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Zweites Buch

Sie hatten keine Hochzeitsreise gemacht. Ihre Heirat wurde, da sie in den Januar fiel, in der auf Feste besser eingerichteten Stadtwohnung gefeiert, und das junge Paar fuhr des Abends, als die im engsten Kreise abgehaltene Festlichkeit ihrem Ende zuneigte und von dem ernst blauen Winterhimmel die goldenen Sterne leuchteten, im Auto in ihr neues Heim.

Es war ein kleines Landhaus, am Ausgange des ansehnlichen Marktfleckens Neukirchen auf einer niedrigen, aber steil ansteigenden Anhöhe gelegen, das, weil es bis an den Giebel mit Zweigen wilden Weins umsponnen und von einer Wand hoher Tannen abgeschlossen war, im Volksmunde »das grüne Haus am Berge« hieß.

Der Kommerzienrat hatte es seiner Tochter zur Hochzeitsgabe gemacht, und seine Gattin hatte es mit viel Geld und Geschmack, in seinen einzelnen Teilen vielleicht ein wenig zu herausfordernd für das Haus eines Landarztes, in seinem Innern ausgestattet.

Daß sie es mit eben solcher Liebe getan, konnte man nicht von ihr behaupten. Denn sie war wenig erbaut von der Wahl ihrer Tochter und machte daraus kein Hehl. Nicht nur, daß ihr Lieblingswunsch, deren Erfüllung ihr seit Jahren zur Selbstverständlichkeit geworden, in so unerwarteter Weise durchkreuzt wurde. Das hätte sie allenfalls überwunden, wenn Dora einem Manne die Hand gereicht hätte, der Theo Fortenbacher an Stellung und Ansehen vor der Welt überragt hätte.

Aber daß ein Mädchen von solcher Schönheit und so großem Reichtum einen Werner Torwald heiraten konnte, der ja ein tüchtiger Arzt sein mochte, im übrigen aber ein gesellschaftlich ungewandter, wenn nicht unmöglicher Mensch ohne die geringsten körperlichen oder sonstigen Vorzüge war, das war ihr unverständlich und blieb es bis zu dem Augenblicke, wo sie sich in ihrer ganz sicheren Erwartung, diese Verlobung würde ebenso schnell, wie sie geschlossen war, auch wieder gelöst werden, endgültig getäuscht sah.

Daß sie nicht allein mit ihrer Ansicht dastand, daß diese Verbindung nicht nur den nächsten Angehörigen, sondern der ganzen Umgebung etwas Unbegreifliches war, daß Theo Fortenbacher von der Stunde an, da das Unmögliche Wirklichkeit geworden war, mit der ihm eigenen Umstellungsfähigkeit seine Neigung, wohl weil er Malkaymen nicht untreu werden wollte, auf Anneliese umleitete, deren sprossende Reize die kindliche Knospe gesprengt hatten und sich der weiblichen Reife entgegenentwickelten, das war für sie nur ein schwacher Trost.

Einen nur gab es, den all das Befremden und Erstaunen, all die Abwendung und Empörung nicht im geringsten anfocht, ja, der sie nicht einmal bemerkte. Der ging durch diese Welt der Kälte und Feindschaft mit Augen dahin, die nichts sahen als weithin leuchtendes Land, der war wie ein großer Junge, der seine ganze arme Kindheit hindurch nie gewußt hatte, daß Weihnachten war, und nun plötzlich aus der dunklen Stube vor einen Christbaum mit strahlenden Lichtern trat, der eigens für ihn angesteckt war.

Daß es so etwas überhaupt gab! Daß diese Erde, die ihm immer so arm erschienen war, ein so unaussprechliches Glück in sich schließen konnte!

Nun erst verstand er: Deshalb hatte er so lange darben und entbehren müssen, damit er nun den unermeßlichen Reichtum in seiner ganzen Fülle empfinden und genießen konnte!

Oft war sein Glücksgefühl so überwältigend, daß er gar nicht wußte, wo er mit ihm hinsollte. Dann erwachte das Ursprüngliche und Gute seines Wesens. Er fühlte sich als Schuldner der großen Liebe und wollte seine Schuld abtragen in selbstloser Hingabe an die Menschen, die seiner bedurften.

Manchen Abend blieb er auf seinen Fahrten über Land seinem Hause so lange fern, daß seine Frau, die den ganzen Tag allein gewesen war, ihm ernste Vorhaltungen darüber machte.

Aber, so stark ihr Einfluß auf ihn war, hier versagte er.

»Wenn du auch nur im leisesten ahnen könntest, welche Kraft zu allem Tun mir aus meinem Glücke strömt«, entgegnete er ihr, »wie mein Herz vor Freude zittert, wenn ich mir sagen kann: Wenn du heute das deine getan und hast deinen Kranken Genesen oder wenigstens Linderung in ihren Schmerzen bringen können, dann kommst du nach Hause, und deine Frau erwartet dich und begrüßt dich schon auf der Diele und dann – – ach, Herz, es ist zu viel des Glückes! Und wenn ich so durch die Winternacht heimfahre und alles um mich dunkel und schwarz ist, dann sehe ich nur Licht und immer nur Licht, denn ich sehe dich, und deine Augen sind das Licht!«

Auch seine Zärtlichkeit hatte etwas Elementares wie sein ganzes Wesen. Sie war von einer unberührten Reinheit und zugleich von einem schmelzenden Feuer, war von urkräftiger Sinnlichkeit und doch von heiliger Scheu. Er sah in seiner Frau ein Wesen aus höheren Sphären, das sich zu ihm in holdseliger Liebe herabließ, und hatte immer erst innerlich etwas zu überwinden, bevor er sich körperlich ihr nahte.

Sie aber liebte diese männliche Ehrfurcht in ihm, die nie etwas Schwächliches oder Unwürdiges hatte, und gab sich ihm mit einer Wärme, ja oft mit einer Glut, wie sie bei ihrer spröden Anlage und ihrer für Zärtlichkeit wenig geschaffenen Natur nie für möglich gehalten.

Mochten es die anderen nicht begreifen, mochten sie es belächeln und verhöhnen, sie wußte, was sie an diesem Manne liebte, und warum sie es tat, und wachte eifersüchtig über ihren Besitz, damit er ihr nicht entrissen wurde.

Darum nahm sie auch an seiner Tätigkeit teil, wußte um seine Fahrten, kannte seine Kranken und ihre Leiden. Denn ihr war klar, daß Mann und Frau nichts so verbindet wie gemeinsames Aufgehen in einem geliebten Berufe.

Freilich ... in irgendeine persönliche Beziehung zu den Patienten zu kommen, wenn sie ihn aufsuchten, er nicht zu Hause war und sie gerne ein tröstendes und aufrichtendes Wort von ihr gehört hätten, wurde ihr schwer. Es lag einmal nicht in ihrer Art und Anlage, mit den kleinen Leuten umzugehen, die vorzugsweise seine Praxis ausmachten. In allen anderen aber war sie ihm zur Seite, erleichterte ihm seine Arbeit, wo sie nur konnte, und umgab ihn auch im Hause mit zärtlicher Sorge.

Und was sie ihm war, das zeigte er ihr mit jedem Worte, mit jedem Blicke, vor allem in dem stillgeborgenen Leuchten, das jedesmal, wenn er in ihrer Nähe weilte, auf seinem früher so ernst verschlossenen Antlitz lag.

O diese herrlich sich weitenden, goldumsäumten Tage der rastlosen Tätigkeit im Dienste der helfenden Liebe geweiht! Diese unvergleichlichen Abende, wenn sie, fern ab vom Lärm und Rauschen der Zeit, Hand in Hand in dem behaglichen Wohnzimmer ihres stillen Landhauses wie in einem Märchenschlosse saßen und Dinge besprachen, die der Tag ihnen gebracht, und die doch über den Tag hinaus wiesen in die weiten Gefilde des Bleibenden! Diese unbeschreiblichen Nächte mit ihren geheimnisvollen, Leib und Seele durchschauernden Zaubern, ihrem unbefangenen Aufgehen in allen Wonnen des innerlichen Zusammengehörens! Und dann dies Erwachen am frühen Morgen an der Seite eines schlummernden, noch von ihren Träumen gehaltenen Weibes, von dem man sagen darf: »Es ist dein mit Leib und Seele!«

Und mit jedem dieser Morgen neu stand Werner Torwald vor dem Unbegreiflichen, das über ihn gekommen war wie ein holdes Wunder aus fernen, unwirklichen Welten, das er nun fest und wirklich in starken Händen hielt.

*

So vergingen die ersten Wochen und Monate der jungen Ehe, glitten wie eine frohbeschwingte Spule durch den rastlos wirkenden Webstuhl der Zeit, oder wie helle Frühlingsfalter durch den ernsten Winter, umgaukelten die Gegenwart mit tausend Freuden und die Zukunft mit süßen Hoffnungen.

Und wenn sich Werner Torwald bereits für einen Auserwählten hielt, so sollte er erfahren, daß es über alles das noch etwas hinaus gab, ein höchstes Glück, das dem, das ihn erfüllte, die eigentliche Krone aufsetzte.

Er hatte die Kinder von je geliebt. Es lag in seiner ganzen Natur, in dem kindlichen Zug seines Wesens. Wenn er sie behandelte, so tat er es mit einer geradezu mütterlichen Zartheit. Waren sie schwer krank, so opferte er ihnen seine Nächte, kam wieder und wieder, nach ihnen zu sehen. Konnte er sie aber trotz all seiner Hingebung nicht retten, so war er tief niedergedrückt und stand an ihren Sterbebette wie ein trauernder Vater, ja, lange Zeit noch wirkte solch ein Todesfall in seine Seele nach.

Und nun ein eigenes Kind! Ein Kind von Dora, ihr Abbild, ihr Fleisch und Blut! Und zugleich das seine, die sichtbare Verkörperung ihrer gegenseitigen Liebe und Zusammengehörigkeit!

Sein Herz wollte schwellen in der Erwartung dieses Glückes. Der so lange Bettler war und hungernd und dürstend an der Tafel des Lebens saß, war mit einem Male ein König auf goldenem Stuhle und trank aus nie versiegendem Becher der höchsten Freude.

*

Aus dem Winter ward der Frühling, und mit seinen schönen Gaben brachte er auch weniger gute: ein ganzes Heer von Krankheiten und Seuchen, das diesmal nicht nur die alten Leute heimsuchte, sondern auch die jungen und lebensstarken überfiel.

Oftmals sah Werner Torwald den Tod zu Häupten des Kranken stehen und rang dennoch mit ihm mit aller zähen Kraft. Dann und wann obsiegte er. Aber das war nur selten. Meist behauptete der andere das Feld, und Werner Torwald war traurig, weil all sein Kämpfen mit den finsteren Geistern vergeblich war, und kam manchmal erst in der Nacht nach Hause, weil es mit jedem Tage mehr für ihn zu tun gab.

Eines Abends aber packte ihn inmitten aller heißen Arbeit eine unbezwingliche Sehnsucht nach Hause. Und da es für einen Besuch in ein weitgelegenes Dorf doch schon zu spät war, so beschloß er, diesen bis morgen zu lassen, und gab dem Kutscher Weisung zur Heimfahrt.

Aber nicht wie sonst kam ihm Dora auf der Diele entgegen, und auch in ihrem Zimmer brannte kein Licht. Und als er endlich des Mädchens habhaft werden konnte, das zu einigen Besorgungen ausgegangen war, erfuhr er von ihm, daß heute nachmittag ein Auto angekommen wäre, das die gnädige Frau zu den Herrschaften in die Stadt abgeholt, daß sie aber gesagt hätte, sie würde zu der Zeit, wenn der Herr Doktor heim käme, wieder da sein.

Er hatte Mühe, seine Enttäuschung zu überwinden. Er hatte sich auf die wenigen, mit so viel Mühe gewonnenen Stunden den ganzen Abend gefreut und saß nun, zu keiner Arbeit aufgelegt, tatenlos wartend in seinem Sprechzimmer.

Er selber fuhr nicht mehr zu den Schwiegereltern, weder in die Stadt, noch nach Malkaymen. Er wußte, daß er dorthin nicht gehörte. Was er einmal als Arzt geleistet, war längst vergessen. Er galt nur als der Eindringling in eine Familie, die ihn nicht wollte, ihn nicht als ebenbürtig anerkannte.

Dora wußte das so gut wie er. Und die Folge war, daß auch sie immer seltener nach Hause fuhr und das Verhältnis, das nie sehr warm gewesen, sich vollends lockerte.

Der Kommerzienrat litt darunter. Denn, obwohl er in seinem Geschäfte aufging und Zahlen ihm die Menschen unschwer ersetzten, so hatte er doch einen gewissen Familiensinn und war insbesondere auf seine älteste Tochter stolz. Freilich, auch er hätte für sie eine andere Wahl getroffen. Aber es war von jeher sein Standpunkt gewesen, jeden Menschen als vollwertig anzusehen, der in seinem Berufe etwas Tüchtiges leistete.

Die Zeit schritt vor. Die Stunde, zu der er sonst nach Hause zu kommen pflegte, war bereits vorüber. Seine Ungeduld stieg. Es war das erstemal, seitdem sie verheiratet waren, daß Dora nicht da war, wenn er kam. Sollte sich in der Stadt etwas ereignet haben? Sollte einer krank geworden sein? Oder – –?

Da endlich. Das Tönen einer Hupe durch die um diese Stunde todstille Lange Straße, die Neukirchen schnurgerade durchschnitt und unterhalb ihres auf der Höhe gelegenen Landhauses endete.

Nun fauchte der Kraftwagen den steil ansteigenden Weg zu ihm empor, und gleich darauf trat Dora, noch in Mantel und Mütze, in das Zimmer, eilte auf ihren Mann zu; streckte ihm beide Arme entgegen.

»Du schon hier? Und ich lasse dich warten! Es ist schlecht von mir. Ja, das ist es. Aber du darfst mir nicht böse sein. Diesmal nicht.«

Er merkte sofort, daß sie in einer gewissen Erregung war. Er sagte deshalb kein Wort, daß er heute schon früher nach Hause gekommen. Er fragte sie nur, aus welchem Anlaß man sie so plötzlich in die Stadt gerufen hätte.

»Ach, es war nichts Besonderes, wirklich nicht, Schatz«. Und wieder merkte er, daß sie ablenkte.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich sehe es dir ja an, daß es etwas Besonderes gewesen ist. Warum willst du es mir nicht offen sagen? Wir haben uns doch sonst nie etwas verheimlicht.«

Da fiel sie ihm um den Hals und begann heftig zu weinen.

»Es ist so furchtbar für mich, wenn sie zu Hause immer gegen dich zu Felde ziehen. Alles mögliche bringen sie vor. Ich weiß genau, daß Theo Fortenbacher der Anstifter ist. Der Vater läßt sich nicht von ihm beeinflussen und hält deine Stange. Er hat es auch gestern getan. Aber Mama, die mir meine Abwendung von ihrem Liebling immer noch nicht vergessen hat, saugt jedes Wort begierig in sich, das er ihr zuträgt.«

»Nun, was haben sie dir denn wieder erzählt?« fragte er mit seiner begütigenden Ruhe, durch die er auch in seinem Berufe so wohltätig auf die Kranken wirkte.

»Kannst du es dir nicht denken? Das, was ich immer gefürchtet habe: Theo Fortenbacher war gestern abend da und machte den Eltern Vorwürfe, daß sie mich so leichtsinnig an dich fortgegeben hätten.«

»So leichtsinnig?«

»Ja, daß sie sich vorher nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, nach deiner Herkunft und Vergangenheit erkundigt hätten.«

Werner war es gewohnt, allem, was man in der Familie seiner Schwiegereltern über ihn sprach oder wider ihn unternahm, mit unerschütterlichem Gleichmut zu begegnen. Dies war der einzige Punkt, an dem er verletzbar war.

