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Erste Abtheilung.
Lassalle vor der Agitation.

Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo.

Virgil – Lassalle.

 

Eins der Ereignisse, welche in diesem Jahrhundert Europa am meisten überrascht und verwundert haben, ein Ereigniß, das zu verstehen man rings in den verschiedenen europäischen Ländern immer noch mißlungene Versuche macht, ist der Proceß, durch welchen das Deutschland Hegel's sich in das Deutschland Bismarck's verwandelt hat. Bald spricht man, als sei das alte Geschlecht urplötzlich ausgestorben und der neue Stamm wurzellos in die Höhe geschossen, bald, als habe eine wendisch-slavische Pfropfung den Stamm verderbt oder veredelt. Für Einige ist das neue Deutschland der Mann mit der eisernen Maske. Das alte philosophisch-poetische Gesicht sei das wahre, und darüber habe sich jetzt das Preußenthum gelegt, wie die Maske über jenen unglücklichen Gefangenen. Andere machen die Entdeckung, daß das alte harmlos romantische Gesicht eben die Maske gewesen sei, hinter welcher sich die jetzt hervortretenden wahren Züge heuchlerisch verbargen. Die eine dieser Ansichten ist so unverständig wie die andere, und beide beruhen auf derselben Unkenntniß vom Entwicklungsgange des modernen Deutschlands. Wer diesen in der Litteratur studirt, Siehe G. Brandes, die Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts. 5 Bände. 4. Auflage, 1894. Leipzig, Verlag von H. Barsdorf wird Schritt für Schritt verfolgen können, wie die Ideen, die Handlungsweise und die Lebensanschauung der neuen Generation sich organisch aus denen der früheren entwickelt haben. Die Kluft zwischen Hegel's und Bismarck's Deutschland füllt sich dann für den Blick allmählich aus, die Physiognomien auf dieser und auf jener Seite der Kluft zeigen verwandte Züge. Einzelne interessante und scharf markirte Physiognomien, welche sich kräftig vom Hintergrunde der Geschichte abheben, bezeichnen an und für sich schon den Uebergang und die Verschmelzung des Geistesgepräges zweier Generationen. Unter diesen Physiognomien hat Deutschland kaum eine interessantere und schärfer geschnittene aufzuweisen, als die Ferdinand Lassalle's. Er war geboren den 11. April 1825, und starb an einer Duellwunde den 31. August 1864. Er war ein hervorragender Schüler Hegel's, und man hat ihn seiner Zeit nicht ohne scheinbaren Grund den Lehrer Bismarcks genannt; denn läßt sich eine direkte Einwirkung auch nicht nachweisen, so haben doch in der inneren, wie in der äußeren Politik die Handlungen des großen Staatsmannes auf entscheidenden Punkten das Programm des philosophischen Agitators genau zur Ausführung gebracht.

1.

Wer Lassalle kennen lernen will, möge mit dem Studium seiner Flugschriften beginnen. Man bleibt bei der Lektüre dieser Prosa nicht kalt: ein außerordentliches Wissen wird hier von einer durchaus modernen, streng logischen und streng sachlichen, Beredtsamkeit beherrscht, deren verhaltene Begeisterung mit Feuerschrift zwischen den Zeilen ruht, um dann und wann aufzulodern; eine unbeschreibliche Kühnheit bei allen Angriffen wird von einer unerschütterlichen, stahlharten Festigkeit bei jeder Vertheidigung unterstützt; Sprache und Stil sind ein Typus an sich. Von Deklamation keine Spur. Der Autor weiß und vermag zu Viel, als daß er Lust haben sollte, zu deklamiren. Aber auch keine Spur vom Ballast der Gelehrsamkeit. Es ist ein Schwerbewaffneter, der hier seinen Krieg führt; aber selten sah man schwere Waffen so leicht getragen. Aus gedruckten Quellen erfährt man nur Wenig über die Persönlichkeit und das Leben dieses Schriftstellers. Wiederholte längere Reisen in Deutschland haben mich indeß mit einer nicht geringen Zahl von Personen, Männern wie Frauen, zusammengeführt, auf deren Urtheil ich Werth lege, und die Lassalle persönlich gekannt haben. Wie man weiß, haben die öffentlichen Stimmen über Lassalle, seitdem die Angriffe mit seinem plötzlichen Tode verstummten, heut zu Tag einen ganz anderen Charakter angenommen, als zu der Zeit, da er noch am Leben war. Eine offene Anerkennung seiner Bedeutung und seiner Gaben ist nicht selten. Die Mehrzahl der Privaturtheile über ihn lautet dagegen relativ ungünstig. Seine Privatbekannten haben seine Schriften meist nur flüchtig gelesen, seine Ansichten selten oder niemals getheilt. Seine Schwächen waren ersichtlich von solcher Art, daß man kein Psycholog zu sein brauchte um sie zu entdecken, und der größte Theil des gebildeten Publikums, wie der größte Theil der Privatbekannten öffentlicher Persönlichkeiten, heftet sich leicht an in die Augen fallende Schwächen, besonders wenn eine vergötternde Anhängerschaar diese ganz übersieht. Ich erwarte nicht, von dem höheren Bürgerstande liebevolle Urtheile über einen Mann zu hören, der im Kampfe mit der ganzen bürgerlichen Gesellschaft seines Vaterlandes starb, und der fast allein kämpfte, während er die gesammte Presse zu Gegnern hatte; dennoch gestehe ich, daß eine so allgemeine Entrüstung, eine nach meiner Ansicht so unvollkommen begründete und noch so lebendige Mißstimmung wider den Todten mir überraschend war. Vermuthlich hat man dieser Mißstimmung die Schwierigkeiten zu verdanken, die es kostet, sich gegenwärtig eine vollständige Kenntniß von Lassalle zu verschaffen. Eine gute, oder gar eine Gesammt-Ausgabe seiner Schriften existirt nicht Jetzt sind bekanntlich zwei gute Ausgaben von Lassalle's Werken erschienen. Der Herausgeber.; die meisten derselben kann man nur von einem sozialistischen Kommissionär in Leipzig beziehen, dessen grenzenlose Unzuverlässigkeit Einem die Anschaffung fast unmöglich macht; und was er auf Lager hat, ist nicht nur auf dem erbärmlichsten Papier gedruckt, sondern obendrein durch grobe und sinnentstellende Druckfehler verunstaltet. Nur zwei Beispiele seien hier angeführt: »Damit sie durch keinen Rest einer sittlichen selbstständigen Staatsanwalt beengt«, statt » Staatsgewalt«, und: »Ist es Vorbereitung zum Hochverrath, wenn ich Jemanden in einen unerlaubten Verein einzutreten auffordere?« statt in einen » erlaubten«. Hochverrathsproceß 1864, S. 37 und 43. Seltnere Broschüren findet man nicht einmal auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Von biographischen Aufklärungen und Briefen hat fast Nichts das Licht der Oeffentlichkeit erblickt. Bekanntlich protestirte vor nicht gar zu langer Zeit Rodbertus gegen die Herausgabe seiner Korrespondenz mit Lassalle. – Auch dies ist jetzt anders geworden. Der Herausgeber. Deutet nun dies Alles, wie bemerkt, auf eine noch nicht erloschene Mißstimmung gegen Lassalle, so ist dieselbe doch weit entfernt davon, eine absolute zu sein. Es hat mich frappirt, daß man in der Regel mit um so mehr Wohlwollen, Anerkennung, Wärme, Bewunderung von dem Verstorbenen sprach, je genauer man ihn gekannt hatte. Das spricht in hohem Grade für Lassalle; denn wirklich bedeutenden Geistern ergeht es immer so. Während Die, welche nur durch das Prestige des Talentes oder des Rufes blenden, wie der Papst in Rom um so weniger gelten, je näher man ihnen kommt oder steht, finden bedeutungsvolle Persönlichkeiten die größte Hingebung bei Denen, die sie am besten kennen. Ich habe nun ein Paar Jahre lang all' diese Urtheile und Aeußerungen sich in meiner Seele bekämpfen und ausgleichen lassen, während ich aber- und abermals ihren Gegenstand mit demselben ungeschwächten Interesse gründlich studirte, und wenn ich mich jetzt von Neuem in dies Thema vertiefe, so bilden all' jene Anschauungen im Verein mit all' meinen eigenen früheren und späteren Stimmungen und Eindrücken von ihrem Gegenstände eine eigenthümlich vielstimmige Symphonie in meinem Innern. Ich kenne Lassalle so genau, wie man ihn kennen kann, ohne ihn jemals gesehen oder gehört zu haben; ich hege die zum Verständniß erforderliche Sympathie für die Lichtseiten seines Wesens, und sehe sie von den Schattenseiten desselben begrenzt; seine vielseitige Thätigkeit erschöpfend zu würdigen, bin ich nicht im Stande – dazu müßte man in eben so hohem Grade, wie er, in der Philologie, Philosophie, Jurisprudenz und Staatsökonomie bewandert sein; aber ich will versuchen, den psychologischen Grundriß für ein Porträt zu liefern.

Es ist sehr viel für und noch mehr gegen die von Lassalle in seinen letzten Lebensjahren aufgestellten Theorien geschrieben worden. Man hat ihre Richtigkeit angefochten und konstatirt. Es ist ein äußerst hitziger Streit über die Zweckmäßigkeit seiner letzten praktischen Vorschläge geführt worden. Das Urtheil in diesem Streite zu fällen, halte ich mich nicht für befähigt, und mich an demselben zu betheiligen, spüre ich keine Lust. Was ich aber gethan wünschte, und was ich, da noch kein Anderer Neigung dazu bewiesen hat, selber zu thun versuchen will, das ist, wie Sainte-Beuve sagen würde: faire acte de littérature in Betreff Lassalle's, aufklären, was für eine Natur er war, die ursprüngliche Grundlage seines Wesens, seine tiefsten seelischen Eigenschaften und seine vorherrschenden Ideen, das Grundgepräge seines Geistes, die Form seines Talentes aufdecken, mit Einem Wort, ihn als Schriftsteller charakterisiren, ohne diese Aufgabe mit der sehr davon verschiedenen zu vermengen, welche Manchem so wunderbar leicht fällt: über eine der schwierigsten und brennendsten Fragen unserer Zeit das Endurtheil zu sprechen.

Das Leben, welches ich entrollen will, wurde mit einer so leidenschaftlichen Intensität und einer so stürmischen Hast geführt, daß es der Mitwelt gleichsam vorüber flog, ehe sie zur Besinnung darüber gelangen konnte. Lassalle's streng wissenschaftliche Werke waren keine Lektüre für die gewöhnliche gebildete Welt, und seine Flugschriften konnten für die Arbeiter, welche sie lasen, nur theilweise verständlich sein. Als kritischer Denker steht er unangefochten da. Keiner, den seine Hand getroffen, hat jemals den Schlag verwunden. Es besagt Wenig, ob ein ausgezeichneter Mann der Wissenschaft sich in diesem oder jenem einzelnen Punkte geirrt hat. Die Fluth der Zeit spült den Irrthum hinweg, und die Menschheit erbt den Rest.

2.

Der alte griechische Philosoph Heraklit, welcher so lange der Gegenstand von Lassalle's Studien war, bediente sich einer Menge verschiedener sinnbildlicher Ausdrücke, um sein Princip zu bezeichnen: Feuer, Strom, Gerechtigkeit, Krieg, unsichtbare Harmonie, Bogen und Leier; sie fallen Einem unwillkürlich ein, wenn man nach einem Symbol sucht, welches das Lebensprincip Ferdinand Lassalle's bezeichnen könnte. Irgendwo in einem Briefe, der voll Ungeduld über die langsame Entwicklung der Ereignisse ist, gebraucht Lassalle den Ausdruck »meine glühende Seele«; unter Tausenden, welche eine Redensart wie diese, die zur Phrase geworden ist, anwenden möchten, hat er allein sie ohne Uebertreibung gebraucht; in seinem tiefsten Innern war wirklich Etwas, das dem Feuer glich. Seine glühende Liebe zur Wissenschaft und zur Erweiterung seiner Kenntnisse, sein Durst nach Gerechtigkeit und Wahrheit, seine Begeisterung, sein unbändiges Selbstgefühl, seine tiefe Eitelkeit, sein Muth, seine Freude an der Macht: Alles trug denselben flammenden und verzehrenden Charakter. Ein Lichtbringer war er und ein Flammenbringer; ein Lichtbringer, verwegen und trotzig wie Lucifer selbst, ein Fackelträger, der gern sich selber durch den Schein der Fackel, mit welcher er Klarheit brachte, in volle Beleuchtung stellte – grand oseur et grand poseur. – In der Welt Heraklit's waren der Bogen und die Leier im Verein das herrschende Princip; die Leier ist das Symbol der Harmonie, d. h. der vollendeten Bildung, der Bogen mit seinem tödtlichen Sonnenpfeil bezeichnet Thätigkeit und Vernichtung. Auch in Lassalle's Geiste herrschten Bogen und Leier im Verein, die vollendete theoretische Bildung und der rastlose praktische Thätigkeitsdrang. Selten ist in der Weltgeschichte ein solcher Verein theoretischer und praktischer Begabung erblickt worden. Aber der, welcher Lassalle im Beginn seiner Laufbahn beobachtet hätte, würde, wenn er einen zugleich sympathischen und vorwärtsschauenden Blick besaß, auf ihn die Worte haben anwenden können, die er selbst von dem alten neuplatonischen Denker Maximos von Tyrus erwähnt: »Ich verstehe den Apollo, Bogenschütze ist der Gott und der Tonkunst Gott, und ich liebe seine Harmonie, aber ich fürchte seine Schützenkunst ( Toxeia)«. Lassalle: Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln von Ephesus. Bd. 1, S. 111. Leipzig, Verlag von H. Barsdorf.

Lassalle war in Breslau geboren; sein Vater war ein nicht hervorragend begabter, aber braver und rechtlicher Kaufmann, beide Eltern israelitisch. Der Sohn war ursprünglich für den Handelsstand bestimmt; da er jedoch auf der Handelsschule zu Leipzig nur geringe Fortschritte machte, beschloß man, ihn durch Privatunterricht in seiner Vaterstadt sich auf die Universität vorbereiten zu lassen. Lassalle war sein ganzes Leben hindurch der liebevollste Sohn, und das Verhältniß zwischen ihm und seiner Familie nach jüdischer Weise ein sehr inniges und festes. Die Mutter hing während Lassalle's ganzer Laufbahn mit größter Begeisterung an dem Sohne, fand sich in Alles, was er unternahm, und fand zuletzt Alles gut. In dem Alter, wo alle Knaben naseweis sind und sich gern aufspielen, war Lassalle ein ungewöhnlich naseweiser und vorlauter Junge. Was er selbst in seinem späteren Leben so oft als seine »Frechheit« bezeichnete, verrieth sich schon damals. Wir stehen hier bei dem Racenmerkmal in seinem Gemüthe, der Grundform seines Temperamentes, bei der Eigenschaft in ihm, deren Keim am treffendsten durch das jüdische Wort »Chutzbe« bezeichnet wird, das zugleich Geistesgegenwart, Frechheit, Dummdreistigkeit, Unverschämtheit und Unerschrockenheit bezeichnet, und das sich leicht als das Extrem begreifen läßt, in welches die Furchtsamkeit und die erzwungene Nachgiebigkeit einer zwei Jahrtausende lang gequälten und unterdrückten Race naturgemäß bei einbrechender Kultur umschlägt. Wenn Lassalle bei einem seiner Kriminal-Processe in seiner Vertheidigungsrede, trotz der Drohungen des vorsitzenden Richters, ihm das Wort zu entziehen, den Staatsanwalt verhöhnt, und als ihm das Wort wirklich entzogen worden ist, sich das Recht erzwingt, weiter zu reden, indem er jetzt eine Diskussion darüber eröffnet, in wie weit es zulässig sei, ihm das Wort zu entziehen, so ist das »Chutzbe«. Diese »Chutzbe«, welche bei gewöhnlichen Individuen dieser Race in der Gestalt von Aufdringlichkeit oder unberechtigter Sucht, sich hervorzudrängen, mitunter so widerlich, als Unverblüfftheit und Geistesgegenwart mitunter so ergötzlich und gescheit ist, war bei ihm, in dessen Seele so große Gaben schlummerten, nur das Element, aus welchem sein persönlicher Thatendrang sich entwickelte, und dessen Farbe sein Thätigkeitseifer stets behielt. Sein Drang und seine Fähigkeit, zu handeln, waren nämlich nicht der reine – angelsächsische oder amerikanische – Unternehmungsgeist, der nur rastlos und praktisch schaffen und ordnen will. Es war ein Thätigkeitsdrang, der Widerstand suchte, und nur lebte und athmete in der Opposition. Ein deutscher Dichter, der Lassalle nur ein einziges Mal in einem Konzerte gesehen hatte, sagte mir: »Er sah aus wie lauter Trotz; aber auf seiner Stirn lag eine solche Thatkraft, daß es Einen nicht hätte wundern mögen, wenn er sich einen Thron erobert hätte.« – Im innersten Kern also eine Thatkraft, die Hindernisse aufsuchte und Hindernisse überwand, und die sich alle Mittel zum Siege, die in seinem Gemüth lagen, dienstbar machte: Kaltblütigkeit, Kampflust, Ehrgeiz, Herrschsucht, unüberwindliche Sicherheit des Auftretens im entscheidenden Augenblick.

Schon als Knabe von fünfzehn bis sechszehn Jahren warf Lassalle sich in einer den häuslichen Frieden störenden Angelegenheit zum Familienchefs auf, trat Aelteren und Erwachsenen gebieterisch gegenüber, und ordnete durch sein energisches Benehmen eine schwierige Sache. Als dreiundzwanzigjähriger Jüngling pflegte er während seiner ersten halbjährigen Untersuchungshaft, weit entfernt, sich der Gefängnißordnung zu fügen, den Schließern Befehle zu ertheilen, und wollten diese ihn irgendwie ihre Autorität empfinden lassen, so führte das zu den heftigsten Auftritten. Als er erfuhr, das; seine Schwester ein Gnadengesuch für ihn eingereicht hatte, richtete er sofort ein Schreiben an den König, um sich gegen jedes Mißverständniß zu sichern. Es war Etwas von einem Cäsar in diesem Jüngling, den geängstigte Bürgersleute dereinst für einen Catilina halten sollten. Er war für die Macht geschaffen, er war zum Herrscher gestempelt, und da er nicht als Prinz oder Edelmann, sondern als Kind des Mittelstandes und einer zurückgesetzten Race geboren war, so wurde er Denker, Demokrat und Agitator, um auf diesem Wege das Element zu erreichen, für das er geschaffen ward. Nicht als ob Lassalle sich Dessen bewußt gewesen wäre. Allein Vieles, was dem Bewußtsein als Ziel vor Augen steht, ist für die Natur blos Mittel, und die Natur in ihm dürstete nach Macht, Geltung, ja selbst nach dem Glanze und den Jubelrufen, die dem bedeutenden Führer eines Volkes oder eines Standes zukommen, und zwar zu derselben Zeit, wo sie ihn auf der äußersten Linken geboren werden ließ und ihm als Erbteil die Unfreiheit und das Unrecht von Jahrhunderten zu rächen gab – mußte er sich da nicht frühzeitig zugleich als Revolutionär und als Chef fühlen? Diese Anlagen begegneten sich mit dem Einflusse der modernen Wissenschaft, und Lassalle war zum Manne der Wissenschaft angelegt; aber die ganze moderne Wissenschaft arbeitet ihrem Wesen nach im Dienste des radikalen Fortschritts, und je tiefer Jemand von ihrem Geiste ergriffen ist, desto stärker fühlt er sich zur Opposition wider Alles getrieben, was nur die Autorität des Ueberkommenen besitzt.

So früh indeß Lassalle als Knabe heranreifte, war diese frühe Reife doch weit davon entfernt, das Kind in ihm zu verwischen oder zu tödten. Er gehört nicht zu den Männern, welche niemals Kinder gewesen sind; er gehört zu denen, welche stets etwas Kindliches bewahrten. Man darf sich nicht durch Spielhagen's rein dichterische Schilderung des Helden seines Romans »In Reih' und Glied« zu der Annahme verleiten lassen, daß Lassalle der blasse, schweigsame, ewig ernsthafte Knabe wie Leo gewesen sei. Er hatte noch als Mann viel Gefühl, viel Gemüth, besaß nur wenig Selbstbeherrschung im Privatleben, ließ der Erbitterung und Herrschsucht freien Lauf, und fügte sich im nächsten Augenblick mit vollendeter Liebenswürdigkeit; er konnte Kind sein und Kinderstreiche verüben, so gut wie Einer. Zu dem Kindlichen, ja Kindischen bei ihm gehörte seine Liebe für alles Glänzende und seine Sucht, zu glänzen. Er, der Demokrat, kleidete sich wie ein Dandy, mit ausgesuchter Eleganz à quatre épingles, wenn auch mit Geschmack. Er legte Werth darauf, seine Zimmer geschmackvoll eingerichtet, ja geschmückt zu sehen. Man fand in seinem Hause nicht nur Eleganz, sondern einen Anflug von Dekoration. Lassalle unternahm im Anfang der fünfziger Jahre zwei Reisen nach dem Orient und brachte von denselben Draperien und Kunstgegenstände heim, mit denen er seine Wohnung ausstattete. Er war ein bischen Schauspieler, wie Herrschernaturen es nicht selten sind ( vide Napoleon, Byron etc.). Seine Diners und Soupers waren die gewähltesten und feinsten in Berlin, zu derselben Zeit, wo er der Fürsprecher der Arbeiter war. Hierin liegt keineswegs, was man vielleicht darin sehen möchte, ein direkter Widerspruch, sondern ein Gegensatz, wie man ihn bei einer reichen und komplicirten Natur, bei einem mit lebhaftem Schönheitssinn ausgestatteten Jakobiner, bei einem mit prächtig verzierten Waffen kämpfenden Revolutionssoldaten, bei einem Manne findet, der noch nicht ganz das Kind abgeschüttelt hat. Es war zugleich etwas höchst Modernes und etwas in hohem Grade Antikes in Lassalle's Geistesanlage, und dies Antike war wiederum doppelter Art. Er war ein Alkibiades an Genußsucht und Fähigkeit, sich in allen Umgebungen zurecht zu finden, unter Männern der Wissenschaft wie unter Männern der Revolution, im Gefängnisse wie im Ballsale, der »in seiner Jugend mit derselben Gleichgültigkeit ins Gefängniß ging, wie ein anderer zum Ball« Prozeß in Düsseldorf den 27. Juni 1864, am Schlusse., – und er war ein antiker Römer an Willensstärke, Thatkraft, politischem Scharfblick und Talent, zu erobern und zu organisiren.

Von seiner Begeisterung für die klassische Vorzeit geleitet, begann Lassalle auf den Universitäten zu Breslau und Berlin Philologie und in Verbindung damit Hegel'sche Philosophie zu studieren, deren dialektische Methode er sich mit Eifer und Entzücken aneignete. Gleichzeitig sog er die revolutionären Ideen des jungen Deutschlands ein. Als er die Universität verlassen hatte, lebte er als unabhängiger Privatmann am Rhein, und studirte zu Düsseldorf und während eines Aufenthaltes zu Paris im Jahre 1845 griechische Philologie und Philosophie.

