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Gerold hatte zunächst kein anderes Programm, als dem Machtbereich der deutschen Justiz zu entkommen. Da er im übrigen der Schonung und Erholung noch dringend bedurfte, wollte er bis auf weiteres an einem der stilleren Plätze der Riviera bleiben, bis er sich stark genug fühlte, die Suche nach Francis aufzunehmen. Er reiste in einem Zuge bis Basel, von wo er an eine erprobte Persönlichkeit die erforderlichen Vollmachten und Weisungen zur Abwicklung aller seiner Geschäfte ergehen ließ. Gleichzeitig ließ er die kaum unterbrochenen Nachforschungen nach Francis' Verbleib vorsichtig wieder aufnehmen. Außer seinem Vertrauensmanne, dem langjährigen Prokuristen seines Hauses, hatte nur Frau von Engern Kenntnis von seinem Aufenthalt. Mit ihr wollte er in Verbindung bleiben, um sofort zu erfahren, wenn Francis ein Lebenszeichen gäbe.

Erst in Genua machte er einen längeren Aufenthalt. Aber gerade hier hatte er eine peinliche Begegnung. Als er eines Tages das Hotel de Ville verließ, stieß er, ohne ausweichen zu können, auf die Laroche, die eben in Monaco ausgeplündert worden war. Sie kannte seine ganze Geschichte, da sie schon seit einem halben Jahre von Amerika zurück war und Berliner Zeitungen mit großem Interesse gelesen hatte. Den ihr damals aufgezwungenen Gatten war sie glücklich los, wie sie sagte. Man hatte ihn drüben auf der Rennbahn auf höchst unsauberen Manipulationen ertappt und für Jahre hinaus unschädlich gemacht.

Gerade um jene Zeit waren die ersten Zeitungsnachrichten über den »Fall Gerold« besonders über die Flucht seiner Gattin zu Helene Laroche gelangt, und sie glaubte, ihren Weizen noch einmal blühen zu sehen. Sie war noch immer ein blendend schönes, elegantes Weib und hielt es für leicht, Gerold wieder einzufangen. Und unbedenklich trat sie die Reise nach Europa an. Ein echt weiblicher Instinkt riet ihr, zunächst nicht nach Berlin zu gehen. Dort war der Konsul von neuem zu gewinnen. Aber er war schwer krank gewesen, er würde nach dem Süden reisen, nach Nizza, bildete sie sich ein. Sie setzte sich in Nizza fest und suchte durch gute Freunde in Berlin herauszubekommen, ob und wann und wohin Gerold fliehen würde. Denn daß er nicht ins Gefängnis ginge, erschien ihr ausgemacht. Aber sie erfuhr nichts – rein nichts. Der Konsul war noch vor kaum einer Woche in Berlin gewesen. Die Behörden dort konnten ihn noch kaum vermißt haben, da das gegen ihn gefällte Urteil erst in diesen Tagen – nach der Reichsgerichtsverhandlung – Rechtskraft erlangt hatte und man ihn vorher nicht zum Antritt seiner Strafe hatte auffordern können.

So hatte auch sie, die Laroche, nichts von seiner Flucht erfahren können. In der langen Wartezeit waren ihre Mittel bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt. Nun blieb ihr kein anderer Ausweg, als doch nach Berlin zu reisen, wenn sie Gerolds habhaft werden wollte. Sie hatte ihre Sachen zunächst bis Genua vorausgeschickt und in Monte Carlo Station gemacht, um, wenn möglich, sich finanziell etwas zu erholen. Aber sie hatte sogar das Reisegeld verspielt und befand sich in Genua eben auf dem Wege zu einem Pfandleiher, als sie – das Glück ist immer mit den Guten! – dem Generalkonsul Gerold in die Arme lief. Gewonnenes Spiel dachte sie und begrüßte ihn mit ihrem strahlendsten Lächeln.

»Niemand entgeht seinem Schicksal,« sagte sie, »auch wenn dies Schicksal noch so schön wäre!«

Er war entsetzt zurückgefahren, hatte es völlig übersehen, daß sie ihm beide Hände entgegenstreckte.

»Nun, Ernst – freust Du Dich weniger über den glücklichen Zufall als ich?«

Er mußte hier auf der lebhaften Straße alles vermeiden, was Aufsehen erregen konnte. So duldete er es, daß sie sich in seinen Arm hing. Kurz entschlossen machte er Kehrt und führte sie in den Speisesaal des Hotels, das er eben verlassen hatte.

Der Kellner brachte den bestellten Wein und ließ die beiden in dem um diese Stunde leeren Saal allein. Noch hatte Gerold nicht ein Wort gesprochen. Er machte auch nicht den Versuch, sie zu unterbrechen, als sie jetzt in ihrer lebhaften Weise hervorsprudelte, was sie seither alles erlebt hatte, und daß sie natürlich nur seinetwegen das herrliche Amerika verlassen hätte.

»Und Du sagst zu alledem gar nichts?« begann sie von neuem, nachdem sie vergeblich auf eine Antwort gewartet hatte. »Bist Du stumm geworden? Oder ist Dir der Schrecken, mich wiederzusehen, so sehr in die Glieder gefahren?«

Gerold ließ seinen Blick durch den menschenleeren Saal schweifen; dann sagte er ruhig und bestimmt:

»Ich befinde mich auf der Flucht ...«

»Das weiß ich,« unterbrach sie ihn, »aber das tut doch nichts. Mit Dir fliehe ich, wohin Du willst.«

»Ich bin auf der Flucht,« wiederholte er unerschüttert, »und ich mußte damit rechnen, daß sich mir irgendwelche Hindernisse in den Weg stellen könnten. Da habe ich mir denn gestern hier, wo ich zum ersten Male einen Tag Aufenthalt nahm, dies hier gekauft« – er zog einen blitzenden Gegenstand aus der Tasche – »diesen Revolver ...«

Ein halberstickter Schrei von ihrer Seite ließ ihn die Waffe wieder einstecken. Dann fuhr er ruhig fort:

»Ich habe mir's geschworen, daß ich mich in dem Augenblick erschieße, wo die Pläne, die ich habe, irgendwie durchkreuzt würden – gleichviel von wem« ... er betonte die letzten Worte. »Von Dir nehme ich gar nicht an, daß Du mir Schwierigkeiten machen willst –«

»Aber im Gegenteil, Ernst ...«

»Lass' mich ausreden! Ich bin auf der Suche nach meiner Frau. Du begreifst, daß wir uns in dieser Stunde zum letzten Male gesehen haben müssen. Du wirst mir sagen, wohin Du zu reisen wünschest – nach Paris, nach Wien, nach Berlin – gleichviel, ich werde Dich zum Zuge begleiten, und wenn ich Dich in dein durchgehenden Wagen weiß, werde ich Dich noch einmal für einige Zeit versorgen ...«

»Mein Gott, Ernst – hast Du denn vergessen ...«

»Ich habe augenblicklich nur an eines zu denken, daß ich mich noch heute einzuschiffen gedenke, nach – nach einem Hafen im Orient.«

»Genug,« unterbrach sie ihn heftig. »Ich habe nicht gefragt, wohin Du willst, mag es auch nicht wissen. Meinetwegen sollst Du nicht lügen! Sollst Dich auch meinetwegen nicht erschießen. Nur hätte ich gedacht, daß – daß ich Dir einmal etwas gewesen bin.«

»Gewiß,« sagte er, »aber inzwischen ist mir eine andere mehr geworden.«

»Nun, das muß ich bekennen, diese andre muß sehr viel mehr sein, als ich! Entweder sehr viel gescheiter, oder so gut, daß ich nicht wert bin, ihren Namen auszusprechen!«

»Du wirst diesen Namen niemals aussprechen,« versetzte er, sich erhebend. »Wohin willst Du reisen?«

»Empörend,« rief sie aus, indem sie sich vor dem großen Spiegel Hut und Schleier feststeckte. –

»Also – damit ich Dir ganz aus dem Wege komme – nach Paris.«

Gerold rief den Kellner, um nach dem Pariser Kurierzuge zu fragen.

