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Noch immer wehte ein mäßiger Südwest, und noch immer schwamm das ungeheure Eisstück weiter und weiter hinaus in das Meer.

Auf dem Eise befanden sich vierzehn Fischer und zwei Pferde. Die Leute waren mit dem Aushauen von Wuhnen Wuhne: Eisloch und dem Auswerfen ihrer Netze beschäftigt gewesen, und niemand von ihnen hatte bemerkt, dass das Eis in Bewegung geraten war. Erst als Karlen, ein sechzehnjähriger Junge, einem Pferde, das nach der Strandseite zu laufen begonnen hatte, eine ziemlich weite Strecke nachgeeilt war, hatte er unweit des Ufers wahrgenommen, dass das Eis nicht mehr feststand. Der Knabe war nun schleunigst umgekehrt und hatte den Fischern das Unglück mitgeteilt; als diese jedoch in rasendem Lauf den Rand des Eisstücks erreicht hatten, war keine Rettung mehr möglich gewesen. Juris Skara, der zu Hause ein junges Weib und drei Kinder besaß, hatte sich dennoch von der Verzweiflung hinreißen lassen, war ins Wasser gesprungen, und die Gefährten hatten gesehen, dass er unweit des Ufers versunken war.

Seit diesem Ereignis waren mehrere Stunden vergangen und noch immer bewegte sich das Eis in derselben unmerklichen Weise fort wie anfangs.

Die Blässe des ersten Schreckens war von den Gesichtern der Männer geschwunden. In aller Zügen lag bloß etwas eigentümlich Gepresstes. Aller Augenbrauen waren schmerzlich verzogen, und in aller Augen zitterte und flackerte jenes Flämmchen, das geheime Verzweiflung verrät.

Sie alle wussten es, dass sie sich mit jedem Augenblick weiter entfernten, nicht bloß vom Ufer des Meeres, sondern auch vom Gestade des Lebens.

Die Fischer hatten sich in Gruppen geteilt und sprachen halblaut miteinander. Um Karlen herum standen die jüngeren und unverheirateten: Gulbis, Birkenbaum und Janis Dauda, alle von blühendem Aussehen und kräftigem Wuchs. Der Knabe erzählte ihnen noch einmal, wie er gefahren und gerannt und wie weit ungefähr das Eis bereits vom Strande entfernt gewesen, als er das Unglück bemerkt habe.

»Hättest du denn nicht noch ans Ufer schwimmen können?« fragte Birkenbaum.

»Ich denke wohl«, erwiderte der Junge. »Das Wasser ist freilich kalt, aber ich denke wohl.«

»Schade – wenn du gewusst hättest, dass du umsonst ... dass wir sowieso ... dann wäre es besser gewesen, wenn du versucht hättest ...«

»Es wär' ihm vielleicht ergangen wie dem Skara«, sagte Janis Dauda.

»Ja, vielleicht ... Aber denke doch, dass es gut gegangen wäre«, seufzte der Knabe. »Wenn ich mein Pelzchen abgeworfen hätte und mich zusammengenommen hätte ...«

Und Karlens große, blaue Augen füllten sich mit Tränen.

»Nun, nun, und sag' nun noch nichts, es wird schon gut werden«, beruhigte Birkenbaum. »Der Wind wird sich ändern, und man wird uns suchen. Sei nur still.«

Der Junge fuhr mit der Handfläche schnell über die feuchtgewordenen, schmalen Wangen und antwortete: »Ich sag' ja auch nichts.«

Ein wenig weiter von dieser Gruppe stand ein langer, hagerer Greis mit dunkler Gesichtsfarbe, struppigem Bart und einer Zigeunernase. Seine Blicke waren starr auf einen Mann gerichtet, der mit gekrümmtem Rücken und gefalteten Händen vor ihm stand und nicht viel jünger aussah als er selbst. Es waren der Fischer Zubuk und sein Sohn Ludis.

Die verheirateten jüngeren Männer waren zufällig zu einer eigenen Gruppe zusammengetreten: der riesenhafte, schöne Grünthal, der behäbige Skapann, dessen feste Wangen wie zwei Päonien glühten, der bleiche, freundliche Skrastinsch und der untersetzte Sfihlis.

Der alte Dauda sprach mit Stuhre, einem bejahrten Junggesellen, und Saiga und Gurlum standen abseits allein.

Mit seiner wohlklingenden Stimme und durch sein ruhiges Verhalten beherrschte Grünthal seine Gruppe. Er sprach beinahe ganz allein, erwog die eine und die andere Möglichkeit der Rettung und seine Worte waren voll tröstlicher Zuversicht.

»Diese Fahrt wird höchstens zwei, drei Tage dauern«, sagte er mit einer solchen Überzeugung, als ob alle sich auf einem Schiff befänden und er dessen Führer wäre, »zwei drei Tage. Und wenn sie auch einen Tag länger währt ... wir haben ja Fische, der Saiga hat ein Fuder Fische, und wenn wir mit den Fischen zu Ende sind, können wir ja ein Pferd nehmen.«

»Jawohl«, pflichtete ihm Skrastinsch bei, sein blasses, freundliches Gesicht zu einem matten Lächeln verziehend, denn er hatte die Angewohnheit, seinen Worten eine scherzhafte Färbung zu geben, »wir werden uns ein Pferd schlachten. Man sagt, das Pferdefleisch sei süß.«

Die roten Lippen des behäbigen Skapann verzogen sich ein wenig, in Sfihlis Zügen dagegen zeigte sich unverhohlener Widerwille.

»Wir essen's ja noch nicht«, bemerkte Grünthal.

»Und wenn wir's essen werden, dann wird er derjenige sein, welcher nach dem größeren Bissen langen wird«, sagte Skrastinsch. »Oder willst du mir deinen Anteil abtreten, Sfihlis?«

»Abtreten – was soll man vom Abtreten reden«, versetzte Sfihlis langsam. »Wird man's durchaus essen müssen – nun, dann wird man's essen. Aber solche Sachen! Solche Sachen sind hier schon lange nicht gehört worden. Im vorvergangenen Jahre sind wohl von Jamburg – oder von dort irgendwoher herum – einige Fischer ins Meer hinausgetrieben worden. Nach drei Tagen sollen sie wieder ans Land gekommen sein.«

»Ja«, bekräftigte Grünthal. »Und eine ähnliche Geschichte las ich in der Zeitung im vergangenen Jahr aus Arensburg. Da hatten sich die Fischer nach zwei Tagen gerettet.«

»Hier am kurischen Strande sind ja auch solche Fälle vorgekommen«, sagte Skrastinsch, »nur in unserer Gegend hat man so etwas noch nicht erlebt.«

»Mein Vater erzählte eine solche Geschichte«, sprach jetzt der alte Dauda, der auch zu der Gruppe getreten war. »Ich hab es vergessen, waren es neun oder elf Menschen, die damals verschollen sind.«

»Verschollen? « wiederholte Skrastinsch. »Verschollen?«

»Ja, verschollen«, sagte der Alte leise, und ein Blick aus seinen etwas trüben, geröteten Augen, mit den geschwollenen Augenbeuteln, glitt zu seinem Sohne Janis hinüber.

Alle schwiegen und wagten nicht, einander anzusehen, denn in großem Unglück schämt sich der Mensch ebensosehr wie in großer Schmach.

