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Trauerklang der Kirchenglocke, Trauerklänge der Sänger, traurige Gesichter um das offene Grab, ein schwarzer, reich verzierter Sarg, ein pompöser Kranz aus frischen Blumen darauf – und keine einzige Träne ...

Wer war es, den man heute zur letzten Ruhe geleitete? Es war der Besitzer des reichen Hofes Raudupes.

»Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen ...«, so beginnt der Pastor seine feierliche Grabrede und geht dann zur Auslegung des Textes über. Er spricht davon, dass auch dem Leben des Entschlafenen Kummer und Leid beschieden gewesen sei, er spricht von der langen Krankheit, die Raudup mit wahrhaft christlicher Geduld getragen habe. Die irdischen Güter, mit denen Gott der Herr den Dahingeschiedenen in so reichem Maße gesegnet, haben wenig Verlockendes für ihn gehabt; denn seine Seele habe immer nur nach dem höchsten Gut gestrebt, das weder Motten noch Rost zerfressen und das kein Dieb stehlen kann.

Zum Schluss gedenkt der Pastor des armen verwaisten Knaben und des für immer gebrochenen Herzens der Witwe, und er fordert auf, zu dem zu beten, der alle Tränen trocknet.

Die Witwe mit dem gebrochenen Herzen drückt ein schneeweißes Taschentuch vor das Gesicht, um nicht merken zu lassen, dass dort im Grunde nichts zu trocknen und wegzuwischen ist. Und das arme Waisenkind sitzt neben dem offenen Grabe, betrachtet den Sarg mit einem Gemisch von Furcht und Neugier und denkt darüber nach, warum sie den Papa in so eine tiefe Grube schlafen legen.

Nun die letzten Geleitworte, und der Pastor tritt vom Grabe zurück.

Vier Burschen mit Schaufeln in den Händen gehen vor zum Rand der Grube.

Einer von ihnen beugt sich zu dem Kind und flüstert ihm zu:

»Mattissin, sieh Papa noch einmal an und wirf drei Hände voll Erde in das Grab. Du siehst Papa jetzt zum letzten Male.«

Der Knabe gehorcht, aber völlig gleichgültig wirft er seine drei Händchen Erde ins Grab. Der Bursche stößt die Schaufel in die Erde, nimmt den Kleinen auf den Arm, trägt ihn aus der Menge und setzt ihn auf einen Grabhügel.

»Bleib hier sitzen, Mattissin, ich helfe Papa begraben.«

Das Kind hat schwache Beinchen, es freut sich deshalb immer, wenn es auf den Arm genommen wird. Jetzt blickt es zu dem Burschen auf und bittet:

»Kārlis!«

»Was denn?«

»Bleib bei mir.«

»Bleib nur allein sitzen, ich habe jetzt keine Zeit, ich bin bald wieder da.«

Aber das Kind lässt ihn nicht los. Da kommt Frau Raudupiete selbst.

»Geh nur, geh, ich werde mich zu ihm setzen.«

Karl nimmt den Spaten auf. Mit dumpfem Poltern fällt die Erde auf den Sarg. Der Kranz zerfällt, dann verschwindet er ganz, das Grab füllt sich mit frischer Erde. Das Trauergeleit singt einen Abschiedschoral, und der kleine Mattissin beginnt zu weinen.

»Wo ist Karlas?« fragt er unter Tränen. »Er soll herkommen.«

Die Mutter sucht ihn zu beruhigen und steckt ihm Süßigkeiten zu.

»Will keine! Geh weg, Karlas soll kommen!« beharrt der Kleine eigensinnig.

Kārlis kommt. Mattissin nimmt seine Hand. Kārlis muss sich neben ihn setzen. So sitzen sie zu dritt auf einem unbekannten Grab, unter dem Schatten eines großen moosbewachsenen Kreuzes: die Raudupiete, Mattissin und Kārlis.

Über dem frischen Grab wölbt sich schon ein sauber abgesteckter Hügel. Raudupiete steht auf, geht zum Grab und schmückt es mit Girlanden vom Heidelbeerstrauch, durch deren Blattgrün leuchtende Blüten aus gefärbten Hobelspänen schimmern. Dann strebt alles dem Ausgang und den Pferden zu.

Nach altem Brauch wird das Trauergefolge, bevor es den Heimweg antritt, mit Wodka und Pirogen bewirtet. Auch Raudupiete trinkt, isst etwas dazu und bringt eigenmächtig ein großes Glas Schnaps zu Kārlis, der eben Mattissin in den Wagen setzt.

»Ich fahre mit dir nach Hause«, erklärt ihm Mattissin. »Mama kann sich ja auf den hohen Kastenwagen setzen«, und er zeigt auf den Leichenwagen, den Kārlis geführt hat, als sie zum Friedhof fuhren.

Aber im Wagen ist Platz genug. Sie sitzen zu dritt darin. Unterwegs schläft der Junge ein, Raudupiete spricht und spricht, vielleicht etwas zu viel und zu heiter für eine Witwe mit gebrochenem Herzen. Kārlis hört schweigend zu und gähnt von Zeit zu Zeit. Was die Raudupiete jetzt alles erzählt, das weiß er schon längst auswendig. Ja, er weiß, dass Raudup ein alter und kranker Mensch war, dass die Frau es nicht leicht hatte mit seiner Pflege, dass die Wirtschaft groß ist und dass Raudupiete ohne männlichen Beistand kaum durchkommen kann; er weiß, dass er, Karlis, das einzige Patenkind des alten Raudup ist und dass die Raudupiete noch keine dreißig Jahre zählt. Warum soll sich Kārlis das alles noch einmal anhören? Und erst, als die Raudupiete davon anfängt, dass sie zur Zeit kein bares Geld im Hause habe, dass aber Kārlis wohl bald die hundert Rubel haben möchte, die ihm der Pate hinterlassen hat, da fängt auch Kārlis an zu reden:

»Hat keine Eile. Lass das Geld einstweilen bei dir liegen, ich werde es erst zum Herbst brauchen, so etwa um den Martinstag.«

Raudupiete nickt.

»Sieh mal, du wirst ja auch künftig öfters zu uns kommen«, sagt sie. »Früher hast du den kranken Onkel besucht, und jetzt vergiss die Waise nicht. Du weißt ja selbst, wie Mattissin an dir hängt.«

»Wie sollte ich, sonntags kann ich immer kommen.« Sie fahren in den Hof Raudupes ein.

Einer der Knechte nimmt das Pferd in Empfang, Kārlis hilft Raudupiete beim Aussteigen und trägt den Kleinen ins Haus. Im Zimmer ist es drückend heiß, und es duftet nach frischgeschnittenem Tannengrün. In der Gesindestube sind lange Tische aufgestellt, über die man nach altem Brauch Siebe mit gekochten Erbsen verteilt hat: Das ist ein Symbol für die Tränen der Hinterbliebenen. Zwei Mägde räumen die »Tränen« weg und stellen flink die Schüsseln mit dem Leichenschmaus auf. Die Zimmer füllen sich mit Gästen. Viele haben Tannenzweige vom Friedhof mitgebracht.

»Sterbt nicht, sterbt nicht, auf dem Friedhof ist kein Platz«, sagen sie zu den jungen Leuten – und »Sterbt, sterbt, auf dem Friedhof ist viel Platz« zu den Alten, die nicht beim Begräbnis waren, und schlagen sie mit den Zweigen. Die einen wie die anderen lachen.

