Björnstjerne Björnson
Mutters Hände und andere Erzählungen
Björnstjerne Björnson

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Staub

 

I

Der Weg von der Stadt nach Skogstad, dem großen Gut der Atlungs mit Fabrikanlagen längs des Flusses, mochte, eben gefahren, zwei Stunden betragen, aber bei der guten Schlittenbahn, die wir seit kurzem hatten, kaum anderthalb. Der Weg war eine Chaussee am Fjord entlang. Von der Stadt aus hatte ich den Fjord zur rechten Seite, und zur Linken große, von den Höhen sanft abfallende Felder; über diese lagen Villen und Gehöfte zerstreut, die von Baumanpflanzungen umgeben waren, und zu denen Alleen hinaufführten.

Weiterhin wurden die Höhen zu Bergen, die näher heranrückten; hier wurde es auch nach und nach immer unbebauter, zuletzt nur noch Nadelwald von den höchsten Bergfirsten bis dicht an den Fjord hinab, Wald, Wald. Er gehörte zu Skogstad; die Fabriken am Skogstadfluß entlang verarbeiteten das Rohmaterial.

Das Geschlecht der Altungs war französischer Abstammung aus der Zeit der Hugenotten und bescheidenen Ursprungs, aber es hatte sich durch Heirat in das einst so mächtige Atlunggeschlecht emporgeschwungen und hatte auch den Namen der Familie angenommen, der im Klange einige Ähnlichkeit mit dem ihren hatte.

Ich freute mich der Fahrt. Es hatte kürzlich geschneit, und der Schnee lag auf den Bäumen; kein Windhauch hatte eine Spur durch den Wald gezogen. Dagegen hatte es etwas getaut, das hatte der Laubwald, der hier weiter unten hervorkam, nicht vertragen; was jetzt darüber lag, war nur Neuschnee vom Morgen.

Zwischen der weißen Landschaft und der schneeschweren Luft erschien der Fjord schwarz. Nach der anderen Seite hinüber war es nicht weit, und drüben ragten noch höhere Berge empor, die jetzt ebenfalls weiß waren, jedoch mit dem gedämpften Ton, den die Luft gab.

Hier, wo ich fuhr, lag der See starr hinauf bis an die Schneegrenze; nur ein wenig Tang, einige glatte Steine schieden die beiden Farben und Formen desselben Elements – Wirklichkeit und Umdichtung; wo die Umdichtung eben so wirklich ist, wie die Wirklichkeit, nur daß sie nicht so dauerhaft ist.

Sobald ich an den Wald kam, nahm dieser mich ganz gefangen. Die Fichten trugen große Ladungen Schnee; an einigen Stellen war er wie ausgeschüttet; so viel blieb aber doch unbedeckt, daß der Wald im ganzen einen dunkelgrünen Schimmer in all der Weiße behielt. Kam man näher, so sah man auch einzelne unbedeckte Zweige trotzig hervorlugen, und die rötlichen Fichtenstämme drängten sich durch die Schneeschichten.

Darunter standen mächtige Stämme, die meisten dunkel, doch einige jünger und heller, alle mitsammen ein Gefolge von beladenen Riesen, und das machte es ernst da drinnen im Dickicht. Die vorderen Bäume, die man ganz übersehen konnte, und die während ihres Wachstums von Menschen oder Tieren beschädigt worden, vielleicht auch vom Sturm (denn die fingen den ersten Anprall auf), hatten nicht den regelmäßigen Wuchs der anderen; sie waren mehr zerhackt oder zerkratzt, so daß der Schnee nach Behagen sein Wesen in ihnen treiben konnte. Ihre unteren Zweige waren an einigen Stellen ganz zur Erde gebogen, so daß der Baum wohl aussah wie ein weißer Haufen; andere waren launisch zu plumpen Zwergen mit bloßem Oberkörper umgeformt, oder zu anderen Koboldgestalten mit einem weißen Sack über den Kopf oder einem Hemd, in das sie noch nicht ganz hineingeschlüpft waren.

Neben diesen unbeholfenen Dingern trippelten wohl Laubbäume, über denen der Schnee nur wie eine Ahnung lag; ein einzelner, der frei gegen den Himmel stand, floß in seinen äußersten weißen Zweigen, die immer feiner wurden, gleichsam in die Luft über, dann standen wieder junge Tannen da, die in regelmäßigen Schnee-Etagen Pyramide neben Pyramide bauten. Hier ganz unten am See, wo es steiniger war, wuchs hie und da ein Hagebuttenstrauch. Auf jeden Dorn hatte sich Schnee gelegt, so daß der Busch aussah, wie mit weißen Beeren übersäet.

Ich bog um eine Landspitze, auf der ein Hammerwerk stand, und hier beginnt das eigentliche Skogstad. Der Bergabhang weicht zurück und macht den Raum unten breiter; er wird auch vom Fluß in zwei Stücke geschnitten. Wieder sieht man sanft abfallende Felder, und hier liegt der Hof. Der Fluß zieht sich auf die andere Seite des Hofes und weiter fort; mehrere rote Dächer längs desselben und eine Reihe Gebäude auf der anderen Seite werden sichtbar. Rechts wie links vom Hofe liegen Häuslerwohnungen und Wirtschaftsgebäude; aber sie sind vom Herrenhause durch Felder auf jener und einem Park oder Wald auf dieser Seite getrennt.

Im Park vergaß ich alles früher Gesehene. Ursprünglich war er als bis zum See hinabgehend gedacht, aber der steinige Grund hatte es wohl unmöglich gemacht, und daher war das untere Viereck ausgehauen; aber im Lauf der Jahre war an Stelle des Fichtenwaldes eine große Anzahl von Laubbäumen aufgewachsen. Dieser Laubwald aus ein und demselben Jahrgang war gleichmäßig hoch und ging unmittelbar bis an den starken, alten Tannenwald im Park. Es war schön, dies Zarte als Verbrämung des Schweren, das Leichte im Gegensatz zu dem Starken, das Niedere und gleichmäßig Hinlaufende unter dem Überragenden, Gewaltigen.