In Paris lernte der damals zwanzigjährige Lassalle Heinrich Heine kennen, und man bekommt einen hohen Begriff von der Genialität des jungen Studenten, wenn man sieht, in welchem Maße er den Aristophanes seines Zeitalters, der sich doch wahrlich so leicht nicht dupiren ließ, für sich einnimmt und blendet. Man bekommt ebenfalls einen hohen Begriff von dem psychologischen Scharfblick des Dichters, wenn man sieht, mit welchen Ausdrücken er zu und von Demjenigen spricht, der ihm gegenüber doch an Geist und Jahren noch wie ein Kind erscheinen mußte. Lassalle hat sich ersichtlich mit gewohnter Energie des kranken und verlassenen Dichters in seinem Erbschaftsstreite angenommen, und durch sein kräftiges Auftreten ihm einflußreiche Verbündete in dieser für ihn so wichtigen Angelegenheit verschafft. In den Briefen an Lassalle H. Heine's Briefe, dritter Theil, Briefe vom Februar 1846., den Heine stets seinen »liebsten, theuren Freund«, seinen »theuersten Waffenbruder« nennt, stößt man auf Aeußerungen wie folgende: »Heut beschränke ich mich darauf, Ihnen zu danken; noch nie hat Jemand so Viel für mich gethan. Auch habe ich noch bei Niemand so viel Passion und Verstandesklarheit vereinigt im Handeln gefunden. Wohl haben Sie das Recht, frech zu sein – wir Andern usurpiren blos dieses göttliche Recht, dieses himmlische Privilegium. In Vergleichung mit Ihnen bin ich doch nur eine bescheidene Fliege.« – Und an einer andern Stelle: »Leben Sie wohl und seien Sie überzeugt, daß ich Sie unaussprechlich liebe. Wie freut es mich, daß ich mich nicht in Ihnen geirrt; aber auch Niemandem habe ich je so viel getraut, – ich der ich so mißtrauisch durch Erfahrung, nicht durch Natur. Seit ich Briefe von Ihnen erhielt, schwillt mir der Muth und ich befinde mich besser.« Es wirkt fast rührend, den sechsundvierzigjährigen Mann, den großen, von so vielen Leiden gebrochenen Dichter Schutz bei dieser jungen Seele von Eisen suchen zu sehen, deren Willen zwanzig Winter zur Unbeugsamkeit gestählt haben, und der noch Muth für Alle übrig hat, die um ihn her klagen und sich beschweren. Heine, der bei Lassalle Hilfe sucht – die Antilope, die sich unter den Schutz des jungen Löwen stellt! – Eine Andeutung in einem Briefe an Ferdinand's Vater beweist, daß Lassalle Heine gegenüber als eifriger Atheist aufgetreten ist. Heine »möchte sein Gesicht sehen,« wenn ihm zu Ohren kommt, daß er, der todtkranke Dichter, sich zum Deismus bekehrt habe. Andere Andeutungen und Neckereien beweisen, daß Lassalle in Paris weiblichen Herzen nicht ungefährlich war. Glücklicherweise ist uns in einem Briefe Heine's an Varnhagen von Ense (vom 3. Januar 1846) eine vollständige Schilderung Ferdinand Lassalle's aufbewahrt, eine Schilderung, die nicht nur als ein treffendes Produkt der sichersten und feinsten Feder, welche Deutschland damals besaß, denkwürdig, sondern doppelt interessant ist, weil sie uns ein Bild von Lassalle giebt, wie er war, ehe die Oeffentlichkeit seine Existenz kannte, und ehe er selbst in der Litteratur aufgetreten war. Wir haben hier einen Lassalle avant la lettre:

»Mein Freund, Herr Lassalle, der Ihnen diesen Brief bringt, ist ein junger Mann von den ausgezeichnetsten Geistesgaben: mit der gründlichsten Gelehrsamkeit, mit dem weitesten Wissen, mit dem größten Scharfsinn, der mir je vorgekommen, mit der reichsten Begabniß der Darstellung, verbindet er eine Energie des Willens und eine Habilité im Handeln, die mich in Erstaunen setzen, und wenn seine Sympathie für mich nicht erlischt, so erwarte ich von ihm den thätigsten Vorschub. Jedenfalls war diese Vereinigung von Wissen und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erscheinung ... Herr Lassalle ist nun einmal so ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die Nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder heuchlerisch in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt. – Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unsichtbaren, haschten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten, und waren doch vielleicht glücklicher, als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegen gehen.«

Was für Worte! in jeder Zeile, das auf den Grund schauende Künstlerauge, die Meisterhand, und das feine Schalkslächeln, und dann im Schlußsatze des Sehers prophetischer Zukunftsblick!

3.

Am 11. August 1848 stand vor dem Assisenhofe zu Düsseldorf, der moralischen Mitschuld an einem Kassettendiebstahl angeklagt, ein Jüngling von einem stolzen und einnehmenden Aeußern, das in dem gerichtlichen Signalement folgendermaßen bezeichnet wird: »Ferdinand Lassalle, 23 Jahre alt, Privatmann, geboren zu Breslau, zuletzt wohnhaft zu Berlin, 5 Fuß 6 Zoll groß, mit braunen, krausen Haaren, freier Stirn, braunen Augenbrauen, dunkelblauen Augen, proportionirter Nase und Mund, rundem Kinn, länglichem Gesicht und schlanker Statur.« Der so signalisirte junge Mann hielt an jenem Tage eine Vertheidigungsrede, deren Gleichen das biedere Geschwornengericht niemals gehört hatte. Er war angeklagt, vor zwei Jahren zwei andere junge Leute, die gleich ihm in dem Hatzfeldt'schen Scheidungsprocesse eifrigst für die Gräfin Sophie von Hatzfeldt Partei genommen hatten, dazu verleitet zu haben, der Geliebten des Grafen ein Kästchen zu entwenden, in welchem man wichtige Dokumente vermuthete. Das Gericht verurtheilte ihn, aber die höhere Instanz kassirte das Urtheil. Lassalle's Vertheidigung entwickelt, welches Motiv ihn dazu veranlaßt, die Sache der Gräfin zu führen:

»Die Familie schwieg. Aber es heißt: wo die Menschen schweigen, da werden Steine reden. Wo alle Menschenrechte beleidigt werden, wo selbst die Stimme des Blutes schweigt und der hilflose Mensch verlassen wird von seinen geborenen Beschützern – da erhebt sich mit Recht der erste und letzte Verwandte des Menschen, der Mensch. Sie Alle kennen und haben mit Empörung gelesen die entsetzliche Geschichte der unglücklichen Herzogin von Praslin. Wer von Ihnen hätte sich nicht beeilt, ihr in ihrem Todeskampfe beizustehen? Nun wohl, meine Herren, ich sagte mir: hier ist zehnmal Praslin. Denn was ist der kurze Todeskampf einer Stunde gegen die Qualen eines durch zwanzig Jahre verlängerten Todesschmerzes! Was sind die Wunden, die ein Messer schlägt, gegen den langsamen Meuchelmord, den man mit raffinirter Grausamkeit an der ganzen Existenz eines Wesens begeht, gegen dies ungeheure Weh einer Frau, in der man zwanzig Jahre hindurch Tag für Tag jedes Lebensrecht mit Füßen tritt, jedes Recht des Menschen beleidigt, die man um sie ungestraft zu mißhandeln, vorher geflissentlich der Verachtung preiszugeben versucht hat!«

Der junge Mann, welcher, in einer so eigenthümlichen Sache angeklagt, so ritterliche Gefühle an den Tag legte, hatte, neunzehn Jahre alt, zu Berlin die damals etwa doppelt so alte, aber schöne und imponirende Gräfin (geborene Fürstin) von Hatzfeldt kennen gelernt, und gerührt von ihrem Unglück stürzte er sich in den Proceß, den diese hochstehende Dame mit ihrem Gemahl führte. Der in die »Kassettengeschichte« verwickelte junge Dr. Mendelssohn führte ihn zuerst bei ihr ein, und vielleicht ist die Annahme nicht zu kühn, daß die bedeutende Schönheit des blutjungen Mannes, seine elegante Erscheinung und seine wunderschönen dunkelblauen Augen einen sehr günstigen Eindruck machten. Ein Freund Lassalle's hat mir mitgetheilt, daß Derselbe, kurz nachdem er die Bekanntschaft der Gräfin gemacht, zum Grafen ging und ihn forderte. Als der hochgeborene Junker in seiner fürstlichen Stellung nur damit antwortete, den »dummen Judenjungen« auszulachen, beschloß Lassalle ernstlich, die Sache der Gräfin in seine Hand zu nehmen. Er begleitete sie nach Düsseldorf und widmete fortan Jahre seines Lebens hindurch seine ganze Kraft dem Kampfe für ihre Vermögensinteressen und ihre gesellschaftliche Stellung.

Man begreift, daß die Eltern im ersten Augenblick mit Kummer und Sorge Lassalle aus seiner Bahn getrieben sahen, um das Recht einer ihnen ganz fremden Persönlichkeit zu verfechten. Er hatte als Philolog frühzeitig die ungewöhnlichsten Gaben an den Tag gelegt. Männer wie Boeckh und Alexander von Humboldt verhießen dem jungen Gelehrten, dem »Wunderkinde«, wie Humboldt ihn nannte, eine glänzende Zukunft, und die Mutter hätte in dem Sohne gern einen Professor gesehen. Sie fand sich jedoch bald in das Geschehene, zumal man ihr einleuchtend machte, daß Ferdinand als Jude doch alle Wege zu einer Universitätskarriere versperrt finden würde. Am härtesten war es gewiß für ihn selbst, seinen begonnenen Studien entrissen zu werden. Sein großes Werk über Heraklit, das Anfang 1846 schon bis auf einen geringen Theil fertig ausgearbeitet war, erblickte durch diese gewaltsame Ablenkung erst 1858 das Licht der Oeffentlichkeit. Er sagt mit Bezug hierauf in seiner Verteidigungsrede:

»Auch mein Blick, meine Herren, war seit je vorzugsweise auf die allgemeinen Fragen und Angelegenheiten gerichtet, und ich hätte vielleicht angestanden, zur Besserung eines blos individuellen Mißgeschickes meine ganze Fähigkeit zu verwenden, meine ganze Laufbahn wenigstens auf Jahre zu unterbrechen, obschon es herzzerreißend ist für einen Menschen von Herz, einen anderen Menschen, den er für gut und edel hält, hilflos untergehen zu sehn mitten in der Civilisation der Gewalt gegenüber! Aber ich sah in dieser Angelegenheit auch allgemeine Standpunkte und Principien verkörpert. Ich sagte mir, daß die Gräfin ein Opfer ihres Standes sei, ich sagte mir, daß man nur in der übermüthigen Stellung eines Fürsten und Millionärs solche Unthaten, solche Beleidigung der Gesellschaft in ihrer sittlichen Tiefe ohne Scheu wage und wagen dürfe ... Ich verhehlte mir keineswegs die Schwierigkeit dieses Unternehmens. Ich sah wohl, welche schwierige Aufgabe es sei, dies verjährte, historisch gewordene Unrecht aufzuklären, wie es, wenn es zum Proceß käme, meine ganze Thätigkeit ausschließlich erfordern und somit eine lange Unterbrechung meiner eigenen Karriere ernöthigen würde, diese verwickelten Verhältnisse zu Ende zu führen; ich wußte recht wohl, wie schwer es ist, einen falschen Schein zu besiegen; ich verhehlte mir nicht, welche furchtbaren Gegner Rang, Einfluß und Reichthum sind, und daß nur sie stets und stets Alliancen finden in den Reihen der Bureaukratie, welche Gefahr somit ich selbst dabei laufen könnte. Ich wußte dies, ohne daß es mich hindern konnte. Ich beschloß, dem falschen Scheine die Wahrheit, dem Range das Recht, der Macht des Geldes die des Geistes entgegen zu setzen. Die Hindernisse, die Opfer, die Gefahren schreckten mich nicht; hätte ich aber gewußt, welche unwürdige und infame Verleumdungen mir entgegen treten, wie man die reinsten Motive mir gerade in ihr Gegentheil verdrehen und verkehren, und welchen bereitwilligen Glauben die elendesten Lügen finden würden – nun, ich hoffe, mein Entschluß wäre auch dadurch nicht geändert worden, aber es hätte mir einen schweren, einen schmerzlichen Kampf gekostet.«

Durch die Verhältnisse, durch die Anspielungen der Anklageakte, durch Gerüchte und Klatschereien gezwungen, kann Lassalle nicht umhin, der gegen ihn gerichteten Beschuldigung zu gedenken, als stünde er in einem Liebesverhältnisse zu seiner Klientin. Nichts, sagt er, werde allgemeiner geglaubt, als diese Beschuldigung. Dagegen zu protestiren, wäre lächerlich gewesen. Er beruft sich auf das, was achtungswerthe Zeugen als ihre Ueberzeugung von diesem Verhältniß ausgesprochen, auf vorgelegte Briefe von ihm selbst, aus welchen das Gegentheil hervorgehe. Er erklärt, weshalb er in dieser Sache überall auf Unglauben gestoßen sei:

»Es sprachen mir, meine Herren, sehr angesehene Männer dieser Stadt, Männer, die mir wohlwollten, Männer, die über meine Verhältnisse Erkundigungen eingezogen und durch die ehrenvollen Aufschlüsse, die sie erhalten hatten, an einen schmutzigen Eigennutz nicht glauben konnten, diese Männer sprachen mir selbst ihre Ueberzeugung aus, daß ich schlechterdings in einem Liebesverhältnisse zu der Gräfin stehen müsse! Und als ich mir zu fragen erlaubte, worauf sie die Annahme gründeten, da wurde mir eben so offen geantwortet: Auf Nichts – auf Nichts in der Welt, als darauf, daß sich sonst eine so große Aufopferung für eine fremde Sache gar nicht erklären ließe! Diese Männer, meine Herren, ich gebe es zu, urtheilten als gereifte Weltkenner und Erfahrungsmenschen. Aber sie übersahen Eins. Sie übersahen meine Jugend, und sie übersahen, daß, wie sehr auch unsere Zeit die des Egoismus sein mag, die Jugend doch zu allen Zeiten das Alter der Uneigennützigkeit, der Begeisterung und Aufopferungsfähigkeit gewesen ist und bleiben wird.«

Es liegt in diesen Worten ein gewisser Accent der Ehrlichkeit und Wahrheit, der nicht täuscht. In welchem Verhältnisse Lassalle auch zur Gräfin stand, er konnte als Mann von Ehre gewiß nicht vor der Oeffentlichkeit einräumen, daß ein Liebesverhältniß zwischen ihnen bestehe. Aber die Art, wie er es in Abrede stellt, beweist klar, daß er – unbeschadet einer persönlichen Begeisterung für die betreffende Dame – sich anfangs in dies Meer praktischer Kämpfe stürzte, ausschließlich geleitet von einer lebhaften Entrüstung und von einem rein geistigen Drange, der alle Bedenklichkeiten überwand, dem Drange, das nackte Recht der Macht entgegen zu stellen.

Lassalle's Verhältniß zur Gräfin in den nächstfolgenden Jahren hat seinen Gegnern zu stets erneuerten Angriffen auf seine Moralität Anlaß gegeben. Von der wahren Beschaffenheit desselben ist selbstverständlich Nichts bekannt, und Nichts scheint auch die Oeffentlichkeit weniger anzugehen. In Lassalle's späteren Lebensjahren war das Verhältniß der Gräfin zu ihm ganz das einer Mutter, und sie nannte ihn mündlich wie in ihren Briefen immer nur »Kind«. Die Gräfin Hatzfeld ist noch am Leben. † 25. I. 1881. – Vielleicht wird es für Manchen wie ein rhetorischer Pfiff aussehen, wenn Lassalle behauptet, in dieser individuellen Angelegenheit allgemeine Standpunkte und Principien verkörpert gesehen zu haben. Dies Mißtrauen würde sicherlich grundlos sein. Es ist das Kennzeichen hervorragender Menschen, daß sie in dem einzelnen Falle, der ihnen begegnet, und der tausend anderen begegnet ist, ohne für etwas Anderes als für ein einzelnes zufälliges Ereigniß gehalten zu werden, ein allgemeines Schicksal gewahren; sie ahnen durch eine augenblickliche Eingebung, welch eine Menge von Unglücklichen unter einer ähnlichen Qual wie derjenigen seufzt, deren Zeuge sie geworden sind; sie forschen hinter dem Unrecht nach der socialen Ursache des Unrechts und richten ihre Angriffe gegen die Ursache, wo Andere nur an Denjenigen denken würden, welcher das Unrecht verübt. Deshalb glaube ich, daß Lassalle meint, was er sagt, wenn er die Hoffnung ausspricht, in jenen Tagen (1848), wo allüberall das System des Lugs, der Heuchelei und Unterdrückung zusammen stürzte, müsse nun auch endlich »der Tag der Wahrheit hereinbrechen über ein individuelles Loos und Leiden, welches, so innig es ein individueller Fall nur immer vermag, gleich einem Mikrokosmus, das allgemeine Leiden, die zu Grabe keuchende Misère und Unterdrückung in sich abspiegelt, und somit auch über ein redliches und durch alle Kriminal- und andere Verfolgungen unerschüttertes Bemühen, mißhandelten Menschenrechten zur Anerkennung zu verhelfen« F. Lassalle: Meine Vertheidigungsrede wider die Anklage der Verleitung zum Kassetten-Diebstahl, gehalten am 11. August 1848 vor dem kgl. Assisenhofe zu Köln und den Geschworenen. Köln, Wilh. Greven, 1848. – Der Criminalproceß wider mich wegen der Verleitung zum Cassetten-Diebstahl, oder: Die Anklage der moralischen Mitschuld Ein Tendenzproceß. Ebendaselbst..

Die Rede, aus welcher ich einige Bruchstücke mitgeteilt, ist das älteste literarische Erzeugniß, welches von Lassalle's Hand vorliegt. Das Interesse desselben besteht in dem Einblick, den es in des Mannes ursprünglichen Fond als Jüngling gewährt. Ich habe auf die zu Grunde liegende Echtheit des Gefühls aufmerksam gemacht. So Etwas verräth sich im Stil und läßt sich nicht nachmachen. Ein fester Glaube an den Sieg des Rechts über die Macht liegt zutiefst in seiner Seele als warmer, jugendlicher Enthusiasmus. Dicht daneben liegt das Selbstgefühl; Lassalle glaubt weniger an die Macht des Geistes, als an die Macht seines eignen Geistes, allen Schwierigkeiten zu trotzen und sie zu besiegen. Hier ist Ritterlichkeit und Kampflust, und in der Form noch Etwas von dem Talent des Advokaten, eine Position einzunehmen, eine Situation auszubeuten und mit grellen Farben zu malen: »Menschenrechte« etc. Und doch ist das beinahe schon zu viel gesagt. Wenn sich Dergleichen hier findet, ist es noch so fein, so schwach, daß es höchstens wie ein ganz flüchtiger Farbenton über der Rede schwebt. Was aber hier unzweideutig hervortritt, das ist noch eine Eigenschaft, eine tiefliegende bei Lassalle: die Rücksichtslosigkeit. Die Rücksichtslosigkeit ist ein völlig modernes Ideal. Ich entsinne mich, daß Bismarck irgendwo in seinen Briefen auf die Anschuldigung eines alten geistlichen Freundes, daß er gar zu rücksichtslos sei, die aufrichtig gemeinten, sehr lehrreichen Worte erwidert: »Als Staatsmann bin ich nicht einmal hinreichend rücksichtslos, meinem Gefühl nach eher feig.« G. Hesekiel: Das Buch vom Grafen Bismarck, S. 261. Die Rücksichtslosigkeit (ich brauche den Leser wohl kaum erst zu bitten, dies Wort nicht mit Roheit, Pietätlosigkeit oder Dergleichen zu verwechseln) ist ein Ideal der letzten Jahrzehnte. Sie war nicht das Ideal unserer Väter. Wie oft haben sie nicht die Worte aus Hamlet's Monolog citirt:

Der angebornen Farbe der Entschließung
Wird des Gedankens Blässe angekränkelt;
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,
Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,
Verlieren so der Handlung Namen.

Welche Fehler das jetzt lebende Geschlecht auch besitzen mag, Hamlet's Worte passen nicht mehr auf dasselbe. Was wir beschließen, das führen wir aus, so weit äußere Verhältnisse es gestatten. Rücksichtslos auf sein Ziel loszugehen, ohne reellen äußerlichen Widerstand oder reelle äußerliche Mittel zu scheuen, ist eine rein moderne Tugend und Sünde. Die Sache, welche Lassalle zum ersten Male auf die Anklagebank führte, war von der Art, daß nur eine früh entwickelte Rücksichtslosigkeit ihn in dieselbe verwickeln konnte. Den versuchten Raub eines der Gräfin gehörenden Dokumentes ohne Weiteres als Diebstahl zu bezeichnen, wäre boshaft oder dumm; aber eine in der Wahl ihrer Mittel rigoristische Natur würde davor zurückgescheut sein. Und hat er sich auch nicht direkt dabei betheiligt, so hat er es doch indirekt durch die Herrschaft gethan, die er über die Betheiligten ausübte. Es charakterisirt den Herrscherdrang seines Gemüthes, wenn es ausdrücklich in der Anklageakte heißt, daß er, obschon der jüngste von den Vertheidigern der Gräfin, blinden Gehorsam bei seinen Genossen fand.

Seit 1846 also führte Lassalle die Processe der Gräfin. Die Arbeit war so kolossal, die Schwierigkeiten so enorm, daß er, ein Arbeiter sonder Gleichen, statt, wie er 1848 meinte, noch ein paar Jahre darauf verwenden zu müssen, fast zehn Jahre seines Lebens in diesen Kämpfen verbrachte. Er, welcher kein Jurist von Fach war, gerieth solchermaßen auf praktischem Wege in eine Wissenschaft hinein, in welcher er theoretisch Epoche machen sollte. Ein Mann, welcher lange Zeit fast für den ersten Rechtsanwalt Deutschlands galt, hat, nachdem er den Proceß studirt, privatim erklärt, daß kein Fachmann ihn besser hätte leiten können. Vor 36 Gerichten führte Lassalle die Sache der Gräfin. Nur ein Wille wie der seine konnte einer so zähen Ausdauer fähig sein, wie sie hier erforderlich war, – obendrein während er bald, der Mitschuld an dem erwähnten Diebstahl angeklagt, in Untersuchungshaft, bald im Gefängnisse saß, weil er der Aufforderung, die Verfassung gegen den Staatsstreich von 1848 mit bewaffneter Hand zu schützen, schuldig befunden war. Vom Gefängniß aus führte Lassalle unverdrossen den Proceß; aus der Haft entlassen, führte er ihn mit noch größerer Kraft, während Philosophie, Politik, Volkswirthschaft, all seine Studien, all' seine Lebenspläne, immer wieder aufgeschoben und vertagt, seiner Befreiung von diesem undankbaren Geschäft harrten. Endlich war sein Gegner, der Graf, mürbe und matt. Der »dumme Judenjunge« hat es ihm allzu bunt gemacht. Ein Urtheil wurde nicht gesprochen, es kam zum Vergleich, und Lassalle gewann, was er erstrebt hatte, ein fürstliches Vermögen für die Gräfin. So lange der Proceß währte, hatte er mit ihr die nicht sehr bedeutende Summe getheilt, welche ihm jährlich von zu Hause zufloß, denn in all' dieser Zeit war die Gräfin mittellos; zum Ersatz dafür hatte er sich kontraktlich eine jährliche Rente ausbedungen, wenn die Sache gewonnen würde. So war er von jetzt ab in pekuniärer Hinsicht außer Sorgen und konnte sich abstrakt wissenschaftlichen, Nichts einbringenden Studien widmen, ohne Tag für Tag auf die leidige Noth des Broterwerbs hingewiesen zu sein.

4.

