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Der Geist

Es war zehn Uhr abends, als Anatole vor dem verrufenen Hause ankam, in dem es spuken sollte. Er war ein tapferer junger Mann und ganz darauf vorbereitet, den größten Gefahren zu begegnen und das außerordentlichste Abenteuer zu bestehen.

Dank der ihm gemachten Beschreibungen erkannte er das Haus ohne Mühe; es lag in einer kleinen verödeten Straße und war von einem Garten umgeben, dessen hohe Mauern es von den Nachbarhäusern isolierten. Vor der Türe war eine Tafel angebracht, auf der mit großen Buchstaben die Worte: »Zu vermieten« geschrieben standen. Es schien jedoch, als ob keiner geneigt wäre, von dieser Mitteilung Gebrauch zu machen.

»Hier ist es,« sagte Anatole, der ein wenig aufgeregt zu sein schien und alles mit scharfem Blicke prüfte. »Hier ist es! Ich werde mir nichts vorschwindeln lassen.«

Er hatte einen Schlüssel zu der über der Freitreppe befindlichen Türe. Er öffnete und betrat den großen Hausflur, auf dem er sich beim Lichte eines Wachsstreichhölzchens behutsam zu einer Steintreppe vorwärts tastete.

»Es soll in dem großen, rechts gelegenen Raume der ersten Etage sein,« murmelte er, während er behutsam die Treppen hinaufschritt. »Dort ist, wie es scheint, der Ort ihres Stelldicheins. Gehen wir also dorthin. Sie irren gewaltig, wenn sie denken, uns mit ihren Taschenspieler- und Gauklerstücken Angst machen zu können.«

Er hatte die erste Etage erreicht und bemühte sich, beim letzten verglimmenden Scheine seines Wachslichtchens die kupferne Klinke einer rechts befindlichen Türe niederzudrücken.

»Herein,« rief ihm da plötzlich aus dem Innern des Zimmers eine freundliche Stimme entgegen.

»Halt, da ist jemand,« murmelte Anatole ganz erstaunt und öffnete die Tür.

Das große, höchst behaglich eingerichtete Zimmer wurde durch den hellen Schein eines in einem großen Kamin brennenden Feuers, sowie durch das Licht zweier auf dem Tisch stehender Armleuchter freundlich erhellt. Auf dem mitten im Zimmer stehenden Tische waren Likörflaschen und Gläser aufgestellt, während ein alter, sehr gut gekleideter Herr mit kahlem Kopfe bequem in einem grünen Sessel ruhte und sich die Füße am Feuer wärmte. Er hielt ein auseinander gefaltetes Zeitungsblatt in den Händen und blickte über seine Brille wegsehend, Anatole freundlich entgegen. Neben ihm auf einem Stuhle stand ein hoher Hut, in dem ein Seidentuch und Handschuhe steckten; daneben lag ein Stock mit silbernem Knopfe. Sein Überzieher hing über der Lehne des Stuhles. Der alte Herr rauchte eine Zigarre und blickte den etwas verlegen eintretenden jungen Mann lächelnd an.

»So kommen Sie doch näher, mein lieber Herr Donore,« sagte er zu Anatole.

»Halt, er kennt mich, wer mag das wohl sein?« dachte dieser, ein wenig verwirrt nähertretend.

»Setzen Sie sich doch, bitte,« sagte der alte Herr.

»Danke,« und Anatole nahm auf dem anderen vor dem Tische stehenden Sessel Platz, der seiner zu harren schien.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe,« fuhr er fort, »ich wußte nicht ... In der Tat, man erzählt sich, und Sie haben doch auch ganz gewiß davon gehört, daß es in diesem Hause spukt, und da es meinem Freunde Pont gehört – Sie kennen Herrn Pont?«

»Sehr gut,« sagte der alte Herr, »sehr gut, aber nehmen Sie doch ein Gläschen Kognak?«

»Dann«, sagte Anatole, »wundert es mich nur, daß ich Sie niemals dort getroffen habe. Nein, danke, ich nehme keinen Zucker in den Kognak. – Und wie kommen Sie hierhin?«

»Eine Zigarre?« bot der alte Herr freundlich an und schob Anatole das Kistchen zu.

»Sehr gern. Nicht wahr, ich sagte Ihnen schon, daß ich hierher gekommen bin, weil man mir erzählt hat, es spuke in diesem Hause? ... Pont hat es mir übrigens nicht mitgeteilt, daß wir die Nacht zu zweien verbringen würden ... Ich bin übrigens sehr erfreut darüber,« fügte er hinzu, sein Glas leerend und sogleich wieder füllend, denn der Kognak war vorzüglich und Anatole war geistigen Getränken durchaus nicht abhold. »Haben Sie mich vielleicht hier erwartet?«

»Ja,« sagte der andere.

