mademoiselle Montpreville, unter einem Stammbaum mit vielen Wappen schlummern, der, vom Blitze getroffen, niederzustürzen und sie zu zerschmettern drohte; er bedauerte ihre Gefahr, er wollte sie wecken. Da erschien ein Liebesgott in dem Baum, und schoß ihm einen Pfeil in das Herz. Der im Baum herumkletternde Liebesgott brach mehrere Äste nieder, der Patriotismus riß die Noblesse auf, er machte ihr seine Erklärung. Der Liebesgott schoß auch Ihr einen Pfeil in das Herz, doch zierte sie sich noch, ehe sie sich ergab. Sie umarmte den Stammbaum, da führte sie der Patriotismus in den Tempel der Freiheit; diese riet ihnen, sich eine Hütte aus dem alten Stammbaum zu bauen, und kleidete die Noblesse als Egalité ein, und nun stürzte sich die Egalité und der Patriotismus dem Chevalier Montpreville zu Füßen und baten um seinen Segen. Der Chevalier war überrascht, aber er war nicht ungeneigt; auch wäre Weigerung gefährlich gewesen, denn das ganze Festspiel war unter den Augen und dem lauten Beifalle der heftigsten Jakobiner, die der Bierbrauer mitgebracht hatte, vorgegangen. Der Chevalier gab seine Einwilligung, seinen Segen, der Stammbaum ward niedergerissen, ja der wirkliche Stammbaum des Chevaliers, welchen der Advokat unter anderen Papieren im Hause hatte, ward herbeigebracht und auf dem Altar des Vaterlandes verbrannt. Der Chevalier weinte dabei: ›Tränen der Rührung‹ rief der Patriotismus aus, und die Gleichheit setzte ihm eine Bürgerkrone auf, worauf der Bierbrauer ein ›Vive la nation, vive la liberté, vive l'égalité, vive le citoyen Montpreville!‹ ausrief, das die ganze Gesellschaft nachbrüllte, worauf das Fest mit Champagner und Ça ira geschlossen wurde. Am folgenden Tage ging die Citoyenne Montpreville als etwas bucklichte Egalité neben der Liberté, Citoyenne Sanseau, im öffentlichen Aufzuge, und am Abend ward sie von dem Maire zur Citoyenne Sanseau erklärt. Der alte Montpreville nahm das junge Paar in sein Haus; sein Schwiegersohn war ein Taugenichts, seine Tochter nicht viel besser. Die frechen Reden und Handlungen seiner Kinder bewegten den Vater oft zu Ermahnungen, und nun nannte man ihn einen Aristokraten. Der Advokat starb, mit ihm verlor Montpreville seinen letzten Beistand gegen die Insolenzen des Schwiegersohns, dem er zu lange lebte. Sein Unglück wuchs mit jedem Tage, und so entschloß er sich endlich, um seine Tochter und ihren Mann zu bestrafen, wieder zu heiraten. Eine jüngere Freundin seiner verstorbenen Frau, arm und ohne Unterstützung, die ihm aus der Provinz ihre Lage geschildert hatte, war sein Augenmerk. Er besuchte sie, er brachte sie als sein Weib zurück. Er trennte sich von seinen undankbaren Kindern, und hatte bald die Freude, daß ihm seine Gattin ihre Schwangerschaft ankündigte. Montpreville verschwieg seinem Schwiegersohne seine Hoffnung, er wollte seines Glückes erst recht gewiß sein. Aber der Arme sollte diese Freude nicht erleben. Er starb im fünften Monate vor meiner Geburt, denn ich bin die Frucht dieser Ehe, und ließ eine tiefbetrübte Witwe zurück. Sanseau hatte kaum den Tod meines Vaters erfahren, als er unter den beleidigendsten Äußerungen mit einigen Gerichtspersonen seines Gelichters in die Wohnung meiner Mutter drang, um sich in den Besitz der Verlassenschaft meines Vaters zu setzen. Meine Mutter saß weinend in ihrem Kabinette, sie war fremd, und hatte, da sie der verwilderten Zeit wegen sehr einsam gelebt, keine Freunde und keinen Beistand. Endlich drangen Sanseau und der Kommissair auch in dieses Gemach, und Sanseau kündigte ihr auf die beleidigendste Art an, sie möge ihr Bündel schnüren und in Zeit von vierundzwanzig Stunden das Haus verlassen, denn alles, was hier zurückgeblieben, sei sein rechtmäßiges Eigentum. Meine Mutter stellte ihm mit bittern Tränen vor, er möge sie jetzt doch nicht in ihrem Schmerze mißhandeln und dies Haus, das der Leichnam ihres Gatten und seines Schwiegervaters noch nicht verlassen habe, nicht durch seine Gewalttätigkeiten schänden. Aber er setzte ihr mit solcher Härte und Grausamkeit zu, daß sie endlich in der Bitterkeit ihres Schmerzes ausrief: ›Mein Herr, wenn Sie mein Geschlecht und meinen Stand, wenn Sie die Gattin Montprevilles, wenn Sie den Leichnam Ihres Schwiegervaters nicht ehren, so haben Sie Achtung vor seinem Kinde, das ich seit fünf Monden unter meinem Herzen trage.‹ – Sanseau war hierdurch stumm gemacht; der Kommissair sagte zu ihm: ›Citoyen, hier ist jetzt nichts mehr für Sie zu tun.‹ Er faßte über die Aussage meiner Mutter ein Instrument ab, und die Barbaren verließen das Haus unter Fluchen und Schimpfen. Sie ergab sich ihrem Schmerz, die Leiche meines Vaters ward zur Erde bestattet, und die Unglückliche lebte bis zur Zeit meiner Geburt mit einer treuen Magd, einsam und fromm, doch nicht ohne mannigfaltige Kränkung von Seiten Sanseaus, der ihr mehrmals drohte, sie untersuchen zu lassen, weil er ihren Zustand für verstellt halte, und der ihre Wohnung beständig von seinen Kreaturen bewachen ließ, damit sie nicht etwa inzwischen etwas aus der Verlassenschaft des Vaters verschleppe. Endlich fühlte meine Mutter die Stunde meiner Geburt nahe. Sie schickte den Diener meines Vaters nach der Hebamme, aber ich schien zu ungeduldig, auf diese traurige Welt zu kommen: die Hebamme kam zu spät; meine Mutter brachte mich unter dem Beistande ihrer Magd zur Welt. Als der Diener mit der weisen Frau zurückkam, schickte ihn meine Mutter sogleich an Sanseau, um ihm meine Geburt bekannt zu machen. Die Wut und die Verzweiflung dieses Elenden und seines Weibes war nicht auszusprechen; sie erklärten, sie würden sich, sobald es schicklich sei, von meinem Dasein überzeugen. Morgens war ich geboren, und als gegen Abend die Wöchnerin etwas Ruhe in ihrem Gemach begehrte, und das Gesinde in dem Vorsaal sich zusammen an das Kamin setzen wollte, fand die Magd auf einem Stuhle am Fenster in einer Schachtel, in dieser Schachtel, die Sie alle kennen –«