»In einer Stunde und zwanzig Minuten, mein Herr!«

Er begleitete sie zum Bahnhofe und besorgte die Expedierung ihres dort lagernden Gepäcks. Es war inzwischen Lunchzeit geworden und sie nahmen gemeinsam eine Mahlzeit ein. Helene war sehr still geworden. Sie kokettierte nicht, lächelte nicht, nippte nur an dem Sektglase.

Jetzt hatte er einige größere Banknoten, fast seine ganze Barschaft, in ein Kuvert gesteckt und schob es ihr diskret hinüber, während eben das Zeichen zum Einsteigen ertönte. Er reichte ihr den Arm und geleitete sie bis zum Wagen, stieg auch noch für eine Minute mit ein. Beim zweiten Glockensignal ergriff sie seine Hand und zog ihn zu sich nieder, bis er die Tränen in ihren Augen sah.

»Ich beneide Deine Frau.« flüsterte sie, »ich würde sie beneiden, auch wenn Du plötzlich ein Bettler werden solltest!« Und sie preßte ihre heißen Lippen auf seine Hand.

Der Zug rollte davon, ohne daß Helene noch einmal zurückblickte. Sie hatte von der Vergangenheit nichts mehr zu hoffen.

Nachdenklich kehrte Gerold in die Stadt zurück. Nicht seine Frau – er war zu beneiden! Denn noch hoffte er, sie wiederzugewinnen.

Er beorderte telegraphisch eine größere Geldsendung nach Bordighera, wo er nun zu bleiben beabsichtigte. Hier konnte man ihn mit Helene gesehen haben. Auch fühlte er sich schwer angegriffen. Er brauchte linde, weiche Luft und Stille. Am nächsten Morgen brach er nach dem Palmenstädtchen auf.

Schon am dritten Tage war ein Wertpaket für ihn auf der Post. Er öffnete es gleich am Schalter – eine fieberhafte Besorgnis hatte ihn ergriffen. Das Paket enthielt außer den verlangten Banknoten und Wertpapieren einige Briefe, die in Berlin für ihn eingelaufen waren, und der erste dieser Briefe – wirklich – die Buchstaben auf der Adresse tanzten – das war Francis' Handschrift. Er hatte es seit Tagen gefühlt, daß das Band, welches sie miteinander verknüpfte, noch nicht zerrissen war. Und doch zitterte er jetzt vor Freude. Das Messerchen, mit dem er das aus England kommende Kuvert aufschneiden wollte, flog nur so hin und her. Er sah noch einmal nach der Adresse: der Poststempel zeigte London West. Und natürlich hatte sie nach Berlin geschrieben. Sie konnte ja von seiner Flucht noch nicht wissen.

Endlich war das Briefchen offen. Es enthielt nur wenige Zeilen:

»Du weißt es ohnehin,« schrieb sie, »daß ich dem Verlauf Deines Prozesses in qualvoller Angst gefolgt bin. Seit heute ist auch die letzte Hoffnung geschwunden: ich lese nun in der Zeitung, daß das Reichsgericht Deine Einwände verworfen hat. So soll sich denn mein schmerzliches Gelübde voll erfüllen – ich soll Dich nicht wiedersehen, bevor Du nicht Deine Schuld gesühnt hast. Auch ich habe diese Strafe verdient. Am Gefängnistore wirst Du Deine reuige Francis finden!«

Er schrie laut auf – die Leute blieben stehen auf der schmalen Strasse, die mit dem stolzen Namen Corso Vittorio Emanuele prunkt. Aber was kümmerten ihn die Leute? Da war ein Brief von ihr, ein warmherziger Liebesgruß von der Stolzen, Unnahbaren, die seit länger als einem Jahre sich seinem sehnsüchtigen Verlangen entzog, die spurlos untergetaucht schien in dem großen Ozean der Menschheit. Und nun tauchte sie auf. Sie war mit ihm gewesen auf diesem ganzen, langen Leidenswege. Sie hatte für ihn gefühlt und gebangt – sie wollte zu ihm zurückkehren, wenn er seine Strafe verbüßt haben würde! Ein Jubel ohnegleichen erfüllte sein Inneres. Er stürmte den »Corso« entlang, hinaus zu den Klippen von Sankt Angelus, um mit sich und seinem Glück allein zu sein. In die tosende, hochaufschäumende Brandung hinein rief er Francis Namen, und immer wieder küßte er das kleine Briefchen, dessen Schriftzüge die hochaufspritzenden Fluten schon zu verwischen drohten.

Ja, wie arm ist doch auch ein reicher Mann! Die Hälfte seiner ganzen Habe hätte er jetzt hergeben mögen für den Zaubermantel aus dem Märchen! Zuerst nach England! Nach London West! Zu ihren Füssen sich ausweinen vor Glückseligkeit. Und dann ohne Zagen und Zaudern direkt hinein in die furchtbare unheimliche Gefängniszelle. O, Du blinder, gottvergessener Narr von einem Advokaten! Würde nicht jetzt die Sonne hineinscheinen in diese düstre Zelle? Und würde nicht jeder Tag, in ihr zugebracht, das Glück, das Leben, eine zweite Jugend ihm um einen Schritt näher bringen? O, Du verräterischer Rechtsverdreher, der mir die Freiheit so wundervoll erscheinen ließ, indem er mir mit grellen Zügen die Unfreiheit, das Gefängnis, ausmalte! Aber Du sollst Deinen Witz an mir vergeudet haben. Mich schreckt das Gefängnis nicht mehr, und läge es tief unter der Erde! ...

Nun saß er in dem palmengeschmückten Garten des »Englischen Hofes«, umweht von dem schweren, süßen Duft der Heliotropen, die zu allen Fenstern hinaufrankten. Eine schmerzliche physische Ermattung war der Exaltation von vorher gefolgt. Er war noch immer Rekonvaleszent; der Prozeß, dann die Leipziger Verhandlung und schließlich diese sinnlos übereilte Flucht, auf der alles und jedes ihn zu verfolgen schien – dies Zusammengenommen hatte seine kaum beruhigten Nerven schwer erschüttert. Selbst der Freudenrausch, dem er sich vor einer Stunde hingegeben, ließ eine bittere Mahnung zurück. Er mußte noch für lange Zeit alles vermeiden, was ihn aufregen konnte. Gerade hatte der Arzt den Garten passiert und ihm dringend angeraten, sich zu schonen, nicht so weite Fußwege zu wagen bis hinaus nach Sankt Angelus.

Und er, Gerold, trug sich ernstlich mit dem Plane, abzureisen, seine Strafe anzutreten! Aber das ging jetzt wirklich nicht an; er würde sich nur zu Grunde richten, würde den Tag der Belohnung gar nicht erleben! Francis hatte offenbar gar keine Ahnung von seinem Gesundheitszustande. Sie mußte im Gegenteil aus seiner Anwesenheit bei der Berliner und bei der Leipziger Verhandlung schließen, daß er vollends wieder hergestellt sei. Es war gar kein Zweifel, sie würde ihm nicht zugemutet haben, sich jetzt preiszugeben!

Wieder las er ihren Brief. Und jetzt erst fiel ihm auf, was er bis dahin unbegreiflicherweise übersehen hatte: es fehlte jeder Hinweis auf Francis Adresse. Nur der Poststempel gab London West an, sonst nichts. Und doch mußte er sich mit ihr in Verbindung setzen, mußte ihr begreiflich machen, daß er zunächst gar nicht anders handeln dürfe, als seine vollständige Genesung abzuwarten.

Er beschloß, sich telegraphisch und brieflich an Freunde und Vertraute in Berlin und London zu wenden, um Francis Aufenthalt zu erfahren. Es entsprach ganz und gar seiner Art, daß auf eine heiße, leidenschaftliche Aufwallung ruhiges, zielbewußtes Handeln folgte.