»Nun, ich finde, daß Pont mich davon hätte benachrichtigen können,« meinte Anatole, eine Zigarre ansteckend, »wirklich, das finde ich.«

»Aber er hat es doch getan,« sagte der alte Herr ruhig.

»So? Nun, jedenfalls habe ich keine Botschaft von ihm erhalten – – und, das ist eigentlich etwas peinlich für mich, denn ich komme mir hier beinahe wie ein Eindringling vor ...«

»Aber keineswegs, ganz gewiß nicht.«

Und der alte Herr lächelte noch liebenswürdiger wie vorher.

»Doch ganz gewiß,« erklärte Anatole würdevoll, »es ist peinlich – wenn man einander nicht kennt – –« Er machte eine kleine Pause in der Hoffnung, daß der andere sich nun vorstellen würde. Dies geschah jedoch nicht und Anatole leerte, um seine Verlegenheit zu verstecken, sein Glas und füllte es wieder.

»Ausgezeichnet,« sagte er, »ganz ausgezeichnet – aber da wir uns beide zum Zwecke einer wissenschaftlichen Untersuchung hier zusammengefunden haben, erlaube ich mir, Sie zu fragen, was Sie denn über die Gespenstergeschichten denken, die man über dieses Haus erzählt? Man hat mir besonders von dem spukhaften Erscheinen eines alten Dummkopfes, eines früheren Mieters zu berichten gewußt. Ganz gewiß ist, daß dies Haus sehr im Verrufe steht und sich daher nicht vermieten läßt. Ebenso steht fest, daß alle, die es versucht haben, eine Nacht darin zu verbringen, wie das jetzt unser Vorhaben ist, es nicht zum zweiten Male gewagt haben. Aber was ist der Grund all dieses Geredes? Weshalb spukt es in diesem Hause und was für ein Geist geht darin um?«

»Ich,« sagte ruhig der alte Herr, Anatole über seine Brillengläser weg ansehend.

»Sie,« rief Anatole bestürzt, »Sie scherzen wohl?«

»Nein,« sagte der alte Herr, »das ist kein Scherz. Es ist Wahrheit. Ich bin es, den Sie eben erst den Geist eines alten Dummkopfes und früheren Mieters genannt haben.«

»Teufel ... Teufel auch,« murmelte Anatole, in sein Glas sehend.

»Nein,« sagte der alte Herr.

»Wieso, nein,« fragte Anatole.

»Nein, ich bin nicht der Teufel; ich bin ein Gespenst, wenn Sie so wollen, ein Phantom, ein Schatten, ein Geist – alles, wie es Ihnen gefällt – aber ich bin nicht der Teufel.«

»Das ... das gefällt mir nicht,« gestand Anatole beunruhigt. »Außerdem verstehe ich nicht – – –«

Er nahm abermals seine Zuflucht zu einem Gläschen Kognak.

»Sie werden bald genug verstehen,« sagte das Gespenst herablassend. »Ich habe vor etwa fünfzehn Jahren, als ich noch sehr lebendig war, dies kleine Haus gemietet und elf Jahre darin gewohnt. Vor vier Jahren bin ich gestorben. Da bin ich natürlich in eine andere Welt eingetreten, in der ich jedoch aus persönlichen Gründen nicht dauernd bleiben konnte. Ich bin deshalb hierhin zurückgekehrt; um aber hier in Ruhe bleiben zu können, bin ich gezwungen gewesen, den Leuten, die es sich einfallen ließen, hier wohnen zu wollen, Angst einzujagen.«

»Ich ... ich ... verstehe,« sagte Anatole.

»Das wundert mich nicht,« sagte der Geist, »da Sie wirklich sehr intelligent sind und das ist auch der Grund, weshalb ich geglaubt habe, Sie freundschaftlich und ohne Umstände empfangen zu können und daß ich es mir Ihnen gegenüber sparen könnte, mit Ketten zu klirren und Feuerzauber wirken zu lassen, mit dem man alte Weiber in Schrecken versetzt. Sie trinken aber gar nicht.«

»Doch, doch,« sagte Anatole, sein Glas mit einer Mischung von Kirsch und Chartreuse füllend. »Aber verzeihen Sie die Frage: Sie sagten, Sie hätten in der anderen Welt nicht bleiben können – aber weshalb konnten Sie dies nicht?«