»Meine Herkunft und Vergangenheit werde ich vertreten, jedem gegenüber«, erwiderte er härter, als es sonst seine Art war. »Dein Freund Fortenbacher hat sein Ziel etwas leichter und bequemer erreicht. Er hätte einmal mit diesen unseligen Hindernissen und Schwierigkeiten kämpfen sollen – vielleicht wäre er dann ein wenig kleinlauter. Aber ich werde zu deinen Eltern fahren und alles selber erzählen, wie es gewesen und geworden ist, damit die elende Geheimschnüffelei endlich einmal ihr Ende erreicht.«

»Um Gottes willen ... das wirst du nicht tun!« rief sie mit aufsteigender Angst. »Ich bitte dich, daß du es nicht tust, es überhaupt niemals tust.«

»Und warum nicht?«

»Weil sie für so etwas kein Verständnis haben, nicht das leiseste. Weil du nur das eine damit erreichen würdest: daß du dich in ihren Augen vollends unmöglich machtest ... und mich mit dir.«

»Dann müßten wir auch das auf uns nehmen. Besser, als in lauter Heimlichkeit und Lüge sein Leben lang einhergehen.«

»Nein ... nein. Ich habe den Meinen ja nie so sehr nahe gestanden. Gewiß nicht. Aber so ganz losgerissen sein von seiner Familie und seinen Angehörigen! Ach. es ist von jeher meine größte Angst gewesen.«

»Was ist deine größte Angst gewesen?«

»Daß das alles mal herauskommen könnte! Du kennst sie nicht, kennst nicht die Enge ihres Gesichtskreises. Mein Vater vielleicht würde ein Verständnis für dich haben und Anneliese. Aber das würde es nur noch schlimmer machen, würde sie nur noch mehr in den Widerspruch stürzen. Meine Mutter vollends, die auf ihre adlige Herkunft so stolz ist, und den ganzen Kreis, in dem sie lebt und auf dessen Hochschätzung sie ein großes Gewicht legt. Glaube mir, es ist unmöglich, daß du ihnen das je sagtest.«

In ihrer leidenschaftlichen Erregung sah sie den schmerzlichen Ausdruck auf seinem Gesichte nicht.

»Ich meine, eine Frau, die ihren Mann liebt, müßte auch sein Schicksal auf sich nehmen, besonders, wenn er es unverschuldet trägt.«

Sie zuckte zusammen. Das war es! Sie hatte es immer gewußt, daß er so dachte und es ihr einmal sagen würde.

»Freilich«, fuhr er nach einer langen Pause fort. »... meine Mutter vermochte es auch nicht.«

Sie sah ihn mit entgeisterten Augen an.

»Deine Mutter ...«, weiter kam sie nicht.

Nun war es ganz stille zwischen ihnen. Ein Etwas war zwischen sie getreten, das zu drückend war, als daß ein Wort ihm hätte Erleichterung schaffen können. Eine unselige Erinnerung ... eine dunkle Macht, die schon einmal zwischen ihnen gestanden. Die bösen Geister waren am Werk.

Er vermochte diesen Zustand nicht lange zu ertragen

»Hat denn Theo Fortenbacher irgend etwas Bestimmtes gesagt?«

»Nein ... etwas Bestimmtes nicht. Die Mutter hätte es sicher nicht für sich behalten.«

»Nun gut. Dann will auch ich mich vorläufig bescheiden ... nicht gern. Aber dir zuliebe. Und nun kannst du ruhig sein. Ich bin hier weit, weit von meiner Heimat entfernt. Zudem nahm mein Vater seinen ursprünglichen Namen wieder an, nachdem dies alles geschehen war. Der einzige, der davon etwas wußte, der alte Pfarrer in Kokoschken, hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Und ich werde es auch wahren ... ich sagte es dir bereits.«

Ihr Antlitz lebte auf. »Oh, du bist so gut und groß. Und ich bin feige. Ich weiß es. Aber du kennst eben die Welt nicht, in der ich aufgewachsen bin. Wie solltest du auch? Du mit deiner Harmlosigkeit und deinem Glauben an die Menschen ...«

»Lassen wir es. Ich habe mich so auf den heutigen Abend gefreut.«

»Ja, du hast recht. Lassen wir es. Nur eins mußt du mir versprechen, fest und heilig versprechen ...«

»Und das wäre?«

»Daß du niemals wieder das von deiner Mutter sagen wirst. Niemals ... hörst du? Ich kann es nicht ertragen.«

»Auch das verspreche ich dir.«

»Ich danke dir; dann ist alles wieder gut. Und nun nimm mich und küsse mich und sei wieder wie du sonst warst, wenn du von deinen Fahrten nach Hause kamst und ich draußen auf der Diele auf dich gewartet habe, länger, als du heute auf mich.«

»Aber, Liebste, du bist ja noch in Mantel und Mütze.«

»Das lege ich nachher ab. Erst muß ich dich haben, ganz fest haben und küssen und wissen, daß es wieder das alte zwischen uns ist und daß ...«

Sie beendete den Satz nicht. Sie warf sich an seine Brust, schlang die Arme um seinen Hals, zog ihn auf den Schreibsessel nieder und küßte ihn mit einer Leidenschaft, die die ganze Erregung und den heißen Schmerz ihrer Seele ausströmte.

Aber als sie dann nach dem Abendessen zusammensaßen, wollte ihre Unterhaltung doch nicht in den alten Fluß kommen. So große Mühe sie sich auch gaben, ihrer beiden Gedanken waren noch zu sehr bei dem, was sich eben zwischen ihnen ereignet hatte.

»Weshalb du heute so plötzlich nach Hause gerufen wurdest, hast du mir immer noch nicht erzählt«, sagte er schließlich.

»Ach ... es war so mancherlei«, erwiderte sie ausweichend. Und dann, ihn mit einem kurzen scharfen Blicke streifend:

»Theo Fortenbacher hat um Anneliese angehalten.«

»Theo Fortenbacher? Ich denke, er liebte dich.«

»Gewiß, das tat er. Aber er hat einen stark ausgeprägten Wirklichkeitssinn, der ihm eine Verbindung mit unserem Hause aus gewissen Gründen von jeher erstrebenswert erscheinen ließ. Und da ich ihm durch die Netze ging, stellte er sie auf die Kleine ein.«

»Und Anneliese?«

»Hat ihm einen Korb gegeben.«

»Gott sei Dank!«

Ein sichtbares Befremden war in ihrem Auge, das ihn jetzt nicht mehr streifte, sondern fest auf seinem Antlitz ruhte.

»Warum sagst du Gott sei Dank?«

»Weil Theo Fortenbacher nicht der rechte Mann für Anneliese ist.«

»Kennst du sie so genau?«

»Ich glaube, ja. Ich habe sie nicht nur behandelt. Ich habe mit dem Tode um ihr Leben gerungen, mit allen Geistern habe ich um sie gekämpft. Es war ein heißer Kampf. Das kannst du mir glauben. Aber ich habe sie gerettet.«

»Ja, du hast sie gerettet und sie hat es dir nie vergessen.«

»Nein, ich weiß es wohl.«

»Sie ist seitdem eine andere geworden. Früher war sie heiter und ausgelassen. Jetzt ist sie ernst und in sich verschlossen ...«

»Auch gegen dich?«

»Ja ... auch gegen mich.«

»Ihr standet euch doch einmal so nahe.«

»Das taten wir ... Aber seit einiger Zeit ...«

»Und doch ist so viel Wärme und weibliche Hingebung in ihr. Und wenn der Mann einmal käme, der sie erschlösse ... mir schien es damals, als hätte sie eine stille Neigung für ihren jungen Pfarrer.«

»Das habe ich auch einmal geglaubt. Aber ich glaube es schon längst nicht mehr. Und Hans Hartau muß ähnlich empfinden. Denn er ist klug und zart genug, sich zurückzuziehen. Doch du hast mir deine heutige Fahrt noch nicht zu Ende erzählt. Warst du nicht auch in Malchow bei der jungen Wöchnerin und in Genthin?«

»Ja, da war ich auch. Aber du weichst mir aus .. schon zum zweitenmal heut abend. Warum tust du das? Denkst du, ich hätte es nicht schon längst gemerkt, daß dir Anneliese Sorge bereitet? Und auch, daß euer Verhältnis nicht mehr das alte und herzliche ist?«

Und scherzend fügte er hinzu: »Hat unsere Heirat auch vielleicht daran die Schuld?«

»Ja, auch daran hat sie die Schuld«, erwiderte Dora, und, auf seinen Scherz eingehend, lächelte sie. Doch es war ein erzwungenes, trauriges Lächeln.

Dann aber mit einem Male, das Haupt mit einer heftigen Bewegung nach hinten werfend, mit völlig verändertem Tone: »Du hast recht. Wir spielen heute Verstecken miteinander. Und das sollten wir nicht tun. Also kurz: Anneliese liebt dich.«

»Sie – – liebt mich?«

Zuerst war er ganz betroffen. Als hätte er nicht recht gehört. Aber dann lächelte er ... sein harmloses, ungläubiges Lächeln.

»Der Besuch zu Hause hat heute nicht gut auf dich eingewirkt, mein lieber Schatz. Du bist in meine Fußtapfen getreten und siehst Geister.«

»Oh nein ... ich sehe klar und deutlich. Und das ist es, was zwischen mir und meinem Glücke steht.«

»Dora ... ich bitte dich. Das sind doch alles Wahngebilde.«

»Nein, nein ... das sind sie nicht. Sie hat dich geliebt seit der Stunde, da du sie dem Leben wiedergabst. Zuerst hielten wir es für kindliche Schwärmerei, ich und auch die Eltern. Aber Theo Fortenbacher hatte den schärferen Blick. Er sagte es mir an jenem Abend, da ich die entscheidende Unterredung mit ihm im Garten hatte und du fortfuhrst. Damals glaubte ich es nicht. Aber jetzt weiß ich es.«

»Jetzt weißt du es?«

»Ja ... seit heute ... Und nun sollst du auch erfahren, weshalb man mich nach Hause rief. Es geschah auf Veranlassung der Mutter, weil Anneliese, nachdem sie Theo Fortenbacher abgewiesen, auf längere Zeit fort wollte, ich glaube, zu einer Freundin nach Süddeutschland, und die Eltern dagegen waren. Nun meinten sie, ich würde sie besser beeinflussen und von ihrem Vorhaben abbringen können. Wir hatten eine längere Unterredung. Aber es war alles vergeblich. Sie, die sonst stets auf meine Worte gehört hatte, diesmal blieb sie fest und entschieden. Ich vermochte nichts. Sie ist überhaupt erstaunlich herangereift ... körperlich wie geistig.«

»Spracht ihr auch von Hans Hartau?«

»Ja. auch das taten wir. Und da ... gingen mir die Augen auf.«

»Und ... woher?«

»Frage mich, bitte, nicht mehr. Ich hatte mir vorgenommen, es dir nie zu sagen, aber es hätte dann immer zwischen uns gestanden. Das wollte ich nicht.«

Er merkte die tiefe Bewegung, die in ihr war, und schwieg. Es war der zweite Reif, der heute auf ihr junges Glück fiel.

Endlich hatte er sich gesammelt. »Komm her zu mir, Dora!« rief er, streckte ihr die Arme entgegen und zog die Widerstrebende zu sich auf seinen Stuhl. »Etwas laß mich dir noch sagen. Sieh ... ich habe nie ein Weib gekannt und nie für eins empfunden. Außer für dich. Und diese Liebe ist so tief gewurzelt in meinem Herzen, so fest verankert in meinem ganzen Leben, daß sie nie aufhören kann, mag kommen, was da wolle. Und nun laß uns nicht mehr von all den dummen Dingen reden.«

Er hatte so schlicht und warm gesprochen, daß eine große innere Ruhe über sie kam und ein stiller Friede, wie sie ihn heute den ganzen Tag über nicht empfunden hatte. Die bösen Geister wichen aus ihrem gequälten Herzen und die guten hielten ihren Einzug.

Sie hatte sich aus seinen Armen frei gemacht und saß ihm wieder gegenüber. Und er erzählte ihr dies und jenes von seiner Arbeit und seinen Besuchen.

Aber sie hörte ihm zuerst mit halbem Ohr, dann gar nicht mehr zu. Eine bleierne Ermüdung war nach all der Aufregung über sie gekommen. Im Anfang kämpfte sie mit aller Kraft, riß die Augen gewaltsam auf, hielt sich krampfhaft aufrecht ... dann fiel ihr der Kopf langsam und schwer auf die Brust, und bald schlief sie, ganz tief und fest.

Er nahm die Schlummernde in seine Arme, trug sie leicht und sanft wie ein Kind in ihr Zimmer und freute sich, daß sie es kaum zu merken schien und ihm nur, als er sie sorgsam auf ihr Lager bettete, mit einem schläfrigen dankerfüllten Blicke aus den mühsam geöffneten Augen zublinzelte.

*

Nun war mit einem Male alles im Torwaldschen Hause verändert, und ein neuer Mittelpunkt für sein Leben geschaffen, um den sich das ganze Tun und Treiben drehte: die kleine Hermine.

Vom ersten Augenblick an, der sie mit dieser Welt in Berührung brachte, hatte sie der Mutter Schwierigkeiten bereitet und sich als Charakter von ausgesprochener Selbständigkeit und Widerstandskraft gezeigt, so daß Werner, der erst seiner Sache ganz sicher war, noch in letzter Stunde Geheimrat Backel, den gesuchten Arzt aus der Provinzialhauptstadt, hinzuziehen mußte, der bereits Dora zum Leben geholfen und auf den sie, wie Frau Vollprecht, schwur.

Aber als die kleine Hermine nun wirklich da war und man sie der jungen Mutter in den Arm legte, da zog trotz aller Erschöpfung ein heißes Jauchzen durch Doras Seele. Denn auf den ersten Blick sah sie, daß es ein selten kräftiges und selten hübsches Mädchen war, dem sie das Leben gegeben hatte.

Zwar glauben das letztere alle Mütter von ihrem Kinde. Aber Doras Urteil mußte diesmal doch das richtige gewesen sein. Denn die Entwicklung der kleinen Hermine gab ihm recht, und alle Neukirchener Bürger und Bürgerinnen, von den ältesten bis zu den jüngsten, bestätigten es. Und wenn die kleine Hermine im zierlichen Wägelchen von der glückstrahlenden Mutter die schnurgerade »Lange Straße« entlang hinaus in das unmittelbar an sie anschließende Gehölz gefahren wurde, das man ein wenig anspruchsvoll den »Stadtpark« nannte, dann setzte sie alle Einwohner in Entzücken und alle Fensterspiegel Neukirchens in Bewegung. Und als sie erst an der Hand der Mutter, lebhaft plappernd und mit den runden Ärmchen da- und dorthin energisch fuchtelnd, wiederum die schnurgerade Straße entlang zum »Stadtpark« hinauswanderte, nickten ihr die alten Frauchen hinter den Gardinen zu, und die auf den Bänken vor den Häusern saßen oder auf der Straße ihr begegneten, waren hoch beglückt, wenn sie ihre freundlichen Grüße mit einem ehrfurchtsvollen Knickse erwiderte.

Auch das Zusammenleben der Gatten war nun von Grund auf verändert. Dora wartete nicht mehr mit der früheren Ungeduld auf die Heimkehr ihres Mannes, begrüßte ihn nicht mehr mit stürmischer Herzlichkeit auf der Diele und war des Abends erst zu seiner Verfügung, wenn sie die Kleine zu Bett gebracht und all die Arbeit verrichtet hatte, die dann noch für sie übrig war.

Im Anfang litt er darunter. Seine der Anlehnung bedürftige Natur entbehrte es schmerzlich, daß seine Frau nun nicht mehr ausschließlich für ihn da war. Bis die kleine Hermine auch sein ganzes Herz eroberte und er sich doppelt freute, wenn er nach getaner Arbeit in sein Haus zurückkehren konnte. Denn er fand dort außer der einen, die er heute noch liebte, wie in den Tagen seiner Bräutigamszeit, ein zweites Wesen vor, das er als ein Stück der Geliebten mit derselben Wärme und Inbrunst umfaßte. Ja, sofern es irgend mit seiner Pflicht vereinbar war, fuhr er zeitig nach Hause und ließ den Kutscher die Pferde antreiben, damit er daheim mit seinem Töchterchen noch spielen konnte. Fand er sie aber schon schlafend, so stand er still vor ihrem Lager und betrachtete den kleinen, rosig hingebetteten Körper andachtsvoll wie ein Kunstwerk, und aus der Tiefe seines Herzens stieg ein heißer Dank empor für das neue, überschwengliche Glück, das mit diesem Kinde in sein Leben gekommen war.

Er bedurfte jetzt der häuslichen Freude und Erfrischung. Denn seine Praxis wuchs mit jedem Tage, und zu den Sprechstunden, die in der frühen Morgenstunde begannen und sich jetzt meist bis in den Nachmittag hinzogen, gesellten sich anstrengende Fahrten über Land. Kehrte er aber des Abends zurück, so warteten bereits neue Patienten auf ihn, die er nicht abweisen konnte.