Nun erst warf er einen Blick auf die übrigen Briefschaften. Da war vor allem der Bericht seines Prokuristen. Die Geschäfte wickelten sich zumeist ohne Schwierigkeiten ab; es gab da wenig, was ihn noch interessieren konnte, bis er in dem Schreiben eines ihm fremden Anwalts zufällig auf den Namen Wilhelm Dietz stieß. Dieser schien mit der Zinszahlung für Frau von Engern im Rückstande geblieben zu sein und war gemahnt worden. An seiner Stelle antwortete der Rechtsanwalt:

»Ihre Zinsforderung an meinen Mandaten, den Möbelhändler Herrn Wilhelm Dietz, beruht offenbar auf Irrtum oder falscher Information. Von den zehntausend Mark, welche Herr von Engern in das Dietzsche Geschäft eingelegt hatte, sind siebentausend siebenhundertundfünfzig Mark in verschiedenen Posten an Herrn von Engern zurückgezahlt worden, wie Sie aus den beifolgend mitgeteilten Quittungsabschriften ersehen. Die Originale dieser Quittungen können Sie in meinem Bureau einsehen. Bezüglich der restierenden zweitausendzweihundertundfünfzig Mark hatte Herr von Engern die Bestimmung getroffen, daß sie in jährlichen Raten von je siebenhundertundfünfzig Mark an Sie gezahlt würden. Dies letztere sei drei Jahre hindurch geschehen, womit alle weiteren aus dem von Engern-Dietzschen Sozietätsvertrage sich ergebenden Pflichten des Herrn Dietz ihre Endschaft erreicht haben. Irgend ein Rechtsanspruch der von Engernschen Erben oder Rechtsnachfolger an meinen Mandanten besteht nicht mehr.«

Mit gemischten Empfindungen hatte Gerold diesen Brief gelesen. Daß die darin behaupteten Tatsachen richtig, schien er nicht einen Augenblick anzuzweifeln. Herr von Engern hatte also zweimal über die ihm zustehende Summe verfügt. Er hatte sie an das Bankhaus C. F. Gerold zediert und hatte nichtsdestoweniger später dreiviertel des Betrages selbst abgehoben. Er hatte den Bankier in dem festen Glauben gelassen, ein Guthaben von zehntausend Mark zu besitzen, und es war lediglich zufälligen Umständen zuzuschreiben, daß das Bankhaus nicht auf Grund der Zession Vorschüsse an die Witwe geleistet oder ihr den ganzen Betrag ausgefolgt hatte. – Mit andern Worten: Herr von Engern hatte planmäßig alles getan, um einen Betrug zu begehen; ganz abgesehen davon, daß er auch gegen die Seinen schwer sich vergangen hatte, indem er sie in der Ueberzeugung beließ, sie besäßen noch ein Kapital, das er längst ohne ihr Wissen verbraucht hatte.

So also sah es mit den Rechtlichkeitsbegriffen des Mannes aus, dessen Tochter von ihm, Gerold, nicht mehr und nicht weniger als »Sühne« verlangte! freilich, sie selber wußte ja nicht, wie haarscharf ihr eigener Vater die Grenze zwischen Recht und Unrecht gestreift hatte und wie es gewiß nicht an ihm gelegen, wenn außer seiner Familie niemand betrogen wurde. Ihr war der Vater eine Idealgestalt geblieben, und gewiß würde sie schon den Gedanken, daß er sich an einem doch eigentlich gar nicht »vornehmen« Geschäft beteiligt hatte, mit Entrüstung zurückgewiesen haben. Und jetzt erinnerte Gerold sich jenes geheimnisvollen Schreibens, das Herr von Engern am Tage seines Todes bei C. F. Gerold für den künftigen Verlobten seiner Tochter hinterlegt hatte. O, wenn er, Gerold, sich doch nicht hätte von unklaren Gefühlen leiten lassen – wenn er doch reale Dinge nüchtern beurteilt hätte! Er würde den Brief, der unzweifelhaft ein volles Geständnis enthielt, gelesen haben, würde gewappnet gewesen sein in jener Stunde, da Francis ihm ihre Moralgesetze hatte aufzwingen wollen! Aber das veränderte wieder das ganze Bild – der Major von Engern hatte für seine Verirrungen gebüßt, hatte sich selbst gerichtet ihretwegen.

Denn nun stand es unverrückbar fest, daß Engern nicht verunglückt war, daß er sich vielmehr selbst ein Ende bereitet hatte. Und mit allen diesen neu gewonnenen Gesichtspunkten, so schien es Gerold, wurde Francis wieder sein eigen. Sie mußte, sie würde erkennen, daß im gegebenen Augenblick jedermann, auch der beste, seinen eigenen Moralgesetzen folgt, seine eigene Auffassung vom Rechte über jene stellt, die der Staat und die Gesellschaft aufrecht zu erhalten genötigt sind. Sie mußte und würde begreifen, daß es über allen konventionellen Satzungen eine höhere Instanz gibt, die der persönlichen Ueberzeugung.

Gerold schrieb und depeschierte nach London und nach Berlin, setzte noch einmal alles in Bewegung. Eine Woche verging, bis alle Antworten eingelaufen waren. Niemand hatte auch nur eine Spur, auch nur den winzigsten Anhaltspunkt finden können. Und nun packte den gemarterten Mann der Drang, sich selbst auf die Suche zu begeben. Gegen die ausdrückliche Meinung seines Arztes trat er die Reise nach London an.

Mit seiner ganzen Energie, mit einem Scharfsinn, dem keine Möglichkeit entging, suchte und forschte er nach Francis. Aber weder die Polizei, noch seine mannigfachen privaten Beziehungen, noch endlich ein ausgezeichnetes Detektivinstitut brachten ihn einen Schritt weiter, Francis Brief war augenscheinlich während eines vorübergehenden Aufenthalts in der Riesenstadt zur Post gegeben worden, und die Absenderin wohnte irgendwo im Lande. Schließlich verfiel Gerold auf die eigentlich gar nicht so fern liegende Idee, seine Frau durch einen geschickt abgefaßten, ihn selbst vor andern nicht verratenden Zeitungsaufruf zu suchen. Das ist ja in England und Amerika gar nichts Seltenes. Und in der Tat, schon am dritten Tage, nachdem seine Anzeige in den »Times« erschienen, fand er in demselben Blatte eine Antwort.

»Forsche nicht nach mir. Halte Dich an meinen Brief und tue das Deine. Dann, aber auch nur dann halte ich mein Wort. Francis.«

Das war lächerlich und empörend zugleich. Er stürmte in die Annoncen-Expedition der »Times«, um vielleicht dort etwas über die Aufgeberin des Inserats zu erfahren. Man fand auch, gefügig gemacht durch reichliche Trinkgelder, das Manuskript der Anzeige heraus. Es war nicht von Francis Hand geschrieben, und der Expedient konnte sich nicht erinnern, wer es eingereicht hatte.

Gerold kam sich vor wie genarrt. Da jagte er nun seit Wochen durch das gewaltige London, setzte Himmel und Erde in Bewegung für eine Frau, die ihn augenscheinlich quälen wollte, die nichts für ihn empfand. Wäre gar keine Antwort erfolgt auf seinen Aufruf, er hätte sich damit trösten können, daß Francis nichts von seinen sehnsüchtigen Bemühungen erfahren hatte. Aber ihm zu antworten, ihn also hier, in ihrer Nähe zu wissen und sich gleichwohl in undurchdringliche Wolken zu hüllen, das war ihrer und seiner unwürdig. Solche Verranntheit erzeugt unsere einseitige Erziehung! »Du hast das oder das getan, das den Gesetzen widerspricht – vielleicht auch hast Du Dich dessen nur verdächtig gemacht – aber es genügt, um Dich rechtlos zu machen! Du mußt vor allen Dingen »sühnen – büßen« – dann vielleicht werde ich Dich wieder für meinesgleichen halten! –

Er hatte in seinem Aufruf angedeutet, daß er krank sei, einen kurzen Aufschub von ihr erbitte, dann aber sich ihrem Wunsche fügen werde. Nur möge sie es möglich machen, daß er ihr schreibe, ihr danke, mit ihr in Verkehr bleibe. Und darauf hatte sie nichts zu erwidern, als: »Tu' mir den Willen!« Es war wirklich beinahe lächerlich. Er versuchte es mit einem zweiten »Eingesandt«, – Ohne jeden Erfolg.