Mein Auge spielte damit, indem es Formen suchte, oder ich sammelte viele Zweige unter einen Gesichtspunkt, weil sie in derselben Biegung nach derselben Höhe gleichmäßig hinliefen, oder ich suchte einen einzelnen Zweig heraus, verfolgte ihn vom Stamm aus in seiner ersten Abzweigung in die Verzweigungen der Verzweigungen bis in den letzten Zweig. Ein ausgebreiteter, durchsichtiger Flügel, oder ein ungeheueres Farrenblatt von weißem Flaum übersäet. Dann schweifte ich wieder ab von den Formen und verfolgte die Farbe; die ungleichen Anstriche ergaben so mannigfache Töne.

Ich wandte meinem Reisegefährten, dem Fjord, den Rücken und bog nach dem Hofe ein. Wo der Park zu Ende war, fing der Garten an, und an diesem entlang lief der Weg in gleichmäßiger Steigung. Einst war auch hier Wald gewesen, und der Weg hatte hindurchgeführt; vom Walde waren aber nur ein, zwei Klafter auf jeder Seite übrig geblieben, die die Allee bildeten; große, alte Bäume wurden von jungen abgelöst, und diese so dicht, daß ich an einigen Stellen nur schwer hindurchsehen konnte. Aber das Schneemärchen ging mit; sinkende Riesen waren mit weißen Flaggen bedeckt, junge, gesunde standen gepudert da, die mißgestalteten spielten Julebuk.»Julebuk« hießen besonders vormals verkleidete Knechte, die um die Weihnachtszeit ein Widderfell umnahmen, sich Hörner aufsetzten und so herumliefen.

 

II

Das Bild der Natur spielt hinein in unsere Vorstellung von dem, was uns erwartet. Was mochte das wohl Weißes und Feines sein, was ich hier erleben sollte?

Sie war allerdings nicht weißgekleidet, als ich sie das letzte Mal sah, die Blondlockige, die ich jetzt wiedersehen sollte. Auf ihrer Hochzeitsreise in Dresden vor ungefähr neun Jahren waren wir das letzte Mal zusammen gewesen. Jeden Tag war sie festlich geschmückt, das ist wahr, . . . . eine Laune von ihm, dem jungen, berauschten Ehemanne; meist war sie in Blau, aber nicht ein einziges Mal ganz weiß; das würde sie gewiß auch nicht gekleidet haben.

Ich erinnere mich beider besonders, wenn sie zum Klavier sangen, er sitzend, weil er begleitete, sie stehend, meistens die Hand auf seiner Schulter; aber was sie sangen, war allerdings weiß, nämlich längere oder kürzere Jubelhymnen. Sie war Tochter eines Sekten-Priesters, und sie kamen vom Pfarrhof und von der Hochzeitsfreude. Im Pfarrhof hatte ich seitdem von Zeit zu Zeit von ihnen gehört und hatte auch auf diesem Wege zu wiederholten Malen die Aufforderung erhalten, sie das nächste Mal zu besuchen, wenn ich in jene Gegend kam. Jetzt war ich auf dem Wege zu ihnen.

Das Hauptgebäude hatte ich als eine der größten Holzbauten Norwegens erwähnen hören. Es war grau und außerordentlich lang. Nie hatte ein Atlung sich mit dem begnügt, was sein Vorgänger gebaut hatte, und so hatte das Haus in jeder Generation einen Anbau und einen teilweisen Umbau des Alten erfahren, damit das Letzte zum früheren paßte. Ich hatte gehört, daß viele und lange Gänge das Innere mit demselben Glück oder Unglück zu verbinden suchten, wie Ausbauten, Pultdächer, Altane, Veranden sich bemühten, Stil in das Äußere zu bringen. Ich habe gehört, wie viele Zimmer im Hause sind; aber ich habe es vergessen.

Der letzte Anbau ist von dem jetzigen Besitzer gemacht und in einer Art von modernisierter Gothik vorgenommen.

Hinter dem Hauptgebäude liegen die übrigen Häuser des Hofes in Halbmondform. Zwischen diesem und dem Hauptgebäude fuhr ich nun vor, um nach dem Rat des Postjungen vor einem Beischlag an dem gothischen Flügel zu halten. Ich sah kein lebendes Wesen auf dem Hofe, nicht einmal einen Hund. Ich wartete ein wenig, jedoch vergebens, und ging darauf durch den Beischlag in einen Gang, wo ich meinen Mantel ablegte, und von dort in ein helles, großes Vorzimmer. Auch hier sah ich niemand; aber ich vernahm entweder zwei Kinderstimmen und eine Frauenstimme, oder zwei Frauenstimmen und eine Kinderstimme, und das Lied kannte ich; denn es machte gerade die Runde durchs Land, die Klage des kleinen Mädchens, daß es überall im Wege ist, nur nicht beim lieben Herrgott im Himmel, der so gern unglückliche Kinder zu sich nimmt. Ein wenig fremd klang diese Klage in das helle, lebhafte Zimmer hinein, das angefüllt war mit Gewehren und anderen Jagdgerätschaften, Renntierhörnern, Fuchsbälgen, Luchsfellen und ähnlichen Gegenständen, die mit dem ausgesuchtesten Geschmack geordnet waren.

Ich klopfte an und trat in eines der schönsten Wohnzimmer, das ich hier zu Lande gesehen habe, so licht, mit der Aussicht auf den Fjord, so groß, so prachtvoll. Die blankpolierten Holzfelder an den Wänden wurden durch geschnitzte Holzfiguren unterbrochen, von denen jede eine Büste oder eine kleine Statue trug; stilvolle Möbel standen überall auf Brüsseler Teppichen umher. Moody-Sankeys mondsüchtige Weise floß darüber hin wie ein gelbweißes Laken. Es giebt christlichen Gesang, der zu dem Schönsten gehört, was ich kenne; aber dieser machte einen Eindruck, als befände sich unter dem modernen Zimmer eine Krypta aus dem Mittelalter, wo eingesperrte Nonnen bei qualmenden Lampen Begräbnisceremonien abhielten, und aus welcher der Dunst und Klang unzertrennlich verbunden sich in die klaren Vorstellungen und die freundliche Kunst des neunzehnten Jahrhunderts hinausschlichen.