Zuerst und vor Allem kehrte Lassalle jetzt zu seinem »Heraklit« zurück. Lassalle, die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesus. 2 Bände. Verlag von H. Barsdorf in Leipzig. Wie das Buch gedruckt vorliegt, ist es für den aufmerksamen Leser nicht schwer, gleichsam zwei Hände darin zu spüren. Der reife Mann hat redigirt und herausgegeben, was der Jüngling erforscht und gefunden hat. Unverkennbar hat eine geschichtlichere Auffassung im Laufe der Jahre die früher streng methaphysische und rein hegelianische abgelöst. Nichts destoweniger giebt das Buch ein verhältnißmäßig getreues Bild von Lassalle's wissenschaftlichem Leben in seinen jüngeren Jahren. »Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln« ist eine Studie in Hegel'schem Geiste, eine Studie zur Geschichte der Philosophie. In Lassalle's Organisation war Etwas, das ihn mächtig zu der in seiner ersten Jugend absolut siegreichen Hegel'schen Philosophie hinziehen mußte; die dialektische Anlage seiner Natur und sein Drang, in den Besitz eines Schlüssels oder Dietrichs zu gelangen, mittels dessen er sich den Weg zu jenem Verständniß und Wissen verschaffen könne, welches Macht ist. Was verhieß nicht die Hegel'sche Philosophie ihren Pflegern! Daß Lassalle ein besonderes Interesse für Heraklit empfand, war, wie sich schließen läßt, zunächst in dem leidenschaftlichen Hange seines Geistes begründet, sich mit Schwierigkeiten abzugeben, die jeden anderen zurückschrecken würden – seit dem grauen Alterthum führte Heraklit ja den Beinamen des Dunklen, und was von ihm erhalten war, bestand nur aus wenigen zerstreuten Fragmenten und erforderte gründliche Kenntniß der ganzen klassischen Litteratur, um ergänzt und verstanden zu werden; – sodann spürte unverkennbar der begeisterte Hegelianer Lust, einen Geist zu schildern, der ihm als ein früher Vorläufer Hegel's selbst und als ein solcher erschien, der eben wegen seiner Verwandtschaft mit dem modernen Meister unverstanden geblieben war; – endlich fühlte der junge stürmische Apostel der Gegenwart sich hingezogen zu einer Größe des Alterthums, welche nach manchem uns aufbewahrten Charakterzuge mit Eigenschaften und Eigenthümlichkeiten ausgestattet war, die er in seiner eigenen Seele gähren fühlte. Auch von Heraklit hieß es ja, »er habe alle Ruhe und jeden Stillstand aus der Welt verbannt, die ihm nur absolute Bewegung gewesen,« und mit welcher Genugthuung ruft Lassalle einmal aus: »Man sieht, daß Heraklit weit entfernt war von jener Apathie, welche den ethisch-politischen Raisonnements der späteren Stoiker eine so tiefe Langweiligkeit einflößt. Es war Sturm in dieser Natur!« Lassalle: Herakleitos, Bd. I, S. 51, und Bd. II, S. 443.

Wie fast alle Schriften Lassalle's einen Protest wider den Irrthum enthalten, eine einzelne Disciplin oder eine einzelne Wissenschaft in geistloser Isolirtheit betrachten zu wollen – ein Zug, in welchem sich ein angeborener Blick für das Ganze und Große offenbart –, so beginnt auch dies Werk mit der Betonung des Satzes, daß »jetzt, wo die Geschichte der Philosophie aufgehört habe, für eine Sammlung von Curiosis zu gelten, wo auch der Gedanke als ein historisches Produkt und die Geschichte der Philosophie als die Darstellung seiner kontinuirlichen Selbstentwicklung begriffen werde, die Zeit kommen müsse, wo die Geschichte der Philosophie eben so wenig, wie diejenige der Religion, der Kunst, des Staats oder der Lebensform der bürgerlichen Gesellschaft, als eine isolirte Disciplin werde aufgefaßt und dargestellt werden.« Man darf sich indeß durch den Nachdruck, der hier auf eine historische Entwicklung gelegt wird, nicht verleiten lassen, Lassalle's Standpunkt in diesem Werke für minder hegelianisch und mehr modern zu halten, als derselbe in Wirklichkeit ist. Das Vorwort, welches dies Historische so scharf accentuirt, gehört ja unzweifelhaft zu den allerletzten Partien des Werkes. Im Uebrigen ist der Standpunkt rein metaphysisch. Wird der wissenschaftliche Gedanke hier auch ein historisches Produkt genannt, so werden die Kategorien des Gedankens doch als ewige metaphysische Wesenheiten betrachtet, deren Selbstbewegung und »Umschlag« die Geschichte erzeugen. Die Philosophen werden nicht nach ihrer totalen psychologischen Entwickelungsstufe, sondern nach dem Platze geordnet, den die Kategorie, als deren Repräsentanten sie aufgefaßt werden, im System einnimmt. Heraklit entspricht dem Werden, Parmenides dem Sein; folglich wissen wir a priori, daß Parmenides, wie hoch er auch als Geist über Heraklit stehe, vor und unter ihn gestellt wird Lassalle: Herakleitos, Bd. I, S. 35. Vgl. Lazarus und Steinthal: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachkunde, Bd. II, S. 333..

Hiermit soll jedoch nicht im entferntesten angedeutet werden, daß Lassalle Heraklit nicht verstanden habe. Im Gegentheil. Gerade die hegelisch-metaphysische Methode schlug vortrefflich an, wo es das Verständniß eines Denkers galt, dessen Stärke und Originalität in einer bis zur Grenze der Sophistik entwickelten Dialektik lag. Ich wollte mich in diesem Punkte nicht auf mein eigenes Urtheil allein verlassen; ich habe daher einen Mann, welcher auf diesem Gebiete eine Autorität ist – einen Professor der Philologie an der Berliner Universität – gefragt, wie weit Lassalle nach seiner Ansicht Heraklit verstanden habe, und ich erhielt die charakteristische Antwort: »Gewiß hat er ihn verstanden. Ein normal angelegter Philolog wird Heraklit nicht verstehen, ja darf ihn gar nicht verstehen. Aber man kann nicht leugnen, daß Lassalle ihn verstanden hat, und daß sein Buch ein ausgezeichnet tüchtiges Werk ist.«

In der Auffassung und Wiedergabe von Heraklit's Metaphysik spürt man den schulgerechten Hegelianer: »Der Begriff des Werdens, die Identität des großen Gegensatzes von Sein und Nichtsein ist das göttliche Gesetz. Die Natur selbst ist nur die verkörperte Verkündigung dieses ihre innere Seele bildenden Gesetzes von der Identität des Gegensatzes. Der Tag ist nur diese Bewegung: sich zur Nacht zu machen, die Nacht nur dies, zum Tag zu werden, der Sonnenaufgang ist nur ein ununterbrochener Niedergang etc. Das All ist nur die sichtbare Verwirklichung dieser Harmonie des sich Entgegengesetzten, die durch alles Seiende hindurchgreift und es regiert« ... »Dieser versöhnte Widerspruch, das daseiende Nichtsein, ist der Kern und die ganze Tiefe ( sic!) seiner Philosophie. Man kann vorläufig sagen, daß diese in dem einzigen Satze besteht: Nur das Nichtsein istLassalle: Herakleitos, Bd. I, S. 24 und 25. – Ganz hat Lassalle den Hegel'schen Jargon nie überwunden. In seiner Tragödie »Franz von Sickingen« spricht Karl V. von seinen Zwecken, und sagt dann rein hegelianisch:
Wenn Ihr die meinen
Zu Eures Wollens Inhalt machen könnt –
Dann, Franz, dann sollt Ihr steigen.
Noch in seiner letzten größeren Schrift: »Kapital und Arbeit« »schlagen die Begriffe um«. Vgl. auch im »System der erworbenen Rechte«, Bd. II, S. 9, die Ausführung von der »dialektischen Thätigkeit des Begriffs«.

Ist also die Methode, welche Lassalle bei seiner historisch-philosophischen Forschung anwendet, rein hegelianisch, so erhellt andererseits eben so deutlich, daß das Hauptinteresse an dem Gegenstände seiner Forschung für ihn darin lag, seinen großen Meister hier vorgebildet zu sehen. Wäre Hegel gegen den Schluß des sechsten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung im asiatischen Griechenland geboren, so wäre er Heraklit geworden. Von Heraklit hatte man ja schon im Alterthume bemerkt, daß er, welcher die Gegensätze als Urprincip setze, mit dem Satze des Widerspruchs nicht einverstanden sei (Bd. I, S. 119). Heraklit hatte ja schon mit einer an Spinoza's Pantheismus erinnernden Wendung erklärt, daß »dem Gott Alles schön und gerecht sei, die Menschen aber das Eine als ungerecht, das Andere als gerecht angenommen haben« (Bd. I, S. 92). Und bei Heraklit schon fand sich die philosophische Neigung, welche zur Blüthezeit des Hegelianismus so vorherrschend war, bei jeder Gelegenheit dem gesunden Menschenverstande unangenehme Wahrheiten zu sagen. Lassalle bemerkt selbst (Bd. II, S. 276): »Wenn eine moderne Philosophie sich darin gefiel, wiederholt hervorzuheben, daß gerade das scheinbar Bekannteste und Alltäglichste, was Jedermann ganz von selbst zu wissen glaube, dennoch vielmehr gerade am wenigsten gewußt werde und von einer dem reflektirenden Verstande schlechthin unfaßbaren Natur sei, so ist es Heraklit gewesen, der, als erster Verkünder einer wahrhaft spekulativen und sich als solche erfaßt habenden Idee, auch zuerst diesen selben Ausspruch über die Ohnmacht des unspekulativen Denkens und des subjektiven Verstandes gethan hat.«

Heraklit's Ethik, sagt Lassalle (Bd. II, S. 431), faßt sich in den einen Gedanken zusammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen selbst ist: »Hingabe an das Allgemeine.« Das ist zugleich griechisch und modern; aber Lassalle kann sich das Vergnügen nicht versagen, in der speciellen Ausführung dieses Gedankens bei dem alten Griechen die Uebereinstimmung mit Hegel's Staatsphilosophie nachzuweisen (Bd. II, S. 439): »Wie in der Hegel'schen Philosophie die Gesetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realisation des allgemeinen substantiellen Willens, ohne daß bei dieser Bestimmung im geringsten an den formellen Willen der Subjekte und deren Zählung gedacht wird, so ist auch das Allgemeine Heraklit's gleich sehr von der Kategorie der empirischen Allheit entfernt.«

Doch nicht nur wegen der Analogie mit Hegel, sondern wegen der Uebereinstimmung mit Lassalle's innigster politischer Ueberzeugung hebt er dies Moment hervor. Seit seiner frühesten Jugend hatte ja auch er im Staatsgedanken Moral und Recht und Vernunft inkarnirt gesehen. Die Begeisterung für diese Idee, der Glaube an die Mission des Staates nicht nur als Beschützer, sondern als Förderer von Recht und Kultur geht durch alle seine Schriften. Man spürt sie in seinen gelehrten wissenschaftlichen Arbeiten, wie hier in »Heraklit«, sie offenbart sich stärker, wiewohl nur stellenweise aufblitzend, in seinem großen juristischen Werke (»System der erworbenen Rechte,« Bd. I, Seite 47; Bd. II, Seite 603 ff.), bis sie endlich in seinen politischen und ökonomischen Agitationsbroschüren mit leidenschaftlicher Polemik wider die Manchester-Theorie und mit all' jener Wärme der Ueberzeugung verkündet wird, die ihn als Redner und Schriftsteller so geliebt und gefürchtet machte.

Der Gegensatz zwischen Heraklit und Lassalle ist auf diesem Punkte nur der, daß man aus der Staatstheorie des griechischen Denkers sehr wohl begreift, wie er, trotz seines Respekts für das Allgemeine, in den schärfsten Gegensatz zu der Massenherrschaft in seiner Vaterstadt Ephesos treten mußte, daß man aber weit schwieriger einsieht, wie Lassalle aus seinem analogen Grundbegriffe vom Staate zu praktischen Konsequenzen gelangen konnte, die eher von Rousseau als von Hegel stammen. Hier fand jedoch bei dieser interessanten Individualität eine innere Spaltung von der Art statt, wie sie uns bei hervorragenden Geistern so häufig begegnet. Aus Instinkt und kraft seiner Grundprincipien war Lassalle ein Vergötterer der Intelligenz, der objektiven Vernunft, und daher ein leidenschaftlicher Gegner und Verächter der öffentlichen Meinung und der Zahl. Aus Ueberzeugung dagegen und kraft seiner politischen und praktischen Principien war Lassalle bekanntlich ausgeprägter Demokrat, konsequenter und siegreicher Vertheidiger des allgemeinen Stimmrechts, Vorkämpfer für eine Art von Massenherrschaft, die die Geschichte zuvor nicht gesehen hat. Geistesaristokrat und Socialdemokrat! größere Gegensätze, als diese kann ein Menschenherz umfassen, aber man hegt sie nicht ungestraft in seinem Gemüthe. Was wir hier berühren, ist in der Welt der Principien derselbe Kontrast, der rein äußerlich zu Tage trat, wenn Lassalle mit seiner ausgesucht eleganten Kleidung, seiner ausgesucht feinen Wäsche und seinen Lackstiefeln in und zu einem Kreise von Fabrikarbeitern mit rußiger Haut und schwieligen Händen sprach.

Aber bestand nun auch in dieser Hinsicht ein gewisser Kontrast zwischen Lassalle und dem von ihm bewunderten Griechen, so fühlt man doch die Aehnlichkeit, so bald man die Schilderung von Heraklit's Persönlichkeit mit seinem unglaublichen Selbstgefühl und seiner Menschenverachtung liest. Welche Vorstellung von seinem Werthe muß ein Mann gehabt haben, der, wie Heraklit, mehr als einmal (Bd. II, S. 269 und 281) äußerte, »daß die Menschen schlechthin unvernünftig seien, und daß er allein wisse, während alle Anderen wie im Schlafe handeln,« oder der von seinen Mitbürgern nicht nur im Allgemeinen sagte, »sie verdienten, gehenkt zu werden, da die Masse sich doch nur mäste wie das Vieh,« sondern der bei einem bestimmten einzelnen Anlasse, der Vertreibung seines Freundes Hermodoros, bemerkte (Bd. II, S. 442): »Den Ephesiern gebührt, wie sie erwachsen sind, Allen, erwürgt zu werden, und den Unmündigen, die Stadt zu verlassen, da sie den Hermodoros, den Trefflichsten von ihnen, vertrieben haben, sagend: Bei uns soll Keiner der Trefflichste sein; ist aber Einer ein Solcher, so sei er es anderswo und bei Andern.« Wer mag daran zweifeln, daß diese Worte oftmals Lassalle in den Sinn gekommen sind, als er ein Jahr vor seinem Tode sich überall gehaßt und verleumdet sah, jahrelange Einkerkerung als Perspektive vor den Augen hatte, und, von Obrigkeit und Presse verfolgt, auf Lauheit bei dem größten Theil Derjenigen stieß, denen er helfen wollte und denen er seine Ruhe opferte. Man dürfte kaum eine treffendere Parallelle zu jenen verzweiflungsvoll selbstbewußten Aeußerungen Heraklit's finden, die von einer wahrhaft timonischen Bitterkeit und Menschenverachtung zeugen, als Lassalle's, übrigens glänzend geschriebene, »melancholische Meditation« am Schlusse seiner Schrift »Kapital und Arbeit«:

»Und diese absolute Versimpelung des Bürgerthums – in dem Lande Lessing's und Kant's, Schiller's und Goethe's, Fichte's, Schelling's und Hegel's! Sind diese geistigen Heroen wirklich nur wie ein Zug von Kranichen über unsern Häuptern dahin gerauscht? Ist von der immensen geistigen Arbeit, von der innerlichen Weltwende, die sie vollbracht, Nichts, Nichts, gar Nichts auf die Nation gekommen, und besteht der deutsche Geist wirklich nur in einer Reihe einsamer Individuen, welche, jeder das Erbtheil seiner Vorgänger treu übernehmend, ihre einsame und für die Nation fruchtlose Arbeit in bitterer Verachtung ihrer Mitwelt fortsetzen? Welcher Fluch hat das Bürgerthum enterbt, daß von all' den gewaltigen Kulturarbeiten, die in seiner Mitte geschahen, daß aus dieser ganzen Atmosphäre von Bildung kein einziger Tropfen befruchtenden Thaues in sein immer mehr vertrocknendes Gehirn gefallen? ... Der Bürger feiert unsern Denkern Feste – weil er niemals ihre Werke gelesen! Er würde sie verbrennen, wenn er sie gelesen hätte ... Er schwärmt für unsere Dichter, weil er einige Verse von ihnen citiren kann oder dies und jenes Stück von ihnen gesehen und gelesen, aber sich niemals in ihre Weltanschauung hineingedacht hat!«

Noch eine Uebereinstimmung, die letzte zwischen Heraklit und Lassalle, bildet der trotz des Selbstgefühls und des Stolzes so leidenschaftliche Drang nach Ruhm und Ehre, nach der Bewunderung und dem Lobe Anderer. Heraklit hat das oft citirte Wort gesprochen (Bd. II, S. 434): »Die größeren Schicksale erlangen das größere Loos.« Und er hat gesagt, was das rechte Licht auf diesen Satz wirft (Bd. II, S. 436), »daß die Menge und die sich weise Dünkenden den Sängern der Völker folgen und die Gesetze um Rath fragen, nicht wissend, daß die Menge schlecht, Wenige nur gut, die Besten aber dem Ruhme nachfolgen. »Denn,« fügt er hinzu, »es wählen die Besten Eins statt Alles, den immerwährenden Ruhm der Sterblichen.« Ruhm war für Heraklit also gerade jenes größte Loos, welches das größere Schicksal erlangen kann; sein Trachten nach Ehre war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, sondern ein durch Reflexion und Philosophie begründetes. »Der Ruhm,« sagt Lassalle, »ist in der That das Entgegengesetzte von Allem, das Entgegengesetzte gegen die Kategorie des unmittelbaren realen Seins überhaupt und seiner einzelnen Zwecke. Er ist Sein der Menschen in ihrem Nichtsein, reine Fortdauer im Untergang der sinnlichen Existenz selbst, er ist darum erreichte und wirklich gewordene Unendlichkeit des Menschen,« und mit Wärme fügte er hinzu: »Wie dies der Grund ist, weshalb der Ruhm seit je die großen Seelen so mächtig ergriffen und über alle kleinen und beschränkten Zwecke hinausgehoben hatte, wie dies der Grund ist, weshalb Platen von ihm singt, daß er erst annahen kann »Hand in Hand mit dem prüfenden Todesengel,« so ist es auch der Grund, weshalb Heraklit in ihm die ethische Realisirung seines spekulativen Princips erblickt.«

Mag diese Schätzung von Ehre und Ruhm nun auch noch so sehr mit Heraklit's metaphysischem System übereinstimmen, so steht doch fest, daß es ein starker logischer Widerspruch ist, dies Trachten nach Anderer Bewunderung mit jener tiefen Verachtung des Urtheils der Anderen zu verbinden. Aber was sich logisch nicht vereinigen läßt, das läßt sich, wie die geringste Weltkenntniß lehrt, psychologisch ganz trefflich versöhnen, und deshalb können wir auch bei Lassalle einen Stolz, der nie das Spiel verloren giebt, noch sich beugt, eng gepaart finden mit einem unwiderstehlichen Drange, Lob und Komplimente zu ernten und fremde Bewunderungs- oder Beifallsäußerungen einzustreichen. Mißverstehe man mich nicht! Nichts ist natürlicher, Nichts menschlicher, als sich über den Beifall und das Lob der Besten zu freuen. Wer für dergleichen völlig gleichgültig wäre, der würde nicht leicht Schriftsteller werden, nicht leicht in irgend einer Richtung hervortreten. Ja, man kann weiter gehen und sagen: für den Schriftsteller und für den Redner ist ein gewisses Maß von Anerkennung geradezu eine Nothwendigkeit, ist die Bedingung, ohne welche er als solcher nicht Athem holen kann. Er kann sich jedoch, wenn die Strömung wider ihn geht, oder wenn er wider den Strom geht, wie es bei Lassalle der Fall war, mit Privatbeweisen der Anerkennung begnügen, und er müßte sich sehr ungern und kaum einmal unter der schlimmsten Verkennung auf solche Privathuldigungen berufen. Allein dieser Versuchung konnte Lassalle nicht widerstehen, dazu reichte sein Stolz nicht aus; er beruft sich am unrechten Orte und ohne wahres Taktgefühl auf Privatanerkennungen seines Strebens. Es ist mehr als ein oratorischer Fechtergriff bei ihm, es ist eine Sache, die ihm ganz natürlich fällt. Ich meine hier nicht den Umstand, daß er dann und wann mit aufbrausendem Selbstgefühl ausspricht, was die reine Wahrheit ist, und was er all' den Lügen und Entstellungen gegenüber, die wider ihn vorgebracht wurden, mit Fug und Recht sagen durfte, daß er kein Dilettant, sondern ein Mann der Wissenschaft sei, welcher dauernde Werke, ja ein epochemachendes Hauptwerk geschaffen habe. Ich meine vielmehr seine unselige Vorliebe für den Lärm und Trommelschall der Ehre, für ihre Pauken und Trompeten, die er selbst bei geringen Anlassen forderte oder sich zusprach. Was soll man dazu sagen, daß er sich Arbeitern gegenüber rühmt Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag., in einer litterarischen Satire einen bekannten Journalisten und Litterarhistoriker angegriffen zu haben »unter dem rauschenden Beifall der größten Gelehrten und Denker Deutschlands, die mir dafür mündlich und brieflich die Hand schüttelten«. Die Herausgabe des erwähnten witzigen und übermüthigen, aber durchaus formlosen Pamphlets verwandelt sich für ihn in eine geistige Großthat. Und wie tief dieser Charakter bei Lassalle liegt, fühlt man erst recht, wenn man denselben auch dort, wo er frei dichtet, bei seinem Lieblingshelden Ulrich von Hutten in dem Drama »Franz von Sickingen« hervortreten sieht. Mit einem Pathos, das tief aus Lassalle's Innerstem kommt, schildert Ulrich, wie ihm zu Muthe ward, als »die finstre Glaubenstyrannei« wieder ihr Haupt in Deutschland erhob, als die festgeschlossene Phalanx der Dunkelmänner wider die neu erwachte Wissenschaft aufstand, und Köln, »die deutsche Residenz der Priestertücke«, Reuchlin und seine Schriften verketzerte. Der Anlauf ist vorzüglich, selbst das Lärmende und Polternde der Diktion ist an seinem Platze, bis wir endlich wieder auf das unselige Appelliren an den Applaus stoßen:

Ich wußte jetzt, wozu ich ward geboren,
Wozu so hart gehämmert in des Unglücks Esse!
Wie sich ins Meer die Woge tosend stürzt,
Wie Brandung von dem Ufer widerschlägt,
So stürzte ich mich flammensprühnden Auges,
Zitternd vor Leidenschaft, vor Wollust rasend,
Kopfüber in den ungeheuren Streit.
Des Zornes Axt, des Spottes Stachelkeule
Schwang ich zermalmend auf der Gegner Haupt,
Unter Europas lautem Beifallklatschen
Und seines schallenden Gelächters Wucht

Ihr Jammerdasein auf der Parodie
Schaubühne an den offnen Pranger schlagend.
Doch eine Welt von Haß erzeugt' ich mir,
Die mit mir ringt, der ich entgegen ringe
Auf Tod und Leben, Brust an Brust gedrängt!

Nach der hier gegebenen Darstellung wird es vielleicht minder überraschend erscheinen, als man auf den ersten Blick finden möchte, daß Lassalle einen so großen Theil seiner Jugend auf das Studium eines Geistes verwandt hat, der uns an Zeit und Kultur so fern liegt. Man wird bemerkt haben, daß jener Denker nicht nur in seiner logischen Anlage und seiner dialektischen Tendenz, sondern auch in seiner Ethik mit ihrem Anpreisen des Staates und der Aufopferung für das Allgemeine, ja selbst in seinen persönlichen Eigenschaften, Tugenden sowohl wie Lastern, ganz auffällig mit dem jungen Bewunderer übereinstimmte, dessen Eroberung er ein Paar tausend Jahre nach seinem Tode machte, kraft desselben Gesetzes, welches Sokrates einen so leidenschaftlichen Verehrer in Sören Kierkegaard erschuf.

5.

Ich habe schon erwähnt, daß der Zeitraum von Lassalle's Leben, welcher durch das Studium Heraklit's und durch die Processe der Gräfin Hatzfeldt in Anspruch genommen ward, auch sein erstes politisches Auftreten und dessen Folgen umfaßt.

Wenige Monate nach dem Kölner Processe finden wir Lassalle wieder auf der Anklagebank, diesmal zu Düsseldorf, und nach seinem eignen Ausdrucke »so gespickt mit Kriminalverfolgungen, wie der Panzer eines Kriegers mit Pfeilen«. Die große socialpolitische Bewegung des Jahres 1848 hatte ihn mit Gewalt seinem Privatkampfe entrissen. Trotz seiner Jugend war er eins der einflußreichsten und thätigsten Mitglieder der damals in Deutschland so zahlreichen republikanischen Partei; trotz seiner Jugend war er ein Führer. Er hielt politische Versammlungen ab und sprach dort, er ließ Plakate an den Straßenecken anschlagen, in denen er zu bewaffnetem Widerstande aufforderte, als die preußische Regierung im November 1848 durch einen Verfassungsbruch die Nationalversammlung für aufgelöst erklärte. Verhaßt durch die Hatzfeldt'sche Affaire, gefürchtet wegen seines entschlossenen und unerschrockenen Auftretens, ward er, sobald die Kontrerevolution sich im Besitze der Uebermacht fühlte, ins Gefängniß geworfen, und durch jede erdenkliche Chikane ließ man die Untersuchungshaft und die Voruntersuchung sich über ein halbes Jahr hinaus erstrecken.