»O Jesus!« schrie hier Madame Frenel auf, »o ich Unglückliche! Ich habe sie hingesetzt, ich war dazu gezwungen! –« und ihre Sinne verließen sie.

»Unseliges Weib!« rief hier Frenel aus, »du hast die Leiche des neugeborenen Kindes hingesetzt; du, mein Weib, mußtest mich um alles bringen!« Hier sprang er auf, und überließ sich einer vollkommenen Verzweiflung. Mit vieler Mühe brachte ihn der Baron und der Gerichtshalter zur Ruhe. Antoinette wurde in das Gemach der Baronin gebracht, und Frenel erzählte, als er sich gefaßt, doch nicht mehr so ruhig als zuvor: »Sie fanden die Leiche eines Kindes, nackt, nur mit einem Vorhange bedeckt. Sie waren bestürzt, sie scheuten sich, es meiner Mutter zu sagen. Endlich übernahm es die Amme, das Kind, da es bereits dämmerte, wegzutragen und zu begraben; aber kaum war sie vor der Türe, als Sanseau und seine Gattin ihr begegneten, sie aufhielten, sie untersuchten, und das Kind, das sie, um es besser zu verbergen, aus der Schachtel in ihre Schürze genommen hatte, entdeckten. Sie lärmten, sie riefen Zeugen, sie gingen zum Kommissair des Viertels, der Prozeß eröffnete sich, man erklärte mich für untergeschoben, und das tote Kind für die Frucht meiner Mutter. Sanseau ward zum Erben eingesetzt, meiner Mutter blieben 30 000 Livres, die ihr als Wittum in den Ehepakten ausbedungen waren, und ich selbst durfte den Namen meines Vaters nicht tragen. Sie fand an ihrem Arzt einen rechtschaffenen Mann, der ihr das Leben zwar nicht erhalten konnte, aber sie doch in der Hoffnung sterben ließ, daß er mir die 30 000 Livres, die sie mir als eine Schenkung versicherte, weil ich als ihr rechtmäßiger Erbe nicht anerkannt war, treu bewahren und, als mein Vormund, sich meiner annehmen werde.