»Na«, begann Grünthal nach einer Pause wieder, »wird es denn mit uns auch so passieren? Das glaube ich nicht. Mir kommt es nur so vor, als ob dies bloß eine solche ... solche ... wie soll man sagen ... eine etwas gefährliche Spazierfahrt sein wird. Weiter nichts. Im ersten Augenblick ... natürlich ... da überlief mich auch solch ein hässlicher Schauder, es ist doch kein Spaß ... aber jetzt... bedenkt doch, wir sind unser vierzehn Mann, von denen – eins, zwei, vier, sechs, acht – von denen acht geradezu ausersehen sind. Sollen die mir nichts dir nichts so verschwinden? Das ist unmöglich!«

Die kräftige, tiefe Stimme Grünthals klang den Gefährten so angenehm, dass sich ihre Gesichter aufhellten. Keiner glaubte zwar seinen Worten, denn keiner war ja so einfältig zu meinen, Jugend und Kraft könnten Unglück und Schicksal wenden, dennoch aber wurde es jedem ein wenig leichter beim Anhören dieser männlichen Stimme, welche mit einer solchen Überzeugung das aussprach, was aller Herzen bebend erhofften.

»Das ist unmöglich«, wiederholte der Fischer. »Zu Hause sieht es meine Frau jedesmal im Traum, wenn ein Unglück bevorsteht ... Nein, ohne Scherz ... Und heute morgen sagte sie mir nichts. Und dann seht euch nur den Birkenbaum an! Um einen solchen Burschen allein wäre es ja mehr als jammerschade, von uns übrigen gar nicht zu reden!«

Birkenbaum verzog freundlich seine Lippen und sah den einen und anderen an. Er hatte wunderbar helle und freundliche Kinderaugen, und auf der Mitte der blühenden Wangen waren zarte, weiße Flecken, als hafte an jenen Stellen der keusche Staub weißer Frühlingsblüten. Alle übrigen fühlten, dass Grünthals Worte spöttisch gemeint waren, nur der Bursche selbst fasste sie als eine Schmeichelei auf. Er bezog sie auf sein stattliches Aussehen, während seine Gefährten meinten, Grünthal ziele auf seinen Charakter. Und den hielt jedermann für sehr schlimm. Birkenbaum war kein Kurländer, sondern war dorthin aus Livland verschlagen worden. Er war mit Flößen von der Oger in die Düna gefahren, die Düna hatte ihn nach Riga gebracht, von dort hatte ihn das Schicksal nach Goldingen und dann nach Libau verschlagen, und zuletzt hatte er sich als Knecht bei Saiga verdungen, der abseits allein dastand, mit einem verzweifelten Ausdruck in seinem fahlen Gesicht.

Birkenbaum war bei den Fischern als Kraftmensch und großer Raufbold bekannt Er hatte mit seinen Kräften so verschwenderisch gewirtschaftet wie der verwöhnte Sohn eines amerikanischen Millionärs mit dem Golde seines Vaters. Aber sie waren bisher nicht besiegt. Frisch und mit überaus lebendigen Augen sah er in die Gesichter seiner Schicksalsgenossen.

»Nun, wenigstens das muss man sagen, dass ihm mehr Augen nachweinen würden, als jedem von uns anderen«, sagte Skrastinsch, weh lächelnd. »Nicht wahr, Birkenbaum? Ich hab' eine Frau und einen Jungen und ein Mädchen, die würden mir nachwimmern, über dich aber würden trauern – wie viele, was?«

Birkenbaum zuckte die Achseln.

»Ja«, sagte Grünthal, wandte sich seitwärts und sah nach den Fischen, die neben Saigas Schlitten auf dem Eise verstreut umherlagen. »Lasst uns aber jetzt die Fische auflesen. Man kann nicht wissen, wo und wann das Eis bersten wird, und um jedes verlorene Fischlein wäre es schade.«

Das Häuflein verteilte sich und nach einer Weile versammelten sich die Fischer wieder um Saigas Schlitten und wollten die zusammengelesenen Fische in das Fuder zurücklegen. Doch Saiga saß auf demselben und ließ keinen heran.

»Behaltet sie nur, behaltet sie«, sagte er. »Verloren ist verloren.«

»Was soll das heißen?« frage Grünthal. »Was meinst du damit?«

»Ich meine, dass das Fuder mir gehört und andere sich darum nicht zu kümmern brauchen«, versetzte Saiga, die Matte und die Decke mit gierig-sorglicher Hand an den Rändern des Schlittenkorbes feststopfend.

»Der ist verrückt!« rief Birkenbaum aus. »Der gedenkt wohl das Fuder allein aufzufressen?«

»Das ist meine Sache, was ich denke«, entgegnete Saiga rauh, und sein gelbes Gesicht verzog sich in unzählige Falten und Fältchen, und seine Augen sahen aus wie die eines neidischen Affen.

Birkenbaum brauste auf.

»Bei Gott, er meint, dass er noch Herr über die Fische ist!« rief er aus. »Fort von dem Schlitten! Weg!« Und er warf seine Fische auf das Eis, ergriff Saiga und zerrte ihn von dem Fuder herunter. Doch der Alte hielt sich an der Decke und der Matte fest wie eine Spinne an ihren Fäden, wenn man sie aus ihrem Schlupfwinkel reißt.

»Lass ihn, lass ihn, Birkenbaum«, sagte Grünthal und trat beruhigend dazwischen. »Wir werden schon alles in Güte abmachen. Wenn nicht anders, werden wir ihm die Fische abkaufen.«

Birkenbaum ließ Saiga los, und dieser kroch wieder auf sein Fuder zurück. Allen Fischern schien es jedoch plötzlich, dass Birkenbaum gar nicht ein so schlechter Mensch sei, und der eine oder andere ließ auch ein lobendes Wort fallen.

Bloß Gurlum stand abseits und sagte nichts. Er war ein harter Mann und wusste, dass ihm niemand wohlwollte.

Seine einzige Sorge war jetzt darauf gerichtet, nicht lächerlich zu werden. Denn er war auch leicht verletzbar und eitel. Er versuchte seine Verzweiflung hinter einer gleichmäßigen Düsterkeit zu verbergen, und hatte schon jetzt Angst, dass es ihm an Mut gebrechen würde, freiwillig und in Ehren zu sterben, wenn alle Hoffnung auf Rettung geschwunden sein sollte.

Um die Mittagszeit wurde der Wellenschlag größer und das Eis begann in eigentümlicher Weise zu krachen. Das Krachen wurde lauter und die Fischer, von deren Gesichtern die düsteren Schatten ein wenig gewichen waren, wurden wieder still und finster.

Plötzlich lief ein seltsames Knistern durch das Eisstück.

Karlen, welcher neben Birkenbaum gestanden hatte, ergriff dessen Hand.

»Angst?« sagte Birkenbaum und versuchte zu lächeln.

Die blauen Augen des Knaben, voll schmerzlicher Verzweiflung, sahen den Burschen an.

»Das Eis wird wahrscheinlich ... wahrscheinlich ...«

»Bersten? Natürlich bersten wird's. Ah, was würde uns fehlen, auf einem solchen Ungeheuer die ganze Zeit über umherzufahren.«

»Ich bleibe bei dir.«

»Nun, halt dich lieber an deine Wirte, ›Wirt‹ bedeutet im baltischen Deutsch ›Landwirt‹. Dauda und Janis.«

»Nein, ich möchte lieber ...«

»Wie du willst.«

Der Knabe drückte ein wenig stärker Birkenbaums Hand, und so standen sie beisammen und ließen gleich den übrigen die Blicke umherschweifen und suchten zu entdecken, ob nicht irgendwo ein Stück Eis abbarst.