Die Rede, welche Lassalle jetzt vor seinen Richtern hielt, ist nach meiner Ansicht eins der bewunderungswürdigsten Zeugnisse von Mannesmuth und Beredsamkeit bei einem Jüngling, welche die Weltgeschichte aufweist. Wüßte man es nicht, so würde kein Mensch glauben, daß ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren diese Rede gehalten hat. Hier ist Lassalle schön. Hier steht er beseelt und von innen her beleuchtet von dem edelsten, reinsten Pathos, das ein Menschenherz erfüllen kann, ohne daß man eine einzige Sekunde an der Echtheit und Tiefe des Gefühls zweifelt. Hier führt er die Klinge des Wortes mit einer Kraft und Kunst, einer Eleganz und Wucht, die sich überhaupt nicht übertreffen läßt, und zwar ohne einen Augenblick mit seiner Gewandtheit zu prunken. Hier steht er zum ersten Male licht und schön auf der Höhe seines Wesens. Diese Rede hat den ganzen frischen Farbenschmelz der ersten Jugend, ohne an einer einzigen Stelle jugendlich blühend oder schwülstig zu sein. Orla Lehmann's Beredtsamkeit scheint, mit dieser verglichen, um ein halbes Jahrhundert zurück zu liegen. Aber wie soll man eine politische Rede schildern, deren Kenntniß man nicht bei Jedem voraussetzen kann, und deren Stärke so gleichmäßig über alle Punkte vertheilt ist, daß man sie ganz kennen muß, um sie richtig zu würdigen? Man kann und muß einige Citate herausheben – natürlich, aber das Citat giebt nur eine schwache Vorstellung von dem bewegten Leben der Rede, ein Eimer Wasser ist keine Welle mehr.

Höchst charakteristisch beginnt die Rede mit der Erklärung, sie wolle sich nicht mit der Vertheidigung als solcher befassen, welche der Defensor geführt habe, sondern mit der Anklage, – der Anklage, welche der Redner dem gegen ihn gerichteten Verbrechen entgegen schleudern wolle, dessen Corpus delicti der Anklageakt bilde. Noch charakteristischer beginnt Lassalle mit den Worten, er werde stets mit Freuden bekennen, daß er seiner inneren Ueberzeugung nach auf durchaus revolutionärem Standpunkte stehe, daß er »ein Revolutionär aus Princip« sei. Doch will er seine Vertheidigung nicht von diesem Standpunkte herab führen, da die Regierung denselben naturgemäß nicht anerkenne. Man kann, sagt er, keinen Gegner ernsthaft treffen und verwunden, wenn man auf wesentlich verschiedenem Standpunkte mit ihm steht. Die Waffen erreichen sich dann nicht und Jeder ficht ins Leere. Man kann einen Gegner von diametral verschiedenem Standpunkt aus wohl widerlegen, indem man die Unwahrheit seiner Grundprincipien aufzeigt; aber man kann ihn dann nicht beschämen, ihm keine Inkonsequenz, keinen Verrath an den Principien nachweisen, zu denen er sich selbst bekennt oder scheinbar doch bekennen muß. »Im Interesse des Angriffs also und seiner schneidenden Schärfe will ich mich herbeilassen, auf den Standpunkt herabzusteigen, auf welchem selbst zu stehen der Staatsprokurator als Behörde in einem konstitutionellen Staate mindestens äußerlich behaupten muß, auf den streng konstitutionellen Standpunkt, und meine Vertheidigung rein von diesem Boden führen.«

Verweilen wir zunächst bei diesem Ausdrucke »Revolutionär aus Princip«, der so oft bei Lassalle vorkommt, der, so häufig von ihm erklärt, dennoch stets wieder mißverstanden worden ist, und der in gewisser Art den Kern seiner ganzen politischen und socialen Lebensanschauung bezeichnet. Man vergl. in Betreff dieses Ausdrucks: Assisenrede, S. 32 und 49. Arbeiterprogramm, S. 7. An die Arbeiter Berlin's, S. 13. Hochverrathsprozeß, S. 12. Die Wissenschaft und die Arbeiter, S. 41. So oft man ihn Revolutionär nennt, antwortet er, daß er die thatsächliche Wahrheit dieses Vorwurfs in der Wahrheit seines Wesens hundertmal zugegeben habe, wo immer auch er ihm gemacht worden sei, vor der Oeffentlichkeit, in seinen Werken, seinen Reden, ja zu wiederholtesten Malen selbst vor den Gerichten. Es fragt sich also nur, was er darunter versteht. In seiner »Assisenrede« macht er nachdrücklichst geltend, daß die Regierung selbst »die morsche, lahme Krücke des Rechtsbodens« verloren habe, und er sagt: »Es ist im Völkerleben der Rechtsboden ein schlechter Standpunkt, denn das Gesetz ist nur der Ausdruck und geschriebene Wille der Gesellschaft, nie ihr Meister. Hat sich der gesellschaftliche Wille und das Bedürfniß geändert, so gehört der alte Kodex in das Museum der Geschichte, an seine Stelle tritt das neue Abbild, das neue Konterfei der Gegenwart.« Deshalb ruft er seinen Richtern an einer andern Stelle der Rede zu: »Mögen die rheinischen Gerichtshöfe sich offen als Revolutions-Tribunale proklamiren, – und ich bin bereit, sie anzuerkennen und ihnen Rede zu stehen. Revolutionär von Princip, weiß ich, welche Art von Berechtigung eine siegreiche Macht, wenn sie offen und unverkappt auftritt, beanspruchen darf. Aber ich werde nie ohne Widerspruch dulden können, daß man die sanglanteste Gewalt in der scheinheiligen Form Rechtens verübe, daß man unter der Aegide des Gesetzes selbst das Gesetz zum Verbrechen und das Verbrechen zum Gesetz stempele.«

Wie sehr indeß diese Worte auf eine Vorliebe für die Anwendung gewaltsamer Mittel deuten, hat Lassalle doch sein ganzes Leben hindurch die rein wissenschaftliche Bedeutung des Wortes »Revolution«, wie er dasselbe anwendet, betont. Seine Reden wimmeln von spöttischen Glossen, über Die, welche das Wort Revolution nicht lesen oder hören können, ohne »geschwungene Heugabeln« vor ihren Augen zu sehen. »Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ist somit stets dann eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt – auf die Mittel kommt es dabei nicht an, – ein ganz neues Princip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird. Reform dagegen tritt dann ein, wenn das Princip des bestehenden Zustandes beibehalten und nur zu milderen oder konsequenteren und gerechteren Forderungen entwickelt wird. Auf die Mittel kommt es wiederum dabei nicht an. Eine Reform kann sich durch Insurrektion und Blutvergießen durchsetzen, und eine Revolution im tiefsten Frieden.« Die schrecklichen Bauernkriege, welche Lassalle auch immer als eine durchaus nicht revolutionäre Bewegung bezeichnet hat, waren der Versuch einer durch Waffengewalt zu erzwingenden Reform. Die Erfindung der Baumwollenspinnmaschine von 1775 und überhaupt die friedliche Entwicklung der modernen Industrie hat Lassalle immer als eine gigantische Revolution charakterisirt. Es handelt sich also hier, wie bei so mancher anderen Gelegenheit, zuerst und vor Allem um das richtige Verständniß. Kein denkender Leser kann daran zweifeln, daß Lassalle tief empfunden hat, was er einmal ausruft Die indirekte Steuer, S. 117.: »Wie? Es hat sich Jemand in einem faustischen Trieb mit der zähesten, ernstesten Mühe durchgearbeitet von der Philosophie der Griechen und dem römischen Rechte durch die verschiedensten Fächer historischer Wissenschaft bis zur modernen Nationalökonomie und Statistik, und Sie können im Ernste glauben, er wolle diese ganze lange Bildung damit schließen, dem Proletarier eine Brandfackel in die Hand zu drücken? Wie? hat man so wenig Kenntniß und Einsicht in die sittigende, civilisirende Macht der Wissenschaft, daß man dies auch nur für möglich halten kann?« Da die Möglichkeit, Lassalles Vorliebe für die Gewaltmittel dadurch zu erklären, daß er diese Perspektive vor Augen gehabt habe, somit ganz ausgeschlossen ist, müssen wir, um dieselbe recht zu verstehen, tiefer in seinen Gedankenkreis eindringen, als wir es bis jetzt gethan haben.

Wenn man die Frage an mich richtete: Was war der Grundgedanke in Lassalle's Ideengang? Um welches Problem drehte sich sein Geist? so würde ich antworten: Macht und Recht waren die zwei Pole, um welche dieser Stern kreiste. Die Grundthätigkeit seines Geistes war unzweifelhaft die Erwägung, wie Recht und Macht sich zu einander verhielten. Das gewöhnliche Mißverständniß ist das, als habe er überhaupt die Macht an die Stelle des Rechtes gesetzt. Wie weit dies von der Wahrheit entfernt ist, und was Anlaß zu dem Mißverständnisse gegeben hat, wird sich bald zeigen. In seiner einzigen dichterischen Arbeit, die als dramatisches Kunstwerk ziemlich werthlos, aber als Ausdruck des reichen Gedanken- und Gefühlslebens ihres Verfassers höchst interessant ist, hat Lassalle ein Wechselgespräch geschrieben, das besondere Aufmerksamkeit verdient (Franz von Sickingen, S. 85):

Oecolampadius. Glaubt Ihr, das Heilige,
Das Licht der Wahrheit und Vernunft, das uns
Ist aufgegangen, könnte jemals in
Dem Zeitenlauf der Unvernunft erliegen,
Und würde nicht sich durch sich selbst verbreiten?

Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Geschichte.
Ihr habt ganz Recht, es ist Vernunft ihr Inhalt,
Doch ihre Form bleibt ewig – die Gewalt!

Oecolampadius. Bedenkt, Herr Ritter! Unsre Liebeslehre
Wollt Ihr durchs Schwert, das blutige, entweihn?

Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Denkt besser von dem Schwert!
Ein Schwert, geschwungen für die Freiheit, ist
Das fleischgewordne Wort, von dem Ihr predigt,
Der Gott, der in die Wirklichkeit geboren.
Das Christenthum, es ward durchs Schwert verbreitet,
Durchs Schwert hat Deutschland jener Karl getauft,
Den wir noch heut den Großen staunend nennen!
Es ward durchs Schwert das Heidenthum gestürzt,
Durchs Schwert befreit des Welterlösers Grab!
Durchs Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
Durchs Schwert von Hellas Xerxes heimgepeitscht,
Und Wissenschaft und Künste uns geboren.
Durchs Schwert schlug David, Simson, Gideon!
So vor- wie seitdem ward durchs Schwert vollendet
Das Herrliche, das die Geschichte sah,
Und alles Große, was sich jemals wird vollbringen,
Dem Schwert zuletzt verdankt es sein Gelingen!

In dieser Replik zeigt sich uns zum ersten Male der aus voller Brust kundgegebene Respekt Lassalle's vor der Macht und Gewalt, welcher seinem Geiste ein so eigenthümliches und so modernes Gepräge verleiht. An den verschiedensten Stellen des Stückes und im Munde verschiedenartigster Personen stoßen wir auf Aeußerungen, welche dieselbe Freude an der Macht als der Stütze des Rechts ausdrücken. So erzählt Balthasar (Seite 2) von Franz von Sickingen:

Und wie nun sein Verwenden Worms verlachte,
Sich mir zu Rechtens nicht erbieten wollte,
Nahm er so ein zehntausend gute Gründe, –
Ich meine Pickelhauben, Fräulein, – zog
Damit vor Worms, und gab sich Euch jetzt an
Ein Demonstriren und ein Distinguiren, –
Ja, Fräulein, Der versteht's!

Und Ulrich von Hutten sagt in feierlicherem Stile (S. 92):

Es ist die Macht das höchste Gut des Himmels,
Wenn man sie nützt für einen großen Zweck;
Ein elend Spielzeug, wenn zum Flitterstaate
Sie nur die Hand beschwert, in der sie ruht.

Es kommt nicht selten vor, daß ein Lieblingswort eines Schriftstellers oder ein Lieblingsgleichniß den Charakter seines Ideals andeutet. Lassalles Lieblingswort ist das Wort »Eisen«; »ehern«. Lange Jahre zuvor, ehe »Eisen und Blut« eine politische Losung ward, hat Lassalle die » ehernen Lose« angerufen. Kein Bild ist häufiger bei ihm. Das Eisen erscheint seiner Vorstellung als die wohlthuende Macht, als der Hieb, welcher den Weg reinigt, der Schnitt, welcher den Schaden entfernt, der Kaiserschnitt, welcher die schmerzlichen Wehen der Zeit abkürzt und die Schwergeburt des Ideals einer neuen Epoche befördert (S. 62 und 140). Das Eisen preist Franz von Sickingen (S. 207) als den »Gott des Mannes«, als die »Zauberruthe, die seine Wünsche in Erfüllung schlägt«, als »letzten Hort, der in Verzweiflungsnacht ihm strahlt«, als »seiner Freiheit höchstes Pfand«. Und noch bezeichnender, noch lassalleanischer weist Franz auf die Gewaltentscheidung hin, als der Herold des Kaisers im Auftrage seines Herrn ihm die Wahl gestellt hat, sich zu unterwerfen und volles Recht vom Reichsgerichte zu erwarten, oder in die Reichsacht erklärt zu werden. Jedes Wort ist hier bedeutungsvoll (S. 151):

Herold, zieh hin und künde Deinem Herrn:
Vorüber ist die Zeit der Worte jetzt,
Und inhaltsschwer klopft der Entscheidung Stunde
Mit ehrnem Finger an das Thor der Zeit!
In Zuckungen liegt dieses Reich am Boden,
Nicht durch Gesetzesfloskeln mehr wird abgethan
Der Streit, der es bewegt! – Schau dorthin, Herold!
Siehst Du die Donnerbüchsen, die Karthaunen stehn?
Aus ihren Mündungen schöpft diese Zeit
Ihr ungestümes Recht – ich führe selbst
Das Reichsgericht in meinem Lager mit,
Will eine neue Ordnung machtvoll gründen
Und eines Thuens mich erfrechen, dessen
Kein röm'scher Kaiser je sich unterfing!

Schon als Jüngling hatte er in seinen ersten Processen betont, daß er das Recht gegenüber der Gewalt vertrete, und, seltsam genug, häufig mit Ausdrücken, welche, dort in herabwürdigendem Sinne gebraucht, hier zu Lob und Preis angewandt werden. So heißt es spöttisch in seiner »Assisenrede« (S. 16): »Warum, da man doch entschlossen war, das Recht einzig und allein aus den Kanonenmündungen zu schöpfen, warum löste man die Bürgerwehr nicht einfach ohne Angabe jedes weiteren Grundes auf?« Und mit Ausdrücken, deren Balthasar sich in dem Stücke bedient, um Bewunderung auszusprechen, die aber in Lassalle's Munde der bittersten Entrüstung das Wort liehen, sagte er damals (S. 26): »Hatte man kein Recht, so hatte man Besseres, als das. Man hatte in Berlin den Belagerungszustand, Wrangel, 60,000 Mann Soldaten und so und so viel hundert Kanonen. Man hatte in Breslau, Magdeburg, Köln, Düsseldorf so und so viel Soldaten, so und so viel Kanonen. Das sind Gründe, eindringliche, die Jeder begreift!« Mit der Beredsamkeit der Leidenschaft hatte Lassalle in dieser frischen und stolzen Rede den Standpunkt des Gesetzes gegenüber demjenigen der Gewalt betont (S. 25): »Gleichwohl löste man die Versammlung auf, ja, statt eine neue auf Grund desselben Wahlgesetzes zusammen treten zu lassen, oktroyirte man eine Versammlung, d. h. man kassirte den ganzen öffentlichen Rechtszustand mit Einem Strich, man war es müde, den Rechtsorganismus des Landes langsam zu rädern, indem man ihm ein Glied nach dem anderen, Gesetz für Gesetz in Stücke brach. Mit Einem Griff warf man ihn in die Rumpelkammer und setzte offen an seine Stelle das sic volo, sic jubeo und die Beredsamkeit der Bajonette.« Und in welchem absonderlichen Widerspruche scheint es endlich mit seiner Verherrlichung des Eisens und des Schwertes zu stehen, wenn er damals ausrief (S. 48): »Der Säbel ist zwar der Säbel, aber er ist nie das Recht. In Richtern, welche sich dazu herbeilassen würden, Bürger deshalb, weil sie die Gesetze vertheidigen wollten auf Grund eben der Gesetze, deren Schutz sie sich weihten, zu verfolgen; in Richtern, welche einer Nation den Schutz ihrer Gesetze zum Verbrechen anrechnen, werde ich nicht mehr Richter, sondern – und mit mir vielleicht die Nation – nur noch Seïden der Gewalt erblicken können ... Ich werde in meinem Kerker Alles erdulden, was der Säbel, die Formen des Rechts entweihend, über mich verhängt; ich werde lieber dulden, daß mein Proceß die nachtheiligste Gestalt für mich annehme, als durch Ertheilung von Antworten und sonstige Vollziehung irgend einer Procedurförmlichkeit meinerseits eine Rolle in dem Rechtsgaukelspiel übernehmen, welches der Gewalt aufzuführen beliebt.«

Alle diese und zahlreiche verwandte Aeußerungen deuten auf ein lebhaftes Rechtsbewußtsein und einen eben so lebhaften Haß der brutalen Gewalt als Stellvertreterin des Rechts.

Allein in der Seele des früh gereiften und frühzeitig praktischen jungen Redners fand sich zugleich ein so lebhaftes Gefühl von der Machtlosigkeit des ideellen Rechts, wenn dasselbe nicht von praktischen Geistern, von kräftigen Willen geltend gemacht wird, welche die rechten Mittel und Maßregeln zu seiner Verwirklichung einzuschlagen verstehen. Und wie hätte ein junges Genie, dessen tiefstes Charaktermerkmal und innerster Beruf praktisch waren, dies bei der gescheiterten, und so kläglich gescheiterten, deutschen Revolution von 1848 nicht fühlen und erkennen sollen! Wie hätte jene Stirn, in welcher so viel Thatkraft ausgeprägt lag, nicht ihr Theil denken sollen, wenn sie das Recht so jammervoll unterliegen sah aus idealistischer Scheu vor jeder anderen Waffe als der des Wortes, aus angeerbter Furcht vor der bewaffneten Autorität, aus persönlicher Feigheit bei dem Einen, persönlicher Unschlüssigkeit bei dem Andern, aus theoretischem Gefasel und Hamlet'schem Zaudern. Wer in Karl Marx' »Neuer Rheinischer Zeitung« vom Jahre 1850 den Aufsatz von Friedrich Engels über »Die deutsche Reichsverfassungs-Kampagne« gelesen hat, Der begreift, daß auf dies planlose und undisciplinirte Geschlecht eine Generation folgen mußte, die stets darauf bedacht wäre, ihren Idealen einen tüchtigen Harnisch und ein kräftiges Schwert zu geben, und der das edle Metall des Rechts nur dann als eine gangbare Münze erschiene, wenn es durch den Kupferzusatz der Macht verstärkt wäre. Zuletzt schmolz das edle und das unedle Metall fast zusammen für den Blick dieses Geschlechtes; es sah ein, daß die ehernen Würfel die härtesten und besten seien, und wie Brennus warf es sein Schwert in die Wagschale.

Man lese in jener Rede die Klage Lassalle's darüber, daß die Nationalversammlung nicht rechtzeitig eine wirkliche Bürgerwehr zum Schutze der Verfassung schuf. Man lese seinen blutigen Spott über die Aufforderung der Nationalversammlung zu »passivem Widerstand« gegen die Uebergriffe der Regierung (S. 33 ff.): »Der passive Widerstand, meine Herren, Das müssen wir selbst unserem Feinde zugeben, der passive Widerstand der Nationalversammlung, er war jedenfalls ein Verbrechen. Von zwei Sachen eine! Entweder die Krone war bei jenen Maßregeln in ihrem Rechte – und dann war die Nationalversammlung, indem sie sich dem gesetzlichen Rechte der Krone widersetzte und die Zwietracht ins Land warf, allerdings eine Rotte von Aufwieglern und Empörern, oder aber jene Maßregeln der Krone waren unrechtmäßige Gewalt, – dann mußte die Freiheit des Volkes aktiv mit Leib und Leben geschützt werden, dann mußte die Nationalversammlung das Land laut zu den Waffen rufen! Dann war jene seltsame Erfindung des passiven Widerstandes ein feiger Verrath an dem Volke, an der Pflicht der Versammlung, die Rechte des Volkes zu schützen ... Der Einzelne, meine Herren, wenn ihm von einem Staat, von einer Masse Gewalt geschieht, ich, wenn ich von Ihnen verurtheilt würde, kann mit Ehren passiven Widerstand leisten; ich kann mich in mein Recht einwickeln und protestiren, da ich die Macht nicht habe, es zur Geltung zu bringen ... Ein Volk kann unterliegen der Gewalt, wie Polen unterlag, – aber es erlag nicht, ehe das Schlachtfeld das Blut seiner edelsten Söhne getrunken hatte, bis seine letzte Kraft danieder gemäht war! ... Dann, wenn alle Kraft gebrochen, dann kann ein solcher Völkerleichnam sich begnügen mit dem passiven Widerstand, d. h. mit dem Rechtsprotest, mit Dulden und Tragen, mit dem Groll in der Brust, mit dem tief verschlossenen stillen Haß, der mit gekreuzten Armen wartet, bis ein rettender Augenblick die Erlösung bringt. Dieser passive Widerstand hinterher, nachdem alle Mittel des aktiven Widerstandes gebrochen sind, das ist der höchste Grad des ausharrenden Heroismus! Aber der passive Widerstand von vorneherein, ohne auch nur einen Schwertstreich zu wagen, ohne einen einzigen Augenblick an die frische Kraft zu appelliren, das ist das Schmählichste, der höchste Unverstand und die größte Feigheit, die man je einem Volke zugemuthet hat. Der passive Widerstand, meine Herren, Das ist der Widerspruch in sich selber, es ist der duldende Widerstand, der nicht widerstehende Widerstand, der Widerstand, der kein Widerstand ist. Der passive Widerstand, Das ist wie Lichtenberg's Messer ohne Stiel, dem die Klinge fehlt; das ist wie der Pelz, den man waschen soll, ohne ihn naß zu machen. Der passive Widerstand, Das ist der bloße innere Wille ohne äußere That ... Der passive Widerstand ist das Produkt von folgenden Faktoren: Die klar erkannte Schuldigkeit, pflichtmäßig widerstehen zu müssen, und die persönliche Feigheit, nicht widerstehen zu wollen, diese beiden Potenzen erzeugten in ekelerregender Umarmung in der Nacht vom 10. November das schwindsüchtige Kind, die hektische Geburt des passiven Widerstandes.«

Kann es nun Wunder nehmen, daß der, welcher als dreiundzwanzigjähriger Jüngling so nachdrücklich wider Thatschwäche und Machtabstumpfung geredet hatte, zehn Jahre später das Eisen als den Gott des Mannes preist?

Und das Verhältniß zwischen Macht und Recht fährt fort, Lassalle zu beschäftigen. Tiefer und tiefer dringt er in das Wechselwirkungsverhältniß zwischen ihnen ein, und studirt immer gründlicher ihre Bedingtheit durch einander.