Es waren eine Frau und zwei Knaben, die sangen; der älteste ungefähr sieben Jahre und der zweite um ein Jahr jünger. Die Frau wandte das Gesicht der Thür zu und hielt bei meinem Eintritt ganz verwundert inne; die Knaben sahen nach dem Fenster und nicht auf sie; sie waren vollständig mit sich beschäftigt; darum sangen sie noch eine Weile, nachdem jene aufgehört hatte.

Von diesen beiden Knaben schlug der eine nach des Vaters Familie, der andere nach der seiner Mutter; nur waren die großen Augen der letzteren beiden eingesetzt. Der ältere Knabe hatte ein langes Gesicht mit hoher Stirn und rötlichem Haar, er war sommersprossig, alles ganz wie der Vater. Die Gestalt des jüngeren war die der Mutter, ein wenig vorübergebeugt, weil der Kopf nicht gerade aus den Schultern aufstieg. Infolgedessen hielt er aber den Kopf etwas zurückgebogen, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Und wiederum infolge hiervon war der Mund halb offen, – und dann die großen, fragenden Augen und das helle, lockige Haar über einer feingewölbten Stirn – ganz die Mutter. Der älteste war lang und dünn und hatte des Vaters schlendernden Gang auf kleinen, stark auswärts gebogenen Füßen. Ich sah dies in einem Augenblick, während die Knaben an den Sofatisch gingen, als die Frau sie verließ. Sie kam nämlich nach kurzem Bedenken auf mich zu; sie wußte wohl nicht, ob sie mich kenne oder nicht. Als sie meinen Namen hörte, erkannte sie lächelnd, daß sie nur mein Porträt gesehen habe, das Porträt in dem Album von der Hochzeitsreise der Herrschaft. Sie erzählte, Atlung sei drüben in den Fabriken und komme zum Mittagessen nach Hause, d. h. in einer Stunde, und die Frau sei in einer der Häuslerwohnungen, die ich vom Wege gesehen; dort läge nämlich ein alter Mann im Sterben.

Sie erzählte dies mit wohllautender, obgleich etwas schwacher Stimme und mit forschend auf mich gerichteten Augen. Sie hatte schon von mir gehört. Ich hätte nimmer gedacht, daß ich eine von Carlo Dolcis Madonnen aus dem Rahmen steigen sehen würde, um in einem modernen Wohnzimmer zu stehen und mit mir zu reden, und darum waren meine Augen gewiß nicht minder forschend als die ihren. Die Stellung des Hauptes auf den Schultern, seine Neigung auf die eine Seite, das Profil und vor allen Dingen die Augen und die Augenbrauen, ja, das blaugrüne Kopftuch, das weit vorgezogen war, wodurch das bleiche Gesicht etwas von derselben Farbe bekam – das ganze ein echter Carlo Dolci!

Lautlos ging sie hinaus und ließ mich mit den Knaben zurück, mit denen ich mich auch sofort einließ. Der älteste hieß Anton und konnte auf den Händen gehen, d. h. beinahe, und der jüngere hieß Storm, und er erzählte dies und vieles andere von dem Bruder, den er unbedingt bewunderte. Der älteste hingegen erzählte von seinem kleineren Bruder, daß er noch nicht ganz über das hinweg, was das Gegenteil von einem trockenen Bett am Morgen sei, und daß er deshalb heute von Papa Prügel bekommen habe; Stina hatte es Vater erzählt; – Stina hieß die, die uns eben verlassen hatte.

