Clemens Brentano
Aus der Chronika eines fahrenden Schülers (Zweite Fassung)
Clemens Brentano

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Ich habe dieses aber nicht allein bei dem Anblick dieses schwindelhohen Turmes empfunden, sondern auch bei gar lieblichen und feinen Werken, von welchen ich nur nennen will die überaus feinen und natürlichen Gemälde des Malers Wilhelm in Köln, der von den Meistern als der beste Meister in allen deutschen Landen geachtet wird, denn er malet einen jeglichen Menschen von aller Gestalt, als lebe er. Die Werke dieses Wilhelms aber, die ich zu Köln gesehen, sind dermaßen zart, fein, scharf und lebendig, daß man schier glauben sollte, sie seien von Händen der Engel gemacht, und erbebet man bei ihrem Anblick, weil sie zu leben scheinen und doch nicht leben. Man fühlet da wohl, daß der Mensch etwas sein und schaffen kann, was viel herrlicher ist als sein gewöhnliches Sein und Schaffen, und man erschrickt darüber, daß diese Herrlichkeit so fremd und selten ist; daher wohl eine Menge Sprossen auf der Leiter zu dieser Vollkommenheit wo nicht fehlen, doch unsichtbar sein müssen und wir alle wohl tief herunter geworfen sind.

Die gewaltige Künstlichkeit des wunderwürdigen Münsterturms hätte mich beinahe wieder niedergeschlagen; denn ich bedachte mit Verwunderung, wie ich doch unter den hohen Eichen, in finstern Wäldern, auf hohen Bergen, an steilen Abgründen und bei stürzenden Wasserfällen in einsamen Tälern recht in Einöde, ja ganz verlassen, auch wohl gar hungrig gesessen und mich doch nicht so bewegt gefühlt als bei dem Anblick dieses Turmes. Wenn ich die Blätter und Zweige der Bäume betrachte, so frage ich nicht, wie sie da hinauf gekommen, und erschrecke nicht, wenn sie sich hin und her bewegen mit Rauschen; aber wenn ich diesen wunderbaren Turm anschaue mit seinen vielen Türmlein, Säulen und Schnörkeln, die immer auseinander heraustreiben und durchsichtig sind wie das Gerippe eines Blattes, dann scheint er mir der Traum eines tiefsinnigen Werkmeisters, vor dem er wohl selbst erschrecken würde, wenn er erwachte und ihn so fertig vor sich in den Himmel ragen sähe; es sei denn, daß er auf sein Antlitz niederfiele und ausriefe: »Herr, dies Werk ist nicht von mir in seiner Vollkommenheit, du hast dich nur meiner Hände bedienet, mein ist nichts daran als die Mängel, diese aber decke zu mit dem Mantel deiner Liebe, und lasse sie verschwinden im Geheimnis deiner Maße.« Keiner aber hat dieses wohl erlebet, keiner hat einem solchen Werke seiner Erfindung die Krone aufgesetzet, ganze Geschlechter sind von den Baugerüsten herabgestiegen und haben sich zu Ruhe in die Gräber zu den Füßen des Turmes gelegt, der nichts davon weiß, und dasteht ernst und steinern, der kein Herz und keinen Verstand hat, ja eigentlich ein recht unvernünftiger Turm ist, und doch dasteht, als wäre er aus sich selbst hervorgewachsen und brauche es keinem Menschen zu danken. Dieser gewaltige Ausdruck der Erhabenheit aber in einem solchen Werke, an welchem die Weisheit und Mühe und Andacht von Jahrhunderten an unendlichen Linien des Gesetzes, des Verhältnisses, der Not und der Zier mit halsbrechender Kühnheit hinangeklommen, um auf dem Gipfel dem Herrn zu lobsingen, verbunden mit seinem eigentlichen inneren Tode, so daß er, der alles durch sein Dasein im tiefsten Herzen rühret, doch gar nichts davon mitempfindet, das ist es, was seinem Anblick und der Erscheinung aller gewaltigen Menschenwerke einen Schrecken beimischet. Es ist, als frage er: Was bin ich, und warum bin ich, und was ist es, das dich also rühret in mir? Was können wir ihm aber anderes antworten als: Die Werke des Herrn sind unbegreiflich, er treibt uns, zu bauen und schaffen über das Leben hinaus, denn wir waren unsterblich und vollkommen, und wir sind gefallen in den Tod durch die Sünde; du Turm aber stehe, als ein Zeuge, daß wir dunkel fühlen, was wir waren vor dieser Zeit, und daß wir noch ringen nach unendlichem Ziel; so stehe du dann als ein Träger unsrer Mühe und unsrer Buße zu Ehren unsres Heilands und Seligmachers Jesu Christi, der uns erlöset hat durch sein bittres Leiden und Sterben. Amen.