London lag in diesen Oktobertagen unter dichtem Nebel; dazu kam, daß Gerold hier keinerlei rechten Anschluß fand; die »Season« begann erst viel später. Eine tiefe Verstimmung hatte sich seiner bemächtigt. Er war mit fast jugendlichem Enthusiasmus hierher geeilt, um nur ein Wort von den Lippen der Frau zu hören, die er noch immer liebte. Wie sie ihn jetzt behandelte, das war wohl dazu angetan, eine Reaktion in ihm herbeizuführen. Sie warf sich nicht nur zu seiner Richterin auf, nein, sie wollte auch Vollstreckerin der über ihn verhängten Strafe sein. Wenn es sich ihr um Recht und Unrecht handelte, war ihr längst Genüge geschehen. Den Fürsten hatte er, Gerold, weit über seine Pflicht hinaus entschädigt. Er hatte zudem seine gesellschaftliche Stellung eingebüßt, auch beträchtlichen Vermögensverlust erlitten, hatte Haus und Heim verloren, sein glänzendes Geschäft aufgelöst, sah seinen guten Namen mit unauslöschlichem Makel befleckt und war endlich ein flüchtiger, leidender Mann, dem man seine Zuneigung wirklich anders betätigen musste, als indem man ihm zurief: »Geh ins Gefängnis? Büße Deine Schuld.« Das war Pharisäertum, Augenverdreherei. Vom Standpunkte einer höheren Moral aus erscheint es gleichgiltig, in welcher Form ein Mensch Buße tut oder Sühne leistet. Ob nach dem Buchstaben des deutschen Strafgesetzbuches oder nach den gewichtigeren, weil unentrinnbaren Fügungen ewiger Mächte. Am allerwenigsten aber stand es einer »reuigen« Frau zu, ihm gewissermaßen aus ihrer Machtvollkommenheit heraus zum zweiten Male zu verurteilen. Worin denn äußerte sich ihre »Reue«? Daß sie, wenn er sich mit seinen staatlichen Pflichten abgefunden, wieder zu ihm zurückkehren wollte? Vielleicht aus beschränkter, kümmerlicher Abhängigkeit entkommen, um wieder seine Königin, seine Herrin zu sein? Nein, das war weder Reue über ihr eigenes Verhalten, noch ehrliche Teilnahme für ihn. Als Gnadenspenderin wollte sie ihm erscheinen, nachdem keinerlei Demütigung ihm erspart geblieben war.

Er ließ sie durch die Zeitung wissen, daß er, weil seine Gesundheit dies verlange, nach Nizza abreise und dort Nachricht von ihr zu erhalten hoffe.

Aber es vergingen Wochen, Monate, ein volles Jahr, ohne daß auch nur ein Wort von ihr zu ihm drang. Seine Bemühungen, sie ausfindig zu machen, hatte er nach einem neuen, vergeblichen Versuch endgiltig aufgegeben. In Berlin wußte man nichts von ihr. Egbert war längst nicht mehr Offizier, hatte eine Verwalterstelle irgendwo in Böhmen; ihm fehlte jede Gelegenheit, etwas über seine Schwester zu erfahren. Die Mutter aber hatte die letzten Zeilen von ihrer Tochter empfangen, nachdem sie, die alte Frau, in die Villa Gerold übersiedelt war. Das hieße, so hatte Francis geschrieben, die Handlungsweise Gerolds sanktionieren, sich sein Unrecht sogar zu nutze machen. Auch dieser Brief wies keine Adresse auf, führte auf keine Spur.

Wie glücklich wäre Frau von Engern jetzt gewesen, hätte ihre Tochter der Stimme der Vernunft Gehör geschenkt! Ein ganzes Leben hindurch hatte die aus einem verarmten Grafengeschlecht stammende Frau keinen höheren Wunsch gehabt, als in einem vornehmen, eigenen Heim die Herrin zu spielen, Dienerschaft und Equipage zu besitzen und sich zurückzuträumen in die Zeit, da die Bonins noch auf ihren Stammschlössern hausten. Das alles hatte ihr das Schicksal nun gebracht, aber sie konnte nicht froh werden, so lange ihre eigene Tochter irgendwo in schwerer Abhängigkeit lebte und in ihrem Starrsinn das Tun der Mutter verdammte. Und gar manches Mal sehnte Frau von Engern sich nach jenen Tagen, da sie nicht »Schloßherrin« gewesen, in ärmlichen Verhältnissen mit dem Pfennig gerechnet hatte, aber mit ihrem Kinde zusammen gewesen war. Wirklich, ihr edler Mann hatte das bessere Los gezogen.

In einer exklusiven amerikanischen Pension zu Nizza hatte Gerold dauernd Aufenthalt genommen. Ganz gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte er dort einige echte, warme Musikfreunde kennen gelernt, mit denen er Kammermusik trieb. Ein ganzes Quintett hatte sich glücklich zusammengefunden. Das gab seinem Leben neuen Inhalt. Mit seiner Gesundheit ging es leidlich, nur sein rechtes Bein machte ihm vielfach zu schaffen.

Seit jenem Spätsommertage, an dem er Francis zum letzten Male gesehen, waren jetzt, im Januar, fast zweiundeinhalbes Jahr vergangen. Aber nach wie vor lebte ihr Bild in seiner Seele, und keine andere Frau hatte ihn seither interessiert.

Er hatte endgiltig verzichtet. Zweiundvierzig Jahre alt, durch seine Situation sowohl, wie nicht minder durch seine Neigungen vom gesellschaftlichen Verkehr fast ausgeschlossen, lebte er einförmig, aber nicht minder unbefriedigt dahin. Oftmals mußte er daran denken, wie ihm zu Leipzig der Anwalt die Schrecknisse des Gefängnisses geschildert hatte. Nun, er, Gerold, lebte in Freiheit, ohne jede Einschränkung, ohne Pflichten und Sorgen, und doch – wie oft beneidete er den Sträfling, an dem noch irgendwer in der Welt innigeren Anteil nahm. Er hatte nicht Freunde, noch Verwandte. Seit seiner Verheiratung hatte er nur einen Kultus getrieben, hatte er seine Frau vergöttert. Und als diese Huldgestalt ihn verließ und gleichzeitig seine gesellschaftliche Stellung zusammenbrach, blieb er allein, vereinsamt, wie man es in keiner Kerkerzelle mehr sein kann. Aber er hatte sich drein ergeben.

Eines Tages kamen die Mitglieder des Quintetts ihm mit einem abenteuerlichen Vorschlage. Ein hier hausender spleeniger Amerikaner, der mit seiner Dampfjacht von Boston hierhergekommen war und nun in den südlichen Gewässern zu kreuzen wünschte, hatte sie eingeladen, sich ihm anzuschließen. Seine Frau, seine Töchter und nicht zuletzt er selbst seien leidenschaftliche Musikfreunde. Sie hätten jüngst einmal das »Quintett« belauscht, als dieses in dem kleinen Musiksaal spielte. Natürlich wisse der Amerikaner, daß das »Quintett« für Geld nicht zu haben war, aber gerade das reizte ihn. Er böte den fünf Herren Gastfreundschaft auf seiner Jacht und sei bereit, sie wann, und von wo aus sie es verlangten, nach Nizza zurückzuschaffen.

Zuerst lachte Gerold über den eigenartigen Einfall; dann erschien er ihm wie ein Wink, sich noch einmal herauszureißen aus seiner dumpfen Resignation; und als schließlich Mr. Knox aus Boston persönlich antrat und zunächst bat, seine Jacht zu besichtigen, da war Gerolds ohnehin schwacher Widerstand besiegt. Das Quintett schiffte sich, der Jahreszeit entsprechend, mit Winterkleidern versehen, an Bord des »Mayflower« ein und es gab eine herrliche, in jeder Hinsicht lohnende Fahrt.