Nach dieser nicht sehr vorsichtigen Einleitung stand bald einer zur Rechten, der andere zur Linken von mir, und nun erzählten sie, was sie zur Zeit beschäftigte, und zwar außerordentlich stark. Sie sprachen beide, besonders der ältere, aber mit ergänzenden Zusätzen des jüngeren: dort hinten in einer der Häuslerwohnungen, an denen ich vorübergefahren war, dort wohne Hans, der kleine Hans, d. h. er habe dort gewohnt; denn der rechte, eigentliche kleine Hans sei bei Gott. Er sei auf den Hof gekommen und habe fast jeden Tag mit den Knaben gespielt; manchmal hätten sie aber auch nach den Häuslerwohnungen hinübergehen dürfen, die, wie ich bald begriff, für die Knaben das gelobte Land hier auf Erden waren. Da ging Hans eines Abends in der Dämmerung vor nun vierzehn Tagen nach Hause; das war, bevor der Schnee gefallen, und im Park, durch den er mußte, lag der Fischteich so blank und schwarz. Nun wollte er drüber gehen und ging vom Fußweg ab und hinunter, denn der Fußweg war ja dicht am Teich. Am selben Tage aber hatten sie dort ein Loch gehauen, um zu fischen, und hatten vergessen, ein Merkzeichen hinzusetzen, und da geht der kleine Hans nun gerade ins Loch hinein. Auf dem Hofe hatte man den Notschrei eines Kindes gehört; das Milchmädchen hatte ihn gehört, aber nur einmal, und die hatte sich nichts weiter dabei gedacht, denn dort im Park pflegten alle Knaben zu spielen. – Da war der kleine Hans also weg, und niemand konnte sagen, wo er war. Dann wurde der Teich aufgehauen, und sie fanden ihn; aber Anton und Storm hatten ihn nicht sehen dürfen. Aber beim Begräbnis hatten sie sein dürfen mit all den kleinen Knaben und Mädchen aus der Gewerkschule. Er wurde jedoch nicht in der Kapelle begraben, wo Großvater und Großmutter liegen; er wurde auf dem Gottesacker begraben. Ach, es war so wunderschön gewesen, als sie sangen. Der Schulmeister hatte den Baß dazu gesungen, und der alte Braune hatte Hans gezogen; der lag in einem weißgestrichenen Sarge, den Vater aus der Stadt hatte kommen lassen, und obendrauf lagen Kränze. Mutter und Stina hatten sie gewunden. Alle Kinder hatten Kuchen bekommen, ehe sie mit im Zuge gingen, und Johannisbeerwein. Aber der Gesang, das war der, den die Knaben eben gesungen; sie hatten ihn von Stina gelernt. Hans war so arm gewesen, aber jetzt hatte er es gut; er war beim lieben Gott; nur der Sarg war es, der in die Erde gekommen. Was im Sarge gewesen? Freilich, das war nicht der eigentliche Hans, denn Hans war jetzt ganz neu geworden. Engel waren zu ihm hinunter in den Teich gekommen mit allem, was der neue Hans anziehen sollte, damit er im Teiche nicht fror; dort war er nicht mehr. Alle Kinder, die sterben, kommen zu Gott, zusammen mit hunderttausend Millionen ganz kleiner Engel. Die Engel sind auch hier um uns herum, wir können sie nur nicht sehen, denn sie sind unsichtbar, und Hans ist nun bei ihnen. Die Engel können uns sehen, sie sind so lieb mit uns, besonders aber mit Kindern, und die allerunglücklichsten Kinder wollen sie bei sich haben, darum holen sie sie. Es ist viel, viel, viel schöner bei den Engeln als hier. Ja, ganz gewiß, denn Stina hat es gesagt. Stina möchte auch lieber bei den Engeln sein, als hier; nur um Mutterswillen geht Stina nicht zu ihnen, sonst wäre Mutter so allein. Alle Engel hatten Flügel, und nun lag der Vater vom kleinen Hans da und wollte auch zu Gott. Er würde nun auch Flügel bekommen und ein kleiner Engel werden und hier umherfliegen oder wo er sonst wollte – bis hinauf zu den Sternen. Denn die Sterne sind nicht bloß Sterne; wenn wir hinaufkommen, sind sie so groß, so groß; wie die ganze Erde so groß, und die ist ungeheuer groß; größer als der größte Berg. Und auf den Sternen sind Menschen und sehr viel anderes, was hier nicht ist. Aber heute nachmittag darf der Vater vom kleinen Hans hinaufgehen, direkt zum lieben Gott; denn Gott ist droben im Himmel. Sie möchten gern sehen, wie Hansens Vater Flügel bekommt, aber Mutter wollte sie nicht mitnehmen. Und jetzt sei er schon so schön geworden, wie er so dalag, daß er beinahe aussah, wie ein Engel. Mutter hatte es gesagt; aber sehen durften sie ihn nicht.

Stina kam zurück, als sie gerade bei den letzten Worten waren; sie befahl den Knaben mitzukommen, und sie gehorchten.

Links stand eine Thür offen; ich gewahrte Bücherregale da drinnen, so daß ich sah, es sei die Bibliothek. Ich hatte Lust zu wissen, was der Vater dieser Knaben gegenwärtig lese – sofern er überhaupt las. Das erste, was ich auf dem Pulte neben einem Briefe, Rechnungsberichten und Fabriksmustern aufgeschlagen fand, war Bain. Und Bains englische Freunde waren das erste, was ich auf dem nächsten Bücherbrett erblickte. Ich nahm einen hervor und sah, daß er gelesen war. Dies stimmte zu dem, was ich über Atlung gehört hatte.

Im selben Augenblick klang Schellengeläute vom Hofe her. Ich dachte mir, daß die Hausfrau heimkehre, und stellte die Bücher in derselben Ordnung zurück, wie ich sie herausgenommen hatte; dadurch kamen einige, die dahinter standen, in Unordnung (denn sie standen in zwei Reihen), und da bekam ich Lust, auch die zu sehen, die verdeckt waren; das nahm Zeit in Anspruch. Ich kam erst aus der Bibliothek, als die Frau vom Hause in die Haupteingangsthür trat.

 

III

Frau Atlung freute sich offenbar, mich zu sehen. Sie hatte einen eigentümlichen Gang, ungefähr als strecke sie die Knie beim Gehen nie ganz aus; aber wie sie nun einmal ging, kam sie mir hurtig entgegen, nahm eine von meinen Händen zwischen ihre beiden und blickte mir dann solange in die Augen, bis die ihrigen sich mit Thränen füllten. Natürlich galt dies der Hochzeitsreise, ihres Lebens schönsten Tagen; – aber die Thränen?

Nein, unglücklich konnte sie nicht sein. Sie war noch so ganz und gar dieselbe, daß, wenn sie nicht etwas voller geworden wäre, ich nicht die geringste Veränderung – wenigstens nicht gleich – hätte wahrnehmen können. Der Ausdruck war genau derselbe, unschuldig und fragend; kein Ansatz zu einer strengeren Linie oder einer anderen Farbe; selbst das Haar lag in denselben Locken, um ihren zurückgebeugten Kopf, und der halb offene Mund hatte dieselbe Weichheit, war ebenso unberührt von Willen; die Augen hatten dieselbe milde Freude, sogar der ein wenig verschleierte Klang der Stimme war der alte, kindliche.

»Sie sehen aus, als hätten Sie seit damals absolut nichts anderes erlebt«, war das erste, was ich ihr sagen mußte. Sie blickte lächelnd zu mir auf, und nicht ein Schatten sagte Nein dazu. Wir setzten uns auf Stühle, die mitten im Zimmer standen, zunächst der Bibliotheksthür; den Fenstern wandten wir den Rücken und blickten auf eine Wand, wo zwischen Büsten und Statuen, die von den geschnitzten Holzfiguren getragen wurden, ausnahmsweise ein paar Gemälde auf den polierten Feldern hingen.