Freilich, seine Einnahmen standen zu dieser aufreibenden Tätigkeit in gar keinem Verhältnis. Gewiß, er war durch seine Kassenpraxis gedeckt. Aber es gab in Neukirchen und den umliegenden Dörfern auch viele alte Leute, die sich durch Besenbinden und andere Handarbeit notdürftig ernährten. Es gab manchen kleinen Kätner, der auf seinem Besitztum stark verschuldet war, manchen Gewerbetreibenden, der sich und seine Familie nur notdürftig mit seinem knappen Verdienste unterhielt.

Von allen diesen Entgelt für seine Mühe zu fordern, bekam Werner Torwald nicht über das Herz. Das brachte ihm viel Liebe und Verehrung ein, man pries seine Güte und nannte ihn den »Heiland der Armen und Kranken«. Dora aber hatte es dadurch sehr schwer.

In den ersten Jahren hatte sie ihrem Manne die Freude nicht stören wollen. Jetzt durfte sie es nicht mehr mitansehen.

»Es ist ja an sich gut und gewiß auch edel, von diesen Armen keine Gebühren zu erheben«, sagte sie zu Werner, »und du konntest dir diesen Luxus, als wir allein waren, auch leisten. Aber jetzt hast du Pflichten gegen dein Kind. Die müssen obenan stehen. Und da dir das Geschäftliche so gar nicht liegt, so schlage ich dir vor, du überlässest mir das Führen der Bücher und das Ausschreiben der Rechnungen. Ich werde es in deinem Sinne tun und andererseits doch so, daß wir haben, was wir zum Leben brauchen. Das, meine ich, ist das wenigste, was du für deine rastlose Arbeit verdient hast.«

Diesmal aber stieß sie auf einen Widerstand, den sie nicht gewohnt war.

»Wir haben doch immer reichlich gehabt.«

»Jawohl, bei deiner Genügsamkeit, die sich bei aller Anstrengung nicht das geringste gönnte. Was denkst du wohl, wäre aus uns geworden, wenn mein Vater nicht immer gegeben hätte.«

»Du bist also nicht zufrieden?«

»Nein, ganz und gar nicht. Vor allem will ich nicht, daß Hermine etwas abgeht.«

»Die Hauptsache jeder Erziehung ist, Kinder in der möglichsten Anspruchslosigkeit aufwachsen zu lassen.«

»Aber nicht in Armut und Mangel.«

»Armut und Mangel! Verzeih, Liebste, aber ich glaube, davon hast du denn doch keine Ahnung. Du lieber Gott, wenn ich daran denke, Unter welchen täglichen Entbehrungen ich groß geworden bin!«

»Du darfst nicht immer deine Jugend zum Maßstabe nehmen. Das liebst du sehr. Aber du vergißt, daß es ganz unmögliche Verhältnisse gewesen sind. Dein Vater – doch ich will daran nicht rühren. Jedenfalls war er arm und ohne die geringsten Mittel, während der meine ein reicher Mann ist, der uns seine Zulage nicht gibt, damit ich mich an allen Ecken und Kanten einschränke. Sondern damit ich ein Leben führe, das wenigstens einigermaßen dem entspricht, das ich von Hause aus gewöhnt bin.«

Es war etwas Hartes in ihrer Sprache, das er früher nicht an ihr gehört, und das ihn schmerzlich berührte.

»Du nimmst mir jede Freude an meinem Berufe, wenn ich ihn zum Gelderwerb machen muß.

»Das muß wohl jeder Arzt, zumal wenn er eine Familie hat.«

»Gewiß. Aber von dem, was ich verdiene und du aus dem deinen dazutust, können wir doch gut leben. Ich für mein Teil werde mich gern mehr einrichten. Ach ... ich möchte lieber der ärmste Mann sein, möchte darben und hungern – als meine Tätigkeit zum Handwerk oder Geschäft machen. Das verträgt er nicht. Jeder Beruf vielleicht eher. Der des Arztes aber wird dadurch entwertet und entadelt. Ich bitte dich, quäle mich nicht weiter. Ich kann es nicht ... kann es wirklich nicht.«

Aber sie blieb standhaft. »Was dich betrifft, so geht es auch so nicht weiter. Du wirst auch für dich mehr aufwenden müssen. Deine Garderobe, die schon, als wir heirateten, auf das notwendigste beschränkt war, ist jetzt vollständig vergriffen. Dein Schuhwerk ist unmöglich, und deine Wäsche muß ich von Anfang an erneuern. Denkst du, es ist für eine Frau, die so etwas nie gesehen und gekannt hat, sehr angenehm, einen Mann zu haben, der mit Gummikragen und Röllchen einhergeht? Du meine Güte ... wenn ich mir Theo Fortenbacher mit Gummikragen vorstelle! Die Herren, mit denen ich bisher verkehrte, waren immer auf das sorgfältigste angezogen, auch wenn sie im Berufe oder in der Arbeit waren.«

»Aber ich bitte dich, für einen Arzt kommt es doch auf solche Äußerlichkeiten nicht an, wenn sein Herz nur warm für seine Kranken schlägt. Und die haben weder an meinem Anzug, noch an meinen Röllchen Anstoß genommen.«

»Ja, die sind auch danach!«

»Dora!«

Er rief es mit schmerzerfülltem Erstaunen. Es war das erstemal, daß sie in dieser Weise über Menschen redete, die ihm auf die Seele gebunden waren, und die er liebte.

»Du hast mir heute wehe getan. Es ist noch nie geschehen, daß du mir wehe getan hast.«

»Das bedaure ich. Aber es hilft nichts. Ich habe lange genug geschwiegen. Mama und Theo Fortenbacher und mancher unserer Bekannten, die dich in solcher Verfassung gesehen, haben meine Geduld bewundert.«

Jetzt begehrte auch er auf. »Du kannst mir Anzüge machen lassen nach dem neuesten Schnitte und Oberhemden mit festem Kragen und Manschetten, wie sie Theo Fortenbacher trägt – den Grund meines Wesens wirst du damit nicht ändern ... niemals.«

»Das will ich ja auch gar nicht. Es gibt wohl nichts Schwereres in einer Ehe, als Gegensätze auszugleichen, die von der Herkunft und Erziehung her vorhanden sind. Das ist das Unausgleichbare, das Trennende. Ich will zufrieden sein, wenn es mir gelingt, den äußeren Menschen ein wenig zu modeln. Und darin, das kann ich dir sagen, werde ich nicht locker lassen ... Deinetwegen.«

»Also im Innerlichen sind diese Gegensätze da und werden bleiben? Und wir gehören vielleicht gar nicht so zusammen, wie wir es uns einmal eingeredet haben?«

Aus jedem seiner Worte klang die leidvolle Enttäuschung, die in ihm war, klang zugleich der heiße Wunsch, sie möchte ihm widersprechen, möchte ihm sagen, daß sie sich innerlich zu ihm gehörig fühle.

Sie merkte es wohl. Aber sie konnte nicht unwahr sein.

Es war etwas ihrem Wesen Unmögliches.

»Wir wurzeln alle in der Familie. Davon kommt wohl niemand los. Das ist das Schicksal jeder Ehe, und ich glaube, ihr Unglück entspringt meistens daraus.«

»Aber früher, Dora – früher war es nicht so.«

»Man lebt nicht immer in den Flitterwochen. Wir sind alt geworden, mein Schatz, das vergißt du. Nur in der Jugend und in der Verliebtheit ist man blind.«

»Nun ... so wünschte ich, es wäre noch so, wie es früher gewesen. Bei mir«, fügte er treuherzig hinzu, »ist es noch so. Ich bin noch blind und verliebt. Und ich wünsche es mir nicht anders.«

»Und die Hauptsache läßt du außer acht: wir haben ein Kind. Wenn die Frau erst Mutter ist, gehört sie ihrem Kinde.«

»Mehr als ihrem Manne?«

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls gehört sie ihm nicht mehr ausschließlich, und er darf es nicht von ihr verlangen.«

»Weiß Gott ... ich liebe mein Kind, liebe es, wie ein Vater wohl nur lieben kann. Aber du bist mir mehr, Dora.«

Es war ein neues, starkes Bekenntnis seiner unerschütterlichen, immer wachsenden Liebe.

»Das mag bei dem Manne vielleicht anders sein als bei der Frau.« Aber als sie den tieftraurigen Zug in seinem Antlitz sah: »Doch es ist nett und lieb von dir, daß du mir das sagst. Und ich glaube es dir und freue mich darüber. Doch nicht wahr, meinen Vorschlag wegen der Bücher und Rechnungen überlegst du dir? Es ist für dich ja nur eine lästige Arbeit. Und nun muß ich zu Hermine. Sie hat mich lange genug entbehrt und wird schon auf mich warten.«

Er blieb allein. Zu irgendwelcher Tätigkeit war er nicht aufgelegt. Er nahm seine Instrumente vor, sie zu reinigen und in Ordnung zu bringen. Aber er kam nicht weit damit. Durch das Zimmer, in dem sonst alles so hell und licht war, selbst an den längsten Winterabenden, schritten schwere Schatten.

Er dachte an ein Gespräch, das er einmal, es war aus der nächtlichen Wagenfahrt nach Kokoschken zu seinem kranken Vater, mit Hans Hartau gehabt. Lange war es her, und er hatte es bereits vergessen. Jetzt kam es ihm in den Sinn. Wort für Wort.

Hans Hartau hatte von den beiden Schwestern gesprochen: wie bei Anneliese alles auf Gefühl und Gemüt eingestellt wäre, während bei Dora, die die jüngere Schwester an Klugheit und wohl auch an Temperament überragte, der Intellekt und der Wille das Entscheidende wäre. Er hatte es nie empfunden. Sie hatte sich ihm von einer Wärme und Hingebung gezeigt, die die Worte des jungen Geistlichen Lüge straften. Und nun mit einemmal –: »Man lebt nicht immer in den Flitterwochen!« Sie hatte es eben selber gesagt: »Die Frau, wenn sie erst ein Kind hat, so gehört sie diesem.«

Und er?

Warum konnte er sich nicht damit abfinden? Warum fühlte er diese Leere in seinem Innern? Diesen dumpfen Mangel in seinem bisher so ausgefüllten Leben?

Sie hatte noch mehr gesagt: von der Kluft, die von Abstammung und Familie her zwischen ihnen sich auftat ... unüberbrückbar, und unabänderlich, hatte es so klar und scharf gesagt, daß sie vielleicht recht hatte und er sich darin fügen mußte.

Warum vermochte er es wieder nicht?

Schwerer wurden die Schatten. Geister gingen durch die Stube, schwebten hin und her, tauchten auf und nieder. winkten und wollten nicht weichen.

Und mit einem Male wurde es ihm klar: Es gab einen Kampf mit den Geistern. Nicht mit denen in der eigenen Brust. Einen viel schwereren: mit denen in der Seele des anderen, über die man keine Gewalt hat. Selbst nicht einmal, wenn man ihn lieb hat.

*

Das war ein Leben jetzt in dem früher so stillen Hause, das von seiner stolzen, grünen Höhe auf alle Giebel und Dächer der schnurgeraden Straße herabblickte.

Wie ein lustiger Wirbelwind fegte die kleine Hermine durch seine Räume von oben bis unten, jagte über den Rasen und die paar Blumenbeete des sorgsam gehegten Gartens dahin, spukte wie eine Tollprinzessin an den dunklen Abenden auf dem Bodenraum und der Diele, überfiel aus klug gewähltem Versteck jeden, der ahnungslos in ihre Nähe kam, baute sich aus allerlei Zeug und Gerät, das sie aus den entlegensten Winkeln, oft auch aus sicherem Gewahrsam herbeischleppte, Ställe und Burgen und wohlige Nester, je nachdem sie ein Pferd oder ein Raubritter oder ein Vogel war, und zeigte bei allem frohen Temperament in früher Kindheit schon ihren festen Willen, der manchmal die Form eines starren Eigensinns annahm und dann von niemand zu brechen war, weder vom Vater, noch von der Mutter.

Sie war kein leicht zu nehmendes Kind, die kleine Hermine. Sie hatte nicht nur ihren Kopf für sich, sie hatte auch ihre ausgesprochenen Neigungen und Abneigungen, gegen die nicht minder leicht anzukämpfen war.

Aber, mochte sie auch kein besonders artiges oder sittsames Kind sein, sie bezauberte alle, die mit ihr in Berührung kamen. Nicht nur die Eltern, deren kleiner Abgott sie war, auch die Patienten, die zu den Sprechstunden kamen und, so sorgsam und ängstlich die Mutter sie auch von ihr fernzuhalten suchte, doch immer Mittel und Wege fanden, ihr einen für sie aus der gegenüberliegenden Zuckerbäckerei von ihren spärlichen Mitteln erstandenen Leckerbissen oder ein kleines Spielzeug zuzustecken.

Auch Malkaymen hatte sie im Fluge erobert. Und insbesondere die Großmutter, deren stark auf das Äußerliche eingestellter Sinn sich mit einem Stolze, den sie für Liebe hielt, des hübschen und begabten Enkelkindes erfreute.

Aber Dora fuhr nach wie vor selten und ungern nach Hause, denn die mehr oder minder versteckten Sticheleien gegen ihren Mann, die sie in gewohnter Weise über sich ergehen lassen mußte, waren ihr unerträglich.

Selbst der Kommerzienrat, der bis dahin in leidlichem Verhältnisse zu seinem Schwiegersohne gestanden, vermochte als Kaufmann über dessen unpraktische Anlagen nicht hinweg zu kommen. Er erhöhte Doras Zulage, er verdoppelte sie.

Als es trotzdem beim alten blieb und seine Tochter nach wie vor mit Geldschwierigkeiten kämpfte, hatte er eine sehr ernste Unterredung mit Werner, deren einzige Folge für ihn die Erkenntnis war, daß er einem unheilbaren Idealisten gegenüber stand, dem nun einmal nicht zu helfen war. Er hielt seine Zulage zwar aufrecht, zog sich aber persönlich immer mehr zurück.

*

Hermine hatte ihr zwölftes Jahr vollendet.

Aus dem lustig tollenden Kinde war ein blühend sich aufschließendes Mädchen geworden.

Von der Mutter hatte sie die herbe, leidenschaftliche Art, die sich mit einem früh entwickelten Verstande einte, vom Vater bei aller Lebhaftigkeit eine gewisse Verschlossenheit und einen wenig entwickelten, aber bei mancher Gelegenheit hervortretenden Zug ins Gute und Große.

Was sie aber als ihr allein Zugehöriges besaß, das war die schlanke Grazie, die über ihren Schritten und Bewegungen lag. Sie hatte eine weiße, etwas kühle Haut, dafür aber warme Augen von einer schwer zu bestimmenden Farbe, die unter braunen, dichten Haarflechten abwechselnd träumten oder blitzten. Man hatte ihr so oft gesagt, daß sie eine kleine Schönheit wäre, daß sie schon in jungen Jahren davon durchdrungen war und dieses Bewußtsein die Kindlichkeit und Unbefangenheit ihres Wesens ein wenig beeinträchtigte, ohne daß es störend nach außen in die Erscheinung trat.

Nach ihrer ganzen Art und Naturanlage fühlte sie sich der Mutter verwandt, von der sie unzertrennlich war. Dem Vater, obwohl er sich in jeder Weise um sie bemühte, begegnete sie mit einer gewissen Scheu, manchmal fast wie einem Fremden; es mochte daher kommen, daß sie ihn am Tage nur beim Mittagessen sah und, wenn er des Abends nach Hause kam, schon im Bette lag.

So lange es ging, hatte sie die Privatschule des Fräulein Zobelmann besucht, die die wenigen Kinder der »besseren Kreise« um sich sammelte.

Aber der Tag kam, an dem Fräulein Zobelmanns Weisheit sich erschöpft hatte und Frau Dora in das Zimmer ihres Gatten trat, der eben den letzten Patienten abgefertigt hatte, einen wichtigen, für ihre Tochter, vielleicht für das ganze Haus am grünen Berge entscheidenden Entschluß herbeizuführen.

»Hermine ist gestern zwölf Jahre geworden und Ostern mit ihrer Schule fertig«, sagte sie ohne jede Einleitung, die sie nie brauchte, »sie muß in die Stadt, wo ich sie auf das Gymnasium geben möchte. Die Eltern sind bereit, sie bei sich aufzunehmen. Ich habe mit der Mutter gesprochen.«

Werner blickte von seinen Büchern, mit deren Ordnung er gerade beschäftigt war, mit erstaunten Augen auf. Er hatte sich den Stand der Dinge nie klargemacht, hatte nie daran gedacht, daß er sein Kind so bald aus seinem Hause geben sollte. Das Fernliegende zu erwägen, war nicht seine Art.