1862 hält er inmitten der preußischen Verfassungskämpfe zu Berlin einen Vortrag »über Verfassungswesen«. Er sucht hier (S. 9) die Idee einer Verfassung oder eines Grundgesetzes zu erörtern und festzustellen. Durch Analyse des Namens »Grundgesetz« findet er: 1) Ein solches Gesetz muß tiefer liegen, als eine gewöhnliche Gesetzesbestimmung; dies zeigt der Name Grund; 2) es muß, da es den Grund der anderen Gesetze bilden soll, in ihnen fortzeugend und fortwirkend thätig sein; 3) es muß eben mit Nothwendigkeit so sein, wie es ist; denn in der Vorstellung des Grundes liegt der Gedanke einer thätigen Nothwendigkeit, einer wirkenden Kraft.

Wenn also die Verfassung das Grundgesetz eines Landes bildet, so wäre »sie eine thätige Kraft, welche alle anderen Gesetze und rechtlichen Einrichtungen des Landes mit Nothwendigkeit zu Dem macht, was sie eben sind«; und Lassalle fragt weiter: Giebt es denn aber wirklich solch eine bestimmende thätige Kraft? »Ei freilich,« lautet die Antwort, – »die thatsächlichen Machtverhältnisse, die in einer gegebenen Gesellschaft bestehen. Die thatsächlichen Machtverhältnisse sind die lebendige Kraft, welche alle Gesetze und rechtlichen Einrichtungen dieser Gesellschaft so bestimmt, daß sie im Wesentlichen gar nichts anderes sein können, als sie eben sind.«

Um seine Meinung ganz klar zu machen, bedient Lassalle sich eines erläuternden Beispiels. Setzen wir den Fall, sagt er, daß eine große Feuersbrunst alles geschriebene Gesetz in Preußen vernichtete, das Land also durch dieses Unglück um alle seine Gesetze gekommen wäre, so bliebe ihm gar nichts übrig, als sich neue Gesetze zu machen. »Glauben Sie nun«, fährt er fort, »daß man in diesem Falle ganz beliebig zu Werke gehen, ganz beliebig neue Gesetze machen könnte, wie Einem Das eben konvenirt? Wir wollen sehen. – Ich setze also den Fall, Sie sagten: Die Gesetze sind untergegangen, wir machen jetzt neue Gesetze, und wir wollen hiebei dem Königthum nicht mehr diejenige Stellung gönnen, die es bisher einnahm, oder sogar: wir wollen ihm gar keine Stellung mehr gönnen. Da würde der König einfach sagen: Die Gesetze mögen untergegangen sein; aber thatsächlich gehorcht mir die Armee und marschirt auf meinen Befehl, thatsächlich geben aus meine Ordre die Kommandanten der Zeughäuser und Kasernen die Kanonen heraus und die Artillerie rückt damit in die Straße, und aus diese thatsächliche Macht gestützt leide ich nicht, daß ihr mir eine andere Stellung macht, als ich will.« Und Lassalle schließt: »Sie sehen, meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen, – Das ist ein Stück Verfassung!« – Dann folgt mit ähnlicher Motivirung: »Ein Adel, der Einfluß bei Hof und König hat, – Das ist ein Stück Verfassung!« – Oder gesetzt, König und Adel einigten sich unter sich, die mittelalterliche Zunftverfassung wieder einführen zu wollen, so daß z. B. der Kattundrucker keine Färber beschäftigen und kein Meister in irgend einem Gewerbszweige mehr als eine bestimmte Anzahl von Arbeitern halten dürfte, daß mit anderen Worten die große Produktion unmöglich würde. Was dann? In diesem Falle würden die großen Fabrikanten, die Herren Borsig, Egells etc. ihre Fabriken schließen, sogar die Eisenbahndirektionen würden ihre Arbeiter entlassen, und diese ganze Volksmasse würde, nach Brot und Arbeit rufend, durch die Straßen wogen, angefeuert durch die große Bourgeoisie, und es würde ein Kampf entstehen, in welchem keineswegs der Sieg dem Heere verbleiben könnte. »Sie sehen also, meine Herren, die Herren Borsig und Egells, die großen Industriellen überhaupt, – die sind ein Stück Verfassung.« Vermöge des Bedürfnisses der Regierung nach großen Geldmitteln sind die großen Bankiers, die Börse überhaupt, gleichfalls ein Stück Verfassung. Gesetzt wiederum den Fall, die Regierung wollte z. B. ein Strafgesetz erlassen, welches, wie es deren in China giebt, wenn Einer einen Diebstahl begeht, seinen Vater dafür bestraft, – so entdeckt man, daß in gewissen Grenzen auch das allgemeine Bewußtsein, die allgemeine Bildung ein Stück Verfassung ist. Oder endlich, gesetzt den Fall, die Regierung wollte dem Kleinbürger und Arbeiter nicht nur seine politische, sondern auch seine persönliche Freiheit entziehen, ihn für leibeigen oder hörig erklären, – so entdeckt man, daß in gewissen alleräußersten Fällen der gemeine Mann, auch ohne die großen Industriellen hinter sich zu haben, ein Stück Verfassung ist.

Haben wir solchermaßen gesehen, was die Verfassung eines Landes ist, nämlich die thatsächlichen Machtverhältnisse, und fragen wir nun, wie es sich denn mit der rechtlichen Verfassung verhalte, so sehen wir jetzt sofort, wie dieselbe entsteht: »Diese thatsächlichen Machtverhältnisse schreibt man auf ein Blatt nieder, giebt ihnen schriftlichen Ausdruck, und wenn sie nun niedergeschrieben worden sind, so sind sie nicht nur thatsächliche Machtverhältnisse mehr, sondern sie sind jetzt auch zum Recht geworden, zu rechtlichen Einrichtungen, und wer dagegen angeht, wird bestraft.« – Die Darstellung schließt mit dem Nachweise, wie eine Veränderung in den wirklichen Machtverhältnissen (in der Adelsmacht, – im Anwachsen und Aufblühen der Städte, in dem Verhältnisse zwischen der Einwohnerzahl der Hauptstadt und der Größe des Heeres) stets von einer entsprechenden Aenderung in der Verfassung begleitet ist. Findet ein allzu großes Mißverhältniß zwischen der geschriebenen und der reellen Verfassung statt, und wird dies Mißverhältniß drückend, so tritt wirklich jene Feuersbrunst ein, welche als Exempel fingirt wurde, z. B. in Gestalt der Märzrevolution 1848; und – hier kommt Lassalle auf seine alte Klage in der Assisenrede von 1849 zurück – da geschah es, daß das siegreiche Volk, statt eine kräftige Bürgerwehr aus Kleinbürgern und Proletariern zu schaffen und solchergestalt die wirkliche Verfassung zu ändern, thörichterweise eine neue und machtlose zu schreiben begann, welche daher nicht den mindesten Werth hatte. »Wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Garten einen Apfelbaum haben, und hängen nun an denselben einen Zettel, auf den Sie schreiben: Dies ist ein Feigenbaum, ist denn dadurch der Baum zum Feigenbaum geworden? Nein, und wenn Sie Ihr ganzes Hausgesinde, ja alle Einwohner des Landes herum versammelten und laut und feierlich beschwören ließen: Dies ist ein Feigenbaum – der Baum bleibt, was er war, und im nächsten Jahre da wird's sich zeigen, da wird er Aepfel tragen und keine Feigen.«,

»Verfassungsfragen,« schließt Lassalle, »sind also ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existirt nur in den reellen thatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Lande bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Werth und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen, in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind.«

Sollte man's glauben! Diese Entwicklung wurde gleich von den Blättern der liberalen Partei als eine Theorie, wonach Macht vor Recht gehen solle, charakterisirt; ja, Graf Schwerin erklärte mit Rücksicht hierauf unter dem Jubel der Kammer, daß im preußischen Staate Recht vor Macht gehe. Ein Blatt nach dem andern verweigerte Lassalle die Aufnahme eines kurzen, ganz sachlich gehaltenen Artikels »Macht und Recht«, in welchem er das Mißverständniß aufklärt, und er sah sich genöthigt, denselben als Flugschrift zu veröffentlichen. Er sagt hier treffend und nachdrucksvoll: »Wenn ich die Welt geschaffen hätte, so ist es höchst wahrscheinlich, daß ich sie ausnahmsweise in dieser Hinsicht nach den Wünschen der. »Volkszeitung« und des Grafen Schwerin und also so eingerichtet hätte, daß Recht vor Macht geht. Denn es enspricht Dies ganz meinem eigenen ethischen Standpunkt und meinen Wünschen. Leider aber bin ich nicht in der Lage gewesen, die Welt zu schaffen, und muß jede Verantwortlichkeit, so Lob wie Tadel, für ihre wirkliche Einrichtung ablehnen.« Er erklärt dann, daß er nicht habe entwickeln wollen, was sein sollte, sondern was wirklich ist, daß nicht eine ethische Abhandlung, sondern eine historische Untersuchung seine Absicht gewesen sei. Und so zeigt sich's, daß, während ganz gewiß Recht vor Macht gehen sollte, in der Wirklichkeit doch immer Macht vor Recht geht, bis das Recht nun auch seinerseits eine hinreichende Macht hinter sich gesammelt hat, um die Macht des Unrechts zu zerschmettern. Er entwickelt, wie die preußische Verfassungsgeschichte seit 1848 aus einer Reihe von Rechtsbrüchen bestehe, und sagt: »Was bedeutet also der fromme Jubel, mit welchem die Kammer die Erklärung des Grafen von Schwerin aufnahm, daß im preußischen Staate »Recht vor Macht« gehe? Fromme Kinderwünsche und weiter Nichts! Denn eine feierlichere Bedeutung würde er nur bei Männern haben, die entschlossen wären, auch die Macht hinter das Recht zu setzen. Es hat kein Mensch im preußischen Staate das Recht, vom » Recht« zu sprechen als die Demokratie, die alte und wahre Demokratie. Denn sie allein ist es, die stets am Recht festgehalten und sich zu keinem Kompromiß mit der Macht erniedrigt hat.« –

Die Frage nach dem Verhältniß zwischen Macht und Recht war also bei Lassalle eine Frage nach dem Thatsächlichen, nach der Wirklichkeit. Was er hierüber bemerkt hat ist treffend wahr und wird von Niemand erschüttert werden. In welchen Fällen das Recht Macht hat, und in welchen Fällen nicht, wann die Macht zum Recht und wann sie zum Unrecht wird, hat er verstanden und begriffen, wie kein Anderer.

Und nicht nur in Betreff des Thatsächlichen, sondern noch tiefer in Betreff des Rechtlichen, hat er das Wechselverhältniß zwischen der Macht des alten Rechts, welche die Konservativen vertheidigen, und dem Rechte der neuen Geistesmacht, welches die radikalen Parteien geltend machen, untersucht und begriffen. Das alte Recht ist das erworbene Recht. Die neue Macht ist das neue Rechtsbewußtsein. Wie verhält sich das neue Rechtsbewußtsein zum erworbenen Rechte? Das neue Rechtsbewußtsein will Rechte ertheilen und Rechte entziehen, aber wie weit darf, es in dieser Hinsicht gehen? Welche Rechte sind wohlerworben, unantastbar erworben? Sind alle alten Rechte Das, so sind wir bei der Stagnation angelangt, so tödtet die Vergangenheit das Leben der Gegenwart. Kann umgekehrt Niemand aus ein fest erworbenes Recht bauen, so schlägt die Gegenwart die Vergangenheit tobt. Hier stehen wir also vor dem Begriff des »erworbenen Rechtes«, von welchem Lassalle's großes Hauptwerk handelt. vide Anhang, Lassalles Brief.

6.

Die Aufgabe, welche Lassalle sich in seinem Hauptwerke gestellt hat, ist, wie in der Vorrede bemerkt, keine geringere, als die rechtswissenschaftliche Herausringung des unserer ganzen Zeitperiode zu Grunde liegenden politisch-socialen Gedankens. »Was ist es,« fragt er, »das den innersten Grund unserer politischen und socialen Kämpfe bildet? Der Begriff des erworbenen Rechts ist wieder einmal streitig geworden. Im Juristischen, Politischen und Oekonomischen ist der Begriff des erworbenen Rechts der treibende Springquell aller weiteren Gestaltung, und wo sich das Juristische als das Privatrechtliche völlig von dem Politischen abzulösen scheint, da ist es noch viel politischer als das Politische selbst, denn da ist es das sociale Element.« Die bloße Nothwendigkeit, hierauf erst noch hinzuweisen, zeigt, seiner Ansicht nach, wie oberflächlich der Begriff des Politischen von den Wortführern der liberalen Bourgeoisie gefaßt wird.

Schon das Titelblatt bezeichnet es als das Ziel des Werkes, die positive Rechtswissenschaft und das Naturrecht mit einander zu versöhnen. Der Standpunkt selbst, den der Verfasser in dieser Beziehung einnimmt, ist ein außerordentlich fortgeschrittener in Vergleich zu dem Standpunkte seines »Heraklit«. Wohl bezeichnet er sich auch hier noch als einen Anhänger der Hegel'schen Principien; aber das hindert ihn nicht, mit vollkommener Geistesfreiheit das System Hegel's und seiner Schule zu beurtheilen. Und da zeigt sich's bald, daß er die Wendung gemacht hat, welche die Vorrede zu Heraklit (nicht das Werk selber) schon andeutete, – dieselbe Wendung, welche Hegel's französische Schüler gemacht haben, nämlich die absoluteste aller Philosophien in eine Philosophie des Relativen, die vor jeder anderen Lehre metaphysische Weltbetrachtung in eine rein historische zu verwandeln. Der Abstand zwischen diesem Geistesstandpunkte und der rein experimentellen Methode, wenn diese auf die Jurisprudenz angewandt wird, ist sehr gering. Man vergleiche z. B. mit Lassalle's Grundanschauung die kleine Abhandlung von Giuseppe Saredo, einem der ersten Juristen Italiens: Dell' applicatione del metodo sperimentale allo studio delle scienze civili e giuridiche. Hegel hat also nach Lassalle's Ansicht nur die allgemein logische Disposition für das Werk gegeben, und die Hegelianer haben mit ihrem gewöhnlichen horror pleni seine Entwicklungen wiedergekäut, so daß die Rechtsphilosophie und die positive Rechtswissenschaft in Folge Dessen einander eben so fremd geworden sind, wie Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Und weshalb? weil Hegel's System überhaupt in Bezug auf die Geistesphilosophie in absoluter Inkonsequenz zu seiner eigenen Methode steht. Wenn man zu Hegel's Zeit von Naturrecht sprach, so wurde dies stets als ein ewig und allgemein gültiges, als ein vernunftgültiges Recht gefaßt, welches zum positiven oder historischen Recht im Verhältniß eines allgemeinen Gedankenkerns zu seiner Ausführung stünde, und man sah nicht ein, daß das Naturrecht selbst von historischer Natur und historisches Recht ist. So wurden denn die Kategorien der Rechtsphilosophie als ewige und absolute Kategorien, d. h. Kategorien des logischen Begriffs, gedacht, und so blieb das historische Recht von Hegel unbegriffen, wurde aus Unvernunft, Willkür oder Gewalt hergeleitet. Aber der Geist selbst ist ja nur ein Werden in der Geschichte. Hieraus folgt, daß man in der Rechtsphilosophie gar nicht von dem Eigenthum, dem Unrecht, der Familie, dem Erbrechte, der bürgerlichen Gesellschaft, dem Staate reden kann, sondern daß man aus dem historischen Begriffe des griechischen, römischen, germanischen Geistes den Begriff griechischen, römischen, germanischen Eigenthums etc. entwickeln muß. In der Religionsphilosophie verfährt Hegel ja auch ganz anders. Was würde als Resultat herausgekommen sein, wenn er, statt die verschiedenen Religionen zu studiren, von dem Gotte, den Dogmen, dem Jenseits u. s. w. gesprochen hätte! Es handelt sich also darum, historisch, nicht metaphysisch zu Werke zu gehen. Hegel's Schüler sind in der Rechtsphilosophie nur der irreleitenden Spur des Meisters gefolgt. Der tüchtigste, Gans, hat in seinem Werke über das Erbrecht solchermaßen ohne Weiteres den Begriff unserer Zeit vom Erbrechte mitgebracht und dabei diesen Begriff als allgemeine logische Kategorie aufgefaßt. Was Lassalle drei Jahre später während der heftigsten Agitation in seiner Schrift »Kapital und Arbeit« hinsichtlich der ökonomischen Kategorie »Kapital« und der juristischen Kategorie »Eigenthum« nachwies, nämlich daß sie Kategorien des historischen Geistes sind, Dasselbe hat er schon in diesem Werke Betreffs aller juristischen Kategorien, im zweiten Theile speciell in Betreff des Erbrechts nachgewiesen. System der erworbenen Rechte, Bd. 1, S. 68-70, Vgl. Kapital und Arbeit, S. 165, Anmerkung.

So alt, wie das Recht selber, ist der Abscheu vor rückwirkenden Gesetzen. Die Frage nach dem erworbenen Recht und die Frage nach der Rückwirkung der Gesetze fällt zusammen. Was die Rückwirkung so verhaßt macht, das ist augenscheinlich die Verletzung der menschlichen Freiheit, welche sie mittels einer willkürlichen Ausdehnung des Begriffes »Zurechnungsfähigkeit« enthält. Von diesem Grundgedanken ausgehend, gelangt Lassalle, abweichend von allen früheren Forschern, dazu, das erworbene Recht in seinem Verhältniß zu der Rückwirkung der Gesetze folgendermaßen zu bestimmen:

1) Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein Individuum nur durch die Vermittelungen seiner Willensaktionen trifft.

2) Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das Individuum ohne Dazwischenschiebung eines solchen freiwilligen Aktes trifft, welches das Individuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen, allgemein-menschlichen oder von der Gesellschaft ihm übertragenen Qualitäten trifft, oder es nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft selbst in ihren organischen Institutionen ändert.

Lassalle weist sehr ausführlich nach, daß der moderne Abscheu vor der Rückwirkung der Gesetze durchaus nicht stattfindet bei Nationen und auf Civilisationsstufen, denen der Begriff des Menschengeistes als Subjektivität, als Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, noch nicht aufgegangen ist. Die Chinesen stempeln durch ein neues Gesetz Etwas als Verbrechen, was im Vertrauen auf das existirende Gesetz in völlig loyaler Gesinnung verübt worden ist, und strafen es ohne Gnade als Solches. Ja, selbst die Juden des Alterthums waren nicht zu dem Respekte der höchstcivilisirten Nationen vor dem erworbenen Rechte gelangt. In dem Erbschaftsfalle der Töchter Zelaphedad's (4. Mose 27, 1-11), wo der Gott Israel's die juristische Entscheidung trifft, macht dieser Gott, ohne eine Ahnung davon zu haben, sich einer flagranten Rückwirkung in Civilsachen schuldig. Aber dafür war er auch ein orientalischer Gott, der noch kein römisches Recht gelernt und eben so wenig an griechischer Bildung und Kunst sich geschult hatte, d. h. der Gott eines Volkes, welchem die Subjektivität des Geistes weder in der Rechtssubjektivität (wie in Rom), noch in der schönen Individualität (wie in Hellas) zum Bewußtsein gekommen war.

Lassalle's logischer Ausgangspunkt ist also eigentlich der Gedanke, den er schon als Jüngling in seiner »Assisenrede« aussprach, nämlich der, daß »das Gesetz der Ausdruck für das Rechtsbewußtsein des ganzen Volkes und alles gesetzliche Recht nur eine durch den in stetem Wandel begriffenen allgemeinen Geist gesetzte Bestimmtheit ist, so daß jede neue, aus diesem Geist fließende Bestimmtheit unverzüglich das Individuum mit demselben Rechte ergreift, mit welchem es von der früheren erfaßt wurde. Fest kann mithin für das Individuum nur sein, was es sich aus diesem Strome durch sein eigenes Thun und Wollen in rechtmäßiger Weise einmal abgeleitet, was es verseinigt hat.« Das Individuum vermag keinen Pflock in den Rechtsboden zu schlagen, vermittelst dessen es sich als Selbstherrn für alle Zeiten und gegen alle künftigen zwingenden oder prohibitiven Gesetze erklären könnte. System der erworbenen Rechte, Bd. I, S. 61 und 197. Die Ausführung dieses Grundgedankens durch die ganze Rechtssphäre nimmt den ersten Band des Werkes ein. Die Darstellung ist klar und scharf bis zum Aeußersten, aber fast nie polemisch. Nur mit Stahl, dem bekannten romantischen Reaktionär, hat Lassalle einen ernsthafteren Strauß. Er weist nach, wie dessen Theorien dazu führen, die ganze bestehende Gesellschaftsordnung als unantastbar und heilig zu preisen, da diese nach seiner Lehre mit allen ihr entfließenden Rechten das erworbene Recht des Einzelnen bilden soll. »Keine Zeit,« ruft Stahl aus, »ist berufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die aus derselben stammenden Rechte je nach ihrem Urtheil über die Angemessenheit anzuerkennen oder zu vernichten.« Gewiß, antwortet Lassalle, allein eben weil jede Zeit autonom ist, stehe keine unter der Herrschaft einer andern und ist keine verpflichtet, was ihrem Rechtsbewußtsein widerspricht, oder was ihr als Unrecht erscheint, als Recht noch fortwirken zu lassen. Mit gewohntem Scharfsinn ertappt er dann Stahl auf einigen Selbstwidersprüchen und kann sich nicht das Vergnügen versagen, bei seinem Gegner »jenen unvermeidlichen jakobinischen Hauch« hervorzuheben, »den jeder der modernen Philosophie Nahende auch wider Willen von ihr empfängt«. (Bd. I, S. 200-214.)

Der mit Rücksicht auf die Psychologie und den politischen Standpunkt des Verfassers interessanteste Abschnitt dieses lehrreichen ersten Bandes ist indeß unzweifelhaft der, wo er dazu gelangt, die Frage nach der Rückwirkung der Gesetze in der großen französischen Revolution zu behandeln. (Bd. I, S. 449 ff.) Hier enthält jene Bezeichnung »Revolutionär aus Princip« eine neue Beleuchtung, hier findet seine Theorie eine merkwürdige Bestätigung, hier zeigt sich endlich, daß Lassalle keine Prahlerei sondern die nackte Wahrheit spricht, wenn er später einmal (»Die indirekte Steuer«, S. 116) seinen Richtern zuruft: »Kennen Sie den inneren Zusammenhang der französischen Revolutionsgeschichte, meine Herren? Ich kenne ihn bis in seine inwendigste Fiber.«

Die Alten, Cicero z. B., hatten gelehrt: Alles, was durch die sittliche Uebereinstimmung des Volksgeistes bestimmt ist, selbst wenn es sich noch in keinem Gesetz Dasein gegeben hat, kann dennoch, wenn dies Gesetz eintritt, als ein schon früher in der Rechtssubstanz vorhandener Inhalt angesehen werden, so daß das neue Gesetz nur als die Deklaration dieses Inhalts zu betrachten ist. Ein solches Gesetz wird daher nach der Anschauung der Alten rechtmäßig rückwirken können. Lassalle betont nun dieser Lehre gegenüber, daß ihre Gültigkeit auf die Völker des Alterthums eingeschränkt werden müsse, denn nur bei diesen habe eine solche sittliche Einheit (ein substanzielles Ethos) geherrscht. Für die moderne Zeit müsse bei der Forderung stehen geblieben werden, daß nur ein solcher Inhalt des allgemeinen Rechtsbewußtseins auf rechtliche Wirkung Anspruch machen kann, der bereits – explicite oder implicite – gesetzt worden ist. Nun entsteht jedoch die Frage: Was ist nöthig dazu, ihn als »gesetzt« zu bezeichnen? Was liegt in diesem Begriffe? In dem Begriffe liegt unverkennbar, daß der Inhalt des Rechtsbewußtseins keineswegs ausschließlich in Worten gesetzt sein muß, daß er eben so wohl durch Handlungen eines ganzen Volkes festgestellt und verwirklicht sein kann.