Ich berichtete von meiner Reise und empfing den Dank dafür, daß ich endlich gekommen; ich brachte Grüße von ihren Eltern, von denen wir jetzt eine Weile sprachen. Sie sagte, sie habe heute an ihren Vater gedacht; sie hätte ihn so gern hier gehabt, denn sie komme gerade von einem Sterbenden, und Schöneres habe sie nie gesehen. Währenddessen nahm sie ihre Lieblingsstellung ein, das heißt, sie saß ein wenig vorgebeugt, den Kopf ganz zurückgeneigt, die Augen hoch oben auf die Wand oder auf die Decke geheftet. Mit einem Finger drückte sie auf die Unterlippe, nicht andauernd, aber dieselbe Bewegung wiederholend. Dann und wann neigte sie den Oberkörper leicht, die Augen waren wie gebannt; sie suchten mich nicht, wenn sie etwa fragte oder Antwort erhielt, sondern nur, wenn etwas ganz Besonderes sie aus ihrer Stellung lockte. Aber sofort nahm sie sie wieder ein.

»Glauben Sie an die Unsterblichkeit?« fragte sie, als sei es die natürlichste Sache von der Welt, und ohne mich anzusehen.

Da ich mich aber wunderte und sie selbstverständlich ansehen mußte, merkte ich, daß ihr eine Thräne über die Wange rollte, und daß in den offenen Augen ihrer noch mehr lagen.

Ich fühlte sofort, daß diese Frage nur ein Umweg sei: der Glaube ihres Mannes war es, den sie im Sinne hatte. Daher wollte ich ihr den Umweg sparen. »Wie denkt Ihr Mann über die Unsterblichkeit?«

»Er glaubt nicht an die Unsterblichkeit der Individualität,« erwiderte sie, »wir werden allein wiedergeboren in unserem Umgang, unseren Thaten und hauptsächlich in unseren Kindern; aber diese Unsterblichkeit meint er, sei genug an und für sich!« Sie starrte wie vorhin, und die Thränen lagen noch da; aber die Stimme war mild und ruhig; kein Gedanke an Unzufriedenheit oder Vorwurf lag in der einfachen Mitteilung, die sicher richtig war.

Nein, sie ist keine sogenannte kindlich naive Frau, dachte ich, und wenn sie denselben unschuldigen, fragenden Ausdruck hat, wie vor neun Jahren, so kommt es nicht daher, daß sie nichts gedacht, nichts versucht hätte.

»Sie sprechen also doch mit Atlung darüber?«

»Jetzt nicht mehr.« – »In Dresden schienen Sie doch durchaus einig über diese Dinge zu sein; Sie sangen zusammen« –

»Damals hatte mein Vater auf ihn eingewirkt. Ich glaube auch, daß er noch nicht ganz klar darüber war. Das ist nach und nach gekommen.«

»Ich sah auch einige Bücher, die jetzt zurückgestellt sind.«

»Ja, Albert hat sich verändert.« – Sie saß still, während sie diese Antworten gab; nur der eine Finger bewegte sich auf der Unterlippe.

»Aber wer sorgt dann für die Erziehung der Kinder?« fragte ich.

Jetzt wandte sie sich halb nach mir um. Ich glaube einen Augenblick, daß sie nicht antworten wolle, aber endlich that sie es doch. »Niemand«, sagte sie. – »Niemand?« – »Albert will, daß es bis auf weiteres so bleiben soll.« – »Aber, beste Frau, wenn man sie auch nicht unterrichtet, so erzählt man ihnen doch dies und jenes?« – »Ja, wenn jemand will, dann – und das ist in der Regel Stina.« – »Also alles nur ganz zufällig?« – Sie hatte sich von mir abgewandt und saß wie vorhin. »Ganz zufällig«, erwiderte sie beinahe gleichgültig.

Ich erzählte ihr kurz, was Stina den Knaben vom Leben im Jenseits, von den Engeln u. s. w. erzählt habe, und fragte sie, ob sie das billige.

Sie wandte mir das Gesicht zu. »Ja, weshalb nicht?« Die großen Augen sahen mich unschuldig an; da ich aber nicht gleich antwortete, errötete sie langsam.

»Wenn man ihnen von dergleichen erzählen soll,« sagte sie, »so muß es doch etwas sein, das ihre Kinderphantasie packt.« – »Man trübt ihnen die Wirklichkeit dadurch, gnädige Frau, und das ist dasselbe, wie wenn man ihre Fähigkeiten trübt.« – »Sie dumm macht, meinen Sie?« – »Nun, wenn auch nicht dumm, so hindert es sie doch, ihre Fähigkeiten richtig anzuwenden.« – »Ich verstehe Sie nicht.« – »Wenn Sie die Kinder lehren, daß das Leben hienieden nichts ist gegen das Leben jenseits; daß sichtbar sein nichts ist gegen das Unsichtbarsein; daß Mensch sein nichts ist im Vergleich gegen Engel sein, Leben nichts im Vergleich zum Tode – so ist das nicht die Art, um sie das Leben richtig anschauen oder lieben zu lehren, ihnen Lebensmut, Arbeitskraft, Vaterlandsliebe beizubringen –?« – »Ach so! – Ja, das wird späterhin unsere Arbeit mit ihnen sein.« – »Späterhin, gnädige Frau? Wenn sich erst all der Staub auf die Seele gelegt hat?«

Sie wandte sich von mir, nahm ihre alte Stellung ein, starrte auf die Decke und versank in Nachdenken. – »Weshalb brauchen Sie das Wort Staub?« »Unter Staub verstehe ich hauptsächlich das, was gewesen, jetzt aber aufgelöst ist, und nun umherstiebt und sich auf leere Stellen legt.« – Sie sann eine Weile. – »Ich habe von Staub gelesen, der Giftstoff von verfaulten Teilen mit sich bringt; . . . das meinen Sie doch wohl nicht?« – Es lag kein Spott im Ton, auch kein Zorn, daher begriff ich nicht, wo sie hinaus wollte und antwortete daher ausweichend. – »Es kommt darauf an, wo der Staub fällt, gnädige Frau; bei gesunden Menschen verursacht er nur Nebel, so daß sie nicht immer klar sehen können.« – Ich hielt inne, damit sie etwas von den Kranken einfügen könne; aber das that sie nicht; so fuhr ich fort, von den Gesunden zu sprechen. »Kommt absolut keine Bewegung hinein, so legt er sich oft fingerdick, so daß die Maschine nur mit Mühe geht.«