»Zu den Eltern möchte ich Hermine nicht geben«, sagte er.

»Dann müßten wir sie in einer fremden Familie unterbringen. Freilich, wer die Mittel dazu schaffen soll, weiß ich nicht.«

»Ist es denn unbedingt notwendig, daß wir uns von dem Mädchen trennen, jetzt schon? Es wird mir schwer.«

»Glaubst du, daß es mir leicht wird? Es bliebe noch eine Möglichkeit.«

»Welche?«

Einen Augenblick zögerte Dora. »Daß du dich entschlössest, deine Praxis von hier fort in die Stadt zu verlegen.«

»Ich – – in die große Stadt? Nein, ich passe dort nicht hin, würde mich dort nie befriedigt fühlen.«

»Es ist jetzt nicht die Rede von dir, sondern von dem Kinde. Du darfst nicht bei allem nur an dich denken.«

»Ich – und nur an mich denken! Nein, Dora, das kannst du doch wirklich nicht im Ernste meinen.«

»Ich kann es sehr wohl im Ernste meinen. Wenn dein ärztlicher Beruf in Frage kommt, tritt alles andere dahinter zurück. Deine Arbeit und immer deine Arbeit! Man kann wirklich müde dabei werden.«

»Gewiß, der Mann hat nun einmal seinen Beruf und seine Arbeit und muß ihnen dienen. Und doch ist es nicht so, wie du sagst. Ihr beide, du und Hermine, seid mir das Liebste auf der Welt.«

»Wenn wir nichts anderes finden, so könnte ich ja schließlich mit Hermine in die Stadt gehen.«

»Du ... du wolltest dich von mir trennen?«

Ein großes Erschrecken war in seiner Frage, zugleich ein Schmerz, der deutlich aus seinen stockenden Worten sprach.

»Ich sagte ja nur: wenn uns nichts anderes übrig bleibt. In den Ferien wären wir natürlich immer hier. Das machen jetzt viele Frauen so. Frau von Glasenapp auf Begehnen ist mit ihren beiden Jungens jetzt auch in die Stadt gegangen, und die Frau vom Pastor in Dornau lebt schon seit Jahren mit ihren Kindern dort. Die Verhältnisse bringen es eben mit sich.«

Er hatte sie kaum gehört. »Und ich sollte allein hierbleiben – ohne dich und das Kind? Das ist unmöglich. Eher – –«

»Gingst du mit uns in die Stadt?«

Sie hatte es gefragt, bevor er seinen Satz beenden konnte. Ein Leuchten war in ihren Augen, ihrem ganzen Antlitz. Was sie so lange mit sich herumgetragen und voller Inbrunst erwünscht hatte, nicht nur ihret- und des Kindes halber, sondern auch seinetwegen, denn von seiner Tüchtigkeit als Arzt war sie überzeugt und fest davon durchdrungen, daß er nicht am richtigen Platze war, worum sie dennoch ihn zu bitten niemals gewagt hatte, weil sie wußte, daß er es ihr nie erfüllen würde, das war mit einem Male nicht mehr in unerreichbare Fernen gerückt.

»Das wollte ich noch nicht sagen. Aber überdenken will ich es. Der Mensch soll nichts tun, was wider seine Natur und Art ist. Und ich glaube nicht, daß es zu meinem Glücke sein würde.«

Sie stand von ihrem Stuhle auf, trat dicht an ihn heran, legte den Arm um seine Schultern und redete mit ihrer etwas spröden Stimme, in der heute aber etwas Bestrickendes war, auf ihn ein.

»Du siehst es wohl nicht ganz richtig an, Liebster. Warum sollte ein solcher Wechsel nicht zu deinem Glücke sein? Dein Name ist nicht mehr unbekannt. Von weither kommen die Menschen zu dir. Sollten sie es weniger tun, wenn du in der großen Stadt wohnst? Das Gegenteil wird eintreten. Sie werden erst recht kommen. Die Großstadt wird deiner Tätigkeit den notwendigen Hintergrund schaffen. Und nicht nur die kleinen Leute, wie du sie hier hast, auch die Angesehenen und Reichen werden kommen –«

»Die ich nicht suche.«

»Ich weiß es. Aber als Mutter und praktische Frau weiß ich auch, daß es höchste Zeit ist, unsere Lage aufzubessern. Hier ist das unmöglich. Dazu hast du dir deine Leute viel zu sehr verwöhnt. Aber in der Stadt kann es ohne Schwierigkeit geschehen. Geheimrat Backel sagte mir erst vor kurzem, als ich ihn in einem Konzerte sprach, du wärest einer der bekanntesten Ärzte der Provinz und würdest fraglos Zulauf haben, wenn du dich entschließen könntest, deine Praxis in die Großstadt zu verlegen.«

»Deutetest du ihm an, daß es dein Wunsch wäre?«

Sie wurde ein wenig verlegen. Also hatte er es doch gewußt, ohne daß sie je eine Silbe zu ihm geäußert hatte.

»Nun ... wie man so spricht. Jedenfalls versicherte er mir, daß es ihm eine Freude sein würde, dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.«

»So? Tat er das?«

»Du könntest doch einmal zu ihm fahren, mit ihm sprechen, wie die Verhältnisse liegen und welche Aussichten du hättest. Auch mit Professor Gregori vom Stadtlazarett. Er hat ebenfalls großen Einfluß und will dir wohl.«

»Das könnte ich vielleicht tun. Ich muß in den nächsten Tagen sowieso auf das Gesundheitsamt, da könnte ich die Gelegenheit wahrnehmen. Nur bitte ich dich: dringe nicht in mich. Es ist etwas in mir, das mich vor diesem Schritte warnt.«

Sie lächelte. »Deine Geister sind wohl wieder am Werke, nicht wahr?«

»Ganz recht ... meine Geister. Es gibt solche Stimmen in uns. Man soll sie nicht überhören. Und entschließe ich mich wider sie, so tue ich es dir zuliebe und des Kindes halber.«

»Das weiß ich. Und ich danke dir dafür und werde es dir nie vergessen. Aber ich glaube, es wird auch zu deinem Segen sein.«

Sie erzählte ihm noch dies und jenes, war aufgeräumt und guter Dinge.

Er aber blieb schweigsam in sich versunken.

Sie merkte es nicht. Denn sie malte sich das Leben in der großen Stadt aus, freute sich, daß sie nun vielleicht von dieser Kleinlichkeit und Öde befreit werden würde, die ihren regen Geist lange genug eingeengt, Und hatte allerlei Pläne und Gedanken, wie sie dies und jenes einrichten und mit Hermine, wenn sie erst ein wenig älter geworden wäre, Konzerte und Theater besuchen und anregende Kreise um sich sammeln würde.

*

Geheimrat Backel befand sich auf seinen Vormittagsbesuchen, die er in dem ausgedehnten Villenviertel abstattete.

Die Aprillüfte waren heute bereits so weich und lockend, daß er das Verdeck seines schmucken, mit hellblauer Seide ausgepolsterten Wagens hatte herunterschlagen lassen und nun auf seinem Rücksitz in anmutig ungezwungener Haltung, den Arm lässig auf die Lehne gestützt, wie ein kleiner König saß und sich des leicht tänzelnden Ganges der beiden jungen, zierlich und zugleich stark gebauten Rotschimmel im silberbeschlagenen Geschirr erfreute, die er vor einigen Wochen für einen fabelhaften Preis gekauft, und die der alte, erfahrene Kutscher mit dem gepflegten, silberhaarigen Vollbart zu zügeln ein gut Teil Mühe aufwenden mußte. Aber die beiden stattlichen Rappen, die bis dahin seinen Wagen gezogen, waren doch schon ein wenig abgenutzt, und die Frau Geheimrat, die im Gegensatz zu ihrem Manne eine anspruchslose, aber ein wenig spitzzüngige Dame war, hatte vielleicht nicht so unrecht, wenn sie zu einer Bekannten einmal äußerte: so wie ein Pferd vor dem Wagen ihres Gatten nicht mehr tänzelte, wäre es am nächsten Morgen verkauft.

Geheimrat Backel war eine in diesem Viertel allbekannte Persönlichkeit. Von der Straße und von den Fenstern und blumengeschmückten Ballonen erwiderte manches Frauenauge seinen Gruß, wenn er ehrerbietig seinen tadellosen Zylinderhut zog, ohne den man ihn nie sah, und bei Näherstehenden, die sie eigentlich, alle für ihn waren, mit der in dem neuesten Lederhandschuh steckenden Hand zutraulich hinauf- und hinüberwinkte.

Es brauchten durchaus nicht jung und feurig blickende Frauenaugen, brauchten nicht blühende und hübsche Mädchengesichter zu sein. Als erfahrener Mann wußte Geheimrat Backel, daß die eigentliche Klugheit eines beliebten Arztes darin besteht, gerade die reiferen und die ganz reifen Damen mit ausgesuchter Ritterlichkeit zu behandeln, und den alten Damen, die sich nicht genug für ihn putzen und schön machen konnten, bei aller Zurückhaltung zugleich mit einer solchen Liebenswürdigkeit zu begegnen, daß keine von ihnen auf den Gedanken käme, man könnte sie nicht mehr für begehrenswert halten.

Ab und zu rief er seinem Kutscher ein kurzes Wort zu, auf das dieser die in flottester Gangart befindlichen Pferde mit einem Rucke parierte.

Dann entstieg Herr Backel mit federndem Schritte seinem Wagen, ging auf eine freudig erstaunte Dame zu, die sein scharfes Auge auf dem Bürgersteige erspäht hatte, küßte ihr ritterlich das Handgelenk, erkundigte sich nach ihrem, des Herrn Gemahls, der lieben Kinder Befinden, war über jede Kleinigkeit unterrichtet, fragte, ob Ella schon wieder zur Schule ginge und Anni noch immer mit den garstigen Zähnen zu tun hätte, empfahl bei diesen trügerischen Aprillüften größte Schonung für Fräulein Lisa und stieg nach abermaligem Handkuß, noch einmal mit dem Zylinderhut grüßend, in seinen Wagen zurück, den die ungeduldig gewordenen Rotschimmel im feurigen Trabe davonzogen.

Die so ausgezeichnete Dame aber konnte dann tagelang zu Hause und im weitesten Kreise ihrer Bekannten nicht genug von der Liebenswürdigkeit des Geheimrats erzählen, der doch wahrhaftig ein beschäftigter Mann war, seinen Wagen aber sofort halten ließ, als er ihrer ansichtig geworden, sich nach allem mit größter Teilnahme erkundigte und über alles auf das genaueste unterrichtet war.

Als der Geheimrat nach seiner umfangreichen Besuchsfahrt nach Hause zurückkehrte, überreichte ihm der Diener ein Verzeichnis der eingegangenen Bestellungen.

»Sind noch Patienten da?« fragte er, die Liste flüchtig musternd.

»Einige wenige, Herr Geheimrat.«

»Eilige Fälle?«

»Ich glaube kaum, Herr Geheimrat. Die Dame aus dem Kaiserring, die schon gestern da war, die Baroneß Züllichau aus Groß-Maiken, die bestellt ist, und ein Herr.«

»Sie kennen ihn nicht?«

»Nein, Herr Geheimrat.«

»Die Damen sollen vor.«

Er hatte beide bald abgefertigt und mit ritterlicher Höflichkeit zur Tür geleitet.

»Und nun der Herr!« rief er durch die halbgeöffnete Tür und vernahm mit Unbehagen das Knurren seines Magens.

Aber kaum war der Fremde eingetreten und hatte seinen Namen genannt, da wich der verdrießliche Ausdruck von seinem Antlitz.

»Was, Sie sind es, Kollege Torwald? Und sitzen hier voller Lammesgeduld in meinem Wartesaal und sagen nicht einmal meinem Diener ein Sterbenswort, daß ich Sie vor den anderen bitten kann? Aber um so besser. Sie werden noch nicht zu Mittag gegessen haben, und ich verspüre allmählich einen Bärenhunger. Sie werden uns die Freude machen, mit uns zu speisen ... nein, keine Einrede! Bei einem hoffentlich guten Essen, dem einzigen Vergnügen, das ich mir gönne, und hinterher bei einer Zigarre bespricht sich alles am besten.«

Er läutete dem Diener. Der goß ihm warmes Wasser mit einer wohlriechenden Essenz in das Becken, legte ihm Seife, Handtuch und Bürsten zurecht und besprengte ihm zuerst den Kopf, dann den Rock mit Kölnischem Wasser.

Nun saßen sie zu dreien in dem mit stilvoller, etwas kühler Vornehmheit eingerichteten Eßzimmer unter der getäfelten Decke mit den sich herab senkenden Glühbirnen, von denen einige immer eingeschaltet waren, weil der große Raum nur buntgemalte Fensterscheiben hatte und der Geheimrat die künstliche Beleuchtung beim Essen liebte.

Er hatte nicht zu viel verheißen: das Essen war ausgezeichnet, durchaus nicht übertrieben oder üppig, aber auf das sorgfältigste zubereitet und kunstvoll angerichtet.

»Die Aufmachung ist alles ... nicht nur im Berufe, sondern auch im Hause, vor allem aber an der Tafel. Das habe ich meiner lieben Frau vom ersten Tage unserer Ehe an gepredigt, und wie Sie sehen, nicht ganz ohne Erfolg.«

Er hob das Glas mit dem kostbaren Lafitte und trank seiner Gattin lächelnd zu, die ein wenig teilnahmslos und mit den Spuren einer gewissen Ermüdung auf dem feinen, aber ausdruckslosen Antlitz zu seiner Seite saß. Dann sog er den Wohlgeruch in die dünnen Nasenflügel wie den Duft einer Blume ein, schlürfte langsam und bedächtig, bewegte leise die Lippen, schnalzte auch kaum hörbar, ließ wiederum einen kleinen Schluck über die Lippen gleiten, führte das Glas noch einmal an die Nase und nötigte seinen Gast zum Austrinken, nicht gerade ermunternd oder dringend, denn er hatte längst gemerkt, daß dieser keine Ahnung von dem hatte, was er hier an seiner Tafel trank. Und, so gastfrei er auch war, seinen alten Lafitte gönnte er nur Kennern, die ihn um seinen Besitz beneideten.

Aber Werner Torwald hatte nicht nur keine Ahnung von dem, was er trank. Alles, was ihn hier umgab, mutete ihn fremd und wunderbar an.

Seine Frau hatte ihn zu dem Besuche bei dem vornehmen Kollegen förmlich neu ausgestattet. Er trug den einzigen Anzug, der vor ihrer strengen Sichtung allenfalls noch bestanden hatte, ein nagelneues Oberhemd mit festen Manschetten und eine Krawatte, die sie ihm mit großer Sorgfalt gebunden hatte.

Aber wenn er nun sah, mit welcher leichten und selbstverständlichen Anmut der Geheimrat gekleidet war, wie ihm Rock und Beinkleid wie angegossen saßen, die Binde genau dem Farbentone der seidenen Weste angepaßt war, dann kam er sich in seiner ungewohnten Kleidung fast geschniegelt und in dem hohen Stehkragen und dem steifen Hemd wie in einen Brustharnisch eingeschnürt vor.

Und dann – daß man ein Essen wie einen Kunstgenuß in sich aufnehmen und einen Wein wie den Duft einer Blume in sich saugen und nicht trinken, sondern nur schlürfen konnte, das war ihm, dem in der größten Anspruchslosigkeit aufgewachsenen, bis zu dieser Stunde etwas Unverständliches gewesen.

Und das war die Welt, die er nun nach dem heißen Wunsch seiner Frau vertauschen sollte mit dem schlichten und ungekünstelten Leben Neukirchens, mit seinem Tun und Wirken unter den Bauern und Tagelöhnern, seinen oft mühevollen, aber schönen Fahrten auf der Landstraße.

Ein seltsames Empfinden kam über ihn, schnitt ihm das Wort vom Munde, würgte an ihm, daß er kaum einen Bissen herunterbekommen konnte.