Ja, es schien fast, als sollte diese sonderbare Reise noch weitere Folgen für Gerold haben. Miss Kitty Knox, eine gelehrte Schönheit von etwa achtundzwanzig Jahren, begann sich lebhaft für den Pianisten des Quintetts, für Herrn Ernst Albert Gerold, zu interessieren. Ja, wer weiß, vielleicht hatte sie die Einladung veranlaßt. Man wußte, daß er ein unabhängiger, nach deutschen Begriffen noch immer reicher Mann sei. Schon das rückte ihn den Amerikanern näher, die im übrigen eine merkwürdige Neigung haben, sich an Deutsche von vornehmer Bildung anzuschließen. Wenn auch Mr. Knox es nicht gutheißen konnte, daß ein Mann von dem Wissen und der offenkundigen Welt- und Geschäftskenntnis Gerolds endgiltig ein Nichtstuer geworden war, so wäre doch dieser German gentleman ein Schwiegersohn ganz nach seinem Sinne gewesen. Hätte er ihn nur erst drüben in seiner Office in Boston, diesen Gerold mit seinem eleganten Englisch, mit diesem vollendeten Französisch. das er mit Miß Kitty parlierte – mit seinem auf das Große gerichteten Blick und alle der wertvollen Kenntnis des deutschen Geldmarktes – o, er sollte schon wieder Vergnügen daran finden, Geld zu verdienen – zu verdienen nach amerikanischen Abmessungen! Und dann, welchen Kummer hatte dem armen Knox diese unausstehlich überspannte Kitty gemacht. Sie wollte keinen Amerikaner – es sei denn, daß er keinen Whisky trinke, nicht zu Faustkämpfen gehe, keinem Klub angehöre und sich jeder Einmischung in die Politik enthalte. Den Teufel! Solche heiratbaren Amerikaner gab es nicht! Aber dieser German gentleman entsprach den verrückten Anforderungen Miß Kittys – da konnte man eine große Sorge los werden.

Gerold selbst war bisher nahezu unbeteiligt geblieben. Er studierte diese aus vier Personen bestehende Familie, die ebensoviel Dienerschaft um sich hatte, mit dem kühlen Interesse des Soziologen. Sie waren ihm Typen aus einer andern Welt. Die entzückend frische, aber nach unsern Begriffen bis zur Frechheit unweibliche Maud, die mit den Matrosen flirtete und sich doch wieder nichts vergab, die alte Mrs. Knox, die nur noch der Bibel, der Küche und ihren beiden Seidenspitzen lebte, nachdem sie erst eine Wäscherin, dann der Reihe nach Matrone auf einem New Yorker Polizeibureau, Inhaberin einer Garküche am Hafen. Farmersfrau im Far West gewesen, dann endlich eine Schiffsrhedersgattin in Boston geworden, diese Mrs. Knox selbst, eine der merkwürdigsten Mischungen von Narr und grundgescheitem Menschen, und endlich Miß Kitty, die geradzu außerhalb der Familie stand. Mit neunzehn Jahren hatte sie darauf bestanden, ihre Studien in Zürich zu vervollkommnen. Dann war sie einige Jahre auf Reisen gewesen. Immer allein, mit wissenschaftlichem Ernst nach Erkenntnis strebend, und dennoch eine Halbheit, weil ihr ganzes Wissen auf den Halbheiten amerikanischer Schulen beruhte. Was aber am meisten auffallen mußte an dieser durchaus nicht unhübschen, wenn auch schon ein wenig altjüngferlichen Person, war ihr gesundes Urteil über sich selbst und ihr Land. »Wir haben nur eine gute Schule in Amerika – das Leben!«

Solche Worte machten auf sie aufmerksam. Dazu kam, daß sie merkwürdig schnell aufzublühen, sich zu verjüngen schien in dem freien, ungezwungenen Verkehr mit Gerold. Er sah das mit stillem, allmählich sich steigerndem Behagen, weil er deutlich empfand, für wen sie sich mit neuen Reizen schmückte. Aber er war doch weit entfernt davon, Kitty zu lieben oder ihr auch nur den Hof zu machen. Vor allem war ja diese köstliche Fahrt an sich von so zauberischem Reiz, daß wohl zum größten Teile darauf seine bessere Stimmung zurückgeführt werden durfte. Und wiederum seine Stimmung wirkte auf Kitty zurück.

Man hatte zunächst Livorno angelaufen, einen Landausflug nach Pisa gemacht, Elba besucht und die Insel Korsika passiert. Landen mochte Mr. Knox nicht dort, weil seiner Meinung nach die » Smartness« amerikanischer Räuber nicht von der ihrer Berufsgenossen auf Korsika übertroffen werden konnte. Auch von Rom wollte der Querkopf anfangs nichts wissen. Erst der sehr bestimmt ausgesprochene Wunsch Kittys bewegte ihn, in Civitavecchia anzulegen, von wo aus die ganze Familie nebst Dienerschaft – das Quintett nicht zu vergessen – nach Rom zog. Kitty empfand sehr wohl das einigermaßen Lächerliche dieser Invasion und sie machte, kaum, daß man sich im Hotel zum Quirinal etabliert hatte, Gerold folgenden Vorschlag:

»Von heute ab bitte ich anzunehmen, ich wäre allein in Rom. Wenn mein Vater der übrigen Familie die ewige Stadt zeigen will – ich mag nicht dabei sein. Sollten aber Sie hier und da einmal Zeit finden, mich zu begleiten, so verspreche ich Ihnen, alle meine schlechten amerikanischen Gewohnheiten im Hotel zu lassen und nur meine ehrliche Begeisterung für die Kunst und die Absicht, etwas zu lernen, mitzunehmen.«

Diese freie unbefangene Art des Verkehrs hatte etwas Bestrickendes. All der lästige Zwang, der dem Deutschen im Umgange mit dem andern Geschlechte auferlegt ist, war aufgehoben, ohne daß auch nur ein störender Wunsch sich geltend gemacht hätte zwischen diesen beiden.

Gerold hatte Italien vor noch nicht vier Jahren in Gesellschaft Francis zum ersten Male gesehen. Aber wenn auch ihr Bild überall da auftauchte, wo er damals mit ihr gewesen, und wo nun das kühle, überlegende, manchesmal frappierend gescheite Gesicht einer Kitty neben ihm zu den Kunstschätzen Roms emporschaute, er hätte sich selbst belügen müssen, hätte er sagen wollen, daß die Tage jetzt ohne Genuß dahingingen.

Gewiß war ein tiefwurzelnder Unterschied zwischen den Tagen von damals und heute; fast so tief, wie der Unterschied zwischen Francis und Kitty. Die letztere wußte mehr über Rom, über die griechische und italienische Kunst, als Francis je auch nur angestrebt hatte zu erlernen. Sie hatte ein gedrängtes, aber nicht minder klares Bild von der Entwicklung der römischen Geschichte und sie zog interessante Parallelen zwischen der Republik der Triumvirn und jener des Herrn Rooseveld, der eben durch den plötzlichen Tod Mac Kinleys auf den Präsidentenstuhl gelangt war. Sie wußte, wo und wie, aus welchen Zeitströmungen und persönlichen Elementen heraus die Zeit der Renaissance geboren worden: sie hatte knappe, aber hinreichende Begriffe von der staufischen, romanischen, gotischen Architektur, wie sie schließlich auch die hervorragendsten Maler, Bildner und ihre Hauptwerke kannte. Und trotzdem sie solchermaßen gewappnet, wie ein deutscher Professor, vor die Kunstschatzkammer der Welt hintrat, fehlte ihr die Empfindung für das Wesen der Kunst, welche der ungleich unwissenderen Francis mit in die Wiege gegeben schien. Was Kitty sah, zerlegte ihr Geist gleichsam im Lichte dessen, was sie darüber gelesen, gehört, wohl auch gedacht hatte. Francis dagegen brachte das rechte Gefühl für die Schönheit mit. Sie genoß, ohne sich Rechenschaft ablegen zu können; das Schöne spiegelte sich in ihrer Seele. Ihre Urahnen schon hatten ein feineres Kunstverständnis besessen, als die Nachkommen des Mr. Knox selbst im dritten Geschlecht haben würden.