Dann setzen sie sich an den Tisch und machen sich über Speise und Trank her. Auf je vier kommt eine Flasche Schnaps. Je mehr der Branntwein zur Neige geht, desto lauter und fröhlicher werden die Gäste. Zuweilen lässt dröhnendes Gelächter die Wände erzittern.

Auch Raudupiete sitzt am Tisch, und auf der anderen Seite, ihr gerade gegenüber, sitzt Karlis. Seine Wangen glühen vom Trunk oder von der Hitze, und Kārlis sieht sehr hübsch aus.

Auch Raudupiete wird es heiß.

Es dunkelt schon, und noch immer sind nicht alle Gäste mit dem Essen fertig. In den jetzt mit Grün umwundenen Holzleuchtern an den Deckenbalken hat man die Kerzen angezündet. Der Hof liegt vom Silberglanz des Mondlichtes übergossen. In allen Zimmern trinken die Alten Branntwein und Grog und sitzen hinter den Karten. Die Jugend promeniert auf dem Hof umher. Gespräche, Gelächter ...

Einige Paare versuchen schon ein Tänzchen, nur so, ohne Musik.

»So ist's schön, so hab' ich's gern«, ruft heiser vom Trinken ein Alter, der die Vortreppe hinaufgestiegen ist. »Tanzt, Kinder, tanzt! Auf meinem Begräbnis werdet ihr auch tanzen! Was hilft das Weinen ... Wer tot ist, ist nun einmal tot. Der alte Raudup war ein Prachtmensch, auf Ehre ... und der hat auch immer das gleiche gesagt ... Der hat gesagt: ‚Wenn ihr wollt, könnt ihr bei meinem Begräbnis vergnügt sein wie bei einer Hochzeit.'«

Einige Burschen gehen zu dem Alten und fragen: »Hat der Verstorbene das wirklich gesagt?« »Natürlich!« schreit der Alte. »Ich werde ihn doch nicht bei seinem Begräbnis verleumden.«

»Na, dann können wir auch tanzen; bloß schade, dass keine Musikanten da sind. Aber vielleicht spielt einer von den Jungen Geige oder Harmonika?«

Und tatsächlich, bei einem der Knechte findet sich eine Harmonika. Er muss sie aus dem Schrank holen und spielen. Ein Paar nach dem anderen dreht sich auf dem Hofe.

Auch Kārlis tanzt. Raudupiete steht an den Zaun gelehnt und sieht zu, wie gewandt er tanzt und wie gern darum die Mädchen seiner Aufforderung Folge leisten. Sie geht näher heran. Aber da ruft eine Stimme laut nach Kārlis. Mattissin ist erwacht und verlangt, dass Kārlis zu ihm komme. Der Bursche lässt das Mädchen stehen und eilt ins Schlafzimmer. Auf dem Tisch brennt eine tropfende Talgkerze. Auf Raudups Bett schlummern friedlich zwei alte Frauen, während der kleine Mattissin auf dem Bette der Raudupiete sitzt und bitterlich weint. Der Stimmenlärm und der Klang der Harmonika ängstigen ihn.

Der Bursche setzt sich aufs Bett und beruhigt das Kind. Aber der Kleine will nicht einschlafen und lässt Kārlis nicht fortgehen.

Nach einer Minute kommt Raudupiete.

»Nun leg dich hin und schlaf!« befiehlt sie.

Aber das Kind gehorcht nicht. Mit weitgeöffneten Augen blicht es in Kārlis' Gesicht und drückt sein Gesichtchen noch fester an dessen Brust.

Raudupiete geht an den Schrank. Im Schrank steht eine Flasche dunkelroten Ungarweins, den der Doktor Mattissin als Kräftigungsmittel verschrieben hat, und ein Gläschen mit der Arznei, die der alte Raudup, der an Schlaflosigkeit litt, nachts zu nehmen pflegte. Raudupiete nimmt das Gläschen, es sind noch ein paar Tropfen auf dem Grunde. Die gießt sie in ein Glas, füllt Wein hinzu und gibt das Mattissin.

Den süßen Wein trinkt Mattissin immer mit großem Vergnügen. Auch jetzt nimmt er ihn gern, und nach zehn Minuten liegt er in festem Schlaf.

Kārlis legt den Kleinen ins Bett, deckt ihn zu und will gehen. Aber Raudupiete ruft ihn an, und Kārlis kehrt um.

»Da, versuch auch mal«, sagt sie und gießt ihm ein Glas bis zum Rande voll. »Trink!«

Kārlis lässt sich nicht nötigen. Er leert das Glas gern bis zum letzten Tropfen.

»Oh, wie ist das süß!« ruft er, als er das Glas der Hausfrau zurückgibt.

»Ist es süß? Auf einem Bein kann man nicht stehn, da, trink noch ein Gläschen.«

Der Bursche trinkt das zweite Glas aus, bedankt sich und geht. Raudupiete gießt sich selbst ein Glas ein, dann schließt sie den Schrank ab.

Auf dem Hofe stellt sie sich wieder neben das Gartenpförtchen. Die Harmonika spielt unentwegt weiter, und der Hof ist voller tanzender Paare. Sogar ein paar ältere Leute drehen sich im Kreise ...

Aber niemand tanzt doch so gewandt wie Kārlis, er fliegt geradezu wie ein Vogel.

Plötzlich steht er vor Raudupiete.

»Vielleicht möchtest du auch tanzen?« fragt er zum Scherz, und der feurige Wein, den er getrunken hat, lässt in seinen Augen Funken sprühen.

»Nun, warum nicht, versuchen wir's«, antwortet Raudupiete. Kārlis blickt sie erstaunt an, aber dann nimmt er sie bei der Hand und führt sie in die Mitte des Hofes.

Der Hof Raudupes ist eine große Wirtschaft, und für Raudupiete ist es schwer, ach so schwer, ohne Hausherrn durchzukommen. Geht sie aufs Feld, um zu sehen, wie die Knechte arbeiten, dann faulenzen in der Zeit die Mägde im Hause. Macht sie sich mit denen zu Hause zu schaffen, dann drücken sich die Knechte nach Kräften um die Feldarbeit. Und wenn es bloß um die Faulheit ginge! Aber ohne Sinn und Verstand machen sie sich daran und säen Flachs auf ein Feld, das für die Gerste bestimmt war, und die Gerste auf das Feld, das für den Flachs vorbereitet wurde; Buchweizen säen sie, wo Kartoffeln gesetzt werden sollten, und das ganze System des alten Gutsherrn geht in die Brüche. Wo man nach dem Pflügen säen soll, säen sie nach dem Eggen und umgekehrt. Und wenn Raudupiete eine Bemerkung wagt, dann ist die Antwort gleich zur Hand: Das hat der alte Herr auch immer so gemacht oder so machen wollen. Und Raudupiete, die sich früher nie mit Feldarbeiten abgegeben hat, muss schweigen und alles für bare Münze nehmen.

Im Keller häuft sich die Butter. Aber wer kann in die Stadt fahren? Der Weg nach Riga ist Raudupiete bekannt, sie ist ihn manchmal mit Raudup gefahren. Aber als die Hausfrau letztes Mal in Riga war, ist ein Fohlen krepiert, und seitdem scheut sich Raudupiete, lange von Hause fortzubleiben. Von Zeit zu Zeit schickt sie Ware mit einem Knecht in die Stadt, oder sie gibt sie einem Nachbarn mit, der nach Riga fährt; aber jedesmal hat sie dann den Eindruck, dass die ihr ein paar Rubel weniger bringen, als sie selbst in Riga eingehandelt hätte.