»So, mein lieber und verehrter Herr Kollege, mehr Gerichte wird uns meine Frau nicht vorzusetzen haben, nun kommt aber das Beste: die Zigarre, die wir nebenan im Rauchzimmer genießen werden, während meine Frau ein wenig der Ruhe pflegen wird.«

Und dann, als sie sich in den einladenden Klubsessel niedergelassen und der Diener den Kaffee in kleinen Schalen gereicht: »Sie gehen also mit dem Gedanken um, zu uns in die Stadt zu kommen. Ihre Frau Gemahlin ... übrigens was für eine entzückende Frau haben Sie! Sie war von jeher, ein alter Mann darf es wohl sagen, mein Schwärm. Venus und Juno zu einem vereint, das harmonisch Schöne und das vornehm Weibliche ... also Ihre Frau Gemahlin sagte es mir vor kurzem, und ich riet ihr, Sie in diesem Entschluß zu bestärken.«

»Es war eigentlich nicht mein Wunsch. Die Rücksicht auf das Kind, das sich geistig schnell entfaltet hat, bestimmt uns. Und dann ist das Leben in dem kleinen Orte für eine Frau auch allmählich ein wenig eng.«

»Das kann ich ihr nicht verdenken. Ich hielt es in Ihrem Neukirchen nicht einen Tag aus. Ich habe Sie immer bewundert, zumal jetzt, wo Sie sich doch einen gewissen Ruf erworben haben. Man spricht oft von Ihnen.«

Er wollte dem Kollegen vom Lande, der einen schüchternen Eindruck auf ihn machte, etwas Verbindliches sagen, wie es sein Grundsatz war. »Die ganze Kunst des Verkehrs mit den Menschen besteht darin, ihnen gar nichts oder etwas Angenehmes zu sagen«, hatte er oftmals geäußert. In Wirklichkeit hatte er noch nie das geringste von dem Kollegen in Neukirchen gehört. Bis in die Kreise, in denen er zu Hause war, war der Name des einfachen Landarztes nicht gedrungen.

»Sie werden sich nur zu überlegen haben, welche Art von Tätigkeit Sie hier ausüben wollen. Denn als allgemein praktischer Arzt, das möchte ich Ihnen nicht raten. Die gibt es eigentlich in der großen Stadt nicht mehr. Da ist jeder Spezialist, und nur zum Spezialisten gehen die Leute.«

»Aber Sie selber –«

»Ich? Du lieber Gott, ich bin noch solch ein Möbel aus Urväter Hausrat. Mein Vater übte dieselbe Praxis, man hat mich gewissermaßen übernommen. Aber das ist eine längst überwundene Sache, und glauben Sie mir ... eine furchtbare Sklaverei, die ich meinem Feinde nicht wünschen möchte: immer für die Leute da sein, zu jedem Tag und zu jeder Stunde, hier »Allergnädigste« und dort »Allergnädigste«, jeden Quark sich stundenlang erzählen lassen, jeder weiblichen Laune Rechnung tragen, immer im Besuchsrock und Besuchsgesicht ... es gibt auf der ganzen Welt nichts Anstrengenderes, als sein Gesicht in liebenswürdige Falten legen.«

Er sagte es mit einer gewissen weltschmerzlichen Verachtung. Aber jene Pose, die ihm sein Beruf zur zweiten Natur gemacht, war auch in seinen Worten, und man glaubte sie ihm nicht recht.

»Also es wird ein Spezialfach sein müssen, das für Sie in Frage kommt. Haben Sie in dieser Beziehung irgendeine Liebhaberei?«

Werner dachte einen Augenblick nach, dann verneinte er.

»So werde ich Ihnen eins nennen: werden Sie Nervenarzt! Das ist das Dankbarste und auch das Einträglichste heutzutage. Nerven hat jeder, Und keiner kann sie brauchen. Man ist Spezialarzt und hat zugleich das weiteste Feld, denn unter den Begriff Nerven fällt zuletzt alles. Wir haben hier höchstens fünfundzwanzig Spezialisten für dies Fach. Das nennen Sie reichlich? Viel zu wenig ist es. Sie werden einen großen Zulauf haben.«

»Aber die Vorbereitung ...«

Der Geheimrat schlürfte den alten Benediktiner, den der Diener in die kleine Kristallschale geschenkt, wie er bei Tisch den Wein geschlürft hatte, schüttelte den Kopf bedächtig hin und her und lächelte.

»Eine gewisse Vorbereitung wird natürlich gefordert. Sie brechen Ihre Praxis auf ein, vielleicht auf zwei Jahre ab, gehen nach Berlin oder sonst wohin zu irgendeiner Berühmtheit, assistieren ein bißchen, hören Vorlesungen, besuchen die Kliniken, vielleicht auch einige Sanatorien oder Anstalten, und dann tauchen Sie eines Tages als der bei den ersten Meistern in die Schule gegangene Spezialarzt für Nerven- und Gemütskranke hier auf. Das wird Eindruck machen, wenn es einen anderen Zweck auch nicht hat.«

»Warum sollte es denn keinen anderen Zweck haben?« fragte Werner Torwald befremdet.

Wieder lächelte der Geheimrat. »Ich werde Ihnen etwas sagen, lieber Kollege. Entweder man hat das Zeug zum Arzt, oder hat es nicht. Alles andere ... o, ich kann mir wohl denken, was man so oft in Zeitungen und Romanen liest: daß einer die glänzendsten Erfolge als Arzt hat, die größten Heilungen vollführt ... ohne je eine medizinische Prüfung abgelegt zu haben.«

Und als Werner, der an seinen Vater dachte, betroffen schwieg: »Sie aber haben das Zeug dazu. Ich habe es auf den ersten Blick gesehen. Das brachte mich auch auf meinen Vorschlag. Sie sind zum Nervenarzt von der Vorsehung wie bestimmt. Und ich werde mich einmal glücklich preisen, Ihr Entdecker gewesen zu sein.«

Der Diener brachte eine Karte. Zuerst machte der Geheimrat ein unwilliges Gesicht. Dann hellten sich seine Mienen auf.

»Die Busetti. Die erste Sängerin unserer Oper und dabei eine entzückende Person. Sehen Sie, das wäre gleich solch ein Fall für Sie. Ich sollte Sie hinunterschicken, und Sie könnten gleich Ihr Probestück machen. Doch ich will lieber selber gehen, nicht meinet-, sondern Ihrethalben. Sie kennen die Frauen noch wenig, und die Busetti ... doch halt ... heute abend singt sie, und ich bin im Nebenamt Theaterarzt. Wir werden zusammengehen. Man gibt den »Don Juan«. Eine ausgezeichnete Aufführung. Sie haben ihn noch nie gesehen? Um so besser. Nachher speisen wir im Ratskeller.«

Er klingelte dem Diener, der ihm mit einer weichen Bürste den Rock reinigte und ihn wiederum mit einer wohlriechenden Essenz von Kopf bis Fuß besprengte.

»Also Sie überlegen sich meinen Vorschlag. Wir können heute abend weiter darüber sprechen. Ich werde Ihnen aus meiner Praxis genug Patienten schicken. Sie werden mit mir zufrieden sein. Übrigens möchte ich Ihnen raten, außer zu Kollege Gregori, der als leitender Arzt des Städtischen Krankenhauses natürlich von Wichtigkeit für Sie ist, noch zu Professor Scheller zu gehen, der als Chirurge zwar nicht unmittelbar in Betracht kommt, immerhin aber Einfluß hat und ein sehr kluger Kopf ist. Bringen Sie beiden meine Grüße. Also bis auf Wiedersehen heute abend!«

*

Als Werner nach draußen trat, schien weich und warm die Sonne, die er in dem feierlich abgetönten, mit künstlichem Lichte erfüllten Räume des großen Arztes ganz vergessen hatte.

In dem gewaltigen steinernen Meer, durch das er jetzt dahinschritt, war zwar wenig von ihr zu merken. Aber sowie sich in den neuen Stadtteilen einmal ein Ausblick bot, sah er sie am Himmel wie eine durch einen Schleier von allerlei Dünsten ein wenig müde dämmernde Kugel blinken und in ihrer majestätischen Ruhe auf all das Gewoge unter ihr hinabblicken.

Ein ungeheurer Verkehr war auf der Straße. Geschäftig, mit tausend Gedanken und Sorgen bis obenhin vollgepfropft, eilten die Menschen an ihm vorüber. Stumm und in sich versunken die einen, lebhaft aufeinander einsprechend die anderen. Elektrische Bahnen und Autos in ungesehener Fülle flogen, fauchten, ratterten, und dazwischen glitten Mietwagen oder solche mit schönen, feurigen Pferden bespannt über den Asphalt, daß man nur das gleichmäßige Stampfen der Hufe vernahm. Das heiße, nie ruhende Leben der Großstadt surrte, von unsichtbaren Kräften getrieben, vor seinen Augen dahin wie eine atemlose Maschine, deren Räder keine Sekunde stille stehen. Etwas Betäubendes war in der Luft und in dem Lärm.

Seine Gedanken wanderten heimwärts. Wie manchesmal war er an solch einem Vorfrühlingsabend in seiner alten Landkutsche mit den beiden schwerfälligen Braunen die eintönige Kreisstraße oder die aufgeweichten Triftenwege entlang gefahren! Er hatte diese Aprilabende immer besonders geliebt, und jetzt war ihm, als empfände er ihre eigenartige Stimmung nicht nur, nein, als sehe er sie greifbar vor sich: die blasse, kühle und doch so ahnungsschwere Tönung in der Luft, die noch etwas herbe und doch weiche Himmelsfärbung, dies seltsame Weben und Regen in der Erde, in der alles dem Leben entgegendrängte, dies Suchen und Werden der erwachten schöpferischen Kraft. Und dann diese unvergleichliche, diese balsamische Stille, nur dann und wann unterbrochen durch den Ruf des Kiebitz von den schneebefreiten, verlangend atmenden Feldern, oder das Zwitschern einer Lerche hoch über ihm in der Luft.

Und über alle dem die helle Sonne da oben, die, hier durch keine Dünste und Schleier verhüllt, mit freien, frohen Augen dem stillwirkenden Geheimnis des Werdens zusah.

Obwohl er erst einen Tag von Hause fort war, packte ihn ein Etwas wie Heimweh, und eine Bangigkeit ergriff ihn, wenn er sich vorstellte, daß er dem allen vielleicht für immer Lebewohl sagen sollte.

Auch an seine Frau und Tochter dachte er. Sie würden jetzt gewiß den gewohnten Spaziergang vor dem Abendessen in den »Stadtpark« machen, hier und da mit einem der Nachbarn reden, die bei dem warmen Wetter wohl schon auf den Bänken vor den Häusern saßen. Dann würden sie es sich behaglich machen in seinem schönen Arbeitszimmer, in dem sie des Abends immer weilten, auch wenn er nicht zu Hause war, ihre Handarbeiten vornehmen, ein Buch miteinander lesen oder Bilder besehen, wie es Hermine besonders gerne tat. Sie würden ihn nicht vermissen, wie er sie. Sie hatten sich einander, waren sich selbst genug und brauchten keinen Dritten, auch nicht ihn.

Und trotzdem hätte er wer weiß was darum gegeben, könnte er jetzt in ihren Kreis treten, mit ihnen plaudern und sein Herz ausschütten, obwohl Dora für solche Aussprachen nicht sehr zu haben war und immer nur mit halbem Ohre zuhörte, wenn er über seine inneren Empfindungen mit ihr sprach.

Aber in ihm lag nun einmal dies Bedürfnis, sich mitzuteilen. Nach dem Tode des Vaters hatte er es nie einem anderen Menschen gegenüber getan, war immer still und in sich verschlossen gewesen. Aber ihr mußte er alles sagen, was in ihm war.

Er mußte über sich selber lächeln. Er befand sich in einer eigentümlich wehmütigen Erregung. Es mochten die vielen neuen Eindrücke sein, die er heute empfangen, mehr die Gedanken und Entschließungen, die ihn tiefer bewegten, als er es sich gestehen wollte, und die Ahnung einer nahen Zukunft, die ihn vor entscheidungsschwere Schritte stellte.

Er war in die große Allee eingebogen, die zu dem städtischen Krankenhaus hinausführte. Doch für die Besuche bei den beiden Ärzten war es schon zu spät. Er mußte sie bis morgen vormittag lassen.

So schickte er sich an, den Heimweg anzutreten. Da fühlte er sich leicht an der Schulter berührt. Und als er sich umsah, leuchtete ihm ein frisches Männerantlitz und zwei fröhliche Augen entgegen.

»Wahrhaftig, Sie sind es, Doktor Torwald! Einmal bin ich an Ihnen schon vorbeigegangen. Ich hatte heute in der Stadt dienstlich zu tun und kam gerade aus dem Lazarett, wo ich einen Kranken meiner Gemeinde besucht hatte.«

Und Hans Hartau streckte ihm die Hand zur herzlichen Begrüßung entgegen, legte dann seinen Arm in den seinen und wandelte mit ihm durch den dichten Menschenstrom, der sich an dem schönen Abend in der Allee erging.

»Und nun mache ich Ihnen einen Vorschlag: bis zum Beginn des Theaters, in das ich unter Umständen mitkomme, haben wir noch eine volle Stunde Zeit. Wir nehmen die nächste Elektrische, und Sie trinken mit mir in einer gemütlichen Weinstube in der unmittelbaren Nähe des Theaters eine gute Flasche ... nein, Sie dürfen es mir nicht abschlagen. Sie werden bald erfahren, weshalb nicht. Da kommt gerade unsere Bahn. Also vorwärts! Drüben ist die Haltestelle.«

»Und nun, hochverehrter Herr Doktor und Freund«, sagte Hans Hartau, als der köstliche Schaumwein, den er ausgesucht, in den Kelchen perlte, »halten Sie es nicht für eine Vermessenheit, wenn ich, obwohl ich Ihnen an Lebensjahren, sofern ich richtig rechne, vielleicht fünf und an Semestern sogar etliche zwölf unterlegen bin, heute mit diesem würdigen Stoff das brüderliche Du anbiete. Es ist nicht nur der Zug der inneren Zugehörigkeit, der mich zu diesem Wunsche treibt, sondern etwas anderes –«

Er lächelte geheimnisvoll und fuhr fort: »Ich habe nämlich das Glück, seit gestern abend mit Ihnen in ein verwandtschaftliches Verhältnis getreten zu sein, indem ich Ihr Schwager geworden bin.«

Werner Torwald setzte das Glas, das er bereits erhoben hatte, wieder aus den Tisch. Ein großes Erstaunen war in seinem Antlitz.

»Lassen Sie uns zuerst anstoßen, die Kelche bis auf die Neige leeren und die Hand uns reichen. Dann sollen Sie alles hören.«

Die feierliche Handlung war beendet. Hans Hartau füllte die Gläser von neuem und erzählte: »Sie wissen – da verplappere ich mich gleich wieder – also: du weißt, daß ich Anneliese lange liebte. Du wirst es damals schon gemerkt haben, als wir in der Nacht nach ihrem Geburtstage zu meinem kranken Vater fuhren. – Da geschah etwas, womit ich nicht gerechnet hatte: Theo Fortenbacher, den ich bisher nur als Verehrer Deiner Frau betrachtet hatte, trat plötzlich als Bewerber um Anneliese auf den Plan ... doch das weißt du. – Theo Fortenbacher holte sich einen Korb, und Anneliese begab sich auf längere Zeit auf Reisen. Als sie wiederkehrte, erklärte ich mich, und sie – wies mich ab. Sie tat es in gütigster, freundlichster Weise, sagte mir, daß sie zu sehr daran gewöhnt wäre, mich als ihren Lehrer und Geistlichen zu betrachten, als daß sie dies Verhältnis mit einemmal umstellen könnte. – Eine Abweisung blieb es doch.«

Er blickte mit verträumten Augen über sein Glas hinweg und fuhr fort:

»Die Jahre vergingen. Ich kam um meine Versetzung ein, trat meine neue Stelle an und suchte auf jede Weise meiner Neigung Herr zu werden. Es war vergeblich. Da entschloß ich mich eines Tages, einer Einladung zum alten Kammerherrn von Örzen auf Worditten, dem Patron meines Vaters, zur Feier seines siebzigsten Geburtstages zu folgen. Ich sah nach langer Zeit Anneliese wieder. Wir sprachen uns; am nächsten Tage, es war gestern, fuhr ich nach Malkaymen und verlobte mich« ...

Am Abend saß Werner Torwald im Theater und hörte den »Don Juan«. Der Geheimrat hatte nicht zuviel gesagt: es war eine ausgezeichnete Aufführung. Besonders die Busetti als Donna Anna entzückte durch ihre bestrickende Schönheit und Jugend.

An seinen Ohren aber rauschte die unsterbliche Musik und alles, was sich auf der Bühne abspielte, wie ein ferner dunkler Traum vorüber.

Andere Gedanken und Gewalten lebten in seiner Seele: die neue ungewisse Zukunft, der er mit immer gereifterem Entschluß entgegenschritt, und Anneliesens Verlobung, die ihm so überraschend gekommen und ungelöste Fragen in ihm wachrief.