Aber wenn auch Kitty nicht eigentlich warm werden konnte, weder in der Sixtinischen Kapelle, noch im Angesicht des Forum, so bewies sie deshalb nicht weniger weiblichen Takt, als sie dem römischen Aufenthalt sehr bald ein Ende bereitete. Gerold war, wie sie trotz seiner Ritterlichkeit merkte, nicht bei der Sache; er konnte sich vielmehr gewisser Reminiszenzen nicht erwehren. So schiffte man sich nach kaum einer Woche wieder ein, um zunächst in Neapel kurze Rast zu machen. Der nächste Hafen, in dem die »Mayflower« anlegte, war der von Palermo, von wo aus Streifzüge durch Sizilien unternommen wurden. In Messina ging man wieder zu Schiffe, blieb zwei Tage in Syrakus, um dann, die Südspitze Italiens umschiffend, ins Adriatische Meer einzulaufen.

Sie waren einander merklich näher gekommen in diesen Wochen unaufhörlichen Beisammenseins. Auf der prächtigen Jacht schwiegen auch die Erinnerungen Gerolds und er fing leise an, sich mit der Zukunft zu beschäftigen.

Da weckte ihn Kitty eines Tages aus unbestimmten Träumen. Sie saßen unter dem weißen Sonnenzelt, als sie einmal ganz unvermittelt sagte:

»Erzählen Sie mir aus Ihrem Leben, Herr Gerold! Von der großen Liebe, die – ich weiß es – in Ihr Leben eingegriffen hat. Bitte, erzählen Sie!«

Und er erzählte ihr von seinem Leben, von seiner großen Liebe. In knappen Zügen, ohne sich zu schonen, gab er ein Bild der Vergangenheit bis zu jenem nebelfeuchten Tage, da er von London abgereist war.

»Sie haben nichts mehr von ihr gehört?«

»Nein. Und ich habe es aufgegeben, darauf zu hoffen.«

»Darf ich Ihnen sagen, was ich denke, Herr Gerold?«

»Ich hielt das für selbstverständlich.«

»Nun denn. Sie sind im Unrecht! Sie wußten, in welchen Anschauungen Ihre Frau aufgewachsen, in welchen Empfindungen sie gereift war. In meiner Heimat wäre ja ein Konflikt zwischen Mann und Frau aus solchen Gründen unmöglich, er würde lächerlich erscheinen. Aber das spricht nur für Ihre Frau, die eine Deutsche war, in einer Tradition erzogen, die ihr ins Blut übergegangen. Wir würden dem Manne unserer Neigung mit Gefahr des eigenen Lebens zur Flucht aus dem Gefängnis helfen, die deutsche Frau von solcher Herkunft will, daß er sich dem Gesetze beuge.«

»Es ist mir heute nicht mehr zweifelhaft, auf welcher von beiden Seiten sich mehr wahre Liebe, mehr echtes Mitempfinden zeigt,« versetzte Gerold. »Die schönste Waffe der Frau heißt Verzeihung.«

»Ich bin auch darin nicht Ihrer Meinung,« widersprach sie in ihrer bestimmten und doch nie verletzenden Weise. »Man drückt die Frau herab, wenn man von ihr verlangt, daß sie alles über sich ergehen lassen, immer nur verzeihen soll. Warum, wenn sie schon der schwächere Teil ist, warum nicht ihr ein größeres Maß von Verzeihung zuwenden, als man von ihr erwartet? Das heißt,« fügte sie mit einer reizenden Verlegenheit hinzu, »verstehen Sie mich nicht falsch: ich hätte Ihnen in Ihrem Falle gar nichts zu verzeihen gehabt, ich bin ja keine deutsche Aristokratin!«

Er ergriff ihre schöne, ein wenig große Hand und hauchte einen Kuß darauf.

Im Hafen von Fiume sollte die »Mayflower« einer gründlichen Reinigung unterzogen werden; auch einige Reparaturen waren notwendig und endlich waren Kohlen und Proviant einzunehmen für die Heimfahrt, an die Mr. Knox nunmehr ernstlich dachte.

In der Zwischenzeit wollte man in dem nahen Abbazia rasten. Das »Quintett« wollte dort noch einige Tage verweilen und dann über Triest nach Genua und Nizza reisen.

Abbazia schien Gerold ein überschätzter Modekurort. Es liegt ja ganz allerliebst an einen Bergrücken hingelagert, einem reizenden Spielzeuge gleich, das sich die Riesentochter aus den Alpen am Strande der Adria ausgebreitet hat. Aber was es sonst bietet, steht in gar keinem Verhältnis zu den hohen Preisen, die man dem Fremden dort abverlangt. Eine gutgepflegte Strandpromenade, die etwas künstlich mit exotischem Baum- und Blattwerk aufgeputzt ist und sich nach Westen wie nach Osten längs des Meeres fortsetzt, das ist so ziemlich alles. Freilich, elegante Hotels und gute Pensionen gibt es in Fülle, und das Café Quarnero, inmitten der Strandpromenade gelegen, ist immerhin ein hübscher Punkt. Aber ce que la femme veut, Dieu le veut – Frauen haben Abbazia in die Mode gebracht. Vielleicht war es zuerst eine Rothschild, denn den Rothschilds gehört in Wirklichkeit die einzige Bahnlinie, mittelst deren man Abbazia erreichen kann. –

Man schrieb Ende Februar – es war recht unangenehm kalt in dem »südlichen Luftkurort«, und der Pelz kam Gerold sehr zu statten.

Für Amerikaner, die die grandiosen Badeplätze um New York kennen, die regelmäßig in Longbranch oder in Newport verkehren, die einen Herbst an der Sea-Side von England zugebracht haben und denen es auch auf einen Ausflug nach dem paradiesischen Florida nicht ankommt, hat nicht einmal Nizza etwas Bestechendes. Dagegen ist ihnen die »Perle der österreichischen Riviera« geradezu eine Enttäuschung. Aber es ist ein hübscher Zug von dem vielgereisten Yankee, daß er sich durch solche Enttäuschungen die gute Laune nicht nehmen läßt. Er ist an den »Bluff« gewöhnt.

Die Familie Knox sowohl, wie das »Quintett« hatten sich im Hotel »Stefanie« einquartiert, einem jener internationalen Luxuspaläste, in denen jedermann sich wohl fühlen kann, komme er nun aus Irkusk oder aus Boston, und die Knox ließen sich's wohl sein. Man speiste gemeinschaftlich in dem großen, luftigen Saale, man gab dem vortrefflichen Lohnfuhrwerk täglich etwas zu verdienen und saß nachmittags auf der Terrasse vor dem »Quarnero«. Und Gerold war Kittys erklärter Ritter, ihr ständiger Begleiter.

Mr. Knox sah nicht ohne Bedauern, daß der Herr Gerold trotzdem ernstlich an die Heimkehr nach Nizza dachte. Er hatte inzwischen den »Fall Gerold«, das heißt: den Prozeß kennen gelernt und hatte laut dazu gelacht.