Der französische Konvent bestimmte durch ein Gesetz vom 17. Nivôse des Jahres II, daß alle seit dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften nach diesem neuen Gesetz behandelt werden sollten. Von der Thermidorreaktion wurden die hieraus bezüglichen Bestimmungen für flagrante Rückwirkungen erachtet und deshalb, so weit ihre rückwirkende Kraft in Frage kam, wieder aufgehoben. Und doch lag es unbedingt nicht in der Absicht des Konvents, die Regel der Nichtrückwirkung zu verletzen. In den Motiven des Gesetzes wird das Stattfinden einer Rückwirkung geleugnet » parce que la loi n'a fait que développer les principes proclamés dès lors par un grand peuple,« und es wird hinzugefügt: » l'effet rétroactif commencerait là seulement, où l'on dépasserait cette limite.« Nichts desto weniger wurde, wie erwähnt, diese sogenannte Rückwirkung später als ein Beweis von den Schreckensthaten des französischen Konvents angeführt. Aber an jenem 14. Juli 1789 hatte das französische Volk wirklich durch den Bastillesturm sein den Privilegien und Vorrechten entgegengesetztes Rechtsbewußtsein an den Tag gelegt; und können auch Gesetze, welche diesem Rechtsbewußtsein eine positive Entwicklung zu einem Objektiv-Neuen geben, nicht als durch jenen Akt gesetzt gelten, so verhält es sich doch anders dort, wo der Inhalt des neuen Rechts ohne Weiteres mit der bloßen Negation der bisher bestehenden Privilegien und Vorrechte vollständig gegeben war. In der That hat der Konvent auch nur solche Gesetze auf den 14. Juli 1789 zurückgeführt. »So sehen wir,« sagt Lassalle, »diese philosophische Versammlung erklären, daß ihre Erbgesetze nur die Deklaration der Principien enthalten, welche das Volk selbst durch den Bastillesturm proklamirt und zum Rechte erhoben habe. – Und in zweierlei Weise hat die Geschichte den Konvent gerechtfertigt. Einmal dadurch, daß die erbrechtlichen Grundsätze des Nivôsegesetzes (die in den Code civil übergingen) unter dem ersten Kaiserthum, wie sogar unter der Restauration, und wieder unter der Julidynastie und dem zweiten Kaiserthum in unangefochtener Herrschaft geblieben sind, und sich hiedurch also am deutlichsten als ein nothwendiger und zwingender Inhalt des mit der Revolution zur Herrschaft gekommenen Rechtsbewußtseins bethätigt haben. Zweitens aber dadurch, daß alle Geschichtschreiber, deutsche wie französische, reaktionäre wie revolutionäre, philosophische Werke wie die gewöhnlichen Handbücher, die französische Revolution vom 14. Juli 1789 datiren!«

Ich bin fest überzeugt, daß Lassalle nicht ohne ein Gefühl inneren Triumphes diese interessanten Thatsachen mitgetheilt hat. Denn was hier vorlag, war ja nicht allein die nachgewiesene Rechtsgültigkeit von Gesetzen, die einer Revolution entsprangen, sondern die bestätigte Rechtsgültigkeit einer Rückwirkung, die für hinlänglich begründet galt durch die Berufung auf »das ungeschriebene Gesetz,« auf ein neues, völlig revolutionäres Rechtsbewußtsein, daß sich in einer einzigen, tief berechtigten Macht- oder Gewalthandlung Ausdruck verliehen hatte.

7.

Der zweite Theil von Lassalle's großem Werk beschäftigt sich ausschließlich mit dem Erbrecht, speciell mit dem römischen Erbrecht. Wie es überhaupt der Zweck des Werkes ist, den Unterschied zwischen der historischen und der dogmatischen Behandlung des Rechts zu durchbrechen, so zeigt dieser Theil an einem großartigen Beispiele, wie auch das Dogmatische eines Rechtsinstituts sich nur aus dem Verständniß seines historischen Begriffes ergiebt, d. h. des bestimmten historischen Geistesstadiums, auf welchem das betreffende Institut sich jederzeit befindet. Lassalle's Behauptung ist nun keine geringere als die, daß nicht bloß dies und jenes Einzelne im römischen Erbrechte, sondern dies ganze Recht bis auf den heutigen Tag völlig mißverstanden und unerkannt geblieben sei, ein unenträthseltes Geheimniß.

Lassalle's Entdeckung, deren Richtigkeit sein Werk allerdings sehr wahrscheinlich macht, ist die, daß der Erbe im römischen Sinne ursprünglich nur Willenserbe, nicht Vermögenserbe des Todten sein soll, daß daher der Gegenstand und das Interesse des römischen Erbrechts, sowie seine historische Entstehung gar nicht in der vermögensrechtlichen Sphäre liegen, und dies Erbrecht seinem Begriffe nach keine Vermögenszuwendung darstellt, sondern eine dieser Verstandesvorstellung geradezu entgegengesetzte quasi-metaphysische Anschauung ist. Der Unendlichkeit des subjektiven Geistes im Christenthume geht in der Geschichte eine andere, äußerlichere Unendlichkeit des Subjekts, des subjektiven Willens, vorher, welche sich auf die Außenwelt bezieht und mit ihr als ihrem Gegenstande behaftet ist. »Es scheint,« sagt Quinctilian naiv, »kein anderer Trost über den Tod vorhanden zu sein, als der über den Tod hinausgehende Wille.« Die römische Unsterblichkeit ist: das Testament. (Bd. II, S. 21.)

Da das Testament nun immer eine institutio heredis, eine formelle Einsetzung eines Erben, enthalten mußte; da jede bloße, im Testament vorgenommene Vermögenstheilung nichtig war, wenn die ausdrückliche Einsetzung des Willenskontinuators fehlte; da diese Einsetzung vor allem Andern, namentlich vor den Legaten, vorhergehen und den Anfang des Testaments bilden mußte; da endlich, wenn der eingesetzte Erbe vor dem Erwerbe der Erbschaft starb oder sie ausschlug, das ganze Testament in der Regel zusammenbrach und alle Legate ungültig wurden, so erhellt, daß es erst der Erbe ist, welcher durch sein Dasein dem Testamente Dasein giebt, und welcher durch seinen Willen den Willensbestimmungen des Testators Halt und rechtliche Existenz verleiht. Also nur wenn im Erben der Wille des Verstorbenen noch als fortexistirend gesetzt ist, wird dieser Wille noch als daseiend angeschaut und kommt in seinem Testamente zur Ausführung. Ohne den Willenskontinuator dagegen bleibt der Wille des Todten das, was er der Realität nach ist, ein todter, nichtsbedeutender und geltungsloser (Bd. II, S. 62).

Wenn aber der Begriff des Erbthums ist, die Fortexistenz des erblasserischen Willens zu realisiren, so liegt das Interesse des Erblassers nicht darin, daß der Erbe hat, sondern daß der Erbe handelt, nach seinem, des Erblassers, Willen handelt. Den Erben nach seinem Willen handeln zu machen, ist nach römischer Vorstellung der Triumph des Erblassers. Aber so lange der Erbe noch hat und handelt, d. h. Erbthum empfängt und übernimmt, ist die Situation zweideutig. Denn es bleibt immer noch möglich, daß sein eigenes Interesse und sein eigener egoistischer Wille, statt die Willenssubjektivität des Erblassers fortzusetzen, dieselbe nur verschlingen und vernichten. Ein entscheidendes Mittel giebt es jedoch hiergegen, nämlich dem Erben nicht den geringsten eigenen Vortheil zu gewähren, ihn vielmehr in direkten Gegensatz mit seinem egoistischen Interesse zu bringen. Der Erbe, der Nichts bekommt und dennoch Erbe ist und nach dem Willen des Erblassers handelt (nämlich die Legate vertheilt), – der enterbte Erbe, ist der unerschütterliche Beweis, daß es der erblasserische Wille ist, der in ihm fortexistirt. Der enterbte Erbe ist der gipfelnde Triumph des erblasserischen Willens, der höchste Genuß seiner Fortexistenz, den sich dieser Wille geben kann (Bd. II, S. 71).

Um zu begreifen, wie diese tiefe und scheinbar überall zutreffende Anschauung vom Erbrecht, welche Lassalle geltend macht, so lange hat übersehen werden können, muß man wissen, daß die Juristen bisher immer das römische Recht in seiner letzten Gestalt bei Justinian als Ausgangspunkt genommen haben, statt es als den Endpunkt zu betrachten und auf seinen primitiven Keim zurückzugehen. Thut man Dies, so fällt das hellste Licht auf die Wahrheit von Lassalle's Theorie. Gajus theilt mit: da es in Rom's älteren Zeiten Jedem freigestanden habe, die ganze Erbmasse durch Legate zu erschöpfen und dem Erben Nichts als den bloßen Namen zu hinterlassen, sei es allzu häufig vorgekommen, daß die zu Erben Eingesetzten das Erbe ausgeschlagen hätten. Zur Abhilfe dieses Uebelstandes, erzählt er weiter, wurde das Furische Gesetz (ungefähr 571 nach Gründung der Stadt) erlassen, welches bestimmte, daß mit Ausnahme gewisser Personen kein Legatar ein größeres Legat als tausend Aß (eine geringe Summe) erhalten dürfe. Aber, fährt Gajus fort, auch dies Gesetz vollbrachte nicht, was es wollte, da man doch das ganze Vermögen in Legaten erschöpfen konnte. Deshalb wurde später (585 nach Gründung der Stadt) das Voconische Gesetz erlassen, welches verfügte, daß Keinem erlaubt sein solle, auf Grund von Legaten mehr zu nehmen, als der Erbe, so daß durch dies Gesetz dem Erben doch irgend Etwas gesichert zu sein schien. Aber auch das verschlug nicht. Denn durch die Zerstückelung des Vermögens auf eine große Anzahl von Legataren konnte man dem Erben ein solches Minimum hinterlassen, daß es sich für ihn nicht lohnte, wegen dieses geringen Gewinns die Lasten der ganzen Erbschaft auf sich zu nehmen. Und so ward denn zuletzt (im Jahre 714) das Falcidische Gesetz erlassen, wonach es nicht mehr freistehen sollte, über mehr als drei Viertel des Vermögens durch Vermächtniß zu verfügen, und so mußte der Erbe fortan wenigstens ein Viertheil der Erbschaft erhalten.

Jedem Denkenden muß es klar sein, daß hier nicht, wie Gajus, zu dessen Zeit die alte metaphysische Auffassung nicht mehr verständlich war, naiv vorausgesetzt, von einer Redactionsungeschicklichkeit die Rede sein kann. Diese, einen Zeitraum von 150 Jahren umfassenden Gesetze sind nur zu begreifen als ein sich in ihnen vollziehender, schwerer und hartnäckiger Kampf, den der römische Geist mit seinen innersten Anschauungen kämpft; und dieser innere Kampf wird nicht, wie man glaubt, zwischen Erben und Legatar, sondern lediglich und allein zwischen Erben und Erblasser gekämpft. Der Legatar ist nur der Prügeljunge, auf dessen Rücken der Erbe seinen Kampf mit dem Erblasser schlägt. Ganz entscheidend zeigt sich Dies in der Reihenfolge der Gesetze. Ausgegangen wird von dem Zwölftafelrecht, nach welchem die Lage des Legatars die günstigste ist. Plötzlich wird sie die ungünstigste durch die lex Furia, dann wesentlich verbessert durch die lex Voconia, indem der Legatar nun, statt der früheren tausend Aß, die volle Hälfte des Vermögens erhalten kann, noch viel günstiger durch die lex Falcidia nach welcher ihm sogar drei Viertel des Vermögens zufallen können, – eine sinnlose Entwicklung im Vergleich zu der entsprechenden Stellung des Erben, (welche ja ebenfalls durch das letzte Gesetz die günstigste wird), wenn man den Kampf als zwischen ihnen geführt auffaßt. Nein, der Kampf ist überhaupt von ganz anderer Art, es ist der Kampf des persönlichen Egoismus, des gesunden Menschenverstandes gegen die metaphysisch-religiöse Grundanschauung eines ganzen Volksgeistes von Leben und Tod. So lange der Volksgeist in Rom noch unangefochten, ganz und fest in seinem ursprünglichen Gusse ist, kann das persönliche Interesse des Erben noch nicht revoltiren, weil die Erbschaft eben die bindendste und heiligste Substanz dieses Volksgeistes, seine Unsterblichkeitsidee ist. Lange Zeit verstreicht daher, bis der Erbe principiell zu erklären wagt, daß er haben will, absolut für sich selbst, nicht bloß formell, im Verhältniß zum Legatar. Und doch muß es dahin kommen, denn der gesunde Menschenverstand läßt sich nicht fernhalten. Das Falcidische Gesetz bedeutet, daß die Unwahrheit der Fiktion, welche dem ganzen Erbwesen von vornherein zu Grunde liegt, nun auch zum Vorschein gekommen und gesetzt ist. Mit der lex Falcidia beginnt daher der entscheidende Untergang des gesammten römischen Erbwesens. Und doch – selbst jetzt findet der römische Volksgeist im Tempel des Erbrechts noch eine Kapelle, in welche er sein Allerheiligstes retten kann. Unter Augustus wurde die lex Falcidia erlassen, und noch unter demselben Kaiser erschien das Gesetz über fideikommissarische Erbschaften, welches dem Erblasser ein neues Asyl erschließt. Wer Erbe auf der Basis dieser freiwilligen Treue ( fides) gegen den Volksgeist und seine heiligen Ueberlieferungen ist, der kann und darf auch von dem neuen Zwange, der dem Erben gegen den Erblasser durch das vorhergehende Gesetz eingeräumt ist, keinen Gebrauch machen, und hat keinen Anspruch auf den Abzug nach der lex Falcidia.

So lange römischer Geist existiert, strebt er, an der Wahrheit jener Fiktion von der Willensfortexistenz des Erblassers, von der Willensidentität seiner und des Erben, festzuhalten. Wie oft die Geschichte sie auch in ihrem Entwicklungsgange als unwahr stempelt, der Volksgeist sucht sie immer, wenn auch in noch so verblaßter Gestalt, zu retten. Das Testament ist also für das römische Volk ein Kultus seines eigenen Wesens; denn es ist die höchste Selbstbethätigung des allgemeinen Volksgeistes, zu welcher die Römer es überhaupt bringen, und alles Das ist Kultus und von religiöser Natur, worin ein Volk den öffentlichen Geist feiert, der es durchdringt. Deshalb geschieht die Testirung nicht allein in der Volksversammlung und in Gegenwart der Priester, sondern in den ausdrücklich nur zu religiösen Zwecken berufenen Komitien. Und deshalb wird der Wille des Römers, der bei seinem Leben Privatwille war, öffentlicher Wille nach seinem Tode. Oft hat man gesagt, daß der römische Testator, wegen seiner unbeschränkten Freiheit gegenüber der auf Gesetz beruhenden Intestaterbfolge, einem Gesetzgeber vergleichbar sei. Aber Das ist zu wenig gesagt. Es war zu Rom Sitte, daß der Erblasser nicht bloß im Testamente, sondern auch in den Inschriften der Grabmonumente, die er sich häufig schon bei Lebzeiten errichten ließ, eine Vermögensstrafe für den Fall der Veräußerung, Verwerthung oder Verpfändung festsetzte, Strafen, welche immer an die Vestalinnen oder die Kasse der Pontifices oder an das öffentliche Aerarium zu zahlen waren. Und ein solcher Erblasser brauchte diese Strafandrohung nicht im Testamente zu wiederholen. Woher kam ihm diese Strafgewalt zu? Nach allen üblichen Begriffen vom römischen Erbrecht könnte er doch höchstens den Erben solchermaßen bedrohen, aber er bedroht den fremden Käufer mit derselben Strafe wie den Verkäufer. Dies Grabrecht zeigt – um seiner gedoppelten Stellung willen, formell kein Testament, nach seinem geistigen Inhalte aber Dasselbe, was ein Testament, d. h. eine letztwillige Verfügung über die Fortbewahrung des eigenen Ich's zu sein – am schneidendsten, was aus der geistigen Bedeutung, aus dem Begriffe des Testamentes folgt. »Im Tode steht dem Römer ein Recht zu, das er im Leben niemals besaß; im Tode verklärt er sich zum Gesetzgeber. Er muß sich zum Gesetzgeber verklären in Folge seines eigenen Begriffes und in dessen Interesse; denn er soll jetzt ja seinen Willen als einen fortdauernden und aller Außenwelt gegenüber bestehenden, d. h. als Gesetz, setzen. Er muß und kann sich aber auch zum Gesetzgeber erklären, den anderen Rechtssubjekten gegenüber, und deren Rechtssphäre verletzen. Denn diesem metaphysischen Interesse des öffentlichen Geistes gegenüber, welches in ihm ruht, kommen die andern Rechtspersonen, welche gegen ihn, den Todten, bloße Privatwillen sind, gar nicht in Betracht.« (Bd. II, S. 179-183.) Langsam vollzieht sich dann in der Geschichte des römischen Reiches der Uebergang des metaphysischen Begriffs zum Vermögensbegriffe und die Umwandlung des Willensfortsetzers zum Vermögenserben, bis endlich unter Justinian durch die Einführung der Erbschaft sub beneficio inventarii der Erbe den Vermögenserwerb als das Entscheidende, ja das Alleinige seines Verhältnisses zum Erblasser proklamirt. Aber hiemit ist auch die Abreibungs- und Entnationalisirungsarbeit beendet und der römische Volksgeist erloschen. (Bd. II, S. 223 und 486.)

Nicht zufrieden damit, solchergestalt die religiös-metaphysische Grundanschauung, auf welcher das ganze römische Erbrecht beruht, dargestellt, die Fähigkeit seiner Theorie, selbst das specifischste Detail des Erbrechts zu erklären, nachgewiesen zu haben, studirt Lassalle nach der Methode eines hegelianischen Philologen die Entstehung dieser Grundanschauung, von der er als Jurist frappirt worden ist. Er geht auf die vorgeschichtliche Zeit des römischen Volkes zurück, um ihren Urgrund zu finden, der kein anderer als die Religion sein kann, in welcher das Volk stets seine ältesten Erinnerungen niederlegt (Bd. II, S. 517-563). Und er findet die substanziellen Wurzeln dieser Vorstellung in dem alten Manen- und Laren-Kultus. Unter Manen versteht der Römer nicht Todte, Gewesene, sondern Bleibende. Der Begriff Manen liegt in dem Worte manere (bleiben), ganz abgesehen von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Etymologie; denn so etymologisirte man schon im Alterthum. Sie sind und bleiben Dasselbe, was sie waren: geistige Individualitäten, d. h. übereinstimmend mit dem römischen Begriffe der Geistesindividualität: Willenssubjekte, die ihren Gegenstand in der Außenwelt haben. In der ältesten Zeit verbrannten die Römer nicht ihre Todten, sondern begruben sie in ihren Wohnhäusern, auf dem Schauplatze ihrer Willensherrschaft, und selbst nach Einführung der Leichenverbrennung gilt das Lararium, die Hauskapelle, als Sitz ihres geistigen Wesens. So werden die Laren zu Schutzgöttern, zu Wächtern und Bewahrern des Hauses, und insofern dieselbe Familie fortwährend das Haus bewohnt, sind sie Familiengottheiten. Aber nur an das Haus, nicht an die Familie sind sie gebunden; sie sind nicht Ahnen, sondern Ortsgottheiten, und sie bleiben nicht im Besitz der Familie, wenn diese fortzieht. Die Laren sind die Machthaber, die »Mächtigen«, potentes. Der Lar bewacht zwar die Stätte, aber nicht als Hausgott, er beschirmt nur das Haus als das ihm untergebene Machtgebiet. Hieraus erhellt schon, daß sein Verhältniß zum neuen Hausherrn kein sehr freundliches sein kann; denn dieser greift ja in seine Machtsphäre ein. Um den Lar und die Göttin Mania zu besänftigen, fanden daher zu Rom's älteren Zeiten förmliche Menschenopfer statt; der neue Hausherr schlachtete sein eigenes Kind am Altare, damit die Familie unversehrt bleibe. Schon während des Königthums war dieser Kultus in Rom unterdrückt worden; Tarquinius, der als Etrusker der Religion am nächsten steht, führt ihn wieder ein; Junius Brutus macht ihm ein Ende, indem er befiehlt, Mohn- und Knoblauchköpfe abzuschlagen, damit dem Spruche des Gottes Genüge geschehe; d. h. die Republik stürzt die aus den alten pelasgischen Zeiten herstammende Barbarei. Der pelasgisch-etrurische Geist entwickelt sich zum römischen Geiste. Die wahre Religion des Römers ist das Recht, die Religion selber ist ihm nur der vorgeschichtliche Ausgangspunkt, und wird daher von ihm nur als ein ihm und seinem Geiste Fremdes aufbewahrt, welches ihn aber doch als die Grundlage seines Volksgeistes mit ehrfurchtsvollem Schauer durchzittert. Während jedes andere Volk seine Religion selbst treibt, läßt der Römer sie sich von einem fremden Volke, und zwar gerade von seinem Stammvolke, den Etruskern, besorgen. Es sind Haruspices, die von den Etruskern kommen, welche den Tod des Curtius als Sühnopfer für den »Manengott« fordern. Die Augurenkunst war eine etruskische Kunst. – Die Versöhnung zwischen dem Verstorbenen und dem Lebenden, welche der Römergeist jetzt vollbringt, oder eigentlich nicht vollbringt, sondern in sich selbst darstellt, findet im Rechte statt. Der testamentarische Erbe ist schon die Versöhnung. Er ist es ja selbst, der das Dasein des Todten fortsetzt, seinen Willen in sich aufgenommen hat. Aber mit tieferer, innerer Nothwendigkeit muß nun wieder das Recht jenen inneren Zwiespalt und Streit zwischen dem Todten und dem Lebenden abspielen, der in der religiösen Ursubstanz vorhanden war. Noch auf dem Boden dieser Versöhnung erhebt sich von Neuem das alte, feindselige Verhältniß zwischen dem Lar als bleibendem Willen und seinem Nachfolger, in Gestalt des feindseligen Verhältnisses des Erblassers und des Erben zu einander. Dieser Zwiespalt muß sich wieder erheben; denn es ist ja derselbe Volksgeist, dessen Wesen auf der früheren Entwicklungsstufe, der Religion, hervortrat, welcher sich jetzt auf dem höheren Boden, auf dem Boden des Rechts, entfaltet. Alles früher Entwickelte empfängt durch den Einblick in dies Verhältniß noch eine ganz andere und tiefere Bedeutung. Und was den römischen Volksgeist betrifft, so wird dessen Entwicklung in der Rechtssphäre auch erst jetzt völlig verständlich. Alle Völker haben ein Recht: denn alle Völker bringen ein geistiges Verhältniß in der realen Wirklichkeit zum Ausdruck. Aber was der Römer hier verwirklicht, Das ist der Gedanke der unendlichen Willenssubjektivität, d. h. der Inhaltsbegriff des Rechtes selbst, und so hat er nicht ein Recht, sondern das Recht, und so wird dies der wahre Ausdruck seines Wesens. Der Uebergang vom pelasgischen Stammvolke zum Römer und Hellenen ist also der Uebergang der unendlichen Subjektivität aus der phantastischen Innerlichkeit der Religion in die höhere Form der Kunst bei den Griechen, in die höhere Form des Rechts bei den Römern, und die Religion bleibt hinter diesen beiden Geistesgestalten nur liegen, dort als Stoff der Kunst, hier als religiös-metaphysische Grundlage des Rechtes.