*

In dem städtischen Krankenhause herrschte der starke Vormittagsbetrieb.

Als Werner in die große, lichte Vorhalle trat, sah er Schwestern und Wärter geschäftig die weiten Gänge entlangeilen, allerlei Menschen kommen und gehen. Ab und zu traf er auf einen Arzt im weißen Mantel, der auf der Besuchsrunde war oder aus dem Operationssaal kam. Bahren, auf denen zugedeckte Kranke lagen, wurden vorbeigetragen. Opferbereite Arbeit, hingebende Liebe, aber auch viel Leid und Elend, mancher unterdrückte oder laute Seufzer rauschte an ihm vorüber.

Seltsam wirkte es auf ihn ein, als er einer jungen, freundlichen Schwester folgte, die ihn auf seine Bitte zu Professor Gregori führte.

Durch Riesensäle ging der Weg, in denen die Betten kolonnenweise standen, über jedem eine Tafel, auf der der Name, einige Daten und die Temperatur verzeichnet waren, indes die Kranken regungslos dalagen oder, halb oder ganz in ihren Kissen aufgerichtet, ihn und die Schwester mit neugierigen Augen verfolgten.

Er mußte an sein kleines Neukirchener Krankenhaus denken, mit der einen ältlichen Schwester, in dem im höchsten Falle mal vier Betten belegt waren und alles so still und freundlich herging; an seine Besuche dort und seine Gespräche mit den Kranken dachte er, von denen er jeden ganz genau kannte, nicht nur sein Leiden, sondern auch seine Familie und seine Lebensverhältnisse.

Da stand er vor der weißen, großen Flügeltür und las die Inschrift auf dem viereckigen Schild: »Professor Gregori, leitender Arzt.«

Gleich beim Eintritt stutzte er. Die kleine, schmächtig gebaute Gestalt mit dem feinen, blassen Gelehrtenantlitz und den grübelnden Augen, die sich jetzt lässig vom Schreibtisch erhob und ihn mit leiser Stimme begrüßte, entsprach so ganz und gar nicht dem Bilde, das er sich von dem bekannten und überall hingerufenen Mann gemacht hatte.

Kühl, fast geschäftsmäßig fragte der Professor, der eben von seinem großen Besuchsgang zurückgekehrt war und ein wenig ermüdet schien, nach dem Zwecke seines Kommens und womit er ihm dienen könnte.

Als er über beides aufgeklärt war, schüttelte er einige Male das Haupt mit dem dichten, blondgrauen Vollbart, blickte mit nachdenklichem Ernst auf seine lange, ein wenig welke Hand, die, als wäre sie gewöhnt, sich fortdauernd Aufzeichnungen zu machen, einen riesigen Bleistift hielt.

»Sind Sie so ehrgeizig?«

»Ich mag viele Fehler haben, der Ehrgeiz ist mir immer fremd gewesen.«

»Was treibt Sie denn von Ihrem stillen Lande in die Stadt ... in dies große, nimmer ruhende Getriebe?«

»Ich habe eine Tochter, die der kleinen dortigen Schule entwachsen ist, und die ich, da sie mein einziges Kind ist, nicht gerne aus dem Hause geben möchte.«

»Und Sie selber?«

»Ich fürchte, in der gleichförmigen Praxis eines Landarztes auf die Dauer ein wenig einseitig zu werden, und möchte mich in meinem Fache gern weiter bilden.«

»Weiter bilden? Woran kann sich unsereiner weiter bilden als an den Menschen und an den Büchern? Und haben Sie beides nicht reicher auf Ihrem Lande?«

»Vielleicht. Aber ich denke mir eine Tätigkeit, wie Sie beispielsweise hier in Ihrem großen Lazarett haben, doch vielseitiger und anspornender.«

»Vielseitiger und anspornender ... so ... so ... Die Menschen, sehen Sie, haben hier alle ihre Nummern. Sie sind ja wohl eben selber diese langen Kolonnen von Betten hindurchgegangen ... jeden Tag eine neue Ablösung.«

Er hüstelte und streifte Werner mit einem kurzen Blick.

»Verzeihen Sie, aber Sie dürfen es mir nicht übel nehmen, es besuchen mich so viele Kollegen aus den Städten und vom Lande – wie war doch Ihr Name, und von wo kommen Sie?«

»Ich heiße Werner Torwald und praktiziere in einem kleinen Flecken, ungefähr sechs Meilen von hier, den Sie vielleicht kaum dem Namen nach kennen: Neukirchen.«

Da lebte das bleiche Antlitz auf.

»Der Torwald aus Neukirchen sind Sie? Der ist mir durchaus nicht unbekannt. Von dem hat mir mancher Patient da drüben in meinen Krankensälen erzählt.«

Und dann mit einer kaum verhohlenen Spannung: »Sagen Sie mal ... ist es wahr, daß Sie die Krankheit eines Menschen aus seinen Augen sehen wollen?«

»Ich kann mir denken«, erwiderte Werner lächelnd, »daß das die Leute von mir erzählen. Natürlich kann ich eine bestimmte Krankheit nicht aus dem Auge feststellen. Das wäre Vermessenheit oder Unsinn. Aber etwas Richtiges ist doch daran: ich erkenne manches aus dem Gesicht des Menschen, vor allem aus seinem Auge.«

Der Professor schwieg eine Weile.

»Ich muß an einen verstorbenen Schwager von mir denken«, sagte er dann. »Er war der berühmteste Pferdezüchter der ganzen Umgebung. Der sah, wenn er ein Pferd kaufte oder es beurteilen sollte, zuerst nach seinem Gesichte. Das war maßgebend für ihn und trog ihn nie. Warum sollte man also nicht auch im Antlitz und Auge des Menschen den Spiegel seines Seins und auch seines Leidens erkennen? Freilich, eins gehört wohl dazu: ein hellseherischer Blick.«

»Den habe ich vielleicht ... vom Vater her.«

Wieder schwieg der Professor. Man merkte, daß er etwas sagen wollte, aber noch zögerte, es hervorzubringen.

»Ist es auch wahr« fragte er endlich langsam, »daß Sie im Auge des Menschen den Tod sehen können?«

»Bei gewissen Krankheiten ... ja.«

»Und wenn Sie ihn sahen ... gaben Sie dann Ihren Patienten auf?«

»Nein, das habe ich nie getan.«

»Was taten Sie dann?«

»Ich rang mit dem Tode, wie es alle Ärzte müssen.«

»Ich sehe den Tod auch so oft«, sagte der Professor nach einer langen Pause, »... nein, nicht in den Augen. Aber doch ganz sicher und zuverlässig, selbst in Fällen, wo andere, auch meine Kollegen, hoffen. Und das ist dann immer so schwer ... das Schwerste aber von allem ist der Zweifel. Kennen Sie den auch?«

»Ob ich ihn kenne!« rief Werner aus innerstem Herzen heraus.

Der Professor sah ihn mit einem vollen Blick an, was er bis jetzt nicht getan hatte. Ein wärmerer Ton trat in seine bis dahin müden Augen.

»Ich glaubte früher, er wäre eine Kinderkrankheit des jungen Mediziners, die überwunden werden muß. So hatte man es mir immer gesagt, und ich habe mich getröstet, wenn es mich mal zu heftig packte. Jetzt weiß ich: das alles ist nicht wahr. Je älter man wird, je weiter man in seiner Wissenschaft und Erfahrung fortschreitet, um so mehr wächst dieser Zweifel ... an sich ... an seiner Wissenschaft ... an Gott und an den Menschen. Und wenn einem dann solch hoffnungsvolles, blühendes Leben wider alles Erwarten und alle Berechnung eines Tages hinstirbt – warum ich gerade Ihnen das sage, der ich Sie heute zum erstenmal sehe ...?«

»Vielleicht weil Sie fühlen, welche verwandten Saiten Sie da in mir anschlagen.«

»Es mag sein. Wir dürfen unser Innerstes ja nie zeigen. Dem Kranken nicht, der von uns die sichere Hilfe erwartet, und seinen Angehörigen, die getäuscht werden wollen, erst recht nicht. Immer müssen wir unfehlbar sein ... immer unfehlbar.«

»Nur glaube ich, daß Ihnen die Verstellung ebenso schwer fällt wie mir.«

»Sie ist mir unmöglich. Fragt man mich, so sage ich rückhaltlos, was ich denke. Ich kann nun einmal nicht anders. Deshalb bin ich als grob und rücksichtslos verschrien, wohin Sie kommen. Man schätzt meine Kunst, man sucht mich, weil ich nun einmal einen gewissen Ruf habe. Aber als Menschen mag man mich nicht. Und ich, den sie hart nennen oder, wie vor kurzem eine Mutter, der ich die Hoffnung auf die Rettung ihres einzigen Sohnes nehmen mußte, gar ›brutal‹ ... ich habe oft solch ein Erbarmen mit diesen geängstigten Menschen, die in ihrer Verzweiflung nach dem letzten Strohhalm greifen, daß ich, wer weiß was, darum gäbe, könnte ich sie belügen mit freundlichen Worten und lächelnden Lippen. Vielleicht wäre es das Richtige ... wäre es Mitleid und Liebe.«

Ein Unterarzt erschien, um seinen Chef eines dringenden Falles halber in den Krankensaal zu bitten. Der Professor brach das Gespräch ab und reichte Werner die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch, lieber Herr Kollege. Ich glaube, wir beide werden gut zusammenarbeiten. An mir soll es nicht fehlen.«

Und abermals schritt Werner Torwald durch endlose Gänge und Säle und schließlich über einen großen Lichthof hinweg in den anderen Flügel des mächtigen Gebäudes, das der Chirurgischen Abteilung eingeräumt war, um sich bei Professor Scheller, ihrem Leiter, melden zu lassen.

»Der Herr Professor ist noch mitten in seinen Operationen«, sagte ein junger Assistenzarzt, dem er sich vorgestellt hatte. »Er arbeitet bereits seit dem frühen Morgen. Aber ich werde sehen.«

Nach einer kurzen Weile kehrte er zurück. »Der Herr Professor ist in wenigen Minuten fertig. Er wird dann eine Pause eintreten lassen und Sie empfangen.«

Er öffnete die Tür zu einem kleinen, von dämmerndem Licht erfüllten und mit wenigen verschnörkelten Möbeln ausgestatteten Zimmer.

Ein betäubendes Duftgemisch von Karbol, Jodoform und Äther schlug Werner bei seinem Eintritt entgegen. Schädel, medizinische Instrumente, Gläser und Gefäße standen auf dem länglichen Tische in der Mitte und in der Ecke ein großes Skelett, dessen gelbe Tönung seltsam durch die Dämmerung blinkte. Zeichnungen menschlicher Akte, anatomisch nüchtern aufgefaßt, bedeckten die Wände.

Wohl kaum eine Minute hatte Werner gewartet, da sah er sich einem Manne mit einem ausdrucksvollen, etwas eckigen Kopfe gegenüber, dessen sehnige, gestraffte Gestalt ein weißer, hier und da mit Bluttropfen bespritzter Mantel umschloß.

»Ich habe noch einen Arm abzunehmen. Aber während der Vorbereitung bin ich zu Ihren Diensten. Was wünschen Sie von mir?«

Er hatte eine rauhe Art zu sprechen, die nicht unfreundlich, aber kurz bemessen und ein wenig eilig klang.

Und nachdem Werner Torwald den Zweck seines Besuches in knappen Worten vorgetragen hatte: »Nerven? Ja, hören Sie, davon verstehe ich nichts. Das sind Spezialitäten. Die gehen mich nichts an. Die interessieren mich auch gar nicht. Mich interessiert nur der Mensch.«

»Den gerade suche ich.«

»So? Den suchen Sie? Hm ... vielleicht ist der Mensch, den wir beide suchen, doch ein wenig verschieden. Aber setzen wir uns.«

Es waren in dem ganzen Zimmer nur zwei altertümliche mit rotem, verschossenem Damast bezogene Stühle, die noch dazu mit Büchern und Papieren bedeckt waren. Professor Scheller befreite den ihm nächst stehenden, seinem Besucher ein gleiches überlassend, mit einem schnellen Griff von seiner Last und ließ sich nieder.

Werner sah es mit stillem Entsetzen. Er dachte, der wurmstichige Stuhl müßte unter der Wucht dieses Körpers zusammenbrechen. Er krachte zwar auch in allen Fugen, fügte sich dann aber und ertrug die herkulisch auf ihm thronende Gestalt.

»Sie sagten eben, auch Sie suchten den Menschen. Darf ich Sie fragen, wie Sie das meinen?«

»Ich meine«, erwiderte Werner, die Worte nach seiner Art ein wenig schwerfällig zusammenfügend, »daß eine Medizin überlebt ist, die heute mit dem Anspruch ihres zuverlässigen Wissens als eine Art von Dogmatik auftritt. Die Medizin als Wissenschaft ist für mich im letzten Grunde, wie alle Wissenschaft, nur Technik. Gewiß eine notwendige Technik. Aber nicht mehr. Man darf auf sie nicht schwören. Den ganzen Menschen muß man suchen, will man ihm beikommen.«

»Ach so ... nun verstehe ich. Der Arzt, so wollen Sie sagen, muß so eine Art von Seelenarzt sein.«

»In einer gewissen Beziehung ... vielleicht. Das Seelische ist bei vielen Krankheiten die Hauptsache. Jedenfalls darf man es nicht außer Rechnung lassen. Denn Körper und Seele sind eins.«

Ein leises Lächeln spielte um die ein wenig aufgeworfenen und von einem stark gestutzten graublonden Schnurrbart bedeckten Lippen.

»Hm ... Das hört sich ganz hübsch an und macht einem Arzt, insbesondere einem jungen, alle Ehre. Aber gestatten Sie mir die Frage: Was ist denn das Seelische? Und wo ist es? Ich habe während einer bald dreißigjährigen Praxis den ganzen Menschen studiert, durchforscht, seziert, zerschnitten bis in seine verborgensten Falten und Winkel hinein. Ich darf sagen, ich habe viel gefunden, manches, was andere nie gefunden haben. Ich habe Operationen gemacht, die viele für unausführbar hielten. Die verborgensten Herde der Krankheiten taten sich mir bei meinem tiefen Eingreifen auf ... alles habe ich gefunden – das Seelische fand ich nie.«

»Faßbar läßt es sich wohl nicht finden. Man muß es fühlen.«

»Fühlen?!« rief der andere und lachte hart auf. »Sehen Sie, Verehrtester, da habe ich Sie. Sie taten mit einigen kühnen Worten die Medizin als Dogmatik ab. Die Medizin aber, so weit ich sie kenne und übe, ist eine Dogmatik. Eine Dogmatik der stärksten, unwiderleglichsten Glaubenssätze, die es in der ganzen Wissenschaft gibt. Und diese Glaubenssätze fassen sich in einen einzigen zusammen: Nur was ich mit diesen meinen Augen sehe, mit diesen meinen Händen greifen und fassen kann, ist wahr. Alles andere ist ... nun, wie sagt doch Faust: ›Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut.‹«

»Das mag für Sie, den überzeugten Chirurgen, zutreffen. Aber die innere Medizin –«

»Die innere Medizin«, unterbrach ihn Professor Scheller, »verzeihen Sie. Sie erscheint mir immer wie ein fortwährendes Ansetzen der Sonde, ein Tasten und Fühlen nach allen Richtungen hin. Aber zum festen Zufassen kommt sie nicht.«

»Mir erscheint sie höher und größer als die Chirurgie«, erwiderte Werner Torwald mit einer gewissen Auflehnung, »weil sie es nicht mit den einzelnen Teilen und Gliedern zu tun hat wie diese, sondern den ganzen Menschen umfaßt.«

Ein dumpfes Hohnlachen erschütterte den gewaltigen Körper des Professors, klang von den Wänden des Zimmers wieder.

»Den ganzen Menschen!« rief er. »Was ist denn der ganze Mensch? Sehen Sie her ... das ist er!«

Er war von seinem Sessel aufgesprungen, hatte sich mit schnellem, energischem Schritt in die gegenüberliegende Ecke des Zimmers begeben und wies auf das Skelett, das dort stand.