»Wenn wir solche Dinge vor Gericht bringen wollten,« meinte er, »hätten wir mehr Richter notwendig, als es in den Vereinigten Staaten Straßenbahnschaffner gibt! Teufel! Ist denn in Deutschland der Staat der Vormund erwachsener Menschen? » Get your money's worth!« heißt ein New Yorker Song – zu deutsch etwa: »Gib acht auf Dein Geld! Sieh', daß Du genug dafür bekommst.« Und das hätte Ihr Fürst auch tun müssen! – Soll ich Ihnen etwas sagen, mein lieber Gerold? Ich »kreuze« meinetwegen noch ein paar Wochen hier herum, kann ja auch einen Sprung nach Konstantinopel machen. Inzwischen brechen Sie in Nizza Ihr Zelt ab und nehmen Passage auf der »Mayflower« nach Boston! Damit Ihnen nur ja nicht etwa noch einmal der Gedanke kommt, sich den deutschen Behörden zu stellen! Wollen Sie? Es fährt sich nicht übel auf meinem Schiffe, schlagen Sie ein!«

»Ich danke Ihnen herzlich, mein verehrter Mr. Knox! Aber ich bin nicht mehr jung genug für solche Verpflanzung!«

»Herr Gerold weiß eben nicht, welche wunderbar verjüngende Kraft unser herrliches Land besitzt. Er kennt nur das Amerika der Yankees, nur den »Uncle Sam« und allenfalls die Auswüchse des Amerikanertums. Aber er weiß nicht, daß ein einziger, gewaltiger Zug durch dies ganze weite Land geht, eine flammende Gestaltungskraft. »Etwas werden!« schreit alles in Amerika – »etwas bedeuten!« – das sollte der Wappenspruch des Sternenbanners sein!«

Sie hatte in edler Begeisterung gesprochen, hingerissen von ihrem Gedankenfluge. Ihr ein wenig derbes, volles Gesicht gewann wirklich etwas wie Verklärtheit. Aber die praktische Natur in ihr hatte schon wieder gesiegt. Sie wandte sich jetzt direkt an Gerold:

»Der Vater hat recht – er meint es gut mit Ihnen und – vielleicht auch mit mir,« fügte sie zögernd hinzu. »Machen Sie einen dicken Strich unter Ihre Vergangenheit – nein – durch die Vergangenheit und kommen Sie mit uns! Sie werden es nicht bereuen!« Und sie sah ihm frei und offen ins Gesicht.

Es hatte weder etwas Unweibliches, noch erschien es irgendwie unzart oder aufdringlich, wie hier ein reifes Mädchen um den Mann warb, dem sie vertraute. Nicht einen Augenblick empfand Gerold etwas wie einen Verstoß gegen das Herkömmliche. Kitty sprach eben aus, was sie empfand, sie erschien ihm in diesem Augenblick schön, rein, vornehm und begehrenswert. Er senkte unwillkürlich den Blick.

Auf dem gedeckten Tische, zwischen Kitty und ihm, lag die Kurliste von Abbazia, aus deren Namenskolonnen ihm plötzlich ein Unfaßbares, Unheimliches entgegenstarrte. Wie von Geisterhand gerade in diesem Augenblick für ihn aufgezeichnet, fand er da einen Namen, der ihm alles Blut zu Herzen trieb. Er vergaß völlig, daß man eine Antwort von ihm erwartete, daß die Augen eines liebenden Mädchens auf ihn gerichtet waren. Wie jemand, der nicht fließend lesen kann, tastete er mit dem Finger auf die Zeile in der Liste, hob das Blatt näher zum Auge, zum Lichte, dann wieder sah er mit verlorenem Blick an Kitty vorüber. Und wirklich, neben der Amerikanerin, deren Kopf ihm auf einmal viereckig und plump erschien, tauchte, zum Greifen deutlich, ein anderes, dunkelgelocktes Haupt auf, ein Gesicht von edelster Reinheit, ein ideal schönes Oval. Große, graublaue Augen mit einem seltsamen Stahlglanz blickten ihn tieftraurig an. Um den feinen Mund waren Schmerzenslinien leise eingegraben und an den langen, dunklen Wimpern hing es wie Tränentau. Aber es war schon wieder verschwunden. Nur eine Vision war es gewesen, herbeigezaubert durch jene Zeile in der Kurliste da ...

Er raffte sich zusammen und las:

»Villa Habsburg: Gräfin Reventlow aus Kiel nebst Gesellschafterin, Fräulein Francis von Engern.«

Kalter Schweiß war ihm auf die Stirne getreten – es war unmännlich, wie er von diesem Namen, von jeder Erinnerung an sie, sich packen ließ. Schwer atmend erhob er sich, wollte sich entschuldigen. Aber Kitty stand schon neben ihm:

»Ist Ihnen nicht ganz wohl, Herr Gerold. Lassen Sie uns die Paar Schritte bis an die Brüstung tun, die frische Seeluft wird Wunder wirken.«

Kaum aber hatte sie ihn auf solche Art mit Anstand vom Tische entfernt, als sie flüsternd fortfuhr: »Sie ist hier, nicht wahr, mein armer Freund?«

»Ich habe ihren Namen in der Kurliste gefunden,« anwortete er dumpf.

Sie blieb neben ihm stehen; sie waren nun schon weit genug fort von der Gesellschaft, konnten hier nicht mehr gesehen werden. Kitty legte leise ihre Hand auf seinen Arm und sagte nur:

»Eilen Sie! Gehen Sie zu ihr! Ich wünschte, ich könnte für Sie beten.«

Er vergaß, wo sie waren. Mit einer stürmischen Bewegung riß er ihre Hände an sich und bedeckte sie mit heißen Küssen. Dann stürzte er westwärts, in der Richtung der nahen Villa Habsburg davon. –

Ja, die Gräfin Reventlow hatten hier gewohnt – bis vor zwei Tagen. Nun aber seien Ihro Gnaden abgereist, gewiß, mit dem gnädigen Fräulein. So beschied man ihn in der Villa Habsburg. Auf seine Frage, wohin sich die Gräfin begeben haben möge, wußte man nur zu antworten, daß sie Briefe, die etwa für sie ankämen, an die deutsche Botschaft in Wien beordert hatte. Aber sie wollte auf der Reise noch einen Besuch machen, irgendwo in der Nähe von Graz. Nur noch eine Frage hatte er, wie denn Fräulein von Engern aussehe. Er glaube sie zu kennen. Man beschrieb ihm – seine Frau. Blaß sei sie und zart! Aber schön und gewiß noch jung, wohl noch nicht fünfundzwanzig! So große, merkwürdige Augen habe sie und lange, schmale Hände. Das schwarze Kleid – sie ging immer schwarz – ließ sie so schlank erscheinen, daß sie neben der Frau Gräfin wie ein Kind aussah.

Freilich – sie war immer so ernst – es mußte wohl auch ein harter Dienst sein bei der dicken, kurzatmigen Frau Gräfin, die immer gleich fuchsrot wurde, wenn ihr etwas nicht recht war ...

Ein reichliches Trinkgeld schnitt den weiteren Bericht ab. –

Nicht so schnell wie einst war er diesmal mit sich klar. Ihr nachreisen? Sie ausfindig machen, um dann vielleicht von neuem zu hören: »Büße Deine Schuld ab!« – Von neuem vor ihrem Angesichte sich verbannt setzen? Oder ihr schreiben? Ein Brief, an die deutsche Botschaft in Wien gerichtet, mußte sie ja treffen. Aber auch dieser Brief würde unbeantwortet bleiben. Und er, Gerold, entwürdigte sich, wenn er sich noch einmal von ihr abweisen ließ. Welch ein unbeugsamer Stolz lebte doch in dieser Frau, die nun seit Jahr und Tag in dienender, gewiß wenig erfreulicher Stellung sich befand, und doch nur ein Wort zu sagen brauchte, um über jede Not des Tages sich hinweggehoben zu sehen. Aber ihr Stolz war in der Tat auch »Wehr und Waffe« für sie.

Wie hätte es sonst geschehen können, daß ein Weib von so ausnehmend schöner Erscheinung nicht längst die Blicke eines anderen Mannes auf sich gelenkt hätte? Wäre dies der Fall gewesen – sie hatte es ja leicht, eine Scheidung von ihrem landesflüchtigen Gatten zu erzwingen. Nein, Miß Kitty urteilte ganz richtig, einer Francis war es ins Blut übergegangen, daß man sich dem Gesetz zu fügen habe. Sie ertrug lieber eine Art von Sklaventum, als daß sie sich entschlossen hätte, mit dem Justizflüchtling in Sorglosigkeit und Ueberfluß zu leben. Er würde auch jetzt nicht imstande sein, sie umzustimmen.