Raudupiete beklagt sich bei den Vormündern. Die lachen.

»Nimm einen Mann ins Haus«, rät der eine.

»Ja, ja, nimm einen Mann«, stimmt der andere zu. »Ohne einen richtigen Bauern kann eine solch große Wirtschaft nicht gedeihen.«

Raudupiete errötet.

»Wie kann ich einen Mann nehmen, wenn auf dem Grabe meines ersten Mannes noch nicht einmal Gras gewachsen ist ...

Ja, ja, der Hof Raudupes ist eine große Wirtschaft, und für Raudupiete ist es schwer, ach so schwer, ohne Hausherrn auszukommen! Die Knechte werden mit jedem Tage gröber und »unverschämter, und Raudupiete muss die Vormünder wieder bitten, auf den Hof zu kommen. Sie will einen Rat haben.

»Ich hab' dir ja gesagt, nimm einen Mann ins Haus«, sagt der eine.

»Und ich habe gesagt, dass eine solch große Wirtschaft ohne Herrn nicht gedeihen kann« setzt der andere hinzu.

Raudupiete errötet.

»Wenn ihr meint, dann könnte man's ja machen ... Aber wer wird denn solch eine alte Witwe heiraten wollen?«

Die Vormünder lachen.

»Hat sich was mit »dem Alter! Wir wären selbst nicht abgeneigt, aber uns sind die Hände gebunden.«

Nein, die Vormünder können nicht. Sie haben schon längst zugegeben, dass es nicht gut sei, wenn der Mensch allein ist, und jetzt bleibt ihnen nur noch übrig, die Männer aufzuzählen, die froh wären, Raudupiete heiraten zu können. Da sind der Marzis Mizpana, der Sprizis Schljakan, dann Peter Tschutschakok, Andsh Shwaukst, Krustin Quepin, Brenzis Besben ... jeder weiß ein ganzes Dutzend aufzuzählen. Nein, an Männern, die herzlich gerne Bauern auf Raudupes Hof würden, ist Gott sei Dank kein Mangel.

Aber Raudupiete verwirft sie alle.

Die beiden ersten trinken, die beiden nächsten spielen Karten um Geld und verstehen nicht, mit den Leuten umzugehen. Quepin ist ein reicher Dummkopf, und den Brenzis Besben kann Mattissin nicht leiden.

»Ich brauche doch nicht nur einen Mann, sondern auch einen Vater für das Kind.«

»Sehr richtig«, stimmen die Vormünder zu. »Aber woher einen nehmen, der dir gefällt und der auch Mattissin gern hat?«

Just in diesem Augenblick kommt Kārlis auf den Hof. Der Bursche spricht sonntags stets auf dem Gute vor, aber seit der Beerdigung seines Paten ist er noch kein einziges Mal im Herrenhaus gewesen. Immer sitzt er mit Mattissin in der Gesindestube, oder sie spazieren beide irgendwo durch den Garten, nur in die Wohnung des Bauern kommt der Bursche nicht. Heute aber hat er gehört, dass bei Raudupiete Gäste sind, und da wagt er sich mutig ins Haus.

Mattissin springt ihm munter entgegen.

Der Kleine fasst seinen großen Freund fest um den Hals und drückt sein Gesicht an dessen Wange.

»Warum bist du letzten Sonntag nicht gekommen? Dafür musst du heute bis zum Abend bei mir bleiben«, flüstert er ihm zu.

Kārlis beruhigt den Jungen, begrüßt die Hausfrau und die Gäste und setzt sich an den Tisch. Mattissin hält er auf dem Arm. Er unterhält sich mit den Vormündern und baut dem kleinen Mattissin währenddessen ein Kartenhaus.

Dann brechen die Vormünder auf, um die Felder anzusehen. Mattissin will mit, aber Kārlis soll ihn tragen. Die Mutter schilt den Kleinen, aber Kārlis ist schon aufgestanden und macht sich nun, das Kind auf dem Arm, mit den Vormündern auf den Weg.

Es ist zwar nicht alles richtig ausgesät, aber die Felder stehen doch sehr gut, und Raudupiete kann in aller Ruhe eine reiche Ernte abwarten.

Raudupietes Felder sind so weitläufig, dass selbst Kārlis' starke Arme müde werden, wenn sie den Knaben um sie herumtragen.

Zu Hause wartet eine reiche Mahlzeit auf die Gäste. Nach dem Abendessen beginnt Mattissin schläfrig zu werden. Kārlis legt ihn zu Bett, wartet, bis er eingeschlafen ist, und verabschiedet sich.

Die Vormünder bleiben noch, sie sprechen über Kārlis und können nicht umhin, ihn zu loben. Raudupiete hört aufmerksam zu.

Endlich erklärt der eine:

»Weißt du was, Bäuerin? Nimm dir den Kārlis zum Bauern! Da hast du einen Mann! In Gaili ist er zwar bloß Knecht, und er wird dir etwas zu jung sein, aber darauf würde ich nicht sehen.«

»Und Mattissin liebt ihn, und Kārlis liebt den Mattissin ebenso«, setzt der andere hinzu. »Auf Ehre, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich an keinen anderen denken.«

Raudupiete errötet bis über die Ohren.

»Ja, wird denn ein so hübscher Bursche eine Witwe heiraten wollen? ... Das schönste Mädchen würde ihn nicht abweisen.«

Die Vormünder lachen laut los.

»Schöne Mädchen gibt's genug, aber so reiche, wie du eine bist, kann man suchen ... Vorhin, als wir die Felder angesehen haben, da sagte er, dass dein Bauernhof schon mehr ein Gut sei. Und da sollte er hier nicht Bauer werden wollen? Wäre ja geradezu sündhaft, ihn für solch einen Dummkopf zu halten!«

»Man wird sich das überlegen müssen«, sagt Raudupiete.

»Überleg alles gut und mach, was am besten ist.« Raudupiete hat sich alles überlegt.

Und nun geht sie in die Kammer, holt einen ganzen Stoß Festtagskleider heraus, frisiert sich und kleidet sich schön an.

»Wohin fährst du denn?« fragt Mattissin; er sitzt mitten im Zimmer auf dem Fußboden, die schwachen Beinchen gekreuzt, und näht Kleider für eine Puppe.

Die Mutter blickt in den Spiegel, sie bemüht sich, den Scheitel ganz gleichmäßig zu ziehen und gibt dem Kinde keine Antwort.

»Mamachen, wohin fährst du?« fragt der Junge wieder und lässt die blassen Händchen auf dem Schoß ruhen.

Raudupiete hat wieder keine Zeit zu antworten. Aufmerksam mustert sie ihre Seidenkleider. Welches würde ihr wohl besser zu Gesicht stehen, das gelbe oder das weiße? Vielleicht auch das braune mit den rosafarbenen oder das graue mit den roten Blumen?

»Mamachen, liebes, nun sag mir doch, wohin du fährst?« fragt der Kleine. Ohne die Antwort abzuwarten, wirft er das Nähzeug weg und läuft durch das Zimmer zur Mutter.

»Komm mir nicht vor die Füße!« ruft die Mutter, sie bindet sich gerade das graue Kopftuch mit den roten Blumen um.

»Wo ich hinfahre? Zu Besuch, und wenn du artig sitzen bleibst, bringe ich dir auch etwas mit.«

»Wie dein Tuch knistert, Mamachen! Lass mich doch einmal anfassen, es ist sicher ganz, ganz weich.«

»Ein andermal. Du hast schmutzige Hände, Gott weiß, wann du sie zuletzt gewaschen hast« – und die Mutter fährt fort, sich anzukleiden.