»Das ist der Mensch! Das ist der ganze Mensch! Ein unerhörtes Kunstwerk, ein Schöpferakt sondergleichen. Ihnen aber ist das nicht genug. Sie wollen in dies unvergleichliche Werk allerlei Fremdkörper: Seele und, was weiß ich, noch hineinphantasieren. Mir genügt dieser Mensch, und ich liebe ihn mit meinem ganzen medizinischen Herzen.«

Seine Hand strich langsam zuerst über den Schädel, dann über das ganze Skelett. Etwas fast zärtliches lag in dieser Bewegung. Werner Torwald sah mit Bewunderung die auffallend kleine, fein gebildete Hand, die so ganz im Gegensatz zu der Gregoris stand. Das Wort eines Engländers fiel ihm ein: »Der Chirurg soll das Herz eines Löwen und die Hand einer Lady haben.«

»Und sehen Sie«, fuhr Scheller fort, noch immer dicht am Skelett stehend und das Auge unverwandt auf seinen Bau gerichtet, »hier helfen und herstellen zu können, hier nicht lange tasten und fackeln und grübeln zu müssen, sondern mit einem kühnen, sicheren Schnitt die Krankheit in ihrem Herde packen, Schmerzen und Qualen lindern, unzeitig Wucherndes ausschneiden, überflüssiges beseitigen, Verschobenes zurechtschieben, entfernen zu können – das dünkt mich ein Leben wert. Mehr verlange ich nicht von meinem Berufe ... und auch nicht mehr vom Menschen.«

Ein warmes Leuchten war in seinen Augen, die bis dahin so klein und kalt geblickt hatten und mit einem Male ganz groß und blitzend geworden waren. Die an sich hoch aufgeschossene Gestalt schien noch gewachsen. Es war ein eigentümliches Bild, wie sie dort beide hart nebeneinander standen, der Tod und das Leben, beide in ihrer ausgesprochenen Erscheinung, beide geheimnisvoll umhüllt von dem dämmernden Lichte, das im Zimmer war.

Ein Krankenwärter erschien, um zu melden, daß alles für die Operation fertig wäre.

»So laßt uns gehen, den armen Teufel von seinem verruchten Arm zu befreien. Es ist die allerhöchste Zeit, und schließlich lebt es sich mit einem Arme besser als gar nicht. Das heißt, wenn man ein großer Optimist ist. Was wunderbarerweise alle Menschen werden, sowie die Angelegenheit des Seins oder Nichtseins für sie abgewickelt wird.«

Er sagte es in aufgeräumter Stimmung, als freute er sich, an ein neues Werk zu gehen, und verabschiedete sich.

Werner Torwald aber schritt langsamen Fußes die große Allee entlang, der Stadt entgegen.

Es war jetzt am Vormittag hier still. Ab und zu nur surrte eine Elektrische, flog ein Auto, holperte ein Lastwagen die breite, zu beiden Seiten von mächtigen zweireihigen Linden eingefaßte Fahrstraße entlang.

Er sah und hörte nichts. Eingesponnen in das Netz seiner Gedanken, das sich immer dichter und fester um sein Inneres zog, ging er wie ein Nachtwandler seinen Weg.

Das also wäre der Mensch! Ein kunstvolles Gefüge von Fleisch und Knochen, von Sehnen und Nervensträngen! Und das wäre alles, was von ihm blieb: dies Skelett im Anatomiezimmer des Professors, an dem nicht nur der Schädel, sondern die ganze Gestalt wie zum Hohne lächelte über alles, was Suchen und Sehnsucht hieß.

Er aber hatte es als seines Berufes letztes Ziel erblickt, den Menschen zu suchen und zu finden. Nicht das nur, was an ihm sichtbar und greifbar war. Sondern was hinter alle dem verborgen schlummerte, über alles das hinaus wies, den Menschen an sich, das, was man seine »Seele« nannte. Es wäre ihm unmöglich gewesen, mit seinem ganzen Herzen in seiner Tätigkeit aufzugehen, wenn sie ihm nicht dies als höchstes Ziel wies.

»Wer recht hat, Professor Scheller oder ich«, sprach er zu sich selber, »ob ich überhaupt je zu einem Finden kommen werde – das Suchen soll mir niemand nehmen. Ich habe mit den Geistern der Finsternis und des Todes gekämpft bis aufs Blut und will weiter mit ihnen kämpfen. Und niemand soll den Glauben mir nehmen, daß der Mensch mehr ist als das grinsende Skelett in Professor Schellers Studierzimmer.«

Als Werner Torwald gegen Abend nach Hause gelangte, fand er Frau und Tochter in seinem Arbeitszimmer sitzen.

Hermine war mit einer Rechenaufgabe beschäftigt, die Mutter half ihr dabei. Sie mußte schwierig sein, denn beide schienen über sie nicht ins reine zu kommen. Das verdroß sie aber keineswegs, im Gegenteil, es stimmte sie heiter. Eine belachte die andere wegen der Fehler, die sie machte. Sie wurden schließlich ganz ausgelassen, warfen sich ihre Dummheit und andere Liebenswürdigkeiten gegenseitig an den Kopf, rissen sich, eine der anderen, das Heft aus der Hand, das schon vollständig zerknittert und zerfasert war, und alberten und tollten wie zwei große Kinder durch das Zimmer. So waren sie in letzter Zeit immer, nicht wie Mutter und Tochter, sondern wie eine ältere Schwester mit der jüngeren.

Nur wenn er das Zimmer betrat, war das fröhliche Spiel mit einemmal wie abgebrochen. Und er hätte es so gerne weiter mit angesehen, hätte es am liebsten mitgespielt.

Aber da war die große, unüberbrückbare Scheide, die zwischen ihm und den Seinen lag. Als gehörte er nicht zu ihnen, als wäre er ein Fremder, dessen Dazwischenkunft störte. War es sein Ernst, sein stilles, meist in sich gekehrtes Wesen, das diese Kluft aufrichtete?

Seine Frau zwar zeigte stets die Absicht, sie ihn nicht empfinden zu lassen. Sie war ihm auch heute freundlich entgegengegangen, war ihm beim Ablegen des Mantels behilflich gewesen und fragte ihn jetzt: wie die Reise gewesen. ob er mit ihren Ergebnissen zufrieden wäre und gut im Gasthause geschlafen hätte.

Auch Hermine begrüßte ihn mit kindlicher Zuvorkommenheit. Aber jede Wärme und Vertraulichkeit fehlte. Sie fragte nicht und erzählte auch nichts, begab sich auf ihren Platz und saß nun tief über ihr Buch gebeugt.

Es war etwas Wunderbares: er, der sich in seiner Praxis so leicht und schnell die Herzen, insbesondere die der Kinder, gewann – dem eigenen vermochte er nicht beizukommen. Aber er hatte es längst gemerkt: je mehr Mühe er sich gab, um so mehr verschloß sie sich ihm.

Sie aßen heute später als sonst. Werner sollte von seinen Reiseerlebnissen erzählen. Er machte auch einen Ansatz dazu, kam aber nicht weit. Denn er empfand, daß diese Erlebnisse eigentlich nur innerlicher Art waren, und eine gewisse Scheu hielt ihn ab, davon zu sprechen.

Nach dem Essen ging Dora, wie sie es zu tun liebte, noch für eine halbe Stunde mit Hermine auf deren Zimmer und blieb dort, bis diese sich ins Bett gelegt. Das war für Hermine das Schönste am ganzen Tag: wenn die Mutter bei ihr saß, mit ihr plauderte und lachte, während sie sich auszog, ihr beim Lösen der Flechten und dem Aufstecken des dichten, dunklen Haares behilflich war, sie schließlich, wenn sie sich in die Kissen kuschelte, zudeckte, mit ihr betete und ihr den Gutenachtkuß gab.

»Wir werden uns auf eine längere Zeit trennen müssen«, sagte Werner, als Dora zu ihm in das Arbeitszimmer trat, und man hörte es seinen Worten an, daß ihm der Gedanke nicht leicht wurde.

»So hast du dich nicht entschließen können, in die Stadt zu gehen?« fragte Dora in ihrer ruhigen Gemessenheit.

»Doch. Ich bin nach eingehenden Unterredungen mit Backel und Gregori zu der Überzeugung gekommen, daß es das Beste und unter den obwaltenden Umständen mir vielleicht auch Gemäßeste ist, ich lasse mich dort als Nervenarzt nieder.«

»O, wie mich das freut! Und wie gut und lieb es von dir ist, daß du uns dies Opfer bringst! Denn leicht wird dir der Fortgang von Neukirchen und die Aufgabe deiner hiesigen Tätigkeit nicht. Das will ich wohl glauben.«

»Weiß Gott – leicht wird es mir nicht.«

Nachdenklich und ganz in sich versunken stand er ihr gegenüber.

»Höre, Dora«, sagte er nach einer langen Pause, »ich zweifle zwar, ob du das verstehst, ob du es mit mir fühlen kannst. Es ist eine so seltsame Stimme in meinem Innern, eine Warnungsstimme möchte ich sie nennen. Sie erhebt sich jedesmal, wenn ich diesem Entschlusse näher trete oder ihn gar ausspreche.«

»Du siehst ja immer Geister oder hörst Stimmen. Das war von jeher so und darf dich nicht beunruhigen.«

»Sie haben mich noch nie betrogen ... weder die Geister, noch die Stimmen.«

Es verdroß ihn, daß sie mit einem leichten Lächeln über das hinwegglitt, was ihm eine so ernste Angelegenheit war.

»Ich dachte, ein Mann faßte seinen Entschluß oder unterließe ihn. Hätte er ihn aber einmal gefaßt, so ließe er sich durch Geister und Stimmen nicht beirren.«

»Du siehst, daß ich mich nicht beirren lasse. Denn ich bleibe bei ihm.«

»Warum aber sprachst du denn von einer Trennung?«

»Weil ich eine so völlige Umgestaltung meiner Tätigkeit und die Ausübung eines für mich immerhin neuen Spezialfaches nicht ohne gründliche wissenschaftliche Vorbildung unternehmen kann.«

»Wo gedenkst du hinzugehen?«

»Zuerst nach Berlin, dann vielleicht noch in eine kleinere Universität, zu deren maßgebenden Professoren ich persönliche Beziehungen habe, schließlich in die Nervenheilanstalt des Professors Oppermann im Harz, die ich viel habe rühmen hören. Ich schreibe heute noch an ihn.«

»Und wie lange Zeit, denkst du, wird solche Vorbereitung in Anspruch nehmen?«

»Zwei Jahre sind Vorschrift.«

»Auf zwei ganze Jahre sollen wir uns trennen?«

In seinen Augen leuchtete es auf, als er das Erschrecken bemerkte, das ihm aus ihren Worten entgegenklang.

»Es wird nicht anders gehen ... Und was werdet ihr inzwischen tun? Werdet ihr hier in Neukirchen bleiben? Es wäre vielleicht das beste.«

»Auf keinen Fall. Was sollten wir hier? Vielleicht zweimal am Tage in den Stadtpark gehen? Ich meine, das Leben hier kennen wir zur Genüge.«

»Wo wollt ihr denn sonst hin?«

»Für den Sommer könnte ich mit Hermine nach Malkaymen zu den Eltern gehen. Sie ist in ihren Kenntnissen weit genug vorgeschritten, und es wird gut und heilsam für sie sein, sich einmal einige Monate in der frischen Landluft zu erholen. Zum Herbst siedeln wir dann in die Stadt über.«

»Ohne mich?«

»Jawohl, ohne dich. Wir mieten eine Wohnung, besorgen den Umzug, richten alles ein, damit du, wenn du dann kommst, dein volles Behagen hast und die Ruhe, deren du nach so angestrengter Arbeitszeit unbedingt bedarfst.«

*

Nur einmal unterbrach Werner Torwald seine anstrengende Tätigkeit in Berlin, der er sich mit einem nie versagenden Eifer hingab.

Das war Ende August zu Anneliesens Hochzeit, die in Malkaymen gefeiert wurde.

Jedoch nur für kurze Zeit hatte er sich freigemacht.

So gelangte er erst am Tage vor der Hochzeit an, traf alles in fiebernder Vorbereitung für den Polterabend und die morgige Feier und konnte kaum ein Wort mit Dora wechseln, worauf er sich am meisten gefreut. Denn er hatte sie jetzt über vier Monate nicht gesehen und sich mitten in aller Arbeit unaussprechlich nach ihr gebangt.

Zum Polterabend war ein größerer Kreis geladen, und Hermine war ausersehen, die Vorführungen mit der Überreichung des Brautkranzes zu eröffnen.

Ihr Vortrag war kindlich ungezwungen. Zugleich aber gab sie jedem Worte den richtigen Ausdruck und sprach das Ganze mit viel Klugheit. In den dunklen Haarflechten schimmerten einige rosafarbene Blüten, und ihre ganze Erscheinung war von so knospenhafter Lieblichkeit, daß Frau Dora strahlte und sie, nachdem sie der Braut mit einem tiefen Knickse Kranz und Schleier übergeben, voll berechtigten Mutterstolzes in ihre Arme schloß.

Werner aber saß da mit einem stillen Leuchten in den ernsten Augen. Und doch war in seinem Herzen eine leise Wehmut, denn er fühlte, daß die lange Zeit, die er von den Seinen getrennt gewesen, ihm sein Kind noch mehr entfremdet hatte.

Am nächsten Tage war die Hochzeit.

Ein Jugendfreund von Hans Hartau, der von weither gekommen war, vollzog die Trauung in derselben kleinen Dorfkirche, in der er selber einst Werners und Doras Hände zusammengelegt.

Unmittelbar daran schloß sich das Festmahl in dem auf Garten und Park hinausschauenden großen Eßsaal, in dem man an einer mächtigen Tafel mit zwei weit ausgreifenden Flügeln speiste.

Werner führte Hans Hartaus ältere Schwester Therese, die damals schon nicht mehr jung war, als er zu später Nachtstunde zur Behandlung ihres schwer erkrankten Vaters nach Kokoschken kam und sie ihn unten im Hausflur empfing.

Er saß dem Brautpaare gegenüber. Aber von Dora weit entfernt. Dazu versperrte ihm noch ein mächtiger Blumenaufbau jeden Blick auf sie, und als er ihn einmal etwas beiseite schob, um seiner Frau wenigstens zutrinken zu können, rückte ihn seine Schwiegermutter, weil sie das Gleichmaß der Tafel gefährdet glaubte, wieder an die alte Stelle.

Auch von Hermine sah er nur wenig. Denn sie hatte unten an einem der beiden Flügel neben einem Neffen des Bräutigams, der bereits im vierten Semester studierte, ihren Platz. Aber trotz des Ansehens, das ihm das rot-grün-goldene Band seiner Verbindung auf dem schneeweißen Oberhemde gab, unterhielt sie sich mit ihm viel weniger als mit dem in ihrer Nähe sitzenden Onkel Theo Fortenbacher, der in einer mitteldeutschen Stadt als Regierungsrat tätig war.

Er schien sich als Junggeselle durchaus nicht unbehaglich zu fühlen. Denn obwohl er sich jetzt doch auch schon den Vierzig näherte, sah er noch wie ein junger Mann aus, liebte es, als solcher angesehen und gesetzt zu werden und sich nur mit den allerjüngsten Mädchen zu unterhalten.

Er mußte eine eigene Gabe für solche Unterhaltung haben, denn Hermine lachte hell und harmlos zu seinen Scherzen und sprach zu ihm mit blitzenden Augen über den Tisch hinüber.

Frau Dora sah es, und ohne es zu wollen, stellte sie Vergleiche an, bei denen Theo Fortenbacher diesmal ein ganz Teil besser abschnitt als damals, da er in einer stillen Abendstunde draußen im dämmernden Garten um ihre Hand geworben.

Und wieder, ohne es zu wollen, mußte sie daran denken, mit wie kritischem Blicke das scharfe Auge des vom Kopf bis zu Fuß tadellos angezogenen Mannes wohl auf ihren Gatten herabsehen würde, der in dem schlecht geschnittenen Frack, über den auf ihrer eigenen Hochzeit nur ihre blinde Liebe hinwegblicken konnte, und dem schlappen Oberhemde mit den unechten Knöpfen darin eine wenig standesgemäße Figur machte.

Ein Ingrimm erfaßte sie, daß sie es in einer über zwölfjährigen Ehe mit all ihren Reden und Mahnungen noch nicht so weit gebracht hatte, daß ihr Mann sich so kleidete, wie es in den Kreisen, in denen sie von Kindheit an ein- und ausgegangen war, als etwas Selbstverständliches galt.

Und während Werner immer aufs neue versuchte, hinter der undurchdringlichen Blumenmauer einen Blick von ihr zu erhaschen oder ihr freundlich zuzunicken, glitt ihr Auge mit unverhohlener Absichtlichkeit über ihn hinweg. Denn sie schämte sich seiner in dieser Gesellschaft, in der selbst ihr Vater als alter Herr eine vornehme Erscheinung abgab, und Hermines Tischherr, der junge Student, wußte, daß man zu einem Frack nur ein gesteiftes Oberhemd von blendender Wäsche tragen konnte.