»Ich glaube schon bemerkt zu haben, daß dies eine persönliche Angelegenheit gewesen,« bemerkte der Geist zurückhaltend. »Dennoch will ich Ihnen als Ehrenmann unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilen, was es damit für eine Bewandtnis hat. Ich starb also, nicht wahr, und man gab mir da natürlich eine Eintrittskarte für das Paradies, denn ich bin mein ganzes Leben lang ein gerechter und tugendhafter Mann von reinen Sitten gewesen, der sich treulich der Witwen und Waisen angenommen hat. So kam ich also in das Paradies ... Und ...«

»Und?« fragte Anatole, sein Gegenüber mit Augen anstarrend, die infolge des reichlich genossenen Alkohols sich mit Tränen zu füllen begannen.

»Und«, sagte der liebenswürdige Geist lächelnd, »ich fand sehr bald, daß ich es im Paradies einfach nicht aushalten konnte. Es wurde da immerfort musiziert, verstehen Sie wohl, es gab Musik vom Morgen bis Abend und vom Abend bis Morgen, Musik bei Tag und bei Nacht und allezeit, ohne Gnade und Barmherzigkeit. Dabei immer nur klassische Musik! Wenn man wenigstens mal eine Oper gehört hätte, ach, die schlechteste Oper mit den minderwertigsten Sängern, die meinetwegen auch noch falsch gesungen hätten! Es wäre doch mal eine Abwechslung gewesen. Dazu dann erst dies Publikum! Es gab nur streng tugendhafte Leute da, deren Ehrbarkeit so intakt war, daß man davor hätte fliehen mögen – gleichviel wohin. Ich habe mich da meines eigenen tugendhaften Lebenswandels schämen gelernt. Ich habe es ertragen, so gut ich konnte, vier Monate und acht Tage lang, da ging es nicht mehr und ich habe Fersengeld gegeben. Als St. Petrus mir die Himmelspforte aufgeschlossen, da habe ich ihm wohl angesehen, wie gern er meinem Beispiele gefolgt wäre, und als ich herausging, sagte er in traurigem, neiderfüllten Tone:

»Sie haben genug davon, was? ... Sie machen sich davon. Ich wollte nur, daß ich das auch tun könnte. Diese verdammte heilige Musik! Volle achtzehnhundert Jahre habe ich das Gedudel nun schon anhören müssen.«

»Na, und ich bin dann zur Hölle herabgestiegen.«

Anatole, der sich gerade einen in Eis gekühlten Kümmel zu Gemüte geführt hatte, spitzte die Ohren. »Nun und ist es in der Hölle amüsant?«

»Das will ich meinen,« sagte das Gespenst bitter, »sogar sehr amüsant. Aber – natürlich – es ist da auch nicht ein Platz mehr frei. Alles überfüllt. Ich hatte eine sehr gute Empfehlung und habe mich bemüht, eine Stelle als Unterteufel zu bekommen, aber der Chef des Personals hat mir ganz offen gesagt, daß ich nicht darauf rechnen könne. Es haben sich 11 780 212 Kandidaten vor mir dazu gemeldet, ohne von denen zu sprechen, die die ersten berechtigtsten Ansprüche auf Anstellung haben. Es warten noch drei Päpste und siebzehn Könige, wovon zwei Neger sind, darauf. Damit ist alles gesagt.«

»Da hast du recht,« sagte beifällig Anatole, der immer eifriger dem Kümmel zusprach und anfing zärtlich zu werden.

»Ja,« fuhr der arme Geist fort, »da ich also durch die Musik aus dem Paradiese vertrieben worden und in der Hölle keinen Platz finden konnte – –«

»Aber das Fegefeuer?« warf Anatole ein.

»Das ist seit langer Zeit geschlossen,« sagte der andere. »Es haben sich da ganz unmögliche Dinge zugetragen. – Sehen Sie, mir blieb wirklich nichts anderes übrig, als auf die Erde zurückzukehren und da bin ich eben in meine alte Behausung eingekehrt, die ich nun schon gegen so viele Idioten, die durchaus darin wohnen wollten, tapfer verteidigt habe.