Mattissin setzt sich wieder und nimmt seine Näherei vor. Das ist allerdings keine Beschäftigung für einen Jungen, aber was soll man einem so schwachen Knaben schon in die Hände geben? Mit einem Messer kann er fallen und sich schneiden, aber mit einer Nadel kann er kein großes Unheil anrichten.

»Wie schön du geworden bist!« sagt der Kleine, während er die geputzte Mutter betrachtet.

»Bin ich schön?« und die Bäuerin sieht noch einmal auf ihr Spiegelbild.

Auf dem Wege zur Tür beugt sie sich zu dem Kinde und lässt es einen Zipfel ihres Tuches anfühlen.

Mattissin berührt es mit seinen zarten Fingerchen und fragt dann, die großen blauen Augen auf die Mutter gerichtet:

»Mutti, was bringst du mir denn mit?«

»Das wirst du schon sehen«, antwortet die Mutter. »Etwas ganz Schönes?«

»Nun freilich, etwas ganz Schönes.«

Die Bäuerin errötet. Für sie haben diese Worte längst nicht eine solche unschuldige Bedeutung. Dann geht sie, setzt sich in den Wagen und fährt ab.

Der Weg führt zum Hofe Gaili.

In Gaili wird der Schornstein gekehrt. Die hohe, schlanke Gestalt eines Mannes, ganz mit Ruß bedeckt, sieht man auf dem Dache. Der Mann arbeitet an dem Schornstein. Von Zeit zu Zeit ruft er einen kurzen Befehl hinunter.

Die Stimme des Schornsteinfegers erkennt Raudupiete sofort. Sie steigt aus dem Wagen, bindet das Pferd an, und eine furchtbare Unruhe befällt sie.

Raudupiete begibt sich in den Wohnteil des Hauses. Etwa eine halbe Stunde später kommt Mutterdien Gailis aus dem Wohnzimmer, geht zu Kārlis, der gerade dabei ist, Ruß und Schutt wegzuschaffen, und sagt ihm, er solle den Schutt liegenlassen, sich schnell den Ruß vom Gesicht waschen und ins Wohnzimmer kommen – die Raudupiete wolle ihn sprechen.

Kārlis lacht. Was Raudupiete ihm sagen will, kann er auch ungewaschen hören, die Ohren hat ihm der Ruß noch nicht verstopft.

»Junge!« ruft Mütterchen Gailis und klopft ihm leicht auf die Schulter. »Geh schnell und wasch dich. Begreifst du denn nicht, weshalb Raudupiete gekommen ist? Sie will um dich anhalten ...«

»Oho!« Kārlis reißt die Augen auf. »Um mich anhalten! ... Dann sag, ich sei nicht zu Hause. Ich komme nicht zu euch ins Zimmer.«

Die Bäuerin schüttelt nur den Kopf.

»Wie kann ich ihr denn sagen, dass du nicht zu Hause bist, sie hat dich doch auf dem Dache gesehen ... Und warum willst du denn nicht kommen? Schämst du dich? Geh nur, geh, ich störe euch nicht, ihr bleibt allein.«

»Ich habe keine Lust, mit ihr zu sprechen«, erwidert er. »Warum hast du keine Lust? Du wirst doch nicht dumm sein, du wirst doch nicht ...«

»Ich will sie nicht heiraten«, unterbricht Kārlis die Bäuerin. »Bei Gott, ich heirate sie nicht, mag das sonst wer tun. Sei schon so gut und sage ihr, ich sei zu Hause gewesen, aber jetzt irgendwohin gegangen.«

»Nun spiel doch nicht den Dummen. Mach, was du willst, aber sprechen musst du mit ihr. Sprichst du heute nicht, kommt sie ein andermal wieder. Sie wird dich ohnehin nicht gleich mitnehmen.«

»Na schön, ich komme«, sagt Kārlis halb ärgerlich. »Aber ich gehe so, wie ich bin. Soll sie Angst bekommen und sich anderwärts einen Mann suchen.«

Nein, nicht Angst, aber vielleicht ein anderes Gefühl spiegelt sich auf Raudupietes Gesicht, als Kārlis ins Zimmer tritt. Da steht er an der Tür, stark, schlank, schwarz wie ein Teufel, aber trotzdem oder vielleicht gerade deshalb schön wie ein Engel. Ein leichtes Zittern fährt durch Raudupietes Schultern.

Kārlis, halb verlegen, halb spöttisch, räuspert sich und sagt:

»Guten Tag!«

»Guten Tag«, erwidert Raudupiete; ihr ist, als schnüre ihr etwas die Kehle zu.

Dann herrscht Schweigen. Kārlis setzt sich auf die Ofenbank.

»Wer von uns soll nun den Anfang machen? Es gehört sich wohl, dass ich frage, was Mütterchen Raudup von mir will?«

Mütterchen Raudup?

Eine heiße Blutwelle schießt ihr in die Schläfen. Niemals hat Kārlis sie bis jetzt Mütterchen genannt, immer nur Bäuerin. Warum spricht er so? Aber sie nimmt sich zusammen. Je weniger Worte gemacht werden, desto besser.

»Was ich von dir will? Du hast es sicher schon selbst erraten ... Siehst du, es tut mir leid, dass du hier den Schornsteinfeger spielen musst. Ich will dich als Hausherrn nehmen.«

»Schönen Dank für diese Fürsorge, Mütterchen Raudup!« Kārlis schlägt die Augen nieder und blickt auf seine rußgeschwärzten Hände. »Ich fürchte nur, dass es mir schwerer fallen wird, bei dir den Bauern zu spielen

als hier den Schornsteinfeger. Das Gewerbe verstehe ich wenigstens, aber zum Bauern bin ich nicht geboren.«

»Nun, wenn ich schon solch eine Stelle für dich gefunden habe, dann werde ich auch dafür sorgen, dass du dich einarbeitest«, antwortet Raudupiete. »Ich glaube, es wird dir recht sein, wenn ich dich selbst anlerne.«

Kārlis war darauf gefasst, dass das Gespräch diese Wendung nehmen würde; aber als er nun eine bestimmte Antwort geben soll, wird er verlegen und beginnt zu lachen.

»Nun, was sagst du dazu?« fragt die Werberin mit süßem Lächeln.

Na, wenn sie denn eine Antwort haben will, dann soll sie sie bekommen, denkt Kārlis und sagt:

»Wenn ich recht verstehe, dann wünscht Mütterchen Raudup, dass ich bei ihr einheirate? Nein, Mütterchen Raudup, ich kann nicht.«

Diese Antwort ist der Raudupiete völlig unerwartet gekommen.

»Du kannst nicht? Warum kannst du nicht?«

»Darum, weil wir beide nicht zueinander passen. Du bist reich, und ich bin ein armer Knecht. Denk doch nur, was die Leute sagen werden!«

Raudupiete lacht.

»Die Leute? Was gehen uns die Leute an? Lasse sie doch reden, was sie wollen, kann uns das stören? Auf die Leute zu hören, das ist so gut, als wenn man dem Winde nachjagte.«

»Da hast du recht, aber trotzdem ... Nein, Mütterchen Raudup, ich gehe doch nicht.«

Raudupiete steht auf.

Was redet der Kārlis denn da? Soll das Scherz sein oder Ernst? Aber er kann das doch nicht im Ernst meinen. Raudupiete fallen wieder die Worte der Vormünder ein: Es wäre geradezu sündhaft, Kārlis für so dumm zu halten. Sie tritt auf ihn zu und will sich neben ihn setzen.