Also gedachte ich in mir, und wenngleich umgeben von lebenden Bäumen und Blumen, in welchen, wie selbst in den harten Felsen, eine Seele zu wohnen scheint, welche mit dem Menschen atmet und fühlet, im Frühling sich mit ihm freuet, und im Winter mit ihm trauert, konnte ich doch meine Augen nicht von dem Turme wenden. Der Sinn des Menschen strebet immer nach dem Unbegreiflichen, als sei dort das Ziel der Laufbahn und der Schlüssel des Himmels; denn bewundern kann der Mensch allein, und alles Bewunderung Erregende ist ein Bote Gottes, der uns mahnet an das Licht, das wir verloren, und das uns wieder verheißen ist durch das Blut Christi, so wir uns dessen teilhaftig machen. Also ist mir auch immer alle meine Drangsal erschienen als eine Sehnsucht nach einem bessern Leben, und alle meine bittern Stunden waren nur die kalten, stürmenden Tage des Winters, denen der liebliche Frühling, angekleidet mit Blumen und Gesang, folget, so ich säe guten Samen und fülle meine Seele mit dem Lobe Gottes.

In solchen Betrachtungen wollte ich wieder nach dem Sommerhäuslein gehn, sah aber meinen gnädigen Herrn und Ritter gar tiefsinnig mit gefalteten Händen unter einem Baume im Sonnenschein sitzen, und traute nicht, ihm vorüberzugehen, damit ich ihn nicht störe. Ich stellte mich darum in seiner Nähe bescheidentlich an die Laubwand, und nahm mein Barett in die Hände, erwartend, ob er seine Augen vielleicht nach mir wenden möge.

Der Anblick meines Herrn erweckte eine große Ehrfurcht in mir. Ich hatte ihn gestern nicht recht gesehen, denn es dunkelte schon, da er mich am Wege barmherzig zu sich nahm. Er hatte ein schneeweißes Haar am Haupt und Bart, und mochten wohl viele Sorgen über ihn hingeflogen sein. Ich erinnerte mich, nie einen so frommen alten Ritter gesehen zu haben, der mit seinem ernsten und milden Antlitz ein solches Vertrauen in mein Herz senkte. Gott gebe, daß ich also in Ehren grau werden möge! dachte ich bei mir und fühlte mich mit ganzer Seele zu dem lieben Herrn hingezogen. Er aber schien sehr betrübt zu sein, seufzte auch oft und tief, und die kleinen Vöglein, die über ihm in dem Baume so lustig sangen, konnten ihn nicht trösten.

Da ich so eine Weile nach ihm hingesehen hatte, wendete er die Augen zufällig zu dem Orte, an dem ich stand, und redete mich freundlich an mit den Worten: »Wie ist dir, Johannes, daß du so stille dastehest?« Worauf ich ihm entgegnete: »Ich wollte Eure Ruhe nicht stören, Herr; Ihr scheinet mir in schweren Gedanken.«

Der Ritter aber sprach hierauf: »Johannes, wie gefällt dir deine neue Heimat; bist du zufrieden bei mir?«

Da sagte ich: »Herr, sollte ich nicht froh sein? Da ich nun weiß, wo schlafen und wo Brot finden und wem dienen um des Herren willen, da weiß ich nun auch, wen lieben, wem danken außer Gott, und für wen beten außer für mich. Herr, meine neue Heimat gefällt mir wohl; Gott gebe, daß ich auch ihr wohlgefalle, und ihrer würdig werde.« Da lächelte der Ritter und sprach: »Johannes, wenn dir deine Worte ernst sind, so werden wir gute Gesellen sein, denn deine Rede gefällt mir wohl. Aber was willst du tun, mir wohlzugefallen; was willst du mir geben, da du nichts hast?«

Hierauf erwiderte ich: »Herr, ich bleibe Euer Schuldner vor der Welt, denn ich kann Euch kein Wams geben für das Wams, das ich durch Eure Gnade trage; aber vor Gott gebe ich Euch einen guten Zahlmann, denn vor ihm schenke ich Euch mein Herz.«

Da versetzte der Ritter scherzhaft: »Wenn ich dir nun auch mein Herz geben wollte für das deinige, so behielt ich doch das Wams zugute; wie dann, Johannes?«