Der Geistliche klopfte an das Glas und brachte in einer von Wärme und feinem Scherz erfüllten Rede den Trinkspruch auf das Brautpaar aus. Man erhob sich von den Plätzen, um mit den beiden anzustoßen.

Das gab Werner die längst ersehnte Gelegenheit, sich seiner Frau zu nähern.

»Ist es dir auch gegangen wie mir?« fragte er sie, heimlich ihren Arm drückend. »Während der Trauung in der kleinen Kirche und auch jetzt die ganze Tafel über mußte ich an unsere Hochzeit denken, wie wir vor dreizehn Jahren hier auf diesen Plätzen saßen und dann durch die dunkle Nacht in unser Haus nach Neukirchen fuhren.«

»Gewiß, einige Male ging es mir auch so. Aber das ist nun lange her, und man ist alt geworden.«

»Doch nicht so alt, um das nicht alles noch einmal innerlich zu erleben. Ich fühle mich in meiner anstrengenden Arbeit, jetzt insbesondere, wenn ich immer so unter jungen Studenten bin, manchmal auch schon recht alt.

In dem einen aber bin ich jung geblieben, ganz jung Dora.«

»In welchem einen?« fragte sie ein wenig zerstreut.

»In meiner Liebe zu dir.«

Seine ganze schlichte, treue Seele lag in diesen wenigen Worten. Sie aber vernahm sie nicht, denn die übrigen Gäste hatten sich bereits auf ihre Plätze zurückbegeben. Sie waren die einzigen, die noch standen, und Theo Fortenbachers Augen waren gerade auf sie gerichtet.

»Wir müssen uns wieder setzen«, sagte sie, »der nächste Gang wird schon gereicht, und man wartet auf uns. Übrigens hast du noch zu alledem einen Rotweinfleck auf deinem Hemde. Viel Staat ist heute wirklich nicht mit dir zu machen.«

Nun war doch alles in ihm verletzt. Er blickte auf Hermine. Auch sie war nicht zu ihm gekommen, mit ihm anzustoßen, wie es der Tochter dem Vater gegenüber geziemte. Noch kein herzliches Wort hatte er vernommen. Gestern nicht und heute auch nicht, weder von seiner Frau, noch von seinem Kinde. Und alles in seiner Seele hungerte doch nach solch einem Worte, und er hatte sich ein Wiedersehen nach so langen Monaten der Trennung ganz anders gedacht.

Aber Dora unterhielt sich angelegentlich mit ihrem Nachbar, dem fremden Pfarrer mit dem scharfgeschnittenen, geistigen Gesicht, und Hermine hörte mit derselben Aufmerksamkeit wie vorhin auf Theo Fortenbachers scherzende Worte, und ihr helles Lachen klang wie junges Vogelgezwitscher über die Tafel. Und was er nie im Leben empfunden hatte, das erfaßte ihn jetzt: ein starkes Neidgefühl gegen Theo Fortenbacher.

Warum war ihm nicht auch die Gabe gegeben, so froh und unbefangen mit seinem Kinde zu sprechen? Warum hatte er nicht den munteren Witz und die leicht unterhaltende Art dieses Menschen?

Das Brautpaar ihm gegenüber suchte ihn einige Male in sein Gespräch zu ziehen. Aber von Hans Hartau war es wohl mehr eine Verpflichtung, die er sich auferlegte. Denn sein Auge wie sein Herz waren heute ungeteilt bei seiner Braut, die er so lange Jahre treu und unabänderlich geliebt und endlich errungen hatte.

Anneliese, das konnte Werner ihr leicht nachrechnen, war nun auch schon gegen das Ende der Zwanzig. Aber sie sah in ihrem weißen Brautkleid und dem Myrtenkranz auf den schönen, schlicht gescheitelten Haaren so jung und unberührt aus, in jeder ihrer Bewegungen wie in dem verträumten Lächeln ihres Mundes lag ein so mädchenhafter Liebreiz, daß man gar nicht darauf kam, nach ihren Jahren zu fragen, sondern meinte, eine jüngere und entzückendere Braut kaum gesehen zu haben.

Die Tafel war aufgehoben. Werner führte seine Dame mit dem bedrückenden Gefühle, sie wenig oder gar nicht unterhalten zu haben, in den von zahllosen elektrischen Flammen erhellten Musiksaal, ging dann zuerst auf seine Frau zu, küßte ihr die Stirn, die sie ihm bot, sagte ihr warme, zärtliche Worte und hätte sie am liebsten an den Arm genommen, wäre mit ihr, fort von dieser geputzten, lachenden, lärmenden Gesellschaft, in den Garten gegangen, in dem die weichen Lüfte eines unvergleichlich schönen Augustabends lockten und die bunten Blumen dufteten. Oder tief hinein in den dunkelnden Park mit den verschwiegenen Bäumen, durch deren Gipfel ein müder Nachtwind rauschte, sie endlich einmal für sich zu haben, nachdem er so lange ohne sie hatte leben müssen.

Aber sie schien ähnliche Wünsche nicht zu kennen und hätte ihn gewiß ausgelacht, wenn er etwas Derartiges auch nur angedeutet hätte.

So beteiligte er sich an der gezwungenen Unterhaltung, die sie mit ihrer Mutter und einer weitläufigen Verwandten des Bräutigams führte, begab sich dann zu seinem Schwiegervater und versuchte ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Der aber hatte gerade einen wichtigen geschäftlichen Überschlag zu machen, hörte scheinbar voller Aufmerksamkeit zu, schüttelte oder nickte mit dem Kopfe, je nachdem es ihm angebracht erschien, ließ sich aber nicht in seiner Arbeit stören.

Nun wandte er sich an einige Damen, die er ohne Herren sah. Aber die Unterhaltung kam nie über die ersten Anfänge hinaus und versiegte dann. Er wußte nicht, was er mehr sagen sollte, stand wie festgewurzelt neben ihnen und konnte doch die rechte Art nicht finden, sich zurückzuziehen.

Zu seiner Erlösung begann der Tanz, und er begab sich, weil er jetzt vollends überflüssig war, in das hinter dem Musiksaal gelegene Bibliothekzimmer, zündete sich eine Zigarre an und nahm ein Buch zur Hand.

Da stand Anneliese vor ihm.

»Du bist hier ganz allein?«

»Man kann mich drüben gut entbehren. Da wollte ich es mir hier behaglich machen.«

»Und nun störe ich dich?«

»Du hast mich noch nie gestört.«

»Mein Mann ist oben bei seiner Mutter. Du hast wohl gehört, daß sie hier ist, aber ihres Alters und ihrer Kränklichkeit halber an der Festlichkeit nicht teilnehmen kann. Da wollte ich die Zeit benutzen, mit dir zu plaudern. Aber ›plaudern‹ ist wohl nicht das rechte Wort.«

»Zum Plaudern bin ich schlecht geschaffen. Das hat mir dieser Abend genugsam gezeigt.«

»Nein, dazu bist du zu ernst, zu schwer vielleicht.«

Er hörte sie mit einigem Erstaunen reden. Sie hatte, ganz im Gegensatz zu ihrer früheren Art, etwas so Sicheres und Reifes. Es war ja auch kein Wunder. Er hatte sie so recht eigentlich nur als Kind und junges Mädchen gekannt. Dann hatten Zeit und Verhältnisse sie getrennt.

»Du weißt doch, daß ich eine tiefe Dankbarkeit gegen dich im Herzen trage. Ich muß es dir noch einmal sagen, bevor wir heute auseinandergehen ... vielleicht wieder auf eine lange Zeit. Deshalb bin ich gekommen.«

»Das ist gut von dir. Es kommt so selten vor, daß mir einmal einer so etwas sagt. Und offen gestanden, ich habe manchmal ein starkes Verlangen nach solch einem Wort ... besonders jetzt, wo ich so viel allein bin.«

Sie standen noch immer. Er in seiner etwas unbeholfenen Art, Buch und Zigarre in der Hand, sie ihm in einiger Entfernung gegenüber, den anmutigen Körper leicht an einen Sessel gelehnt. Mit einem Male verließ sie ihren Platz und trat dicht an ihn heran.

»Du bist nicht glücklich, Werner?«

Langsam und zögernd hatte sie es gefragt, zugleich mit einer ernsten Dringlichkeit, der er nicht ausweichen konnte.

»Wie kommst du auf diese Frage, Anneliese?«

»Ich glaube ein Recht auf sie zu haben. Doch das ist jetzt gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß du mir eine offene Antwort gibst.«

»Es ist wunderbar«, erwiderte er nach einem längeren Schweigen, »ich habe mir eine solche Frage eigentlich noch nie vorgelegt. In meinem Berufe bin ich glücklich, das darf ich wohl sagen. Aber ich bin es immer gewesen. Es ist nichts Neues.«

»Und in deiner Ehe?«

»Das ist es eben. Darüber habe ich noch nie im Ernst nachgedacht, ob meine Ehe glücklich ist oder nicht. Ich glaubte, sie wäre es. Ich nahm es als etwas Selbstverständliches hin ... bisher wenigstens.«

»Und jetzt?«

»Jetzt ... ich glaube, Anneliese, es ist besser, wir rühren an dieser Frage nicht. Es gibt gewisse Dinge die man nicht aus ihrem Schlafe wecken soll. Es ist gefährlich, es zu tun ... für mich wenigstens.«

»Du hast vielleicht nicht unrecht. Denn du bist ein eigener Mensch, Werner. Bei all deiner Männlichkeit doch ein großes Kind. Es ist ein so kindlicher Glaube in dir. Der darf nicht zerbrochen werden.«

»Nein ... er darf nicht zerbrochen werden. Dann wäre es aus mit mir.«

»Dora meint es gut. Aber sie ist so ganz anders als du. Schon von Hause aus ist alles anders an ihr. Das mußt du dir immer wieder klarmachen, Werner. Und Nachsicht haben und dich in manches fügen. Dann kann es nie ganz schlecht werden.«

»O, wenn du wüßtest, wie ich meine Frau liebe! Ich habe ja nie einen Menschen geliebt, und keiner hat mich geliebt. Außer meinem Vater. Aber der ist nicht mehr. Alles, was von Liebe und Liebebedürfnis in mir lebt von einsamen, traurigen Kinderjahren an, habe ich auf meine Frau übertragen. Und was mich nun manches Mal schmerzt –«

Er hielt inne. War es, daß er sich scheute, das zu bekennen, was er bis jetzt still in sich verschlossen hatte? War es die tiefe Bewegung seiner Seele, die ihn am Sprechen hinderte?

»Was schmerzt dich, Werner?«

Sie fragte es in einem so tiefen Mitleid, einem so feinen Mitgefühl zugleich, daß er nicht mehr ausweichen konnte.

»Daß Dora das alles gar nicht zu merken scheint. Ja, oft ist mir, als wollte sie es vielleicht gar nicht merken, als wäre ihr – und sieh, Anneliese, das hat mich heute den ganzen Abend gequält –, als wäre ihr meine Liebe zuviel, als empfände sie sie als eine Last.«

»Sie hat vielleicht eine etwas kühlere Natur und läßt es sich nicht merken.«

»Ach nein«, unterbrach er sie, »früher, da war es nicht so. Erst seitdem das Kind da ist, das ich doch nicht weniger lieb habe, nach dessen Vertrauen und Liebe ich mich sehne ... und das nun ganz nach der Mutter artet ... gerade auch in dieser Beziehung. Ja, oft ... ich weiß nicht, ob du das verstehen kannst, Anneliese ... oft, heute abend erst, komme ich mir vor, als stehe ich wie ein Fremdling zwischen Frau und Tochter.«

»Ich bitte dich, Werner. Hermine ist doch noch ein Kind. Ich habe sie kennen gelernt. Die ganze Sommerzeit jetzt hier in Malkaymen. Auch ich bin ihr nicht so recht nahegekommen, wie ich gerne wollte. Dennoch glaube ich, daß sie mich gerne hat.«

»Dich ... ja. Das weiß ich. Aber mich –«

»Sie sagte mir einmal: sie kennt dich kaum. Du wärest so selten da, und dann wärst du immer so ernst und in dich gekehrt. Und jetzt vollends, wo du ganz von Frau und Tochter getrennt lebst. Aber es steckt etwas in diesem Mädchen, so jung es noch ist, hinter das man nicht so leicht kommt. Und das ist, nicht nur von der Mutter ... es ist auch von dir. Auch hier mußt du Geduld haben.«

Er erwiderte nichts. Sie hatten sich beide gesetzt. Von dem Saale her klang die Tanzmusik, das Schlürfen der Schritte und die Unterhaltung, die lebhafter und lauter geworden war.

»Ich meine immer«, nahm Anneliese das Gespräch auf, »die meisten Menschen heiraten zu jung. Man muß eine innere Reife erlangt, muß manches Innere durchgemacht und durchgelitten haben, ehe man die schwerste Probe des Lebens wagen darf, die nun einmal die Ehe ist. Ich weiß, daß mich mein Mann seit langer Zeit geliebt hat, und auch ich habe ihn stets als einen klugen und guten Menschen geschätzt. Aber ihn zu heiraten, das vermochte ich damals nicht. Jetzt erst, wo ich innerlich mit mir fertig geworden und, was ich durchkämpfen mußte, überwunden habe –«

Sie hielt einen Augenblick inne, nestelte mit der feinen, zarten Hand an ihrem Brautschleier und fuhr dann fort: »Aber jetzt heirate ich ihn auch mit ganzem Vertrauen und mit dem sicheren Bewußtsein, daß er mich glücklich machen wird und ich ihn ... soweit ein Mensch durch den anderen glücklich werden kann. Die Hauptsache dazu muß man wohl immer selber tun.«

»Da hast du recht, Anneliese.«

»Und das mußt du auch tun. Werner. Versprich es mir. Habe Nachsicht mit den anderen. Verlange nicht von ihnen, daß sie sind, wie du sie haben willst. Sie können es nun einmal nicht. Vielleicht beide nicht.«

»Es mag sein ... sie können es vielleicht nicht.«

»Du bist reif genug in dir selber. Du hast deinen Beruf und die große Liebe zu ihm. Das andere wird sich finden, leichter wohl und schneller, als du heute meinst ... Und nun muß ich zu meinem Manne hinauf. Dann kleiden wir uns um und reisen. Von den anderen verabschiede ich mich nicht. Von dir mußte ich es. Lebe wohl, Werner.«

Sie war gegangen. Er aber stand noch immer auf derselben Stelle und sah ihr nach.

Was war nur geschehen? Was ging in ihm vor?

Hatte jemals ein Mensch so mit ihm gesprochen? War es nicht das gewesen, wonach er sich heißen Herzens gesehnt, alle diese Monate und Jahre hindurch?

Es gab also doch einen Menschen, zu dem er reden konnte, dem seine Worte nicht fremd und unbegreiflich klangen.

Und was für einen Menschen! Einen, der besser war und wertvoller als alle, mit denen er da drüben an reichbesetzter Tafel gegessen hatte.

Und mit einem Male tauchte eine Frage in ihm auf: Wenn – – wenn Anneliese seine Frau geworden wäre?

Er gedachte der erregten Auseinandersetzung mit Dora an jenem Abend in Neukirchen, als er solange auf sie gewartet hatte und sie ihm ihre Mutmaßung aussprach, daß Anneliese ihn liebte.

Er hatte es damals von sich gewiesen, hatte nicht mehr daran gedacht und nicht mehr daran denken wollen.

Und nun war es mit einem Male wieder da, wühlte sein Inneres auf und bewegte ihn in seiner Seele Tiefen.

Wenn sie ihn geliebt hätte, bevor er um Dora anhielt, und er hätte nichts davon gemerkt – – und wäre heute vielleicht reich und unsagbar glücklich geworden!

Er empörte sich über diesen Gedanken. Er erschien ihm ein Frevel an Dora, er wollte an das alles nicht mehr denken.

Aber eins hatte diese Stunde doch bewirkt: sein Verzagen an sich selber, sein Kleinmut, der ihn, von der fröhlichen Gesellschaft fort, hierher in die Einsamkeit getrieben ... es war alles wie mit einem Hauche hinweggewischt.

Er begab sich in den Saal zurück, er sprach mit diesem und jenem. Sein Wort war freier geworden, sein Wesen ungebundener und sicherer, und in seinen Augen, die eben noch einen so gequälten Ausdruck gehabt, waren hellere Lichter angezündet.


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