»Was redest du denn für Dummheiten?« sagt sie, »was zierst du dich?«

»Was heißt zieren«, erwidert Kārlis und rückt zur Seite. »Komm nicht zu nahe, du machst dir das Kleid schmutzig.«

Aber Raudupiete hört nicht darauf und setzt sich neben ihn.

»Nun, wenn du dich nicht zierst, warum sagst du dann nicht frei heraus, dass du einverstanden bist?«

»Ich hab' dir doch schon gesagt, dass ich nicht will.«

»Aber hör mal, ist das dein Ernst?«

»Natürlich ist das mein Ernst, Mütterchen Raudup.« Raudupiete wird rot und blass und sieht den hübschen Burschen an, der da gesenkten Blicks vor ihr steht. Er will sie also tatsächlich nicht heiraten? Ein einfacher Knecht weist die reiche Raudupiete ab ... Scham und Mitleid mit sich selbst überkommen sie, mit Mühe zwingt sie sich, ruhig und ohne Zittern in der Stimme zu sprechen.

»Du denkst sicher, dass ich zu alt für dich bin?«

»Ach, was ist denn das für ein Alter? Ich werde ja doch auch mal alt.«

»Vielleicht bin ich dir nicht hübsch genug?«

»Aber nein! In meinen Augen bist du ganz hübsch.«

»Ja, warum willst du denn nicht? Was hast du denn für einen Grund, dass du nicht nach Raudupes gehen willst?«

»Ja also, offen gesagt, einen Grund habe ich schon«, antwortet Kārlis mit einem Lächeln. »Wenn der nicht wäre ...«

»Was ist das für ein Grund?« fragt Raudupiete rasch. »Vielleicht hast du eine andere Braut?«

Kārlis fühlt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt, nur gut, dass er sich vorhin nicht gewaschen hat! Er winkt ab.

»Was soll ich schon für eine Braut haben!«

»Nun, was hast du denn sonst für einen Grund? Mir kannst du ihn doch sagen! Wahrhaftig..

Kārlis steht auf. Was soll er diesem zudringlichen Weibsbild nur antworten, ohne sie zu beleidigen? Vor Verlegenheit steckt er die rußgeschwärzte Hand in die Tasche. Die Finger berühren ein rundes Steinchen, das ihm Mattissin das letzte Mal lachend hineingesteckt hat. Dem Burschen blitzt ein neuer Gedanke auf.

»Nun, wenn du es durchaus wissen willst«, sagt er, während er sich zur Tür wendet, »dann will ich dir den Grund sagen: Ich mag nicht Stiefvater werden.« Und er stickt sich an, das Zimmer zu verlassen.

Aber Raudupiete fasst ihn bei seiner schwarzen Hand und lässt ihn nicht.

»Wie, Mattissins wegen? Das ist doch nicht möglich! Das Kind liebt dich, und du liebst es doch auch. Wie kannst du da Angst haben, sein Stiefvater zu werden? Nein, das kann der Grund nicht sein, und ich lass dich nicht eher aus dem Zimmer, bis du mir die Wahrheit gesagt hast.«

So ein schamloses Frauenzimmer! denkt Kārlis, und Wut erfüllt sein Herz. Will mir mit Gewalt mein Geheimnis entreißen. Aber das soll ihr nicht gelingen ... Jetzt werde ich ihr einen Grund aufbinden, den sie gleich glauben muss; und er sagt:

»Was soll ich mich verstellen! Der Grund ist der, dass der Hof in Wirklichkeit nicht dir gehört, sondern Mattissin.«

Raudupiete lässt die Hand des Burschen fahren. Jetzt ist ihr alles klar.

Mit trotzigen Schritten geht Kārlis aus dem Zimmer.

Raudupiete ist nach Hause zurückgekehrt.

Ohne ein Wort mit dem Knecht zu wechseln, der hergelaufen kommt, um das Pferd in Empfang zu nehmen, begibt sie sich in das Zimmer und sinkt kraftlos auf einen Stuhl. So eine unerhörte Schmach! Ein Bursche, dem der Herrgott nichts als ein frisches Gesicht geschenkt hat, gibt der reichen Raudupiete einen Korb ... Jawohl, der reichen! Wenn auch das Haus Mattissin gehört, so ist ihr Anteil doch immer noch so groß, dass er mehr wert ist als zwei Höfe zusammengenommen. Das weiß der ganze Bezirk, auch Kārlis weiß das, und doch weist er sie ab. Ihm genügte ihr Reichtum noch nicht. Er wollte mehr haben! Der Dummkopf! Wo wird er denn noch so viel Hab und Gut finden, wie die Raudupiete besitzt? Hübsch bist du ja, Bürschchen, dagegen ist nichts zu sagen, aber eine Gutstochter wird bei dir trotzdem nicht anbeißen ...

Raudupietes Blick wandert durch das Zimmer: Aber wo ist denn Mattissin? Die Puppe liegt auf der Diele, er selbst ist verschwunden. Ein eigenartiger Gedanke schießt ihr durch den Kopf: Sollte dem Kleinen ein Unglück zugestoßen sein?

Sie geht ins andere Zimmer und blickt ins Bett. Da schläft ihr Jungchen unter einem großen Tuch. Das blasse Gesichtchen ist dem Lichte zugekehrt, wodurch seine Schmalheit noch deutlicher hervortritt. Aber diesmal rührt sie das Aussehen des Kindes wenig, und der bittere Groll in ihrem Herzen wächst nur noch stärker. Raudupiete wendet sich fort, bindet das seidene Tuch ab und legt es in den Schrank.

Die Schranktür quietscht, und Mattissin erwacht. Er setzt sich auf und reibt sich die Augen mit den Fäusten.

»Du bist es, Mutti? Bist du schon zurück? Sieh mal, wie artig ich war, ich habe geschlafen.«

»Ja ja, du bist artig«, antwortet die Mutter, während sie den Schrank zuschließt.

»Und hast du mir etwas mitgebracht?« fragt das Kind.

Raudupiete zieht den Schubkasten auf und holt ein Stückchen Zucker hervor.

»Da hast du dein Mitbringsel!« sagt sie und wirft dem Jungen das Zuckerstückchen in den Schoß, ohne vom Schrank fortzugehen.

Dann verschließt sie den Schrank und geht in das andere Zimmer, um die schönen Kleider abzulegen.

Nachts wird die Raudupiete von einem schweren Alpdruck gequält, und gegen Morgen kommt ihr ein furchtbarer Traum: Sie sitzt in ihrem Zimmer, das ist mit Tannengrün geschmückt, der Boden mit Tannennadeln bestreut, mitten im Zimmer steht ein Sarg, und in dem Sarge liegt ein Kind mit schmalem Gesichtchen. Am Fenster sitzt Kārlis, lächelt und winkt ihr mit der Hand. Voller Freude stürzt sie auf den hübschen Burschen zu, sie umarmt ihn, und er küsst sie heiß und leidenschaftlich. Aber da stöhnt Mattissin im Sarge auf, Kārlis erschrickt und stößt Raudupiete zurück, sie stürzt und fällt über Mattissins Sarg - und erwacht ...

Mattissin weint und ruft nach seiner Mama.

»Was ist denn los?« fragt die Mutter gereizt. Selbst im Schlaf kann sie Kārlis nicht vergessen. »Was willst du denn?«

»Trinken! ...« bringt der Kleine mit ausgetrockneten Lippen hervor.