Als das seltsam aufregende Knistern sich in verstärktem Maße erneuerte, legte Birkenbaum seinen Arm unwillkürlich um Karlens Nacken. Er empfand ein freundliches Wohlwollen für diesen Knaben, der sich gerade ihn zu seinem nächsten Leidensgefährten erkoren hatte.

»Bebt das Herz, was?« fragte Birkenbaum, bloß um etwas zu sagen.

»Nein. Mir ist nur so ... ich weiß nicht ... das Herz presst sich zusammen ... ich sag mir: was da sein wird, wird sein ... aber nichts!«

Die beiden feinen Furchen, die sich von der Nase längs den Mundwinkeln herabzogen und dem geröteten mageren Gesicht des Knaben ein älteres Aussehen gaben, wurden sehr tief. Nachdem er eine geraume Weile geschwiegen, fragte er dann:

»Und dir?«

»Was?«

»Wie ist dir zumute?«

»Mir? Gut jedenfalls nicht. Selbstverständlich ... Mit Kraft ist hier ja nichts auszurichten«, fügte der Bursche wie entschuldigend hinzu.

»Und wie, denkst du, wird es uns ergehen?«

»Was weiß ich ... Du hörtest, was Grünthal sagte. Drei, vier Tage.«

»Ja, glaubst du daran?«

»Nun, große Hoffnung auf Rettung haben wir doch alle. Wir werden vielleicht einem Schiff begegnen.«

»Wenn wir nun aber keinem begegnen?«

»So wird sich der Wind ändern.«

»Wenn er aber nun weht und weht und weht?«

»Dann ... nun dann, weißt du, was geschieht.«

Der Knabe verstummte. Hier konnte ja nur die Rede von Rettung und Untergang sein, aber sein Herz lechzte noch nach einer dritten Möglichkeit, nach etwas Unterbewusstem, Unbegreiflichem, nach einem Wunder, denn dem aufblühendem Leben ist der Tod etwas Unglaubliches ...

Das ungeheure Eisfloß glitt weiter, das Meer rauschte und begann seine Ränder zu zerstören. Stück um Stück barst ab, schwamm mit und rieb sich an den Kanten des großen, auf dem sich die Fischer befanden. Plötzlich wurde ein schmaler, graugrüner Riss sichtbar, dehnte sich und wuchs und schied die beiden Zubuks, Stuhre und Skapann von den übrigen Gefährten. Von beiden Seiten erschallte Geschrei, die Leute winkten einander mit den Händen zu und liefen wie aufgestörte Ameisen längs den Rändern der Eisstücke hin und her. Der alte Zubuk wollte ins Wasser springen, der Sohn jedoch hinderte ihn daran und hielt ihn fest. Die Entfernung zwischen beiden Eisstücken wuchs geschwind, und schließlich war an ein Hinüberschwimmen von einem zum anderen nicht mehr zu denken.

»Mit denen ist's nun aus«, sagte Grünthal. »Ohne einen Bissen Nahrung. Schade um den Skapann ... Zur Mitte, mehr zur Mitte! Und lasst uns zusammen bleiben!«

Schweigend gehorchten die Fischer und schritten der Mitte des Eisstücks zu.

Nachdem sie stehengeblieben waren, sahen sie in langem Schweigen mit unruhigen Augen dem Gang der Wolken zu, die wie graue Laken am Himmel dahinflatterten, und blickten in den unaufhörlichen Kampf der Wellen, welche die Luft ringsum mit ihrem Zischen und Grollen erfüllten. Langsam löste sich wieder in dieser Eintönigkeit ihre Erstarrung, und hier und da wurden zwischen den Zunächststehenden einige Worte gewechselt.

»Der Skapann«, sagte Janis zum alten Dauda, seinem Vater, »schade um den Menschen, kaum fünf Monate verheiratet.«

Der Alte seufzte.

»Der alte Zubuk ... um den ist's nicht viel ... dessen Zeit war um. Ebenso um den Ludis. Aus dem wäre auch nichts mehr geworden ... Aber Stuhre, der sparsame ordentliche Mensch ... der sein Leben lang ehrlich und schwer ... und jetzt... so ...«

Der alte Dauda sagte nichts. Was nutzte es, sich das Elend anderer auszumalen, wenn man ein ähnliches selbst zu erwarten hatte. Er blickte den Sohn an und seine Lippen zuckten.

»Die Mutter wollte uns heute abend mit gewärmtem Sauerkraut erwarten«, sagte er. »Aber jetzt wird sie es schon erfahren haben ...«

Janis nickte bejahend. Der Vater kniff die Augen zusammen und drückte das eine noch mit dem Zeigefinger zu, aber er konnte nicht verhindern, dass ein paar Tränen in seinen weißen Bart fielen.

»Ja, sie wird es jetzt schon wissen«, wiederholte er. »Was wird sie nun sagen, dass wir beide ... beide ... Wärst du doch zu Hause geblieben. Von mir rede ich nicht... ebenso sie ... Aber um dich ... Du warst ihr ...«

Seine geschwollenen Augen kniffen sich wieder zusammen und seine Nasenflügel bebten.

Janis biss die Zähne zusammen. Nichts erhebt uns und verwundet uns zugleich so sehr, als der Schmerz anderer über unser Schicksal.

»Ach«, sagte er gepresst, »noch musst du nicht so reden, wir werden noch alle glücklich an Land kommen.«

»Ja, ja, gewiss, ebenso wie jene zehn oder elf damals. Jetzt sind wir ja auch nur noch unserer zehn geblieben.«

Gegen Abend rief Grünthal die Gefährten zusammen und fragte, ob sie nicht hungrig seien? Er sprach wieder in demselben zuversichtlichen Tone wie immer, und die ermatteten Herzen der Fischer richteten sich auf an dieser Stimme und empfanden Dankbarkeit gegen den Sprechenden. Skrastinsch antwortete in aller Namen, dass sie allerdings hungrig wären, was jedoch sollten sie essen? Die Fische seien roh und die Pferde noch am Leben.

»Machen wir uns an die Fische«, sagte Grünthal. »Einen Kessel gibt's nicht. So hab' ich mir dann überlegt, dass man sie in einer Mütze wird kochen müssen. Ich geb' die meinige dazu her.«

»Im Schurzfell war' es besser«, bemerkte Sfihlis.

»Ist deines ungeteert?« fragte Grünthal.

»Nein.«

»Nun, dann müssen wir bei der Mütze bleiben. Zerhauet einen Schlitten und zerkleinert Eis.«

Während diese Anordnung ausgeführt wurde, trat Grünthal zu Saiga, der, die Hände zwischen den Knien geklemmt, auf dem Rande seiner Fuhre dasaß.

»Deck los!« sagte der Fischer.

Doch Saiga gehorchte nicht Er streckte die Arme nach beiden Seiten aus, als ob er das Fuder beschützen wollte.

»Deck die Fische los!« rief Grünthal noch einmal, und zog die Augenbrauen zusammen.

Saiga begann mit beiden Händen auf dem Fuder umherzutasten, die faltige gelbe Haut seines Unterkiefers zuckte, wobei das Kinn ganz spitz wurde. Er murmelte etwas zwischen den Zähnen und zuletzt vernahm Grünthal die Worte »den Preis festsetzen.« Über das rotbraune Gesicht des kräftigen Fischers fuhr es wie eine Flamme.