Dieses, meine Herren, ist meine Geschichte. Sollte ich nicht erschrecken, als ich hier diese unglückliche Schachtel wieder sah, deren Inhalt mich um Mutter, um Hab und Gut, um Ehre und Namen gebracht, und nun, nun muß ich gar erfahren, daß mein Weib, die ich über alles zärtlich liebte, diese unselige Schachtel dort hingesetzt hat! O das ist, um sich den Tod zu geben! Und es ist bestimmt dieselbe Schachtel, denn die Mutter der Trödlerin, bei welcher Sie sie gekauft haben, Herr Baron, ist dieselbe vertraute Magd meiner Mutter gewesen, welche ihr in ihrer Geburtsstunde beigestanden. Sie erzog mich bis in mein achtes Jahr, und hat mir oft von der Schachtel erzählt. Nachher kam ich in eine Pension. Die bonne Marguerite, so hieß die Magd, heiratete den Trödler; ich bin oft aus der Schule mit meinen vertrauten Kameraden bei ihr gewesen, um diesen die fatale Schachtel zeigen zu lassen. Übrigens ward mir diese unselige Geschichte noch die Veranlassung zu manchem Verdruß, meine Mitschüler schimpften mich Wechselbalg, und ich mußte mich darum oft abwechselnd mit ihnen balgen. Als ich endlich in die Konskription fiel, hatte ich auch mit manchem meiner Kameraden darum Händel, wenn ich gleich vor den Kugeln der Feinde immer glücklich davon kam. Bei dem Brande von Moskau, als ich durch die Straßen irrte, um irgend jemand zu retten, sprang mir Antoinette aus dem Hause ihres Vaters entgegen, und flehte mich auf französisch um Hülfe gegen einige trunkene Plünderer an, die sie verfolgten. Ich war Sergeant, ich befahl ihren Verfolgern, sie in Ruhe zu lassen, führte sie in ihre Wohnung zurück, und trat in die Türe mit gezogenem Degen. Die Gegner schimpften mich; es mochte mich einer kennen, sie schimpften mich Wechselbalg, ich drang mit dem Degen auf sie ein, es gelang mir, sie gut zu bezahlen; aber auch ich hatte mein Teil; ich sank, von mehreren Wunden entkräftet, unter ihrer Türe. Ich ward in das Haus gebracht, sie pflegte mich, ich lernte sie lieben. Der Rückzug der Armee begann, ich war vergessen. Ich genas, ich zeigte mich dem Gouverneur als Gefangener an, der Aufenthalt ward mir vergönnt, ich half meinem Schwiegervater in seinem Geschäft, der Frieden ward geschlossen, ich heiratete Antoinetten, sie ist zwei Monate mein Weib, wir ziehen nach Frankreich, mein Vermögen in Besitz zu nehmen, und hier muß ich auf eine so überraschende Art erfahren, daß sie, die ich über alles liebe, an jenem mir gespielten Betruge teilhat! – Doch, meine Herren, ich muß nun alles wissen; Sie werden nicht zweifeln, daß ich im höchsten Grade gespannt bin, die Auflösung einer Intrige zu erfahren, die mir so teuer zu stehen gekommen ist. Erlauben Sie, daß ich mich zu meiner Frau begebe, um von ihr zu erfahren, auf welche Weise sie Teilnehmerin eines so schändlichen Betruges geworden ist.«

»Ihre Frau ist zu jung«, sagte der Baron, »um wissentlich Anteil an diesem Handel gehabt zu haben.«

»Sie ist nur vier Jahre älter als ich«, erwiderte Frenel, »man wird sie gemißbraucht haben, wie mich selbst; aber es ist doch ein schreckliches Ereignis, das sie befleckt.«


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