»Morgen kannst du trinken, aber jetzt schlaf und heule nicht!«

Mattissin verstummt und stöhnt nur manchmal im Schlaf schwer auf.

Aber die Mutter hört nicht darauf, sie träumt schon wieder.

Vier Wochen sind vergangen. Während dieser Zeit hat sich auf dem Hof Raudupes nichts Besonderes ereignet. Nur Raudupietes Verhältnis zu Mattissin hat sich geändert, sie ist merklich zärtlicher dem Kleinen gegenüber.

Früher hat sie ihn bald diesetwegen, bald dessentwegen ausgeschimpft, manchmal auch angeschrien. Jetzt bekommt Mattissin von ihr kein böses Wort zu hören. Früher hat die Mutter ihm bald dies, bald jenes verboten, jetzt kann Mattissin machen, was er will. Wenn er Lust hat, kann er mit dem Feuer spielen, als wäre es ein Blümchen, oder er kann stundenlang am Brunnen sitzen und Spänchen oder Stöckchen hineinwerfen. Mit seinen schwachen Beinchen klettert er auf allen Treppen im Hause umher, er ist sogar an der Sandgrube zu finden, in die er schon einmal hinabgestürzt ist. Raudupiete scheint nichts zu sehen und nichts zu merken.

»Soll man dem armen Kinde denn immer und immer alles verbieten?« gibt sie zur Antwort, wenn man ihr sagt, dass sie dem Kleinen doch zu viel Freiheit lasse. »Ich habe genug geschimpft und gedroht, mag er doch auch mal ein bisschen seinen Willen haben. Krüppel stehen ja immer unter Gottes Schutz.«

Ja, Mattissin steht sichtlich in Gottes Hut. Der Kleine tut alles, was ihm gerade einfällt, und doch stößt ihm nie etwas zu. Man sieht sogar, wie die Freiheit, die er jetzt genießt, seine Gesundheit kräftigt. Seine Bäckchen sind nicht mehr so durchsichtig, und zuweilen scheint eine leichte Röte durch seine zarte Haut.

Als die Mutter sieht, wie der Junge allmählich zu Kräften kommt, kauft sie ihm beim Hausierer ein Messer.

»Mag der Junge nur lernen, mit dem Messer umzugehen. Übung macht den Meister.«

Und als der Junge darum bittet, das Messer schleifen zu lassen, lässt die Mutter es schärfen.

So bekommt Mattissin ein neues Spielzeug. O ja, Raudupiete ist eine gute Mutter, und doch entfremdet sich ihr das Kind täglich mehr. Es hat Angst vor ihr. Vielleicht hat es zufällig einen der bösen Blicke bemerkt, welche die Mutter ihm heimlich zuwirft, vielleicht fühlt es in seinem Herzen, welch schreckliche und widernatürliche Gedanken in ihrer Seele kämpfen.

»Soll ich denn dieses Krüppels wegen um mein Glück kommen?« hängt Raudupiete ihren finsteren Gedanken nach. »Ist es nicht genug, dass ich so viele Jahre neben dem alten Mann aushalten und die Krankenpflegerin spielen musste? Oder ist mir von Geburt aus beschießen, lebenslang barmherzige Schwester sein zu müssen? Ich will aber nicht. Bin ich denn schlechter als andere? Die anderen bringen ihr ganzes Leben in Glück und Freude zu, und ich sollte nicht mal in der zweiten Lebenshälfte Glück und Liebe gewinnen? Meinen ersten Mann konnte ich nicht lieben ... Aber Kārlis würde ich lieben ... Wie liebe ich ihn jetzt schon! So hübsch ist er, so gesund, so groß und stark! Und was für rote Lippen er hat ... Wenn ich dieses Kind nicht hätte, dann könnte ich sie küssen, soviel ich wollte ... Ach, ist das ein Elend! ... Warum stirbt das Kind nicht? Ein Krüppel - sich und anderen zur Last - hat sich mir aufgebürdet wie ein schweres Kreuz! Aber ich werde dieses Kreuz schon abwerfen. Ohne Kārlis ist doch kein Leben für mich. Wenn der Junge nicht bald stirbt, kann es ein Unglück geben ... Sünde? Was soll das für Sünde sein? Krüppel können doch nicht leben, wem nützen sie schon? Wem nützt es, dass Mattissin auf der Welt ist? Niemandem ...«

Es ist ein heißer Augusttag. Alle Knechte und Mägde sind weit draußen auf dem Feld, um die Gerste einzubringen. Die Frau wirtschaftet allein im Hause. Sie ist eben damit beschäftigt gewesen, Quark anzurichten, und jetzt wäscht sie neben der Haustreppe das Milchgeschirr. Ihr Gesicht brennt wie Feuer. Manchmal richtet sie sich auf, wischt sich den Schweiß von der Stirn und wirft einen Blick zum Himmel.

Ringsum tiefe Stille ... Es ist, als seien selbst die Schwalben mit den Schnittern aufs Feld geflogen. Nur ab und zu huscht eine zwitschernd an Raudupiete vorüber. Auch Mattissin ist nicht zu sehen und zu hören. Raudupiete fährt ruhig in ihrer Arbeit fort. Falls ihn die Schnitter nicht mitgenommen haben, macht er sich sicher irgendwo hinter dem Hause zu schaffen ...

Aber sie muss noch Wasser zum Geschirrspülen holen. Raudupiete nimmt das Tragjoch und begibt sich zum Brunnen. Der Brunnen liegt nicht weit vom Hause, man braucht nur um den Stall zu gehen. Als sie auf den Stall zuschreitet, kann sie den Brunnen schon gut sehen ... Und da sieht die Bäuerin, dass Mattissin dort spielt. Er hockt auf einem Brett, das über dem Brunnen liegt, und ist eifrig bemüht, mit einer langen, leichten Harke einen Gegenstand aus dem Wasser zu fischen. Der Junge spannt alle seine schwachen Kräfte an, der Gegenstand ist offenbar nicht leicht. Aber jetzt hat er ihn. Es ist ein kugelrunder Stein, Mattissins Lieblingsspielzeug. Er packt ihn, will ihn auf das Brett legen, aber der schlüpfrige Stein entgleitet seinen Händen, der Kleine beugt sich vor, fängt ihn auf – und plötzlich ein lautes Plätschern, ein schwacher Schreckensschrei ... und dann ist wieder Stille.

Raudupiete steht starr vor Entsetzen. Der Junge ist vom Brett verschwunden, das Brett selbst schwimmt auf dem Wasser. Das Kind ist in den Brunnen gefallen ...

»Schnell, schnell, rette dein Kind!« drängt ihr Herz, und Raudupiete rennt, rennt, dass die Eimer vom Tragjoch fliegen, und erreicht den Brunnen gerade in dem Augenblick, da der Kopf des Kindes wieder auftaucht und die schwachen Händchen in Todesangst nach dem Brett greifen.

»Mutti!« ... ein erstickter Schrei des Kleinen. Das Wasser läuft ihm in den Mund und zieht ihn in die Tiefe. Die kleinen Händchen greifen noch nach dem Brett.

Noch einmal will das Kind schreien, aber sein Schrei ist schon fast unhörbar.

Raudupiete bildet sich um. Kommt da nicht jemand den Weg hinauf, geht drüben am Walde nicht einer? Nein, weit und breit kein Mensch. Ihre Augen brennen in düsterem Feuer. Sie reißt das Tragjoch von den Schultern, hebt es über den Kopf – und lässt es wieder sinken ... Des Herrn Wille geschehe.

In dem gleichen Augenblick, da Raudupiete an Gott denkt, sinkt Mattissin in die Tiefe.