Lebhafter als sonst wandte sie sich zu mir, stützte sich auf die Armlehne und näherte mir das Gesicht: »Wie sind Sie darauf gekommen? – Etwa, weil Sie gesehen haben, wieviel Staub hier liegt?«

Ich gab zu, daß ich es gesehen. – »Und trotzdem thun das Stubenmädchen und Stina nichts anderes, als daß sie Staub wischen, und in der ersten Zeit that ich ebenfalls nichts anderes. Ich verstehe das nicht. Zu Hause bei Mutter hörte ich von nichts so viel reden, als von Staub. Sie fuhr immer mit einem nassen Wischtuch um Vater herum; er war so ärgerlich darüber, daß sie Unordnung in seine Bücher und Papiere brachte. Aber sie behauptete, daß er Staub sammle, wie kein anderer. Kaum war er aus dem Bureau gekommen, so fuhr sie schon mit einer Bürste über ihn her. Und dann kam ich an die Reihe. Ich sei wie Vater, sagte sie, schleppe Staub mit mir herum, und könne selbst niemals ordentlich abstäuben. – Ich war all des Staubes so müde, daß es mir bei meiner Verheiratung wie ein Paradies vorschwebte, daß ich selbst es nun nicht mehr nötig habe, und andere für mich Staub wischen lassen könne. Aber darin hatte ich mich geirrt. Doch nun habe ich es aufgegeben. Es nützt nichts. Ich muß wahrscheinlich kein Talent dafür haben, ihn los zu werden.«

»Es ist doch seltsam,« fuhr sie fort, indem sie sich in den Stuhl zurücksinken ließ, »daß auch Sie mir mit diesem Staub kommen mußten.«

»Aber ich habe Sie doch wohl nicht beleidigt?« – »Wo denken Sie hin? –!« und dann mit der ruhigsten und unschuldigsten Miene von der Welt: »Wer neun Jahre mit Albert zusammen gelebt hat, den kann nichts mehr beleidigen.«

Ich wurde gewaltig verlegen. Was zum Henker hatte ich mich denn auch in diese Sache zu mischen gehabt? Ich hatte mich verleiten lassen, das Bild zu gebrauchen; aber weshalb bejahen, daß ich Staub gesehen hatte; übrigens war das in Alberts Bibliothek gewesen. Ich sagte kein Wort mehr. Auch sie saß oder lag vielmehr lange still und trommelte mit den Fingern auf die Armlehnen. Endlich hörte ich wie aus weiter Ferne: »Aber Schmetterlingsstaub ist doch hübsch.« Und dann viel später, durch viele Gedankenverbindungen, die sie nicht verriet, kam eine Frage hervor, halblaut: Die Strahlenbrechung . . . die verschiedene Strahlenbrechung . . .? sie kam nicht dazu, auszusprechen; sie lauschte, stand auf; sie hatte Alberts Schritt im Vorzimmer gehört. Ich erhob mich gleichzeitig.

 

IV.

Die Thür wurde ganz geöffnet; Atlung kam hereingeschlendert. Der hohe, schlanke Mann in den bequemen Kleidern, welche mannigfache Spuren von den Fabriken trugen, die er besucht hatte, zeigte in Gesicht, Bewegung, Haltung, die gleichmütige Sicherheit mehrerer Generationen.

Als er mich sah, blinzelte er ein wenig mit den grauen Augen unter den kaum sichtbaren Augenbrauen, und darauf wurde das lange Gesicht zu einem großen Lächeln. Seine herrlichen Zähne glänzten zwischen vollen, feuchten Lippen, indem er rief: »Sie sind es!« Er nahm meine beiden Hände zwischen seine harten sommersprossigen Fäuste, ließ dann mit der einen los, und schlang den ganzen Arm um die Taille seiner Frau! »Ist das nicht prächtig, Amalie? Was? Die Tage in Dresden – was?«

Als er uns los ließ, fragte er eifrig nach mir und meiner Reise; er wußte, daß ich eine kurze Tour ins Ausland machen wollte. Dann fing er an, von dem zu erzählen, womit er sich hauptsächlich beschäftigte, schlenderte dabei im Zimmer auf und ab, nahm irgend einen Gegenstand in die Finger, betastete ihn, stellte ihn wieder hin und nahm einen anderen. Er nahm eine kleine Sache nicht wie wir mit den äußersten Fingerspitzen, mit vollem Griff fiel sie ihm in die Hand, so daß die Finger sie umschlossen. Das, worüber er sprach, faßte er im Grunde auf dieselbe Weise an, mit einem gewissen Übermaß, dann warf er es alsbald wieder hin, um etwas anderes zu nehmen.

Frau Atlung war hinausgegangen, kam aber sofort wieder herein, um uns zu Tisch zu bitten. Gerade in diesem Augenblick setzte er sich an das Klavier, wo ein Heft neuer Noten aufgeschlagen stand, das er sofort mit ein paar Worten charakterisierte. Dann begann er ein langes Lied Vers für Vers zu singen und zu spielen. Als er fertig war, erinnerte seine Frau ihn nochmals an das Essen. Dadurch bemerkte er vermutlich, daß sie im Zimmer war.

»Komm, Amalie, laß uns das Duett versuchen!« und er schlug die Begleitung an. Sie lächelte mir zu, stellte sich aber hin und sang mit. Ihr etwas gedeckter, süßer Sopran verschmolz mit seinem warmen Bariton, wie ich sie vor neun Jahren gehört hatte. Beider Stimme hatte den reichen Gehalt bekommen, den das Leben hineinlegt, wenn es selbst Gehalt hat; die Fertigkeit hingegen war ungefähr dieselbe geblieben.