»Bist du verrückt?« schrie er auf. »Hast du schon Durst nach Meerwasser? Fort von dem Fuder!«

Saiga erhob sich und schlich langsam hinter sein Pferd.

Grünthal öffnete das Fuder, zählte für jeden zwei möglichst gleichmäßig große Fische ab und begann sie aufzuschneiden und auszuweiden.

Als das Feuer mit großer Mühe angemacht war, wurde Grünthals Mütze vorsichtig an den Ohrenklappen über die Flamme gehalten, bis das Eis in dem sonderbaren Kessel geschmolzen war. Dann wurde in die Mütze ein Teil der Fische getan, und als diese halbgar gekocht waren, ein anderer, bis alle Fische auf diese Weise gesotten waren. Gar kochen durfte man sie nicht, denn das Holz musste gespart werden.

Darauf wurden die Fische verteilt

»Dankbar muss man wohl sein«, sagte Skrastinsch leise, »aber die Finger wird sich nach diesem Mahl wohl keiner lecken.«

Die Leute versuchten die Fische zu genießen, doch war das beinahe nicht möglich. Sie schmeckten abscheulich nach dem Tuch der Mütze und waren dazu noch halb roh. Bloß Birkenbaum aß seine Portion auf.

»Ich habe von jeher einen tüchtigen Magen gehabt«, erklärte er. »Ich könnte Steine schlucken.«

»Wenn das Wasser in den Mund steigt, lernt man schwimmen, wenn der Hunger über uns kommen wird, werden wir essen lernen«, bemerkte Grünthal und steckte seine Fische in die Tasche.

»Ob man die Fische nicht lieber braten sollte?« riet jemand. Der Gedanke erwies sich jedoch als unausführbar, weil man mehr Fische auf einmal kochen als braten konnte.

»Ich habe noch ein wenig Brot von heute früh«, flüsterte der alte Dauda seinem Sohne zu, »komm beiseite, damit ich es dir gebe.«

»Und du selbst?«

»Ich ... ich kann noch selbst auskommen.«

»Iss nur selbst, Vater.«

»Nein, nein, ich weiß, du hast Hunger ... ein junger Mensch hat mehr Hunger ...«, und er zog Janis beiseite und wollte ihm einen halben Schnitt Brot in die Hand drücken.

Allein der Sohn weigerte sich, das Brot zu nehmen.

»Iss doch nur selbst«, sagte er, und wandte sich wieder den übrigen zu.

Als es zu dämmern begann, ließ Grünthal die beiden Pferde an der Windseite vor den übriggebliebenen Schlitten stellen. Dann setzten sich die Fischer auf den Schlitten. So wollten sie die Nacht verbringen.

Und dann wurde es dunkel. Kein Sternlein leuchtete am Himmel, ein scharfer Wind wehte und das Meer heulte und brüllte ringsum.

Kein Auge schloss sich. Sie alle starrten in die Finsternis, die sich wie Blei auf die Schultern senkte.

»Ach, wie ich hungrig bin!« flüsterte Karlen Birkenbaum zu. »Wenn doch die Fische nicht so widerlich wären.«

»Nichts zu machen«, versetzte der Bursche.

Nach einer langen Pause hörte er den Knaben schmerzlich aufseufzen.

»Was gibt's?« fragte er gleichgültig.

»Essen möcht' ich«, flüsterte der Knabe.

Birkenbaum saß eine Weile da und schlug ungeduldig mit der Hand auf das Knie. Dann erhob er sich und riss den Knaben mit sich empor. Er führte ihn einige Schritte vom Schlitten weg, zog etwas aus dem Busen hervor und drückte es Karlen in die Hand.

»Trinke«, befahl er, und der Junge öffnete die Flasche und trank.

»Aber erzähl es keinem«, sagte Birkenbaum, die Flasche zurücknehmend. »Und nun versuch' aufzubeißen.«

Sie kehrten zum Schlitten zurück und der Knabe aß, wenn auch widerwillig, seine Fische auf.

Und dann regte sich wieder niemand während einer längeren Pause. Die Nacht schlich dahin, das Meer brüllte, das Eis krachte, und der Wind wehte den Geruch des salzigen Wassers über das Eis.

»Birkenbaum, schläfst du?«

»Nein.«

»Ich werde mich ein bisschen auf deinen Schoß niedersetzen.«

»Tu es.«

Karlen legte die Hände in Birkenbaums Schoß und beugte sich auf dieselben nieder. Nach einer Weile fühlte der Bursche, wie kalt die Hände des Knaben waren. Er zog seinen Handschuh ab und nahm in seine warme und lebensvolle Hand die erstarrten, mageren Finger des Knaben. Langsam erwärmten sie, und dann strömte die Wärme vom Knaben zum Burschen und von dem Burschen zum Knaben.

Karlen war eingeschlafen.

Doch das ruhige Atmen des Jungen, das er zwar nicht hörte, sondern aus der gleichmäßigen Bewegung der Brust bloß fühlte, und die Wärme seiner Finger erinnerte ihn an Nächte, die nichts Gemeinsames hatten mit der Ruhe dieses Knaben.

So war es denn mit allem aus. Niemals mehr würde er mit heißem klopfenden Herzen und offenen Augen im Bett daliegen und warten, bis alle eingeschlafen sind, um sich dann unhörbar zu erheben und mit vorsichtigem Fuß über den kühlen Lehmboden in die andere Zimmerecke zu schleichen ... Niemals mehr würde er die angelehnte Kletentür Eine ›Klete‹ ist eine baltische Form des Kornhauses. öffnen, niemals mehr langgestreckt daliegen im Schatten eines halbfertigen Heuschobers und mit sonnenverbrannten Fingern spielen ... Wie war das nur geschehen? Wie war er hierher geraten? Er hatte doch dort fern in den Erlaaschen ›Erlaa‹ ist der deutsche Name von Çrgïi, dem Heimatort des Autors. Bergen das Vieh gehütet, hatte dort lange Jahre gelebt, getrunken, getollt, Theater gespielt, war wie zum Scherz für eine Dummheit auf vierundzwanzig Stunden ins Loch gesteckt worden und nun ... nun saß er auf einem Fischerschlitten, das Meer umtoste ihn und er fuhr in den Tod. Das war doch unmöglich! Solche Ereignisse passieren doch bloß im Märchen, bloß im Traum. Dies war einer jener fürchterlichen Träume, welche so lebhaft und deutlich wie das Leben selbst sind. Wenn er doch nur erwachen könnte! Erwachen! Welche ein Unsinn! Er wusste es ganz gut, dass er nicht träumte. Dieses Eis, diese bittersalzige Meerluft, dieses Brausen, alles, alles war Wirklichkeit; ihn hungerte wirklich und er musste wirklich sterben – musste verhungern oder ins Wasser stürzen, ins Dunkel, in den Abgrund, zusammen mit diesem Knaben und Grünthal und allen den übrigen frischen und gesunden Menschen ... Ein kalter Schauder durchschüttelte den Burschen und sein Mund wurde trocken und hart. Nein, das konnte nicht geschehen! Solche Schrecknisse ereigneten sich in fremden Ländern, irgendwo in der Ferne, und man erzählte und schrieb von ihnen als von etwas Alltäglichem und Notwendigem, aber selbst erlebte man doch so etwas nicht! Birkenbaum war sich dessen immer bewusst gewesen, dass er ungefährdet durchs Leben gehen werde. Wenn irgendwo jemand sich die Hand zerschnitten, mit der Axt in den Fuß gehauen hatte, von einer Maschine zermalmt worden oder ertrunken war, dann hatte der Bursche immer das sichere Gefühl gehabt, dass ihn vergleichbare Unfälle niemals treffen würden. Und nun saß er auf einem krachenden und berstenden Eisstück und ringsum waren Nacht und Tod ... Ah, dieser Saiga! Wenn der sich ihm nicht aufgedrängt hätte! Dann hätte es ihn vielleicht wieder zurück in die Heimat geführt, er schliefe in einer warmen Stube, und der Wirt, mit einem kleinen Lämpchen in der Hand, träte aus seiner Stube und weckte ihn jetzt, damit er die Pferde füttere.