Aus dem blauen Himmel taucht plötzlich irgendwoher eine Schwalbe auf und schießt dicht über Raudupietes Kopf hinweg, sie berührt sie fast mit den Flügeln, zwitschert ihr helles Tiwi, Tiw und ist verschwunden.

Der Fußboden in Raudupietes Zimmer ist mit frischem Tannengrün bestreut, die Wände sind mit Zweigen geschmückt. In der Mitte steht ein kleiner Sarg, in dem Sarge liegt ein Kind mit schmalem Gesichtchen. Alles ist wie damals im Traume.

Nur dass Kārlis nicht am Fenster sitzt und Raudupiete zu sich winkt. Er ist mit seinem Bauern nach Riga gefahren, und während man Mattissin zur letzten Ruhe bringt, sucht er dort für ihn ein prächtiges Holzpferdchen aus.

Von dem Unglück erfährt der junge Bursche gleich nach seiner Rückkehr aus der Stadt. Er kann es nicht

glauben und begibt sich nach dem Hofe, um die Wahrheit aus dem Munde der Mutter selbst zu hören. Bei Raudupietes Erzählung füllen sich die Augen des jungen Mannes mit Tränen. Audi Raudupiete weint und sieht so unglücklich und niedergedrückt aus, dass Kārlis sie bei der Hand nimmt und zu trösten sucht ...

Mehr als zwei Monate vergehen. Während dieser Zeit sehen Kārlis und Raudupiete sich nicht ein einziges Mal. Eigentlich wollte Raudupiete diese zwei Monate opfern, um Mattissin zu beweinen. Aber in dieser Zeit verwandelte sich die untröstliche Mutter allmählich in eine recht vergnügte kokette junge Witwe, deren Gesicht wenig von ihrem schweren Verlust erkennen lässt. Nur als sie vor dem Spiegel steht und wieder einmal das graue Seidentuch mit den roten Blumen umbindet, bemerkt sie, dass sich zwei neue Falten in ihre Stirn eingegraben haben. Sie schiebt das Tuch tiefer in die Stirn, setzt sich in den Kutschwagen und fährt davon. Sie fährt nach dem Gailihofe.

Aber diesmal steht Kārlis nicht auf dem Dache, und als Raudupiete dem Hause zuschreitet, kreuzt ein gebeugtes altes Weiblein ihren Weg.

Konnte die nicht zu Hause sitzen bleiben! denkt die Raudupiete wütend: Einem alten Weibe zu begegnen, ist ein schlechtes Vorzeichen.

Es stellt sich heraus, dass sie wirklich vergeblich gekommen ist. Kārlis ist nicht zu Hause. Auf die Frage, wo er denn sei, sagt die Bäuerin, er sei zum Bezirksgericht gefahren. Beim Schreiber ist der Brunnen verstopft, und noch am Sonntag ist einer mit dem Auftrag gekommen, sie möchten jemanden schicken, der den Brunnen reinigt. *

Den Brunnen reinigt er! ... Raudupiete presst die Lippen zusammen. Von Kārlis ist nicht mehr die Rede.

In ein paar Tagen beginnt der übliche Herbstjahrmarkt, da wird sie Kārlis ganz bestimmt treffen und mit ihm über alles reden können.

Auf dem Jahrmarkt wimmelt es von Menschen, und Raudupiete sucht den halben Tag lang vergebens nach Kārlis.

Endlich sieht sie ihn.

Er steht in dem Fichtengehölz seitwärts der großen Landstraße, wo der Jahrmarkt schon aufhört, und unterhält sich mit einem jungen Burschen. Als Raudupiete auf sie zukommt, verabschiedet sich der Bursche von dem anderen. Raudupiete steht Kārlis nun Auge in Auge gegenüber.

»Oh, wie habe ich dich gesucht!« sagt sie und reicht ihm die Hand. »Sicher bist du eben erst gekommen?«

»Wieso denn? Wenn ich jetzt erst gekommen wäre, hätte ich mir nicht schon einen antrinken können«, gibt Kārlis zurück. Er lacht dröhnend, man merkt, dass er wirklich ein wenig angeheitert ist. Seine Wangen glühen, die Augen blitzen, und alle seine Bewegungen haben so etwas Leichtes und Selbstsicheres bekommen. Raudupiete kann die Augen gar nicht von ihm wenden. Sie findet, dass Kārlis noch nie so gut ausgesehen hat.

»Einen angetrunken!« Sie lacht und schlägt ihm leicht auf die Hand. »Das ist doch reine Lüge!«

»Nein wirklich, ich bin schon den ganzen Morgen hier. Bin mit der Bäuerin gekommen, um eine Kuh zu verkaufen; die haben wir verkauft, na, und darauf haben wir dann einen getrunken. Ich habe dich heute mindestens schon zehnmal gesehen.«

»Und du bist nicht zu mir gekommen?«

»Woher sollte ich denn wissen, dass du mich sehen wolltest?«

»Du hast es nicht gewusst? Ja, hat die Bäuerin dir nicht gesagt, dass ich bei euch war?«

»Gesagt hat sie's schon, aber ich dachte…«

Er spricht nicht aus, was er gedacht hat und schüttelt gleichgültig ein paar Heuhalme von seiner Jacke ab. »Was hast du gedacht?«

»Na ... dass diese Geschichte endgültig erledigt ist.« »Erledigt! Wie kannst du so etwas sagen!« schreit Raudupiete auf. Sie ist außerstande, ihrer auflodernden Leidenschaft Herr zu werden. »Wenn du wüsstest, wie ich dich liebe! Karli, Lieber, komm nach Raudupes! Du wirst der Herr auf Raudupes werden, ein reicher Mann ... Wer wird sich dann noch mit dir messen können? Ein Leben wirst du führen wie ein Baron, und ich ... ich werde für dich sorgen ... nicht wie für meinen Mann, sondern wie für meinen Herrn ... ich weiß nicht, was ich alles tun werde ...«

Raudupiete verstummt ... die Worte versagen ihr. Hoch hebt sich ihre Brust. Sterben könnte sie in diesem Augenblick für Kārlis.

»Jetzt hast du keinen Grund mehr, mich abzuweisen«, sagt sie nach einer Weile einschmeichelnd. »Was soll unserer Ehe jetzt noch im Wege stehen? Du musst jetzt mein Mann werden!«

»Ja, wirklich?« fragt Kārlis scherzend und blickt ständig nach dem Weg hinüber: Wenn nur niemand kommt und ihr Gespräch belauscht. »Aber vielleicht ist doch ... Vielleicht hindert mich doch noch etwas?«

»Nun hör aber auf! Als ich das letzte Mal bei dir war, hast du mir gesagt, wer dir im Weg steht ... Und der ist jetzt nicht mehr da ...«

»Nicht? Von wem sprichst du denn?«

»Nun, von dem, dessentwegen du dich damals geweigert hast ... vom kleinen Mattissen.«

»Von Mattissin? Von dem kleinen Mattissin? Meinst du denn im Ernst, dass ich seinetwegen abgelehnt habe, Besitzer von Raudupes zu werden?«

»Aber das hast du doch gesagt?!« schreit Raudupiete auf und wird blass.