Worauf ich entgegnete: »Herr, Ihr rechnet so gestreng, als wolltet Ihr mich versuchen in Gegenrechnung, und so muß ich dann schon sagen, daß mein Herz gewiß nicht Wert hat gegen das Eure, welches geprüfet ist durch lange Jahre, da das meinige arm ist und ohne Verdienst, ja da ihm alles Gute, was es gewollt hat, nicht zugute kömmt, da es keinen Wert hat, den es Euch mit sich geben kann, weil der Glaube an die Barmherzigkeit des Heilands nicht mit dem Herzen geschenkt werden kann und dieser Glaube allein doch ein Herz zu beseligen und selig zu machen vermag. So nehmt es denn hin, wie es ist, und füget hinzu, was man nicht mitgeben kann. Doch habe ich noch eine Gabe, deren ich Euch genießen lassen will, und die Ihr mir nicht so leicht einholen sollet; denn sie ist rasch und fliehet davon, auch werdet Ihr sie mit allem Ernste nicht leicht verdrängen mögen; denn sie ist lieblich und lustig anzuschauen, und könnte ich sie Euch wirklich zu eigen geben, so würdet Ihr sie nicht gerne wieder lassen, eine also gute Gesellin ist sie.«

Mein Herr, der sehr ernst geworden war, sagte hierauf, traurig vor sich niederschauend: »Und was ist das vor ein Kleinod, Johannes, mit dem du so prahlest?«

Da erwiderte ich: »Herr, es ist meine Jugend; deren will ich Euch genießen lassen, wie ich kann. Damit Ihr Euer Alter vergesset bei mir, will ich Euch erfreuen mit mancherlei fröhlichen Reden und Gedanken.«

Aber was ich da zuletzt gesprochen hatte, war wohl töricht und ein schlechter Anfang meiner versprochenen erfreulichen Reden; denn mein gnädiger Herr ward nun sehr stille und finster. Weil ich ihn an sein Alter erinnert hatte, glaubte ich. Da redete ich ihn schüchtern an: »Herr, ich habe Euch mit törichten Worten erzürnet.«

Er aber sprach: »Das hast du nicht getan, Johannes, du hast die Wahrheit gesprochen, aber mir ist schwerer aufs Herz gefallen, was mir lange schon darauf liegt, mein Unwert. Nun aber bedenke ich, ob dein fröhlicher Mut mir wohl diese Last von der Brust nehmen wird; aber das mag wohl nicht sein; hast du mich nicht gefunden hier im Grünen, in einem lustigen Garten, von der lieben Sonne beschienen, und angesungen von den unschuldigen Vögelein, nachdenklich und betrübt? Wirst du können, was der Frühling nicht vermag? So du aber Künste gelernt hast, die ich nicht besitze, so wirst du mein Schuldner nicht bleiben, wenn ich gleich selbst ewig Gottes Schuldner bleibe. Setze dich zu mir und sage mir treulich, wie du zur Armut gekommen bist im Guten, und wie es sich mit dir begeben, bis ich dich gestern an der Eiche gefunden habe im Blobsheimer Wald, und dann sollst du ebenfalls von mir hören, warum ich betrübt bin.«

Da ich die große Freundlichkeit meines Herrn aus dieser Rede vernommen hatte, faßte ich einen guten Mut, setzte mich zu ihm unter den Baum, und sprach also: »Mein gnädiger Herr und Ritter, es gibt keinen ehrlicheren Weg ins Leben als die Geburt, denn unser Heiland ist ihn auch gewandelt, und so gibt es auch keinen ehrlicheren Weg zur Armut, als in ihr geboren zu sein, denn auch unser Heiland ward in ihr geboren, und so kam ich zur Armut, als ich zur Welt kam. Aber ich bin doch nicht lang arm geblieben; denn ich fand eine unaussprechlich liebe Mutter; die ließ mich an ihrem Herzen schlummern, und sah auf mich nieder mit sorgenden Liebesblicken, und weckte sie mich nicht mit ihren Tränlein, die auf mich niederfielen, so weckte sie mich mit Küssen, und ließ mich ihr eignes Leben aus ihren Brüsten trinken; o Herr, war ich nicht reich, wer ist reicher als ein neugebornes Kindlein? – Ja, ich war so reich, daß ich meiner lieben Mutter Freud und Leid verdoppeln konnte, was Ihr wohl aus einem Liede vernehmen werdet, das meine Mutter oft sang, wenn sie mich in frühster Jugend einschläferte, und habe ich es nach ihrem Tode in ihrem Gebetbüchlein liegend gefunden; es ist aber gestellt, bald als rede ein Kindlein zur Mutter, bald die Mutter zu ihm; nun höret:

O Mutter, halte dein Kindlein warm,
Die Welt ist kalt und helle,
Und trag es fromm in deinem Arm
An deines Herzens Schwelle.