Indem nun Lassalle von dieser interessanten Untersuchung des Wesens des römischen Erbrechts den Blick auf das germanische Erbrecht wendet, bemerkt er, daß nicht ein Wort von dem über das römische Recht Entwickelten auf das Erbrecht des ganz anders gearteten germanischen Stammes paßt (Bd. II, S. 570 bis 604). Die Grundregel ist hier, daß die Erbschaft sofort mit dem Tode des Erblassers auf den Erben übergeht. Als die Germanen in der Geschichte auftreten, kennen sie, wie schon Tacitus bekundet, nur Intestaterbrecht (Erbrecht ohne Testament), und es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen dem Intestaterbrecht, das in Rom nur subsidiär zur Geltung kam, wenn der individuelle Wille des Erblassers nicht gesprochen hatte, und dem Intestaterbrecht als einzigem und exclusivem, den abweichenden Willen des Erblassers ausschließendem. Das germanische Intestaterbrecht ist daher, was von dem römischen mit Unrecht behauptet wird: wahres Familienrecht, und der Begriff der Familie ist die sittliche Identität der Personen. Man könnte, wenn es um kurze Antithesen zu thun ist, etwa sagen: der römische Volksgeist verhält sich zum germanischen, wie Wille zu Liebe. Die Einheit zwischen Erblasser und Erben ist hier unmittelbar die Identität des Blutes. Das Vermögen wird seiner Substanz nach als ein gemeinsames Familieneigenthum betrachtet: es wird vom Erben schon mit seinem Erzeugtsein erworben, und die Erwerbung tritt mit dem Todesfall des Erblassers nur in Wirklichkeit; das Recht des Besitzers an seinem Eigenthum ist deshalb bei seinen Lebzeiten auch nur ein beschränktes. Die germanischen Völker kennen daher ursprünglich gar kein Testament. Als sie mit den Römern zusammentreffen, entlehnen sie ihnen zwar rein äußerlich den Gebrauch desselben, aber sie verstehen natürlich nichts von der geistigen Bedeutung des römischen Testaments. Sie halten dasselbe für das, was es äußerlich und sinnlich zu sein scheint, für eine Vermögensverfügung. Als eine solche nehmen sie es nun in Gebrauch, weil dies ihrem Sinne für individuelle Freiheit schmeichelt; aber sie verstehen den Begriff desselben so wenig, daß sie es lange Zeit hindurch mit einer Schenkung unter Lebenden identificiren, von dem Gedanken ausgehend, daß eine Vermögenshandlung doch unmöglich vorgenommen werden könne, wenn der Handelnde schon todt sei. Dieser ihr Irrthum ist also höchst logisch; es ist ein Irrthum, in dem größere Wahrheit enthalten ist, als in der Verbesserung desselben auf jener Grundlage. Selbst wenn der juristische Charakter des römischen Testaments im germanischen Erbrechtssystem wieder hergestellt wird, ist er ja doch dem begrifflichen Boden, in welchem er allein seine geistige Wurzel und seine innere Existenzmöglichkeit hat, entrissen und auf die äußerlichste Weise in eine geistige Welt übertragen, mit welcher er nach allen Seiten in dem widerspruchvollsten Konflikte, ja in dem Verhältniß innerer Unmöglichkeit steht. Das gesammte Testamentsrecht der germanischen Nation ist daher nichts als – ein großes Mißverständniß, eine theoretische Unmöglichkeit, und wenn dies ausgesprochen wird, so geschieht es nicht kraft einer willkürlichen und subjektiven Kritik des Testaments, sondern in Folge einer von der Geschichte selbst vollzogenen und darum streng objektiven Kritik.

Der große Irrthum der Neueren ist, daß das Testament naturrechtlich sei. Aber weit entfernt, das Testiren für eine natürliche und darum naturrechtliche Fähigkeit des Individuums zu halten, ist der Römer vielmehr von der natürlichen Unfähigkeit des Individuums, nach seinem Tode einen Willen auszuüben, so durchdrungen, daß es des Zusammentreffens zweier Willen, des Konkurses eines noch lebenden Willens bedarf, welcher den des Todten zu dem seinigen macht, damit der Wille des Todten, das Testament, ein gültiger sei. Das ganze römische Erbrecht ist ja gerade die ungeheure Anstrengung, den Willen im Tode der natürlichen Person nicht untergehen zu lassen, sondern ihn durch Forterhaltung der Willenssubjektivität in alle Ewigkeit zu erhalten. Deshalb ließ er sich in der Wahrheit als das Dogma der Unsterblichkeit in seiner römischen Gestalt bezeichnen. »Man hat ein Naturrecht aus einem Rechte gemacht, welches sich nie und nirgends vorfindet, in dem nationalen Rechte keines Volkes und keiner Zeit, weder im römischen, noch im germanischen.«

Und wieder schließt Lassalle hier seine Entwicklung mit einem Anpreisen des juristisch-philosophischen Scharfblicks der französischen Revolution: »Jetzt erst begreift sich klar und lichtvoll von innen heraus, wie in jener Zeit, wo, wie Hegel sagt, die Welt auf ihren Kopf, die Vernunft, gestellt wurde, der französische National-Konvent durch das Gesetz vom 7./10 März 1793 alle Fähigkeit, in direkter Linie zu testiren, abschaffte. Aus der Reaktion gegen alles empirisch Ueberlieferte entsprang der Rückgang des Volksgeistes auf seine eigene nationale Substanz; er entfernte ein Stück Romanismus. Freilich ward damit nicht bis in die germanischen Wälder zurückgegangen. Die Intestaterben erhielten kein Recht auf das Vermögen des Erblassers während seines Lebens. Sie erben nur, insofern Etwas bei seinem Tode noch da ist: aber sie haben kein Recht darauf, daß irgend ein Theil seines Vermögens überhaupt zur Vererbung komme. Die Idee der individuellen Freiheit hat sich so weit gegen das germanische Recht entwickelt, daß der Eigenthümer jetzt zum alleinigen und unbedingten Eigenthümer geworden ist. Das Eigenthum ist also jetzt nicht mehr an sich Familieneigenthum, dessen Gemeinsamkeit sich beim Tode nur auflöst (dazu wäre erforderlich, daß schon bei Lebzeiten des Eigenthümers ein seine Veräußerungsbefugniß beschränkendes Recht des Intestaterben da wäre,) sondern das Eigenthum ist jetzt rein individuelles Eigenthum. (Nur verschenken kann der Eigenthümer beim Dasein von Kindern auch während seines Lebens nicht über eine gewisse Grenze hinaus.) Auf welchem Princip beruht nun aber hier die Intestaterbfolge? Wie wir sahen, nicht auf einem eigenen Vermögensanrechte der Intestaterben, welches sonst schon bei Lebzeiten vorhanden sein müßte; und da der Erblasser nicht testiren kann, auch nicht auf einem präsumirten Willen desselben. Es ist also klar, daß sie auf nichts Anderm beruht, als auf dem die Vermögenshinterlassenschaften regelnden allgemeinen Willen des Staates. Sie beruht zwar auf der Familie, da sie nur diese zur Erbschaft beruft, aber nicht mehr auf der Familie als aus eigenem Recht erbender, auch nicht auf der Familie als durch den präsumirten Willen des Todten berufen, sondern auf der Familie als Staatsinstitution. Selbst wenn auch nur, wie es in den gegenwärtigen Erbrechten meistens der Fall ist, Testirfreiheit innerhalb einer quantitativen Grenze besteht, so wird doch bis zu dem Punkte, wo diese quotité disponible eintritt, das eben Entwickelte der Charakter dieses Erbrechts sein. Es ist also, wie sehr dies auch verwundern oder erschrecken mag, bei der wahrhaften Betrachtung dennoch der Fall, daß die meisten heutigen Erbrechtssysteme, wie z. B. der Code Napoléon, in ihrem innersten Grunde und bis zum Eintreten der disponiblen Quantität im Princip nichts Anderes darstellen, als eine Regelung der Hinterlassenschaften von Societätswegen

Für die großen Philosophen der Vergangenheit, die nicht, wie Lassalle, das Wesen des Erbrechts historisch zu erfassen suchten, mußte das Räthsel desselben ungelöst bleiben. Die Auffassung des Erbrechts als in der sittlichen Personenidentität der Familie beruhend, die ihre äußere Realität in dem an sich gemeinsamen Vermögen hat, gehört Hegel an; aber er verfiel in den Irrthum, für die Idee des Erbrechts überhaupt zu nehmen, was eben nur die bestimmte historische Idee des germanischen Erbrechts ist. Es gelang ihm daher nur, eine Theorie des Intestaterbrechts zu geben, während er es nicht zu einer stichhaltigen Theorie des Testaments bringen konnte. Der einzige Philosoph außer ihm, welcher einen Versuch dazu gemacht hat, ist Leibniz, der bei seinem genialen Scharfblick nahe daran war, trotz seiner Unkenntniß des geschichtlichen Entwickelungsganges, das Princip des römischen Erbrechts aus einer Vernunftreflexion heraus zu reproduciren. Er sagt: »Testamente wären mit vollem Recht durchaus null und nichtig, wenn die Seele nicht eine unsterbliche wäre. Aber weil die Todten in Wahrheit noch leben, so bleiben sie Eigenthümer der Sachen; Diejenigen aber, welche sie als Erben zurückließen, sind aufzufassen wie ihre stellvertretenden Verwalter in dem Vermögen.« ( Testamenta vero mero jure nullius essent momenti, nisi anima esset immortalis; sed quia mortui re vera adhuc vivunt, ideo manent domini rerum; quos vero heredes reliquerunt, concipiendi sunt ut procuratores in rem suam.) So nahe ist der große Denker daran, die Idee des römischen Erbrechts darzustellen. Aber kein Einzelner denkt mit der Konsequenz eines Volksgeistes. Während im römischen Erbrecht der Erblasser sein Dasein im Erben fortsetzt, welcher selbst die Fortexistenz des Geschiedenen ist, kann auf dem Boden des christlichen Geistes, der die Fortsetzung des Individuums ganz wo anders als in dem von ihm als endlich aufgegebenen subjektiven Willen weiß, diese Auffassung nicht mehr stattfinden. Ist es also auch wahr, daß nur unter der Voraussetzung persönlicher Unsterblichkeit von einem Testamente die Rede sein kann, so gilt dies doch nur, wenn diese Unsterblichkeit aufgefaßt wird wie im alten Rom; denn nach christlicher Vorstellung ist die Seele unsterblich, und sie besitzt kein irdisch Gut; sodann kann sie, wenn sie Eigenthümer der Sachen bliebe, nicht jene versöhnte Stellung zu ihrem Stellvertreter einnehmen; endlich würde, wenn auf diese Art das Testament gerettet werden sollte, der ganze Begriff »Eigenthum« untergehen – Adam, resp. der erste Testator, würde der einzige Eigenthümer sein. Man vergl. H. von Sybel's Kritik des Lassalle'schen Hauptwerkes in den »Lehren des heutigen Socialismus und Kommunismus« (»Vorträge und Aufsätze«, S. 81 ff.), und F. A. Lange's Erwiderung in seinem Buch »Die Arbeiterfrage«, S. 399

Es war nicht ganz leicht, eine Entwickelung, die in Lassalle's bündigem Stil über sechshundert Seiten einnimmt, auf wenige Blätter zusammen zu drängen. Ich hoffe jedoch, dem Leser einen richtigen und erschöpfenden Begriff von dem Charakter und Grundgedanken des zweiten Haupttheils gegeben zu haben. Man sieht, worauf Lassalle hier hinaus kommt: auf die Ansicht, welcher er gelegentlich direkt Ausdruck giebt (Bd. I, S. 47), daß »eine strengere Auffassung des Staatsbegriffs die Quelle sei, aus welcher alle in diesem Jahrhundert gemachten Fortschritte stammen und weiter stammen werden.« Darüber hinaus Nichts, keine Andeutung, keine Silbe. Das Werk ist streng theoretisch; es enthält nicht eine Zeile, welche auf eine Umsetzung dieser Theorie in Praxis hinwiese. Und was mehr ist: nicht allein enthält das Werk als eine grundgelehrte geschichtsphilosophische Untersuchung keinen derartigen Wink, sondern Lassalle hat auch nicht ein einziges Mal während seiner übrigen Lebenszeit, nicht bei der leidenschaftlichsten Agitation und der heftigsten Verfolgung durch die Organe der Bourgeoisie, seiner Partei so viel wie ein Augenblinzeln gezeigt, das sich als Wunsch nach einer Agitation für eine dieser Theorie entsprechende Praxis deuten ließe. Lassalle, dem es im Privatleben häufig an Selbstbeherrschung gebrach, hatte im öffentlichen Leben sich so ganz in seiner Gewalt und war so eminent praktisch angelegt, daß er sich immer nur die nächsten Ziele stellte. So oft und so hartnäckig er dazu auffordert, für die Erreichung solcher Ziele, wie das allgemeine und direkte Wahlrecht und die Errichtung von Produktionsvereinen mit Staatskredit, zu agitiren, – vom Erbrecht ist in all' seinen Flugschriften nicht eine Zeile, nicht ein Tütelchen zu finden.

Im Jahre 1861 ließ er dies sein Hauptwerk erscheinen, mit einer Widmung an seinen Vater, zu dessen siebzigjährigem Geburtstage. Nach seinem mehrfach geäußerten Plane Vgl. die Vorrede und Bd. II, S. 586, Anmerkung. war es seine Absicht, mit dieser Arbeit den Grundstein zu einer zusammenhängenden Darstellung der ganzen Philosophie des Geistes zu legen, »welche wir,« fügt er charakteristisch hinzu, »eines Tages vielleicht liefern werden, falls die Zeit theoretischer Muße für die Deutschen niemals aufhören sollte.« Vgl. im Anhang den großen Brief. 1859 hatte er seinen »Heraklit« in die Welt gesandt, mit einem Seufzer darüber, daß praktische Kämpfe die Herausgabe so viele Jahre hindurch verzögert hätten; schon 1861 begleitet er sein juristisches Hauptwerk mit dem Stoßseufzer, daß der politische Stillstand ihm theoretische Muße zur Ausarbeitung desselben vergönnt habe. Wie tief er sich auch in die Theorie zu vergraben im Stande war, sein Verlangen und die Sehnsucht seines Lebens galt der praktisch eingreifenden That.

8.

Wir haben, um den Zusammenhang eines bestimmten Ideenkreises bei Lassalle nicht zu unterbrechen, uns bis zum Jahre 1861 hinführen lassen. Es wird jetzt nöthig sein, einen Blick zurückzuwerfen.

Als Theilnehmer an der Revolution von 1848 war es Lassalle untersagt, seinen Aufenthalt in Berlin zu nehmen. Sein Leben in Düsseldorf war eine Art unfreiwilliger Verbannung aus der Residenz, in welcher er aus mancherlei Gründen zu wohnen wünschen mußte. Zehn Jahre seines Lebens verbrachte er am Rhein, und politischen Flüchtlingen wie verarmten Demokraten und Arbeitern standen sein Haus und seine Börse während dieser Zeit stets offen. Viele Jahre nachher erinnerte er in einer seiner Agitationsreden (»Die Feste, die Presse und der Frankfurter Abgeordnetentag,« S. 3) die rheinischen Arbeiter mit folgenden bezeichnenden Worten an diese Periode seines Lebens: »Ihr kanntet mich! Ich hatte zehn Jahre unter dem rheinischen Arbeiterstande gelebt, die Revolutionszeit und die Zeit der weißen Schreckensherrschaft der fünfziger Jahre hatte ich mit euch verbracht. Ihr hattet mich, wie ihr mir in eurer Adresse mit Recht zuruft, in der einen wie in der andern gesehen. Ihr wußtet, welches Haus trotz der weißen terreur von Hinckeldey-Westfalen, trotz aller wilden Rechtlosigkeit jener Zeit, und zwar bis zum letzten Augenblick meines Verweilens in der Rheinprovinz, das furchtlose Asyl demokratischer Propaganda, das treue Asyl der furchtlosesten und entschlossensten Parteihilfe gewesen war!« – Lassalle sehnte sich indeß nach Berlin und seine Wünsche waren seinen Freunden bekannt. Früher hatte er nur auf Aufenthaltskarte in der Residenz verweilen können, jetzt suchte er durch seine Gönner die Erlaubniß zum Dableiben zu erwirken. Keiner war so eifrig bemüht, diese für ihn zu erlangen, wie der alte einflußreiche Alexander von Humboldt, in dessen Hause Lassalle immer aus- und eingegangen war. Man hatte höheren Orts an sich wenig oder nichts dawider, daß Lassalle seinen Aufenthalt in der Hauptstadt nehme; aber die vermögende Familie der Gräfin Hatzfeldt wollte durchaus verhindern, daß diese Dame in der Nähe ihrer Verwandten verweile. Man hielt es für ausgemacht, daß sie am selben Orte wie Lassalle wohnen würde, und suchte sie fern zu halten, indem man ihm den Aufenthalt verwehrte. Die preußischen Gewalthaber schlugen also just das entgegengesetzte Verfahren wider Lassalle ein, welches die österreichischen Behörden in Italien ihrer Zeit wider Byron eingeschlagen hatten, als sie die ganze Familie Giuccioli aus Ravenna verbannten, weil sie sich überzeugt hielten, daß Byron der jungen Gräfin folgen würde. Siehe Brandes, Hauptströmungen der Litteratur des 19. Jahrhunderts. Band 4. 4. Aufl. Seite 354 und Brandes, Shelley und Lord Byron. 1894. Seite 138.

Eines Abends drang Alexander von Humboldt, als er in einer größeren Gesellschaft bei Tische neben Hinckeldey zu sitzen kam, mit Eifer in Diesen, Lassalle die Aufenthaltserlaubniß zu ertheilen. Ein Zeuge des Gespräches, der sich ebenfalls unter den Gästen befand, hat mir erzählt, daß er deutlich gehört habe, wie Hinckeldey die Antwort gab: »Meinethalb gerne, ich habe nichts dawider, mir ist es ganz gleichgültig, aber der König will es durchaus nicht.« – »Wenn weiter nichts im Wege steht,« antwortete Humboldt, »so übernehme ich's, den König umzustimmen.« Er hielt Wort und Lassalle blieb in Berlin. Wie man erwartet hatte, nahm auch die Gräfin bald nachher dort ihren Aufenthalt. Sein Leben in Berlin war zwischen Studien und Zerstreuungen getheilt. Er war und blieb eben so sehr Weltmann wie Gelehrter; die öffentliche Aufmerksamkeit verlor ihn nicht aus dem Gesichte, und er hatte schwerlich etwas dawider. Das Gerücht von geschmackvollen und originellen kleinen Soupers, die er gab, ist sogar in die Schilderungen eingedrungen, welche Tagesschriftsteller von ihm lieferten. So erinnere ich mich, in dem biographischen Sammelwerk »Zeitgenossen« gelesen zu haben, daß er seine Gäste mit Haschisch zu berauschen und ähnliche Excentricitäten zu verüben pflegte. Was diesem Gerede zu Grunde liegt, sind ein paar kleine Gesellschaften, in welchen Lassalle und seine Gäste, wie einer der Eingeladenen mir erzählt hat, sich den Spaß machten, einmal die Wirkung des Haschisch an sich zu erproben. Auch wurde Lassalle in dieser Zeit der Anlaß eines unbedeutenden Skandals, welcher nichtsdestoweniger ein unangenehmes Aufsehen machte. Ein Herr, welcher sich mit den allzu scharfen Blicken der Mißgunst von ihm verletzt wähnte, beleidigte ihn in einer Gesellschaft und ließ ihn durch einen Cartelträger zum Duell fordern. Lassalle, der beständig dafür gekämpft hatte, daß ein Mitglied der demokratischen Partei sich nicht duelliren dürfe, und der z. B. über das Duell zwischen Twesten und dem General v. Manteuffel höchlich entrüstet war, besaß, obschon er ein guter Fechter und Schütze war, Selbstbeherrschung genug, trotz der Beleidigung die Herausforderung abzulehnen. Als jedoch andern Tages der Beleidiger und einer seiner Kameraden Lassalle bei seinem gewohnten Spaziergang auflauerten und ihn in der Nähe des Brandenburger Thores überfielen, bläute Lassalle allein die beiden Herren so weidlich durch, daß sie ihre kriegerischen Gelüste aufgaben. Diese unbedeutende und unschöne Begebenheit hat nur Interesse, weil sie beweist zu welchem höchsten Maße von Leidenschaft Lassalle später gelangt sein mußte, um selbst jene doppelte Herausforderung zu erlassen, welche seinen Tod zur Folge hatte. Auf Grund dieses Ueberfalls schenkte ein deutscher Historiker ihm Robespierres Stock, den er stets bei sich führte. So kräftig Lassalle übrigens war, wo es sich um körperliche Uebungen handelte war doch seine Gesundheit keineswegs eine gute. Vergl. im Anhang Brief VII. p. 189. Wie schon seine »Assisenrede« zeigt, hatte er seit frühester Jugend an den bedenklichsten chronischen Uebeln gelitten, und als er in seinen besten Jahren stand, war seine Gesundheit untergraben. Er mußte sich wiederholt langen und langweiligen Kuren unterwerfen.

Als er während einer derselben mehrere Wochen das Haus hüten mußte, empfing ein Freund von ihm eines Tages ein Billet, worin er denselben um seinen Besuch bat: »Ich will Ihnen etwas zeigen, wobei ich Ihres Rathes und Ihrer Hilfe bedarf, und worüber Sie mich wahrscheinlich auslachen werden; aber kommen Sie nur!« Mein Gewährsmann fand Lassalle mit dem Drama »Franz von Sickingen« beschäftigt; der erste Akt war fertig. Man begreift das Erstaunen des Freundes: Lassalle, der so undichterisch wie möglich angelegte Mensch, sich als Dichter versuchend! »Ich weiß, was Sie einwenden wollen,« beeilte sich Lassalle zu sagen; »ich weiß so gut wie Sie, daß ich kein Poet bin. Aber Lessing hat auch Dramen geschrieben in dem Bewußtsein, daß er kein Dichter sei. Ohne mich mit Lessing vergleichen zu wollen, sehe ich nicht ein, warum ich nicht etc. etc.« In Betreff des Theatralischen, auf das er sich nicht verstand, und in Betreff der Verse wünschte er den Beistand des Freundes, der ein bewährter metrischer Künstler ist. Der erste Rath desselben war also, daß Lassalle das Stück in Prosa schreiben solle, ein Rath, wie er nicht besser sein konnte; denn die Prosa würde, wiewohl oratorisch, doch immer in ihrer Art vortrefflich ausgefallen sein, während Lassalle in einem wahrhaft erstaunlichen Grade die Fähigkeit abging, einen korrekten und wohlklingenden Vers zu bilden. Nicht, daß es ihm gänzlich an Gehör gebrach, denn er las gut und gern metrische Uebersetzungen der griechischen Dichter vor; aber seine eigenen Verse geben ein possierliches Zeugniß von der Unsicherheit seines metrischen Gefühls. Sechsfüßige Jamben mischen sich in seinem Drama auf die mißtönendste Weise unter die fünffüßigen, und die Accente fallen in diesen wunderlichen Versen, – wie sie eben fallen. »Der Wissenschaften Wiederhersteller« klang für Lassalle's Ohr als ein guter blanc verse. Nichtsdestoweniger, oder vielmehr eben darum, war Lassalle nicht zum Aufgeben der Versform zu bewegen, die nun einmal mit seinen von den Griechen und Hegel abstrahirten Theorien von einem feierlichen Drama übereinstimmte. So erhielt »Franz von Sickingen« die Form, welche er hat. Das Werk besitzt – abgesehen von dem intelligenten Plane – als ästhetisches Produkt ungefähr alle Formfehler, welche eine poetische Arbeit besitzen kann: es wimmelt von Geschmacklosigkeiten, die Scenen schleppen sich langsam hin und haben nicht Hand noch Fuß; daß es absolut unaufführbar ist, versteht sich fast von selbst. Nichtsdestoweniger kann man durchaus nicht sagen, daß das Stück, bis an den Rand gefüllt mit Lassalle's glühender Energie, unpoetisch wirke. Das tiefe politische Verständniß eines ganzen, gewaltig bewegten Zeitalters und das blitzschwangere Pathos, welches von demselben ausgeht, haben gewiß ihre Poesie. Wie es vorliegt, ist dies Drama auf jeden Fall die merkwürdigste Goldgrube für den, welcher die Psychologie seines Verfassers studirt. Was man auch von seinen Schriften lesen mag, es schwebt Einem beständig in der Erinnerung, es enthält Alles: die tiefste Selbstcharakteristik Ferdinand Lassalle's als Natur und Privatperson, und die allseitigsten und zahlreichsten Winke für das psychologische Verständniß seiner Weltanschauung, seiner Betrachtungsart der Geschichte, seiner ganzen inneren und äußeren Politik. Ein Ganzes ist es nicht und kann daher bei der Schilderung Lassalle's auch nicht als solches genommen werden; aber überall läßt es sich als Illustration benutzen. Werfen wir hier einen Blick auf die Selbstschilderung, die es enthält. Ich schreibe, bei Citirung der wichtigsten Stellen, die oft wahrhaft erschrecklichen Verse in Prosa um und gebe nur hie und da einige der schlagendsten Zeilen in metrischer Form.