Der Bursche erbebte und drückte unwillkürlich die Finger des Knaben so fest, dass dieser zu zucken begann. Birkenbaum fasste sich, ließ Karlens Finger los und legte wie beruhigend seine andere Hand auf dessen Nacken. Seine Erregung ließ allmählich nach. Noch war ja Hoffnung vorhanden, noch gab es Nahrung, noch konnte sich wer weiß was ereignen!

Doch während die Nacht mit unendlicher Langsamkeit dahinschwand, wuchs seine Verzweiflung von neuem. Das Verlangen, noch zu leben, bäumte sich auf gegen die Vorstellung einer plötzlichen unnatürlichen Vernichtung, bis im Osten der erste Morgenschimmer sichtbar wurde und der Bursche mit gesenktem Kopf ein wenig einnickte. Zitternd wachte er auf. Die anderen hatten sich schon vom Schlitten erhoben, standen da und blickten auf das Meer hinaus. Es war unangenehm kalt Karlen zitterte auch, doch schlummerte er immer noch fort. Birkenbaum wollte ihn nicht wecken und blieb sitzen, bis er erwachte. Dann erhoben sich auch die beiden und blickten ringsumher.

Dasselbe gestrige Bild der Hoffnungslosigkeit: graue Wellen mit weißen Schaumkronen und oben graue Wolken. Das Eisfloß war kleiner und runder geworden, an der Windseite schaukelten am Rande und rieben sich unaufhörlich grünliche Klötze. Die Gesichter der Fischer sahen alle viel älter aus als gestern, und in aller Augen lag jener gequälte Ausdruck, der da entsteht, wenn der Mensch von Gespenstern heimgesucht wird, die an seinem Herzblut saugen.

Als Skrastinsch einige Worte mit Janis, mit dem er befreundet war, gewechselt und Karlen wehmütig auf die Schulter geklopft hatte, trat er auf Grünthal zu. Sowohl er, als auch die übrigen betrachteten ihn als das Haupt der Leidensgenossenschaft.

»Wie wird's mit dem Frühstück sein?« frage er.

»Wir nehmen wieder Fische«, antwortete Grünthal. »Wer will, mag sie roh essen, für die übrigen werden wir sie wieder halbgar kochen, solange das Holz reicht!«

Es wurde wieder Feuer angemacht und die Fische in derselben Weise wie am Abend gekocht. Mit Widerwillen aßen die Fischer. Birkenbaum führte wiederum den Knaben beiseite, und beide tranken.

»Du bist mir wie ein Bruder«, sagte der Junge.

»Ach was ... das ist doch nichts. Du bist ein braver Junge. Ich würde aus dir einen tüchtigen Gesellen machen.«

»Weißt du, wenn wir ans Land kommen, dann wollen wir uns gut vertragen.«

»Gut, gut, jawohl.«

Als sie sich wieder zu den übrigen gesellt hatten, befahl Grünthal, dass Birkenbaum einen Fischerhaken recht fest an eine FehmerstangeEine ›Fehmerstange‹ ist im baltischen Deutsch eine Lattenstange, der Bestandteil eines Schlittens. binde; man müsse eine Notflagge aufrichten. Ob nicht jemand ein rotes Tuch besitze? Es erwies sich, dass ein solches nicht vorhanden war, dagegen hatten vier Mann rote Hemden an: Grünthal, Janis, Dauda und Skrastinsch.

»Wie steht's, Skrastinsch, mit deinem Hemde?« fragte Grünthal. »Gibst du's für die Flagge her?«

»Wenn ich's muss, so tu ich's«, antwortete wehmütig der Fischer. »Aber ohne Hemd werd' ich wohl frieren. Ich bin so'n verfrorener Mensch. Ich weiß, dass ich schon jetzt mit dem Hemde blaue Lippen habe. Aber wenn gegeben werden muss, dann ... sag' ich auch nichts.«

Alle Augen wandten sich dem Sprecher zu, dessen Lippen tatsächlich bläulich waren. Über Grünthals Züge huschte der Schatten eines Lächelns.

»Nun, wir werden versuchen, auch ohne dich auszukommen«, sagte er. »Ich bin's zufrieden, mit Janis zu losen, wer von uns sein Hemd hergeben soll.«

»Ich bin's auch«, bemerkte Janis.

Grünthal zog aus seinem Busen ein Notizbuch, riss ein Blatt heraus und machte daraus zwei Lose, nachdem er in eins derselben ein Kreuz eingezeichnet hatte. »Das Kreuz bedeutet das Hemd«, sagte er und hielt Janis beide Lose auf der Handfläche entgegen.

Janis ergriff ein Los – er hatte das Blättchen mit dem Kreuz gezogen.

»Stellt euch an der Windseite zusammen auf«, sagte er, warf schnell den Pelz, den Rock, die Weste ab, einen Augenblick schimmerten seine sehnigen Arme und seine weiße Brust vor ihren Blicken, und dann stand er wieder da im Pelz wie alle übrigen.

»Es war wie ein Sprung in kaltes Wasser«, bemerkte er.

Das Hemd wurde an der Spitze des Hakens befestigt und in die Höhe gehoben. Die Fischer wollten eine Vertiefung ins Fis hauen, das Ende der Fahnenstange in dieselbe stellen und letztere an der vorderen Krümmung der Schlittensohlen festbinden, damit die Flagge nicht gehalten zu werden brauchte. Grünthal jedoch, der die verzweifelten Leute auf irgendeine Weise beschäftigen wollte, widersetzte sich dem und bestimmte, dass die Stange der Reihe nach von je zweien aufrecht erhalten werden müsse.

Als Birkenbaum an die Reihe kam, wollte er allein die festgesetzte Zeit bei der Stange verbringen, Karlen jedoch ließ das nicht zu, ergriff die Stange und half seinerseits das vom Wind hin und her gepeitschte Notzeichen in die Höhe zu halten.

»Ich hab Durst«, klagte der Knabe.

»Meinst du, ich hätt ihn nicht? Schluck Eis, sauge Eis.« – »Schluck und sauge! Was soll ich schlucken, was saugen, wenn mir der Mund schon wie ausgebrüht ist? Wie lange werden wir's so aushalten können?«

»Ja, das weiß Gott, das hat wohl noch niemand von uns zu erfahren versucht.«

»Ach, wenn doch bloß ein Tropfen da wäre, um ordentlich zu trinken.«

»Plärre nicht«, sagte Birkenbaum.