»Ja ja, ich erinnere mich, das habe ich gesagt. Aber doch nur deshalb, weil du mich so mit Fragen gequält hast, warum ich nicht nach Raudupes kommen wolle ... Und damals wollte ich nicht und wagte ich nicht, dir den wirklichen Grund zu sagen ... Aber bestimmt nicht wegen Mattissin! Mattissin habe ich geliebt wie meinen kleinen Bruder ...«

Kārlis' Stimme schwankt leicht, und er verstummt. »Dann war es also gar nicht Mattissin!« wiederholt Raudupiete langsam, als käme ihr selbst nicht zum Bewusstsein, was sie sagt. »Also nicht wegen Mattissin! Was war denn das Hindernis? Oder ist es jetzt noch da?« »Jetzt kann ich es dir offen sagen«, antwortet Kārlis. »Dich kann ich nicht heiraten, weil ich Maria Karklen heiraten werde. Wir haben uns schon im vorigen Sommer versprochen ... Es musste aber geheim bleiben, weil ihr Vater durchaus dagegen war. Aber jetzt, da ich die hundert Rubel bekommen habe, die mir der Pater vermacht hat, hat der Alte sich besonnen. Jetzt kann ich frei von meinem Glücke reden. Am Martinstag wird Hochzeit sein.« Kārlis will gehen.

»Geh nicht! Warte!« schreit Raudupiete heiser vor Erregung und packt ihn mit aller Kraft am Arm. »Ist das wahr? Du willst eine andere heiraten? Die Maria Karklen? Dann bleibt für mich nur der Tod ...«

»Mütterchen Raudup, du wirst doch keine Dummheiten machen, lass mich gehen«, sagt Kārlis ärgerlich und versucht, sich loszureißen. »Die Leute werden ja schon auf uns aufmerksam!«

»Lasse sie aufmerksam werden, was geht mich das an«, schreit Raudupiete, außerstande, sich noch zu beherrschen. »Sollen sie doch hersehen, ich lass' dich nicht los, bist du mir dein Wort gibst…«

»Verrücktes Weibsbild!« fährt Kārlis dazwischen und reißt sich los. »Was willst du eigentlich von mir? Scher dich weg, du Satan! Mich kannst du mit allen deinen Reichtümern nicht kaufen. Aber wenn du schon so versessen bist, dann will ich dir helfen, statt meiner ein halbes Dutzend zu kaufen ...«

Mit offenem Mund und starrem Blick, wie von einem schweren Schlage betäubt, steht Raudupiete vor Kārlis. Dann kommt sie zur Besinnung, presst Kārlis' Arm wie mit einer Klammer zusammen und schleppt ihn mit solcher Kraft hinter sich ins Gehölz, dass Kārlis nachgeben muss.

»Was hast du gesagt?« Ihre Augen sprühen grüne Blitze. »Du willst mir helfen, jemanden zu kaufen? Das wagst du mir zu sagen? Weißt du, dass ich dich jetzt auf der Stelle erwürgen könnte, erwürgen wie einen elenden Hund, Hund, der du bist! Warum hast du mich damals angelogen? Warum hast du mir nicht gleich gesagt, dass du eine Braut hast? Warum hast du gesagt, wegen Mattissin, statt mir zu sagen – wegen deiner Maria … Maria Karklen! Wer ist dieses Glückskind denn ... eine Bettlerin, hat nicht den zehnten Teil von dem, was ich besitze. Und doch willst du die heiraten, und doch hast du die lieber als mich! Was ist mit der, hat sie dir einen Trank eingegeben oder hat sie dich behext? Was hat sie denn für dich getan? ... Jeden Strohhalm hätte ich dir aus dem Wege geräumt, und doch hast du sie lieber ... Und ich ... ich ... Weißt du, was ich deinetwegen getan habe?« Die Raudupiete schüttelt ihn wie irrsinnig am Arm. »Du meinst doch wohl, Mattissin sei einfach so, nach Gottes Willen, gestorben? Warum nicht gar! Ja, ja, werde nur blass, werde nur blass, Mattissin ist nicht nach dem Willen Gottes, sondern um deinetwillen gestorben. Deinetwegen habe ich ihn im Brunnen ertrinken lassen! Ich konnte ihn retten, aber ich habe es nicht getan, weil ich dich viel heißer geliebt habe als das Kind ... Und du ... du willst die Maria heiraten! Heirate nur, heirate, aber mag dir die Zunge für deine Lüge verdorren, mag die Seele dieses Kindes dich quälen und peinigen ... Tag und Nacht, Tag und Nacht, bis du verreckst…

Raudupiete lässt Kārlis' Arm fahren, stößt ihn mit solcher Gewalt vor die Brust, dass der Bursche sich kaum auf den Beinen halten kann, und rennt davon.

Kārlis starrt einen Augenblick hinter ihr her, ohne etwas zu sehen, und wendet sich dann der großen Landstraße zu.

Der Weg ist vollgepfropft mit Menschen. Pferdehändler bringen ihre Tiere, Viehhändler treiben Zuchtkühe und Schafe an, Fuhrwerke ziehen in langen Reihen zum Jahrmarkt oder nach Hause, junge Pärchen flanieren vergnügt umher. Um die Buden und Verkaufsstände drängt sich groß und klein, Geld klimpert, Händler und Käufer sprechen und lachen dröhnend, Kinder blasen auf bunten Ton-Entchen, hier und da wird geflucht. Am Büfett klirren Flaschen und Gläser, die jungen Leute frischen ihre Kehlen mit Bier auf, und die Alten stehen nicht zurück. Auf den Fuhrwerken knabbern Mädchen an Kringeln und Lebkuchen und hecheln Freundinnen durch, auch die Zungen der Großmütter und Tanten arbeiten nicht schlechter ...

Plötzlich aber verstummen Mütter und Tanten und horchen auf.

Was war da für ein verdächtiger Lärm auf der Landstraße? Die Mädchen stecken die angebissenen Lebkuchen in die Tasche und stellen sich in ihrer ganzen Größe auf dem Wagen auf. Warum läuft die Menge denn da mitten auf der Straße zusammen? Audi die jungen Burschen und die Alten rennen von den Ständen weg. Nach fünf Minuten ist fast der ganze Jahrmarkt leer, die Menschen sind auf der Landstraße.

»Was ist denn passiert?« fragt einer den anderen. Aus der Menge heraus kommt die Antwort:

»Ein Unglück.«

»Was für ein Unglück?«

»Mit einer Frau.«

»Was ist denn mit ihr?«

»Haben sie totgefahren.«

»Wer ist totgefahren?«

Diesmal folgte die Antwort nicht sogleich ... »Raudupiete.«

Ja, Raudupiete. Da liegt sie nun mitten auf der Straße, und um sie herum drängt sich ein dichter Haufe Menschen. Ihr zerschmetterter Kopf ruht auf den Knien des Marktwächters, jemand hat Wasser aus dem nächsten Graben geholt und versucht, ihr den Schmutz vom Gesicht zu waschen.

Wer weiß, wie das alles geschehen ist. Die einen sagen, Raudupiete selbst sei an allem schuld, andere geben die Schuld dem Fuhrmann. Eine dichte Staubwolke hatte über dem Wege gelegen, als ein Zweigespann mit einem großen schweren Kasten vom Jahrmarkt herausgefahren kam. Und just in dem Augenblick war es der Raudupiete, Gott weiß warum, eingefallen, über den Weg zu laufen. Als der Staub sich verzogen hatte, sah man Raudupiete mit zerschmettertem Kopf mitten auf dem Wege liegen.

 ... Trauergeläut der Kirchenglocke, Trauerklänge der Sänger, am offenen Grab ein reich verzierter schwarzer

Sarg, darauf ein pompöser Kranz und um das Grab die Schar der lachenden Erben.

Wer wird heute begraben?

Raudupiete.


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