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Bleib doch, Giraffe

Er stand auf dem windüberheulten nachtleeren Bahnsteig in der großen grauverrußten mondeinsamen Halle. Nachts sind die leeren Bahnhöfe das Ende der Welt, ausgestorben, sinnlos geworden. Und leer. Leer, leer, leer. Aber wenn du weitergehst, bist du verloren.

Dann bist du verloren. Denn die Finsternis hat eine furchtbare Stimme. Der entkommst du nicht und sie hat dich im Nu überwältigt. Mit Erinnerung fällt sie über dich her – an den Mord, den du gestern begingst. Und mit Ahnung fällt sie dich an – an den Mord, den du morgen begehst. Und sie wächst einen Schrei in dir an: niegehörter Fischschrei des einsamen Tieres, den das eigene Meer überwältigt. Und der Schrei zerreißt dein Gesicht und macht Kuhlen voll Angst und geronnener Gefahr darin, daß die andern erschrecken. So stumm ist der furchtbare Finsternisschrei des einsamen Tieres im eigenen Meer. Und steigt an wie Flut und rauscht dunkelschwingig gedroht wie Brandung. Und zischt verderbend wie Gischt.

Er stand am Ende der Welt. Die kalten weißen Bogenlampen waren gnadenlos und machten alles nackt und kläglich. Aber hinter ihnen wuchs eine furchtbare Finsternis. Kein Schwarz war so schwarz wie die Finsternis um die weißen Lampen der nachtleeren Bahnsteige.

Ich hab gesehen, daß du Zigaretten hast, sagte das Mädchen mit dem zu roten Mund im blassen Gesicht.

Ja, sagte er, ich hab welche.

Warum kommst du dann nicht mit mir? flüsterte sie nah.

Nein, sagte er, wozu?

Du weißt ja gar nicht, wie ich bin, schnupperte sie bei ihm herum.

Doch, antwortete er, wie alle.

Du bist eine Giraffe, du Langer, eine sture Giraffe! Weißt du denn, wie ich ausseh, du?

Hungrig, sagte er, nackt und angemalt. Wie alle.

Du bist lang und doof, du Giraffe, kicherte sie nah, aber du siehst lieb aus. Und Zigaretten hast du. Junge, komm doch, es ist Nacht.

Da sah er sie an. Gut, lachte er, du kriegst die Zigaretten und ich küß dich. Aber wenn ich dein Kleid anfasse, was dann?

Dann werde ich rot, sagte sie, und er fand ihr Grinsen gemein.

Ein Güterzug johlte durch die Halle. Und riß plötzlich ab. Verlegen versickerte sein sparsames verschwimmendes Schlußlicht im Dunkeln. Stoßend, ächzend, kreischend, rumpelnd – vorbei.

Da ging er mit ihr.

Dann waren Hände, Gesichter und Lippen. Aber die Gesichter bluten alle, dachte er, sie bluten aus dem Mund und die Hände halten Handgranaten. Aber da schmeckte er die Schminke und ihre Hand umgriff seinen mageren Arm. Dann stöhnte es und ein Stahlhelm fiel und ein Auge brach.

Du stirbst, schrie er.

Sterben, jauchzte sie, das wär was, du.

Da schob sie den Stahlhelm wieder in die Stirn. Ihr dunkles Haar glänzte matt.

Ach, dein Haar, flüsterte er.

Bleibst du? fragte sie leise.

Ja.

Lange?

Ja.

Immer?

Dein Haar riecht wie nasse Zweige, sagte er.

Immer? fragte sie wieder.

Und dann aus der Ferne: naher dicker großer Schrei. Fischschrei, Fledermausschrei, Mistkäferschrei. Niegehörter Tierschrei der Lokomotive. Schwankte der Zug voll Angst im Geleise vor diesem Schrei? Nievernommener neuer gelbgrüner Schrei unter erblaßtem Gestirn. Schwankten die Sterne vor diesem Schrei?

Da riß er das Fenster auf, daß die Nacht mit kalten Händen nach der nackten Brust griff und sagte: Ich muß weiter.

Bleib doch, Giraffe! Ihr Mund schimmerte krankrot im weißen Gesicht.

Aber die Giraffe stelzbeinte mit hohlhallenden Schritten übers Pflaster davon. Und hinter ihm sackte die mondgraue Straße wieder stummgeworden in ihre Steineinsamkeit zurück. Die Fenster sahen reptiläugig tot wie mit Milchhauch verglast. Die Gardinen, schlafschwere heimlich atmende Lider, wehten leise. Pendelten. Pendelten weiß, weich und winkten wehmütig hinter ihm her.

Der Fensterflügel miaute. Und es fror sie an der Brust. Als er sich umsah, war hinter der Scheibe ein zu roter Mund. Giraffe, weinte der.


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