»Ja, du bist groß, aber wenn du so wärst wie ich, dann würdest du nicht so reden.«

Der Bursche entsann sich der vergangenen Nacht und wurde wieder freundlicher.

»Nun ja, es ist ja schwer, es ist ja schwer, aber was soll man machen«, sagte er.

»Ich habe von jeher kalte Speisen und Getränke nicht vertragen können«, fuhr Karlen fort zu klagen. »Und jetzt muss ich reines Eis schlucken ... Unterhalb der Rippen, an der linken Seite, schmerzt es mich so sehr, so sehr. Manchmal sticht es wie mit einem Spieß.«

»Ja, da bin ich glücklicher, mir hat das Eiswasser noch nicht geschadet.«

Aber nachher begann auch Skrastinsch, ähnlich dem Knaben, zu klagen, und die Fischer wurden unruhig über dieses neue drohende Ungemach, an das die meisten von ihnen nicht gedacht hatten.

Grünthal bemühte sich wiederum die Gefährten zu beruhigen.

»Noch haben wir ja zwei Pferde«, sagte er. »In denen ist noch genug warmen Saftes, wenn ihn jemand nötig haben sollte.«

»Blut trinken!« rief Sfihlis aus.

»Ein süffiges, salzig-süßes Getränk«, erklärte Birkenbaum ruhig. »Ich habe Blut getrunken.«

Auf den Gesichtern der Fischer erschienen gleichzeitig Verlangen und Ekel, Verlangen nach einer warmen Flüssigkeit und der anerzogene Ekel gegen das Blut.

»Wir sind noch nicht genug ausgehungert«, versetzte Grünthal, die Gefährten betrachtend. »Wir wollen die Birken dann anbohren, wenn ihr Saft uns angenehm erscheinen wird.«

Als wieder Birkenbaums und Karlens Reihe da war, an der Stange zu stehen, fragte der Knabe, nachdem sie eine geraume Weile geschwiegen hatten:

»Birkenbaum, du hast wahrscheinlich schon viel erlebt?«

»Denkst du deshalb, weil ich Blut getrunken habe? Das hättest du auch schon erleben können. Ich war damals in deinem Alter. Wir schlachteten ein Kalb ... ich war damals ein toller Jung...«

»So. Und wie alt warst du, als du anfingst ...«

»Zu trinken? Branntwein zu trinken?«

»Nein ... Nichts, gar nichts ... Sag mal, was würde dir am meisten leid tun, wenn wir nun nicht mehr an Land kämen?«

»Was? Das ganze Leben würde mir leid tun.«

»Das tut einem jeden leid. Aber ich meine etwas Besonderes. Die Mutter, der Bruder, die Braut oder irgend etwas.«

»Ich habe nichts Besonderes. Ich denk' nur, dass ich noch viele Jahre so hätte leben können, wie bisher, und dann bedaure ich das Leben oder mich selbst – ich weiß es nicht recht.«

»Ja, mich selbst ... mir ist's auch so. Aber mir tut besonders eine Sache leid. Ich habe bisher immer so gedacht, wer weiß, wie es dann ist ... und ich habe immer stärker gewünscht, zu erfahren, wie es dann ist, wenn so ... zwei ... ach, Birkenbaum, war' ich doch du!«

Er sah den Burschen an und in seinen Augen brannte die schmerzliche Flamme ungestillter Sehnsucht.

»Das ist einerlei«, stieß Birkenbaum kurz hervor, in seinen schamhaftesten Gefühlen eigentümlich berührt »Das ist alles eins. Du bedauerst das, ich das ... Eh Unsinn!«

Ihre Frist war um und an die Stange trat ein anderes Paar.

Gegen abend erhielt ein jeder wieder seine Ration Fische und dann senkte sich auf die Unglücklichen von neuem die lange Nacht mit ihren Bildern von warmen Stuben, in denen helle Lämpchen brannten, von bleichen Frauen, gerungenen Händen, verweinten Augen.

Auch Karlen, obwohl er es sich abermals auf Birkenbaums Schoß bequem gemacht hatte, schlief wenig und unruhig.

Am Morgen des dritten Tages gab es kein Holz mehr. Aber niemand dachte auch mehr daran, die Fische zu kochen.

Mit gierigen Augen sahen alle dem Verteilen zu, neidisch, dass nicht jemand einen größeren Fisch bekomme.

»Hast du nichts mehr in der Flasche?« fragte Karlen, indem er Birkenbaum beiseite führte.

»Nein, nichts!«

»Aber es war doch noch ziemlich viel darin.«

»Das hab ich gestern abend ausgetrunken.«

»Ausgetrunken?«

»Ja. Ich bekam so ein ... so einen ...«

»Und gabst mir nichts?«

»Musste ich denn das? Hatt' ich dir das versprochen?«

»Versprochen! ... Aber du siehst doch, dass es mir schlechter geht als dir.«

»Aber das war meine Flasche. Und schlimm geht es mir auch. Dank Gott, dass du überhaupt was bekamst. Ein anderer an meiner Stelle ...«

»Ach, so einer bist du!«

»Was für einer denn?«

»Ach, geh ... es war noch so viel ... es genügte noch für uns beide bis morgen, übermorgen«, rief der Knabe erbittert aus. »Und nun hat er alles allein vertan!«

»Sieh mal!« versetzte Birkenbaum in Zorn geratend. »Er wird mich schelten! So'n Knirps! Dass du nur nicht noch eins aufs Maul kriegst!«

»Dass du nicht selbst kriegst!« rief der Junge mit mühsam zurückgehaltenen Tränen aus, und warf Birkenbaum hasserfüllte Blicke zu. »Säufer!«

Birkenbaum trat ganz dicht an den Knaben heran, sah ihm fest in die Augen und versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf die Lippen.

»Jetzt wirst du deinen Mund halten«, sagte er.

Das Gesicht des Knaben verzerrte sich vor Wut. Er ergriff die Hand des Burschen und versuchte sie zu beißen.

Doch Birkenbaum befreite sie mit einem Ruck und presste die Arme des Knaben wie mit Zangen zusammen.

Karlens gelbliche Zähne bissen sich in seine bleiche Unterlippe ein, und er versuchte Birkenbaum mit den Füßen zu stoßen; allein der Bursche zog ihn so fest an sich, dass ihm das nicht gelang. Plötzlich merkte Birkenbaum, dass der junge schlaff wurde. Er ließ ihn los und Karlen wäre hingestürzt, wenn er ihn nicht aufs neue schnell mit den Händen ergriffen hätte. Eine Weile ruhte Karlens Kopf wie tot auf der Brust des Burschen.

»Karlen, Karlen, was ist dir?« fragte er.

»Trinken«, flüsterte der Knabe. »Gebt mir zu trinken.«

Birkenbaum führte den Knaben zum Schlitten und trat dann zu Grünthal mit der Frage, ob nicht einem der Pferde das Blut abgelassen werden sollte? Der Junge sei vollständig erschlafft.

»Darüber müssen wir uns mit den anderen beraten«, antwortete Grünthal. »Des Jungen wegen allein dürfen wir das Pferd noch nicht schlachten.«

Er rief die Fischer zusammen und es wurde beschlossen, noch abzuwarten.

Grünthal machte Birkenbaum gegenüber eine bedauernde Handbewegung, und das Häuflein löste sich wieder.

Birkenbaum, an dessen Seite bisher fast beständig Karlen sich befunden hatte, blieb allein.