Gerold hätte von der Villa Habsburg aus auf kürzestem Wege über die Fahrstraße zum Hotel Stefanie gelangen können. Aber er empfand es wie einen Zwang, durch die Anlagen zurückzukehren.

Kitty sah ihn schon von weitem kommen, wie auch er sie bemerken mußte, die einzige unter zahllosen, höchst eleganten Damen, die verständig genug war, bei dieser fast winterlichen Kälte nicht den modernen, hochroten Sonnenschirm aufgespannt zu tragen. –

Auch sie wußte, daß er zunächst zu ihr zurückkommen würde.

Ungeniert hatte sie sich von ihren Leuten losgemacht und war ihm entgegengegangen.

»Sie haben Sie nicht angetroffen, mein armer Freund, sonst wären Sie noch nicht hier!«

Er berichtete, was er erfahren, immer von neuem gerührt von Kittys verständnisinniger Teilnahme, die doch wieder ein gut Stück Tapferkeit in sich schloß. Und auch, was ihm eben durch den Kopf gegangen war, ließ er sie wissen. Wie unschlüssig er sei und wie wenig Hoffnung er hege.

Miß Kitty hatte den Schritt zu einer Bank gelenkt, die von einer Seite her geschützt, von der anderen mit mildem Sonnenschein überströmt war.

Von ferne her drang die Kurmusik zu ihnen herüber; man spielte den Brautchor aus »Lohengrin«. Dicht vor ihnen murmelten geschwätzige Wellen den künstlich aufgeschichteten Felsstücken ihre Geheimnisse zu, warfen mit ihren weißen Schaumkrönlein nach den dunklen, braunen Gesellen und zogen sich dann neckisch wieder zurück.

Es war kurz vor der Dinerstunde, die Promenade fing an leer zu werden.

»Sie werden trotz Schicksalswink und Unschlüssigkeit noch heute abend nach Wien reisen, mein Freund,« erklärte sie mit ruhiger Sicherheit. »Täten Sie es nicht – lassen Sie uns einmal unbefangen prüfen, was dann geschähe. Sie würden, ich fühle es deutlich, mit uns gehen – mit mir! Und ich leugne es nicht: es würde mich beglücken. Aber ich habe zu tief in Ihre Seele geblickt. Da gibt es ein Allerheiligstes, in dem Ihre Francis thront. Das ist es vielleicht nicht zuletzt, was ich an Ihnen liebe. Ueber das Meer hinweg, in eine neue Ehe hinein würde Francis mit Ihnen sein, und eines Tages stände ihr Schatten zwischen uns beiden. Deshalb müssen Sie ein Ende machen. Gehen Sie nach Wien, setzen Sie alles daran, Ihre Frau zu sprechen. Entweder führt diese Aussprache dahin, daß sie Ihnen folgt und dann« – ihre Stimme begann zu stocken – »dann werden Sie mit ihr ein Glück finden, wie keine auf Erden es Ihnen geben kann – keine! Oder Sie unterliegen dem stärkeren Willen dieser Frau – gehen ins Gefängnis – erleben vielleicht auch dann noch schöne Tage, aber Sie werden sie mit einem Preis bezahlt haben, der mir zu hoch erschiene. Oder endlich, Sie können sich weder so noch so mit ihr verständigen, dann ...

Hier brach sie völlig ab; dem mutigen Mädchen standen Tränen in den Augen.

Es war ganz still geworden rings umher. Die letzten Spaziergänger waren schon außer Sicht, die Musik war zu Ende, das Meer lag unbeweglich im Mittagsglanze da. Ein Schweigen, ein Stillstand im Treiben der Natur schien eingetreten, eine heilige Stille.

Da zog Gerold das starke, tapfere Mädchen leise an sich und seine Lippen berührten ihre Stirn.

»Ich reise,« sagte er weich, »aber ich tue es jetzt nur Ihretwegen, Kitty. Ich will den Geist zu bannen versuchen, der mich noch immer beherrscht. Unterliege ich ihm, dann wird die Erinnerung an diese Stunde uns beide trösten, mich und Sie. Sie sollen es erfahren, wie der Kampf verläuft. Bis dahin – tausend, tausend Dank. Sie verdienen es, geliebt zu werden!«

Er hatte noch einmal kräftig, mannhaft, gleichsam wie zu einem Gelöbnis, ihre Hand gedrückt, dann eilte er davon. –

Mr. Knox war schnell unterrichtet.

Falls Gerold nicht bis zur Abfahrt der »Mayflower« zurück wäre, sollten seine Sachen nach Nizza gesandt werden. Er nahm nur mit, was er jetzt bei sich führte.

»Und grüßen Sie mir Kitty!« bat Gerold noch einmal. –

» I'll see you again!« antwortete siegessicher der Amerikaner. – – –

Auf der deutschen Botschaft in Wien waren bereits einige Briefe für die Gräfin Reventlow, noch keiner für Fräulein von Engern eingetroffen, aber die Damen hatten sich noch nicht gemeldet.

Der Herr möge seine Adresse zurücklassen, damit man ihn verständigen könne, wenn die Gräfin käme.

Unbedenklich nannte Gerold sein Hotel.

Es war ihm noch nicht einen Augenblick in den Sinn gekommen, daß er sich schon in Abbazia auf österreichischem Boden befand; er hätte sich sonst gewiß erinnert, daß damals der Anwalt von einem Aufenthalt in Oesterreich abgeraten hatte.

Mit dem deutschen Reiche eng verbunden, hat die österreichische Monarchie mit jenem auch hinsichtlich der Justizpflege ein Sonderabkommen getroffen. Die Gerichte hüben und drüben verkehren direkt miteinander, ohne Vermittlung der auswärtigen Aemter, während es zwischen anderen, wenn auch befreundeten Staaten immer erst eines Eingreifens der höchsten politischen Behörden bedarf.

Ganz ausdrücklich hatte damals in Leipzig der Anwalt diese Sachlage erörtert.

Aber Gerolds gegenwärtige Verfassung war nicht danach, an so nebensächliche Dinge zu denken. Noch viel weniger war es ihm aufgefallen, daß im Bureau der Botschaft, während er seinen Namen nannte, ein Unterbeamter recht interessiert gefragt hatte: » Ernst Albert Gerold?«

Jahr und Tag waren vergangen, seit Gerold sich als Flüchtling fühlte.

Seither hatte er längst volle Sicherheit gewonnen, war überzeugt, daß ihm eine Gefahr nur von Berlin her drohen könnte, das heißt: wenn man von dort aus ein Verfolgungsverfahren einleitete. Und das war heute wirklich nicht mehr zu fürchten.

Er sprach dann auch zwei Tage später noch einmal bei der Botschaft vor – auch diesmal vergeblich.

Heute warf jener Unterbeamte nur ganz lässig hin: »Sie wohnen doch noch im Grand Hotel,« was Gerold ahnungslos bejahte.

Wiederum zwei Tage später brachten die Wiener Zeitungen die folgende Notiz:

»Die Honoratiorenzelle des Wiener Landesgerichts beherbergt seit gestern einen interessanten Gast: den ehemaligen englischen Generalkonsul zu Berlin, Ernst Albert Gerold. Man erinnert sich noch jenes aufsehenerregenden Wucherprozesses, der vor mehreren Jahren gegen ein Berliner Bank-Konsortium geführt wurde. Der Hauptbeschuldigte hatte sich am Tage vor der Verhandlung entleibt, während einer der Verurteilten, eben der Generalkonsul Gerold, sich der Strafvollstreckung durch Flucht entzog.

Vor einigen Tagen nun fand Gerold sich hier in der Kanzlei der deutschen Botschaft ein, um eine Auskunft zu erbitten. Der dort ständig anwesende Kriminalbeamte, der früher in Berlin stationiert war, erkannte den justizflüchtigen Gerold und veranlaßte die Berliner Staatsanwaltschaft telegraphisch, jenen hier verhaften zu lassen. Das ist gestern früh im Grand Hotel in aller Stille geschehen. Gerold sieht seiner Auslieferung entgegen.«

*


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