Ulrich von Hutten schildert sein elendes Leben, seit er vom Papste in den Bann gethan worden ist. Er erzählt, wie die Rathsherren der Städte aus Scheu vor Händeln mit dem Papste und den Fürsten nicht gewagt hätten, ihm Zuflucht in ihren Mauern zu gewähren. »Und doch,« sagte er, »hätten sie mir vielleicht ein stilles Asyl geschenkt, wenn ich gelobt hätte, mich ruhig zu verhalten. Aber:

»Ich kann nicht schweigen, kann durch Schweigen nicht
Mir Obdach und des Leibes Sicherheit erkaufen!
Mich treibt der Geist! Ich muß ihm Zeugniß legen,
Kann nicht verschließen, was so mächtig quillt.
Je härter anwächst die gemeine Noth,
Daß in Verzweiflung, wie wenn Pest uns schreckt,
Ein Jeder still ins eigne Haus sich birgt,
Lautlos am Anderen vorüberschleichend,
Nur um so mehr treibt mich des Geists Gewalt,
Entgegen der Verheerung mich zu werfen,
Jemehr sie droht, je mehr sie zu befehden.
O, hätt' ich tausend Zungen – grade jetzt
Mit allen tausenden wollt' ich zum Lande reden!
Viel lieber will ich, elend wie ein Wild gehetzt,
Von einem Dorfe mich zum andern tragen,
Als an der Wahrheit schweigend zu verzagen! ...
Lobt mich nicht drum, Franciscus! Viele leben,
Die mich darum schon hart getadelt haben.
– Und doch, wenn ich es recht erwäge, glaub' ich
Nicht Tadel und nicht Lob drum zu verdienen,
Wenn ein Gemüth mir mitgegeben ward,
Dem der gemeine Schmerz weher als Andern thut,
Dem mehr als Andern die gemeine Noth
Zu Herzen geht – ich kann's nicht ändern, Herr!
Es ward mir eingepflanzt!«

Er schilderte die Haltung seiner Freunde. Einige freuten sich, ihn wiederzusehen, aber viele zogen sich kleinmüthig und scheu zurück. »Die Einen offen, Andre wollten's nicht so gradheraus mir sagen, doch ich fühlte wohl, wie sehr ich ihnen zur Last war. Andere wieder, die meine Stimme in bösen Zeiten getröstet, denen ich ein Anker in manchem Sturm gewesen war, sagten jetzt, sie wollten mir gern heimlich Freund bleiben, aber sie könnten sich doch nicht mehr öffentlich mit mir zeigen, sie könnten es mit Rom nicht ganz verderben.

Sieh, Herr, von Freunden Das erfahren müssen,
Denen man stets mit willigem Gemüth
Und freier Liebe hingegeben war,
O, Das schmerzt hart!«

Mit Herzlichkeit von Franz von Sickingen aufgenommen und von seiner Tochter Marie geliebt, antwortet Ulrich dem jungen Mädchen: »Ehe Du Dich dieser Liebe hingiebst, kenne zuvor den Fluch, der mich vorwärts treibt! Es ist der mächtigste, der unabwendbarste von allen, die ein Gott im Grimm seiner Liebe auf das Haupt eines Sterblichen schleudern kann. O, ewig bleibt die alte Fabel wahr! Als sich im alten Rom ein Abgrund öffnete und der Stadt Pest und Verderben drohte, da sagten die Orakel: nur das Kostbarste, in den Schlund geworfen, könne die Götter versöhnen. Und siehe! hoch zu Roß, im festlichen Waffenschmuck, sprang Curtius hinab, den finstern Gespenstern der Unterwelt sich weihend. Die Besten müssen in den Riß der Zeit springen, nur über ihren Leibern schließt er sich.« Und Franz denkt ganz wie Ulrich und – ganz wie Lassalle. Er sagt: »Wir schulden unser Leben jenen großen Zwecken, in deren Werkstatt die Geschlechter nur die treuen Arbeiter sind. Ich hab' gethan, was ich gekonnt, und fühle mich frei und leicht, wie Einer, welcher redlich seine Schuld abgetragen hat.«

Aber von allen im Stück vorkommenden Repliken charakterisirt keine besser und verständiger, als die folgende, Lassalle's innerstes Willensleben, wie sich dasselbe erhob, wenn er, zum Aeußersten getrieben, in innerer Anspannung oder äußeren Gefahren Willenskraft aus unergründlichen inneren Quellen schöpfte. In dieser Replik ist er wirklich Dichter; denn hier hat er so tief empfunden, daß die Worte wie Lyrik aus dieser Tiefe emporsteigen. Der Unterschied zwischen dem Rhetor und dem Dichter ist ja der, daß der Redner die Andern vor Augen hat, während der Dichter allein mit sich selbst ist. Und allein mit sich selbst ist Lassalle in diesem Ergusse:

»Blick' nicht zur Erde, Balthasar, blick' auf!
Im Aeußersten erst offenbart sich
Des Mannes ganze Kraft. – Verblassend weichen
Zurücke von ihm die Bedenken all',
Die erdgeboren, ihn zur Erde ziehn,
Und aus dem Schiffbruch vielverschlungner Pläne
Und aus den Trümmern seiner eitlen List
Hebt sich der Geist in seine reine Größe.
In die Unendlichkeit, die in ihm schlummert,
Die Willensallmacht, kehrt er wachsend ein,
Saugt zugedrückten Auges neue Kraft,
Neue Erfüllung aus sich selber, setzt
Auf eine Karte seines Lebens Summe,
Und sich entladend flammt er auf zur That,
Die gleich dem Blitz in einem Augenblick
Der festgewordnen Dinge Antlitz ändert.«

Mich dünkt, in diesen Worten hat man den wahren, den idealen Lassalle, Lassalle, wie er in seinen besten Stunden war. Und ist Das nicht der Mann? Welches Resultat würden selbst die größten Geister liefern, wenn man alle die Stunden, in denen sie nicht sie selbst waren, zusammen zählen und sie danach beurtheilen wollte! Wie viel Zeit haben sie nothgedrungen den Ansprüchen des Leibes und den Bedürfnissen und Zerstreuungen des Alltagslebens gewidmet! Wie viel haben sie durch Schlaf, Krankheit, durch die Pflege des Körpers verloren, durch die Ansprüche Anderer an ihre Aufmerksamkeit und Theilnahme! Und was von all' diesen für das Geistesleben direkt verlorenen Stunden gilt, gilt es nicht in fast eben so vollem Umfange von demjenigen Theil ihres Gemüthslebens, den unbeherrschte Leidenschaft, unruhige Selbstsucht, Genußsucht oder Schwäche usurpirt haben? Darf und muß man nicht, so viel wie möglich, hievon absehen, wenn man wissen will, was der Einzelne im innersten Kerne war, und ist es billig oder vernünftig, sich ewig an die Schwächen und Fehler eines gewaltigen Geistes zu klammern? Jedenfalls sollte man begreifen, daß Der, welcher ein eben so großes Gewicht auf die negativen wie auf die positiven Eigenschaften legen wollte, – was immer er sonst aus dem betreffenden machen kann – kein Bild von ihm zu liefern vermag. Denn es steht fest, daß Niemand ein Porträt malen kann, wenn er versuchen will, dem Original einen Ausdruck zu geben, den dasselbe in allen Situationen haben könnte, und wenn ihm kein Ideal der Persönlichkeit vor Augen schwebt. Die Aufgabe ist, dies Ideal, dem es in mehr oder minder vollständiger Weise historisch gelang, sich der Welt in dem einzelnen bedeutenden Geiste zu offenbaren, als in all' seinen Aeußerungen und Handlungen thätig zu sehen. Und dies Ideal seines Wesens hat Lassalle in jenen Zeilen gemalt.

Das Stück enthält auch gewissermaßen noch eine Ahnung von seinem plötzlichen Ende. Marie fragt Ulrich, als sie ihn hoffnungslos in Betreff seiner Zukunft sieht, ob er denn nicht an eine höhere Fügung glaube, welche den Sieg des Guten fördere. Er antwortet:

»Das große Ganze kann auf sie wohl bauen.
In eigner Weisheit planvoll sich verschlingend,
Führt es sich seinem eignen Ziele zu,
In allen Windungen sich nie verlierend.
– – – – – – – –
Der Einzelne steht auf des Zufalls Pulvermine,
Auffliegend sprengt sie in die Lüfte ihn.«

Es liegt eine wahre und bittere Lebensphilosophie in diesen Worten, bitter für jeden Einzelnen, wahr für Alle, aber am wahrsten für Den, welcher, wie Lassalle, selbst Minen legt und unterminirte Schanzen stürmt.

Mit diesen, fast selbstbiographischen Zügen des Stückes wird der, welcher die Persönlichkeit des Verfassers studirt, die Züge, welche seine historische und politische Grundanschauung enthalten, nahe verwandt fühlen. Schon in seiner »Assisenrede« hatte Lassalle geschildert, wie die innere Bewegung der Gemüther, die in Wirklichkeit den Entwicklungsgang der Geschichte beherrscht sich nicht durch Maßregeln unterdrücken lasse, die bloß ihre äußeren Symptome treffen: »Lange bevor Barrikaden in der äußern Welt sich erheben können, muß im Innern der Bürger der Abgrund gegraben sein, welcher die Regierungsform verschlingt,« und hiermit übereinstimmend spricht Franz von Sickingen zu Kaiser Karl das gewichtige Wort, er möge seine Macht nicht überschätzen, denn »er könne nur beschleunigen – nicht verhindern, nur gestalten – nicht unterdrücken.« Hier hat man die Grundlage von Lassalle's historischem Glauben, in ein politisches Axiom umgesetzt; jede theoretische Ueberzeugung nahm bei ihm ja stets eine praktische Form an. Auf dieser seiner Ueberzeugung von einem unwiderstehlich fortstrebenden geschichtlichen Strome beruht sein Abscheu vor allen kleinen diplomatischen Ränken, allen halben Maßregeln und aller Verstellung. Als Karl mit der Reformation unterhandeln will, antwortet Franz: »Mit der Wahrheit ist kein Unterhandeln! Ihr könntet eben so wohl mit der Feuersäule unterhandeln wollen, die vor dem Volke Israel einherzog;« und als Franz später seine Truppen ausdrücklich zum Kriegszuge gegen die Stadt Trier entbietet, um so unbemerkt sein Heer sammeln zu können, das sich gegen alle anderen Fürsten verwenden ließe, wirft Balthasar, der weitschauendste Politiker des Stückes, ihm die Thorheit dieser Schlauheit vor. »Wen täuschest Du?« fragt er. »Nicht Deine Feinde; denn wie sehr ein Mensch sich auch verstellt, sein Feind hat's bald heraus was er sinnt und will; der Lebenstrieb in ihm wittert schnell die Pläne Dessen, welcher ihm mit Untergang droht. Die Fürsten also hast Du nicht getäuscht; mit sicherem Instinkte sah ihr Haß in Dir den geschworenen Feind ihres Standes, und sie glaubten nicht an die Fabel solcher geringen Fehde. Nur Deine Freunde hast Du sorglich getäuscht und hintergangen; sie glaubten Dir aufs Wort, für sie bedeutete jene Fehde nur den geringen Handel, für welchen Du sie ausgabst, und sie unterstützten Dich nicht. Nein, wolltest Du losschlagen, so war's besser, Du erhobst Dich offen gegen Kaiser Karl, Du schriebst Umformung der Kirche und des Reichs mit großen Zügen lesbar auf Dein Banner, ja besser selbst, Du riefst kraft des Rechtes, das Dein Zweck Dir gab, Dich zum Kaiser aus und entfesseltest die gebundenen Kräfte der Nation, als daß Du so Versteck mit Deinen Freunden spieltest, ohne einen einzigen Deiner Feinde zu bethören.

O, nicht der Erste seid Ihr, werdet nicht
Der Letzte sein, dem es den Hals wird kosten,
In großen Dingen schlau zu sein. Verkleidung
Gilt auf dem Markte der Geschichte nicht,
Wo im Gewühl die Völker Dich nur an
Der Rüstung und dem Abzeichen erkennen.
Drum hülle stets vom Scheitel bis zur Sohle
Dich kühn in Deines eignen Banners Farbe.
Dann probst Du aus dem ungeheuren Streit
Die ganze Triebkraft Deines wahren Bodens
Und stehst und fällst mit Deinem ganzen Können!
Nicht daß Ihr stürzet, ist das Schrecklichste –
Daß, wenn Ihr stürzt, Ihr hinsinkt in der Blüthe
Der unbesiegten, ungebrauchten Kraft, –
Das ist es, was ein Held am schwersten trügt.«

Die in dieser Replik ausgesprochene politische Grundanschauung hat Lassalle sein ganzes ferneres Leben hindurch geltend gemacht und befolgt. Sie ist es, die ihn wider die »Fortschrittspartei« jener Zeit erbitterte, als diese während ihres Kampfes gegen das Ministerium meinte, die Regierung werde, wenn man ihr nur beständig einrede, daß sie konstitutionell sei, es endlich selbst einräumen oder selbst daran glauben. »Sie wollen,« rief er aus, »Was nun?« S. 24. Vgl. »Offenes Antwortschreiben,« S. 5. »die Regierung umlügen. Aber alle reellen Erfolge im Leben wie in der Geschichte lassen sich nur erzielen durch reelles Umarbeiten und Umackern, nie durch Umlügen!« Dieselbe Anschauung war es, welche fast augenblicklich, als Bismarck ans Ruder kam und während die Luft voll Verwünschungen gegen ihn erscholl, Lassalle einzig und allein den Mann der Zukunft in ihm erblicken und ihn mit vollkommener Sicherheit weissagen ließ, was Bismarck thun würde. Des Hochverraths angeklagt, weil er durch Agitation für das allgemeine Wahlrecht die Verfassung habe stürzen wollen, ruft er am 12. März 1864 seinen Richtern zu (»Hochverrathsproceß«, S. 44): »Nun wohl, meine Herren, obwohl ein einfacher Privatmann, kann ich Ihnen sagen: ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt! ... Es vergeht vielleicht nicht ein Jahr mehr, so ist das allgemeine Wahlrecht oktroyirt. Die starken Spiele, meine Herren, können gespielt werden, Karten auf dem Tisch! Es ist die stärkste Diplomatie, welche ihre Berechnungen mit keiner Heimlichkeit zu umgeben braucht, weil sie auf erzene Nothwendigkeit gegründet sind. Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte: es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen – und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peel's gespielt und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyirt!« Wie bekannt, erfüllte Bismarck diese Prophezeiung alsbald nach dem Kriege mit Oesterreich hinsichtlich des neugeschaffenen norddeutschen Bundes.

Wir haben also die allgemeinen politischen Grundsätze gesehen, welche das Stück enthält, – Grundsätze, welche dem Verfasser desselben tief eigenthümlich sind. Bei seiner speciell deutschen Politik ist hier nicht der Ort zu verweilen. Ich will nur bemerken, daß sie ohne Einschränkung die jetzt herrschende ist; glühender Unwille gegen die kleinen Fürsten und gegen alle Kleinstaaten – »die Zugluft der Geschichte«, sagt Franz, »kann nicht durch solche Landparcellen streichen«; so dann ein tiefer Zorn über die Verdummung des Volks unter der Priesterherrschaft, Haß gegen Rom, und als Ziel: ein protestantischer Kaiser an der Spitze des deutschen Reichs.

9.

Gerade zur selben Zeit, als Lassalle seinen »Franz von Sickingen« erscheinen ließ, fand er sich zum ersten und letzten Male in seinem Leben veranlaßt, öffentlich (wiewohl ausnahmsweise anonym) seine Ansichten über die von Preußen zu verfolgende äußere Politik zu entwickeln. Der italienische Krieg war erklärt, eine mächtige Gemüthsbewegung erschütterte Europa, und die öffentliche Meinung war eben so desorientirt wie leidenschaftlich erhitzt, und schrie Krieg gegen Louis Napoleon, um seinen Angriff auf Oesterreich zu strafen, das als deutsches Stammland um jeden Preis unterstützt werden müsse. Italiens gerechte Sache und Preußens politisches Interesse wurden mit gleichem Leichtsinn um einer blinden und thörichten Gefühlspolitik willen hintan gesetzt. Unter diesen Verhältnissen schleuderte Lassalle seine Broschüre »Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens; eine Stimme aus der Demokratie« in die Welt. Er zeigt hier zuerst, daß die Demokratie nicht ohne Verrath an ihrem eignen Programme das Princip der freien Nationalitäten mit Füßen treten könne. Er beweist, wie thöricht es sein würde, aus Haß gegen Napoleon III. sich dazu hinreißen zu lassen, ihn auf einem Punkte zu bekämpfen, wo er – gleichgültig aus welchen Motiven – eine Sache in die Hand genommen habe, die für ihn selbst am gefährlichsten werden müsse. Er entwickelt sodann, daß Napoleon, schwankend, wie er dastehe, getheilt und zersplittert in all' seinen Zwecken, alliirt mit Victor Emanuel und den Papst stützend, für die Volksfreiheit kämpfend, um seine eigene Tyrannei zu stärken, der Demokratie lange nicht so gefährlich sei, wie Oesterreich; denn Oesterreich bedeutete damals »ein in sich selbst festes, konsequentes, reaktionäres Princip«. Und endlich trifft er den Nagel auf den Kopf durch den klaren Nachweis, wie die politischen Folgen des italienischen Krieges nur Preußen und Deutschland zu Gute kommen können. Weshalb? Weil Oesterreichs Niederlage ja eben die Hindernisse für Deutschlands Einheit beseitigen wird, an denen die Revolution von 1848 und die deutschen Einheitbestrebungen jener Zeit so elend zu Grunde gingen. Denn was nützte es, daß die Revolution damals den deutschen Bund aufhob, den man naiv für die Ursache der Zersplitterung hielt, wenn sie die wahre und innere Ursache der Zersplitterung, das Gleichgewicht zwischen der realen Machtstellung der beiden großen deutschen Staaten nicht aufhob. Der Zwiespalt beruhte ja nicht auf einer schlecht redigirten Verfassung, sondern auf den wirklichen Machtverhältnissen. Und dem Gleichgewicht zwischen der Stärke dieser Staaten den ersten Stoß zu geben, dahin mußte der italienische Krieg, den Sieg Frankreichs vorausgesetzt, unvermeidlich führen. »An dem Tage, wo der Sonderstaat Oesterreich vernichtet ist, erblassen zugleich die Farben auf den Schlagbäumen Baierns, Württembergs etc. An diesem Tage ist Deutschland konstituirt,« sagt Lassalle. Und mit einem bewunderungswerthen Seherblick, der in Wirklichkeit nur auf einem tief eindringenden Verständniß aller faktischen Verhältnisse beruht, weissagt nun Lassalle, ungestört von den ganz andersartigen Träumereien und Neigungen der Volksstimmung, unberührt von den direkt entgegengesetzten Vorhersagungen und Drohungen der Tagesblätter, Alles, was kommen wird – und Alles, was gekommen ist: daß Frankreich Savoyen annektiren, und daß Italien sich gegen Napoleon's Wunsch als ein einziger Staat konstituiren werde. Weiter fordert er, daß Preußen Oesterreich aus dem deutschen Bunde stoße und schließlich das deutsche Kaiserreich proklamire. Als der Friede von Villafranca geschlossen war, unternahm Lassalle eine Reise nach Italien, verweilte mehrere Tage bei Garibaldi auf Caprera, und soll ihn haben bewegen wollen, einen Freischaarenzug gegen Oesterreich zu unternehmen, um auf diesem Wege die Einheit Deutschlands herbeizuführen. Für sein eigenes Land etwas so Großes zu vollbringen, wie Garibaldi für sein Vaterland vollbracht hatte, hat – seltsam genug – vielleicht in sanguinischen Augenblicken zu Lassalle's Zukunftsträumen gehört. Vorläufig zog er sich, als in der Politik Alles wieder still war, in sein Studirzimmer zurück, arbeitete sein »System der erworbenen Rechte« aus, und gab jetzt, 1861, mit zwei großen theoretischem Werken hinter sich, in seiner vollen Manneskraft, sechsunddreißig Jahre alt, einen nothgedrungenen Zuschauer des Wenigen ab, was in der Außenwelt geschah. Es war ein Jahr vor Bismarcks Uebernahme des auswärtigen Amtes, und die auswärtige Politik lag brach. Die sociale Frage, welche noch weit mehr als alle politischen die Seele des jungen Gelehrten erfüllte, war seit 1849 in Deutschland vollständig von dem Schauplatze verschwunden. Die alte demokratische Partei existirte nicht mehr. Mit der Leidenschaft, welche Lassalle in Allem auszeichnete, was er ergriff, vertiefte er sich jetzt immer eifriger in die Staatsökonomie, die er seit seiner frühesten Jugend gepflegt hatte, und durch deren gründliches Studium er allein in Uebereinstimmung mit seinen praktischen Anlagen eine Reihe wissenschaftlicher Forschungen krönen konnte, die von der Metaphysik im grauen Alterthum ausgegangen waren und von diesem Ausgangspunkte sich, tief einwühlend, historisch und philosophisch den Weg zur modernsten Politik und Statistik gebrochen hatten. Zu gleicher Zeit sah er Mittel zur Lösung der großen socialen Probleme vorgeschlagen, die nach seiner Ueberzeugung durchaus nicht hinreichten, den Nothständen abzuhelfen. Ein tiefes Mitleid brannte in seiner Seele. Unbenutzte Fähigkeiten schlummerten in ihm; er war zum Tribunen geschaffen, und er hatte jetzt länger als ein Jahrzehnt nicht geredet. Ausgerüstet mit allen Gaben, die zum Handeln erforderlich sind: mit Geistesgegenwart, Sicherheit im Auftreten, Entschlossenheit, Herrschaft über Andere, einem seltenen Organisationstalente, und mit einer Welt ungelöster Aufgaben vor sich, sah er sich darauf angewiesen, die Hände in den Schooß zu legen. Er hatte versucht, die Mächtigen durch seine Stimme zu wecken, vielleicht einen Augenblick gehofft, Preußen zur That schreiten zu sehen, um auf dem von ihm angedeuteten Wege zu verwirklichen, was er für dessen Aufgabe und nothwendiges Ziel hielt. Er hatte versucht, die Hochstehenden zu bewegen, » flectere superos«, aber seine Stimme hatte sich unter so vielen verloren. Seine gesellschaftliche Stellung und seine Vergangenheit schlossen ihn für immer davon aus, als Gewalthaber von Oben herab Etwas für seine Ideen und für das Wohl des Volkes zu vollbringen. Wieder und wieder mußte daher in ihm der Gedanke aufsteigen, ob es ihm nicht gelingen könnte, die jetzt zwölf Jahre lang von der Politik ausgeschlossenen Massen für die politische Aktion zu organisiren und zu discipliniren. Was müßte sich nicht von unten her durchsetzen lassen! Hieß es nicht schon bei Virgil: »Kann ich Die dort Oben nicht erweichen, so will ich die Unterwelt in Bewegung setzen!« – Da kam die preußische Konfliktszeit, und der Streit über die Militärorganisation stellte Regierung und Kammer einander absolut feindlich gegenüber. Nach Lassalle's Ansicht blieb der ersteren nicht Anderes übrig, als an die Arbeiter als Stand zu appelliren. Von einem direkten Einfluß auf diese Regierung, und damit auf die politische und sociale Entwicklung, war Lassalle völlig ausgeschlossen; zwischen ihr und ihm lag die ganze Kluft zwischen junkerlicher Reaktion und revolutionärem Radikalismus. Aber war er von einem indirekten Einflusse ausgeschlossen, wenn er, ohne sich einen unnöthigen Feind zu schaffen, ohne die Monarchie im Allgemeinen oder die Dynastie oder die Regierungsform oder das Nationalgefühl oder die Religion oder das Erbrecht anzugreifen, den sogenannten vierten Stand seinem demüthigen Zustand entrisse, und ihn zum Kampfe für sociale und politische Gleichberechtigung (nicht Gleichheit) mit den übrigen Klassen erweckte? Nein, keineswegs. Was Wunder denn, wenn er, grollend wie Achilleus in seinem Zelte, manchen Tag und manche Nacht die Worte Virgil's in seinem stillen Gemüth wälzte:

Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo.


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