Er trat auf den schweigsamen Gurlum zu und sprach ein paar Worte, allein der Fischer sah ihn bloß an und erwiderte nichts. Er wandte sich an Skrastinsch, dieser sah ihn mit eingefallenen Augen wehmütig an, sagte: »Nun, Birkenbaum? Siehst du, Birkenbaum ...« schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Er gesellte sich zu den Daudas. Sie sprachen über die Mutter, ihre Einsamkeit und über die mögliche Rettung. Er stand eine Weile bei ihnen, sie sprachen weiter, ohne den Burschen zu beachten. Er ging weiter. Gulbis und Sfihlis sahen zu, wie Saiga die Matte auseinanderzupfte und mit dem Bast sein Pferd fütterte. Dieser Gruppe wollte Birkenbaum sich nicht nähern. Er hasste Saiga und dessen Affenblick. Er wandte sich zu Grünthal, welcher augenblicklich allein bei der Stange stand. Aber ohne stehenzubleiben, ging er an ihm vorüber. Dieser stattliche Fischer besaß etwas, was Birkenbaum fehlte, und das ihn wie mit unsichtbarer Hand niederdrückte und zu geheimem Widerstand reizte. Er schritt wieder auf den Schlitten zu, auf dem Karlen zusammengesunken dasaß und mit weit offenen Augen in die Ferne starrte. Birkenbaum ging an ihm einmal langsam vorüber, ein zweites Mal – der Knabe saß da mit starren Blicken und geöffneten Lippen und schien den Burschen nicht zu bemerken. Schließlich setzte sich Birkenbaum neben ihn auf den Schlitten.

Aber auch das beachtete der Knabe nicht. Nachdem er so lange Zeit gesessen, erhob sich Birkenbaum wieder. Soeben war auch wieder an ihm die Reihe, an der Stange zu stehen.

Verstimmt stand er seine Zeit da, keiner trat auf ihn zu, keiner bemerkte ihn. Nachdem er die Stange Skrastinsch und Gulbis übergeben, ging er bis an den Rand des Eisstückes. Wenn das Stück, auf dem er stand, abbrach, was war dabei Großes? Sterben musste er sowieso eines solchen Todes – früher oder später musste er ins Meer stürzen, wenn das Eis in Trümmer barst. Um wie vieles kleiner die riesige Fläche bereits geworden war! Und mit welch einem rastlosen Eifer die losgebrochenen Blöcke gegeneinander und gegen das Floß der Fischer rieben! Und dort weiter – mit welcher Gier versuchten die Wogen all diese grünlichen, tellerförmigen Blöcke und Schollen zu überspringen, um ihre flockigen Kronen den Fischern zu Füßen zu werfen.

Birkenbaum umging, ohne im geringsten auf die gefährlichen Risse zu achten, das Eisstück ganz und kehrte dann wieder zu dem Schlitten zurück. Der Junge hatte sich noch immer nicht von der Stelle gerührt. Seine breiten Lippen waren bläulich, seine schmale Stirn, von der die Mütze zum Nacken verschoben war, glänzte in gelblicher Blässe.

Birkenbaum setzte sich ihm wieder zur Seite.

»Karlen!«

Der Knabe tat, als ob er nicht hörte.

»Zu trinken gibt's nicht«, fuhr der Bursche fort. »Nur Eis ist da. Aber wenn du willst So werde ich ein Stückchen solange in den Händen halten, bis es ausgeschmolzen und das Wasser lau geworden sein wird. Wenn du es aber nicht mehr aushalten kannst ... hör' mal zu  ... wenn du es nicht länger ertragen kannst ... so ... ich ... schneid' mich in die Hand.«

Karlen zuckte zusammen, schüttelte sich und warf dann einen verlangenden Blick auf Birkenbaums Hände.

Eine Sekunde später hielt der Bursche seine Linke an des Knaben Munde.

Der Junge ergriff Birkenbaums Hand, versuchte sie wegzustoßen, beruhigte sich und sog ...

Dann riss sich der Bursche das Tüchlein vom Halse und umwickelte damit die Hand unterhalb des Daumens.

Als Grünthal am Abend die Fische verteilt hatte, zog ein kleines Wölkchen auf, und es vielen feine Flocken nieder. Danach legte sich der Wind und das Wetter klärte sich auf. Freundlich leuchteten am Himmel die Sterne, blass schimmerte die Milchstraße. Aber keiner der Unglücklichen hob den Blick zur Höhe. In dumpfer Gleichgültigkeit verbrachten sie die Nacht.

Mit dem neuen Morgen ging ihnen eine neue Hoffnung auf, denn das Wetter blieb klar und ruhig. Nun würde ihr Notzeichen von einem vorüberfahrenden Schiff vielleicht eher bemerkt werden.

Allein der Tag verrann und die Hoffnung erfüllte sich nicht.

Am Abend verkündigte Grünthal, dass der Fischvorrat nur noch für fünf Tage reiche. Ob man heute abend nicht bloß einen Fisch an jeden verteilen sollte, damit man länger auskomme?

Es möge heute abend noch beim Alten bleiben, beschloss die Mehrheit, und Grünthal verteilte die gewohnte Anzahl.

Als das Rot im Westen zu verblassen begann, erhob der alte Dauda feierlich seine Stimme und fragte, ob die Fischer nicht mit ihm zusammen beten wollten? Schweigend blickten die Leute einander an und stellten sich dann um den Greis, welcher in unbeholfener Weise ein langes, herzliches Gebet sprach und zuletzt auf die Knie sank. Die übrigen folgten seinem Beispiel, und dann zitterte es von aller Lippen: »Vater unser, der du bist im Himmel ...«

Still setzten sie sich dann auf den Schlitten und wurden bald von der Dunkelheit eingehüllt. Die Wasser rauschten näher und das Eis hob und senkte sich in beängstigender Weise.

Karlen hatte sich an Birkenbaum gelehnt.

»Nun ist alles aus, Birkenbaum? Ja?«

»Wahrscheinlich«, antwortete der Bursche.

»Du wirst es länger aushalten, als ich.«

»Wahrscheinlich.«

»Ach, wenn doch nur nicht alles so langsam ginge ... Die, welche sterben werden, wird man doch ins Meer werfen?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann versenke du mich ... Ach, wenn nur alles nicht so langsam ginge ... Binde mir auch was um das Gesicht ... Ach, lieber Birkenbaum, ach, Birkenbaum!«

Der Knabe umfing den Kopf des Burschen, drückte seinen Kopf an seine Schulter und schluchzte.

Birkenbaum schwieg.

Am Morgen des fünften Tages glaubte Grünthal fern am Horizont Rauch bemerkt zu haben. Mit der größten Aufmerksamkeit blickten alle nach der bezeichneten Stelle. Man sah dort ein längliches Wölkchen, das immer deutlicher wurde, und zuletzt konnte man nicht mehr zweifeln, dass es der Rauch eines vorüberfahrenden Dampfers war.

»Hebt die Fahne höher! Lasset sie wehen!« schrien die Fischer durcheinander und alle drängten sich um die Stange.

Das Rauchwölkchen wuchs und die bleichen Gesichter der Fischer belebten sich wieder, ihre Augen funkelten. Selbst dem stummen Gurlum löste sich die Zunge zu einigen Freudenworten.

Der alte Dauda weinte.