Wer im Augenblick zuvor vielleicht nicht begriffen hatte, wie diese beiden zusammengekommen waren, brauchte sich nur neben sie zu stellen, wenn sie sangen. Eine lyrische Hingabe an die Stimmung war ihnen beiden gemeinsam, und unter verschiedenen Voraussetzungen waren sie beide einig darin, die Dinge gehen zu lassen, wie sie wollten. Wie zwei Kinder in einem Boote schaukelten sie nun von dannen, ließen das Essen kalt, die Dienerschaft ungeduldig werden; der Gast mochte denken, was er wollte, und die Hausordnung und alles, was sie selbst sich für den Tag vorgenommen hatten, konnte drunter und drüber gehen.

In ihrem Gesang lag keine Energie, keine Schule, keine feinere Ausarbeitung dieser einfachen Nummer, die sie vielleicht auch zum ersten Male sangen. Aber ein gleichmäßiges, träges, fröhliches Zusammenfortgleiten über die Melodie. Die lichten Farben der Stimmen flossen ineinander wie eine Liebkosung: es lag Reiz darin.

Vers um Vers sangen sie, und je länger, desto besser ging es zusammen, und immer lustiger. Als sie endlich aufhörten, und sie in ihrer etwas schwerfälligen Art an meinem Arm zu Tische ging, und er voraus schlenderte, um Stina den Schlüssel zum Weinkeller zu geben, da lag in ihren Augen keine Frage mehr, nur Freude, milde, schöne Freude, während er pfiff wie ein Kanarienvogel.

Wir setzten uns zu Tisch, während er draußen war; wir warteten bis in die Unendlichkeit auf ihn, entweder hatte er Stina nicht gefunden, oder sie hatte ihn nicht verstanden; – er war selbst in den Keller hinuntergegangen und kam so beschmutzt zurück, daß wir hell auflachten. Frau Atlung hielt jedoch mitten im Lachen inne und saß dann schweigend da, während er ging, um die Kleider zu wechseln und sich zu waschen.

Mit gieriger Hast goß er Löffel für Löffel der Suppe hinunter, bekam seine gute Laune wieder, als sein Hunger vorüber war und sprach in einem fort, bis er plötzlich beim Tranchieren des Bratens nach den Knaben fragte. Sie hatten schon gegessen; sie hätten nicht so lange warten können. »Haben Sie die Kinder gesehen?« – »Ja,« erwiderte ich und sprach von ihrem natürlichen Wesen, und wie sehr der eine seiner Familie gleiche und der andere jener seiner Frau.

»Aber,« warf er ein, »es ist schlimm, daß beide Familien verhältnismäßig zu viel Phantasie haben; es liegt etwas Weiches darin. Und die Knaben haben von beiden Seiten davon bekommen. Vor vierzehn Tagen ereignete sich hier ein trauriger Vorfall. Ein Spielkamerad kam im Fischteich um. Was die Knaben – natürlich mit Stinas Hilfe – daraus gemacht haben, ist ganz unglaublich. Ich habe heute darüber nachgedacht. Ich habe nichts gesagt, denn im Grunde genommen war es ja auch drollig, und dann wollte ich es nicht zwischen ihnen und Stina verderben. Aber es ist dumm, sicherlich. Sieh, Amalie, es ist fast besser, man schickt sie in eine Schule, als daß sie hier herumlaufen und in allerhand Unsinn hineingeraten.«

Die Frau antwortete nichts.

Ich wollte ablenken und fragte, ob er Spencers Abhandlung »Über Erziehung« gelesen habe.

Da kam Leben in ihn! Er hatte sich eben hingesetzt, um zu speisen; aber das vergaß er; nahm dann endlich einige Bissen und vergaß es abermals: ich glaube, wir saßen eine Stunde bei diesem einen Gericht, während er Spencer docierte. Daß ich, der gefragt hatte, ob er das Buch gelesen habe, es aller Wahrscheinlichkeit nach selbst gelesen hatte, kümmerte ihn nicht im mindesten. Er erzählte mir das Buch, oft Punkt für Punkt, mit eigenen Anmerkungen dazu. Eine davon war, daß, wenn auch, wie Spencer wolle, die Erziehungslehre als das nächstwichtigste Fach in den Schulen eingeführt werde, dennoch die wenigsten die Fähigkeit haben würden, ihre Kinder zu erziehen; denn Erziehung sei ein Talent, das gar Wenige hätten. Er für sein Teil wolle seine Kinder, sobald sie groß genug seien, zu einer Dame schicken, von der er wisse, daß sie dieses Talent besitze und ebenfalls die Kenntnisse, die unerläßlich dazu gehörten. Sie sei eine begeisterte Anhängerin Spencers.

Er sagte dies, als sei es eine längst abgemachte Sache; seine Frau hörte es mit an, wie eine alte Bestimmung. Ich war sehr erstaunt, daß sie es mir nicht gesagt hatte, als wir vorhin über die Knaben sprachen.

Jetzt weiß ich nicht mehr, auf welches Thema wir gekommen waren, als er mit einem Male die Uhr aus der Tasche riß und rief: »Ich habe Hartmann ganz vergessen! Ich hätte ja in die Stadt müssen! Ja, ja – es ist noch nicht zu spät! Entschuldigen Sie mich.«

Er legte die Serviette fort, trank noch ein Glas Wein, erhob sich und ging. Seine Frau erklärte mir entschuldigend, Hartmann sei sein Disponent, leider führe kein Telegraph heraus, und wahrscheinlich erheische irgend etwas binnen einer Stunde oder so Antwort.