Leg still es, wo dein Busen bebt,
Und, leis herab gebücket,
Harr liebvoll, bis es die Äuglein hebt,
Zum Himmel selig blicket. –

Und weck ich dich mit Tränen nicht,
So weck ich dich mit Küssen;
Aus deinem Aug mein Tag anbricht,
Sonn, Mond dir weichen müssen,

O du unschuldger Himmel du!
Du lachst aus Kindesblicken,
O Engelsehen, o selge Ruh,
In dich mich zu entzücken!

Ich schau zu dir so Tag als Nacht,
Muß ewig zu dir schauen,
Und wenn mein Himmel träumend lacht,
Wächst Hoffnung und Vertrauen.

Komm her, komm her, trink meine Brust,
Leben von meinem Leben;
O, könnt ich alle fromme Lust
Aus meiner Brust dir geben!

Nur Lust, nur Lust, und gar kein Weh,
Ach, du trinkst auch die Schmerzen;
So stärke Gott in Himmelshöh
Dich Herz aus meinem Herzen!

Vater unser, der du im Himmel bist,
Unser täglich Brot gib uns heute,
Getreuer Gott, Herr Jesus Christ,
Tränk uns aus deiner Seite. –

Du strahlender Augenhimmel du,
Du taust aus Mutteraugen,
Ach Herzenspochen, ach Lust, ach Ruh,
An deinen Brüsten saugen!

Ich schau zu dir so Tag als Nacht,
Muß ewig zu dir schauen;
Du mußt mir, die mich zur Welt gebracht,
Auch nun die Wiege bauen.

Um meine Wiege laß Seide nicht,
Laß deinen Arm sich schlingen,
Und nur deiner milden Augen Licht
Laß zu mir niederdringen.

Und in deines keuschen Schoßes Hut
Sollst du deine Kindlein schaukeln,
Daß deine Kinder, so lieb, so gut,
Wie Träume mich umgaukeln.

Da träumt mir, wie ich so ganz allein
Gewohnt dir unterm Herzen;
Da waren die Freuden, die Leiden dein
Mir Freuden auch und Schmerzen.

Und ward dir dein Herz ja allzu groß,
Und hattest nicht, wem klagen,
Und weintest du still in deinen Schoß,
Half ich dein Herz dir tragen.

Da rief ich: Komm, lieb Mutter, komm!
Kühl dich in Liebeswogen!
Da fühltest du dich so still, so fromm
In dich hinabgezogen.

So mutterselig ganz allein
In deiner Lust berauschet,
Hab ich die klare Seele dein,
Du reines Herz, belauschet.

Was heilig in dir zu aller Stund,
Das bin ich all gewesen;
Nun küß mich, süßer Mund, gesund,
Weil du an mir genesen.

O selig, selig ohne Schuld,
Wie konnt ich mit dir beten;
O wunderbare Ungeduld,
Ans scharfe Licht zu treten!

O Mutter, halte dein Kindlein warm,
Die Welt ist kalt und helle,
Und trag es fromm, bist du zu arm,
Hin an des Grabes Schwelle.

Leg es in Linnen, die du gewebt,
Zu Blumen, die du gepflücket,
Stirb mit, daß, wenn es die Äuglein hebt,
Im Himmel es dich erblicket.

So lallt zu dir ein frommes Herz,
Und nimmer lernt es sprechen,
Blickt ewig zu dir, blickt himmelwärts
Und will in Freuden brechen.

Brichts nicht in Freud, brichts doch in Leid,
Bricht es uns allen beiden.
Ach, Wiedersehen geht fern und weit,
Und nahe geht das Scheiden!

Als ich das Lied ganz hergesagt, waren ich und mein Herr Ritter ein bißchen stille. Dann hob er an und sprach: »Du hast recht, lieber Johannes, du warst recht reich, eine so liebe Mutter auf Erden zu finden; das ist ein schönes Lied, aber es ist auch viel Trauer darin; wer hat es denn also gesetzet, daß es am Ende so schmerzlich vom Scheiden spricht?«


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