Eine geraume Weile blieb das Wölkchen gleichmäßig groß. Regungslos starrten die Fischer nach ihm hin, beinahe ohne mit den Augen zu zwinkern.

Dann jedoch wurden die Blicke immer starrer, immer schauerlicher. Das Wölkchen fing an zu schwinden! Das Dampfschiff näherte sich ihnen nicht, es sah sie nicht oder wollte sie nicht bemerken! Es fuhr an ihnen vorüber!

Wie der Schatten der Nacht senkte es sich auf die Gesichter der Fischer nieder. Die Fahnenhalter ließen die Stange los, sie fiel um, und Saiga trat das rote Hemd mit Füßen, und biss in den Ärmel seines Pelzes. Der arme Skrastinsch war auf den Schlitten gesunken, murmelte dort unverständliche Worte und lachte. Karlen hielt Birkenbaum fest umschlungen und Grünthal stand da und starrte noch immer nach der Stelle, wo das Rauchwölkchen verschwunden war.

Plötzlich schrie Janis auf.

»Ein Boot, ein Boot!« rief er.

Alle wandten sich dem Burschen zu, der mit den Händen freudig winkte. Von allen unbemerkt, war von der entgegengesetzten Seite ein Boot bereits so nahe herangefahren, dass man unterscheiden konnte, wieviel Menschen in demselben saßen. Es waren im ganzen sieben. Zwei ruderten, einer steuerte und vier saßen untätig da.

Der alte Dauda faltete die Hände und hob sie gen Himmel.

»Birkenbaum! Birkenbaum!« schluchzte der Knabe.

Als das Boot so nahe herangekommen war, dass man die Gesichter unterscheiden konnte, sahen die Fischer, dass es drei Fremde und Stuhre, Skapann und die beiden Zubuks waren, alle vier glichen eher Leichen als lebendigen Menschen.

Die Fischer eilten dem Boot entgegen. Nach mancherlei Mühen gelang es einem der Ruderer, auf das Eisstück zu steigen.

Er grüßte und sagte etwas, doch keiner verstand ihn, denn er sprach nicht lettisch. Zuletzt gelang es Grünthal mit Hilfe der Zeichensprache soviel zu erfahren, dass das Boot nicht mehr als sieben Personen aufnehmen könne.

Bloß sieben! Und ihrer waren zehn! Wer sollte gerettet werden, wer sollte Zurückbleiben? Einen Augenblick standen alle fassungslos da, dann begann Saiga sich dem Boot zu nähern.

»Man muss einsteigen«, sagte er, »wer dann zurückbleibt, bleibt zurück.«

Aber Grünthal ergriff ihn bei der Hand und riss ihn zurück.

»Bleib, das wäre ...! Wir müssen wieder losen. Ihr alle seid doch einverstanden?«

»Versuchen wir es doch zuerst, uns alle in das Boot hineinzusetzen«, sagte Skrastinsch, »sieht man dann, dass es so viele nicht tragen kann, dann ist noch Zeit zum Losen.«

Allein der Fremde war damit nicht einverstanden. Er zeigte, dass dann eine Rauferei entstehen und das Boot kentern könne.

»Nun, so lasst uns losen«, sprach Grünthal. »Stellt euch nach dem Alter auf. Dauda, Saiga, Gurlum, Skrastinsch, Sfihlis – so ist's doch wohl richtig? ... Ja? ... Wer folgt dann? Janis? ... Gut Und dann? Gulbis und Birkenbaum? Ja ... Karlen und ich, wir bleiben die letzten.«

Er riss wieder einige Blätter aus seinem Notizbuch, machte daraus zehn gleichmäßige Blättchen, kennzeichnete drei davon durch Bleifederkreuzchen und rollte die Lose zusammen.

»Wer die Kreuzchen zieht, der bleibt zurück.«

Er legte die Lose in seine Mütze und näherte sich dem alten Dauda. Der Alte wickelte sein Blättchen los: es war leer. Mit zitternder Hand griff Saiga in die Mütze. Er erfasste ein Los, dann ein zweites und wickelte zuletzt das dritte los. Es war leer. Gurlum hatte das gleiche Glück. Skrastinsch bekreuzte sich freilich und zog dann sein Los. Leer ... Sfihlis' Hand zitterte so heftig, dass er kaum das Blättchen loswickeln konnte. Gerettet ... Mit sicherer Hand griff Janis in die Mütze und zog das erste Kreuzchen. Gulbis teilte das Glück der übrigen. In der Mütze blieb nur noch ein reines Los neben zwei Kreuzchen. Die Lippen aufeinandergepresst hielt Grünthal Birkenbaum die Mütze hin. Mit stockendem Atem sah der Bursche einen Augenblick in dieselbe, ergriff dann schnell ein Los und rollte es auf. Er hatte das letzte unbezeichnete Blättchen gezogen.

Grünthal stülpte die Mütze um und ließ die übrig gebliebenen Lose ins Eis fallen.

»Wir brauchen nicht zu losen, Karlen«, sagte er. »Nun, so gehet.«

Hastig bestiegen Saiga und Gurlum das Boot ihnen folgten Gulbis und Sfihlis, Skrastinsch trat zu Grünthal heran und drückte ihm die Hand.

»Grüß meine Frau«, sagte Grünthal.

Auch Birkenbaum verabschiedete sich von ihm, ebenso von Janis. Dann wandte er sich zu Karlen, der wie erstarrt dastand und auf das Boot schaute.

Birkenbaums Gesicht überflog ein Schatten. Er ergriff die Hand des Knaben und drückte seine mageren, kalten Finger. Der Knabe erwiderte den Druck nicht, und als der Bursche die Hand wieder losließ, fiel sie wie tot an Karlens Seite nieder. Nachdem er einige Schritte vorwärts getan, blieb Birkenbaum plötzlich stehen, warf dem Knaben einen eigentümlichen Blick zu, schien mit sich zu kämpfen und stieg dann langsam in das Boot.

Dauda und Janis waren beiseite getreten; der Greis konnte sich augenscheinlich vom Sohne nicht trennen.

»Es ist Zeit, Vater Dauda«, trieb Grünthal den Alten an.

»Ich bleibe«, sagte der Greis.

»Ich gehe nicht! Um keinen Preis!« rief Janis.

»Du wirst! Geh! Du wirst mir eher nachfahren, als ich dir. Ich werde warten. Geh! Geh!«

»Vater!«

»Der Mutter Grüße vom Alten. Und komm und hole mich, Geh, steig ein!«

»Niemals! Ich kann nicht Ich werde nicht!«

Doch der alte Dauda drängte Janis zum Boot, das er zuletzt zögernd bestieg.

»Behüt' dich Gott, mein Sohn! Behüt' dich Gott, mein lieber Sohn!« rief ihm der Greis nach und wiederholte leise, während sich das Boot langsam entfernte: »Behüt' dich Gott, mein Sohn! Behüt' dich Gott, mein Sohn!«

Grünthal schwenkte abschiednehmend die Mütze, schlang dann seinen Arm um Karlens Nacken und blieb so regungslos stehen.

Ein wenig nach vorn gebückt, stand auch Dauda wie erstarrt da.

So blieben sie für Janis und Birkenbaum, die ihre Augen nicht von ihnen wandten, noch eine Weile sichtbar. Dann wurden die Gestalten undeutlich, flössen ineinander, und zuletzt erschien das ganze Eisstück wie ein kleiner graugrüner Punkt.

Und dann war auch der verschwunden.


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