Ich bin gezwungen gewesen, die alleralbernsten Farcen aufzuführen, nur um mir ein wenig Ruhe zu verschaffen. Ich bin einer alten Dame, die hier eingezogen ist, als Skelett mit einem von schwarzen Schleiern umwallten Totenschädel erschienen und habe sie so in Furcht gejagt, daß sie selbst gestorben ist. Einen praktischen Arzt, der sich als Freigeist aufspielte, habe ich durch Kettengerassel und durch feurige Schriftzeichen, die ich auf der Wand erscheinen ließ, zu verjagen gewußt. Man hat ihn schwer erkrankt von hier fortgebracht. Es ist wahr, daß das, was ich auf die Wand geschrieben, dazu angetan war, ihn mit Schrecken zu erfüllen. Dann ist ein phlegmatischer Engländer hier eingezogen, der der Sache auf den Grund gehen wollte und mich überall hin, sogar bis auf den Speicher verfolgte. Ich habe hartnäckig seine Kerze ausgeblasen und alle Türen vor ihm lautlos weit aufgerissen. Da verließ ihn sein Phlegma bald und er machte sich aus dem Staube. Darauf zog ein alter Oberst mit seiner musikalischen Tochter hier ein. Ich flüsterte dem jungen Mädchen, sobald es sich an das Klavier setzte, die tollsten Dinge in das Ohr und riß den Vater, wenn er sich zu Bette legte, an den Füßen heraus. Sie haben sich ebenfalls sehr bald fortgemacht. – Sie werden einwerfen, daß das banale abgedroschene Farcen seien, aber sie strengen weiter nicht an und ziehen immer noch. Auf diese Weise ist es mir denn gelungen, mir wirklich nach und nach ein wenig Ruhe zu verschaffen und wenn ich Ihnen dies alles heute abend erzähle, so geschieht es, weil ich Sie für sehr intelligent halte – obgleich Sie ja jetzt ein wenig angetrunken sind.«

»Ich habe nichts getrunken,« sagte Anatole beleidigt.

»Intelligent, obwohl augenblicklich etwas betrunken,« fuhr das Gespenst fort, »mein Zweck dabei ist, Sie zu veranlassen, Herrn Pont davon zu überzeugen, daß sein Haus wirklich unbewohnbar ist, wegen der Geister, die darin umgehen.«

»Es ist nicht wahr,« sagte Anatole vertraulich werdend, »du bist kein Geist.«

»Wieso?« sagte das Gespenst.

»Nein,« erklärte Anatole, der so betrunken war, daß er kaum noch reden konnte, »nein ... Gespenster ... die sind nicht wie du ... Die machen Angst ... du aber ... du machst mir keine Angst.«

»Ich mache dir keine Angst,« sagte das Gespenst ärgerlich, »du dummer Bengel –«

»Nein,« stotterte Anatole, »nicht die geringste Angst ... Aber ... du darfst mir keine Grobheiten sagen ... nein ... das ... das tut mir weh. Du bist ein wenig betrunken, sonst aber wirklich ganz nett.«

»Welch ein Dummkopf,« murmelte das Gespenst. »Es ist ein ebensolcher Idiot, wie die anderen auch. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm die gewohnten Hanswurstereien vorzumachen.«

Und plötzlich verlöschten die Kerzen der Armleuchter und das Feuer im Kamin. Jedes, auch das kleinste Geräusch verstummte und Totenstille herrschte ringsumher. Vor Anatole aber erhob sich drohend die Gestalt des alten Herrn, der riesenhafte Verhältnisse angenommen hatte und mit dem Kopfe bis zu der Decke des Zimmers ragte; dieser Kopf aber hatte kein menschliches Aussehen mehr, es war das eines Ungetüms mit weit vorstehenden furchtbaren Zähnen und mit feurigen Augen, die wie Irrlichter durch den unheimlichen, das Gemach erfüllenden Nebel leuchteten.

Anatole, der plötzlich nüchtern geworden, stand einen Augenblick stumm, mit gesträubtem Haar und von Entsetzen überwältigt da.

Der Geist aber streckte seine leichenfarbenen, mit langen Fühlfäden versehenen Hände drohend nach ihm aus.

Anatole, der sich von einem namenlosen Grauen erfüllt fühlte, schrie laut auf vor Furcht und versuchte so schnell wie möglich den Ausgang zu gewinnen.

Er prallte gegen den Kamin, verletzte dann seine Schulter an der Ecke des Büfetts und sprang, da er die Türe nicht finden konnte, endlich durch das Fenster. Auf diese Weise gelang es ihm ja ziemlich schnell, die Straße zu erreichen, wo er jedoch ohnmächtig liegen blieb. Er kam mit einem Schenkelbruch und verschiedenen ernsten Kontusionen davon.

»Wenn ich bedenke,« murmelte der Geist des alten Herrn, der wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte, »wenn ich bedenke, daß man doch immer wieder zu diesen abgedroschenen alten Farcen zurückgreifen muß! Dabei wird behauptet, die Menschen seien skeptisch geworden!«


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