Es war mindestens eine Stunde bis in die Stadt; wenn wegen nichts anderem, so des Pferdes wegen mindestens eine Stunde Aufenthalt, und dann anderthalb Stunden für den Rückweg; denn einen so langen Weg fährt man mit demselben Pferde nicht ebenso schnell zurück wie hin. Dies berechnete ich, während ich weiter speiste, und also sagte ich mir, daß ich ungelegen gekommen sei. Nach dem Kaffee wollte daher auch ich mich auf den Weg machen.

Das Essen war vorüber, und wir erhoben uns. Sie entschuldigte sich, weil sie in die Küche müsse, und da ich mir nun selbst überlassen war, wollte ich mich inzwischen auf dem Hofe umsehen.

Als ich auf die Treppe vor dem Beischlag kam, schlug mir das lauteste Gelächter der Knaben entgegen und gleich darauf ein Wort, von dem ich nicht gedacht hätte, daß sie es in den Mund nehmen, viel weniger es nach Leibeskräften hinausschreien könnten, und das mitten auf dem Hofe. Der älteste schrie es zuerst, und der jüngere that es ihm nach.

Sie standen oben an der Scheunenthür, und eine Magd, die im gegenüberliegenden Holzschuppen über einen Handschlitten gebeugt stand, war diejenige, der das Wort galt. Die Knaben riefen noch ein Wort, womöglich schlimmer als das erste, und noch eins und noch eins, ohne Aufhören. Zwischen jedem Wort jubelndes Gelächter. Es war klar, daß irgend jemand hinter der Scheunenthür soufflierte. Die Magd entgegnete nichts; sie sah dann und wann von ihrer Arbeit auf, – nicht nach den Knaben, sondern nach jemand, der hinter der Scheune stehen mußte, dort, wo der Wagenschuppen war.

Nun vernahm ich Schellengeläute von dort. Atlung kam im Reisemantel und führte sein Pferd. Das Entsetzen der Knaben, als sie des Vaters ansichtig wurden! Denn plötzlich ward ihnen klar, was sie gerufen hatten, wenn auch nicht voll und ganz, so doch, daß sie schlimme Dienste für einen anderen verrichtet hatten.

Der Vater rief ihnen zu: »Wartet nur, Jungen, bis ich wieder nach Hause komme, dann bekommt ihr sicherlich alle beide die Rute.« Er setzte sich in den Schlitten und schlug auf das Pferd los. Mich gewahrte er im Vorüberfahren und schüttelte den Kopf.

Die Knaben standen eine Weile wie versteinert. Dann machte der ältere sich auf die Beine, so schnell er nur konnte. Der jüngere ihm nach: »Wart' und nimm mich mit! – Hörst du, lauf' mir nicht fort, Anton!« Er fing an zu weinen. Sie verschwanden hinter dem Holzschuppen; aber lange noch hörte ich das Weinen des Kleinen.

 

V

Ich war verstimmt und wollte mich sofort auf den Weg machen. Als ich aber ins Zimmer kam, saß Frau Atlung auf der großen gotischen Bank neben der Thür zum Speisezimmer, und kaum zeigte ich mich in der Thür, als sie sich über den vor ihr stehenden Tisch lehnte und fragte: »Was halten Sie von Spencers Erziehung? Glauben Sie, daß wir sie in der Praxis befolgen können?« – Ich wollte mich nicht darauf einlassen und sagte deshalb nur: »Die Praxis Ihres Mannes stimmt jedenfalls nicht mit Spencer überein.« – »Meines Mannes Praxis? Er hat absolut gar keine.« Dies sagte sie, wie ein anderer sagen würde: welch hübschen Rockstoff Sie da haben. – »Sie meinen, daß er sich nicht um die Kinder kümmert?« – »Ach, darin gleicht er wohl den meisten Männern,« erwiderte sie, »sie amüsieren sich dann und wann einmal mit den Kindern, und schlagen sie auch dann und wann einmal, wenn etwas vorkommt, was ihnen lästig ist.«

»Sie meinen, die beiden Ehegatten müßten hier die gleich große Verantwortung haben?« – »Ja, das meine ich allerdings. Die Männer haben auch hier geteilt, wie es ihnen gerade gepaßt hat.« –

Ich wünschte mich zu verabschieden. Aber das kam ihr sichtlich unerwartet; sie fragte, ob ich nicht wenigstens vorher Kaffee trinken wolle; »aber es ist ja wahr,« fügte sie hinzu, »Sie haben niemand hier, mit dem Sie sich unterhalten können.« –

Sie ist nicht die erste verheiratete Frau, die versteckte Anfälle auf ihren Gatten macht, dachte ich. »Frau Atlung, Sie haben keinen Grund, mir etwas derartiges zu sagen.« – »Das habe ich auch nicht. Entschuldigen Sie.« – Es dämmerte schon ein wenig, aber wenn ich nicht irrte, war sie nahe daran zu weinen.

Ich setzte mich also an die andere Seite des Tisches. »Ich habe die Empfindung, liebe Frau Atlung, als wenn Sie das dringende Verlangen hätten, mit jemandem zu reden; aber ich bin gewiß nicht der rechte.« – »Weshalb nicht?« fragte sie. Sie hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und sah zu mir hinüber. – »Nun, wenn aus keinem anderen Grunde, so aus dem, daß ein derartiges Gespräch wieder aufgenommen werden muß, weil es verschiedenes zu denken giebt; und ich muß heute schon wieder abreisen.« – »Aber können Sie denn nicht wiederkommen?« – »Wünschen Sie das?« – Sie bedachte sich eine Weile, dann sagte sie langsam: »Ich habe in der Regel immer nur einen großen Wunsch zur Zeit. Und bei dem, welchen ich jetzt hege, trifft es sich gut, daß Sie gekommen sind!«

»Welcher Wunsch ist das, Frau Atlung?« – »Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen, wenn Sie mir nicht versprechen, daß Sie wiederkommen werden.« – »Nun, so will ich es Ihnen versprechen.« – Sie reichte mir die Hand über den Tisch: »Danke!« Ich rückte mit dem Stuhl herum und nahm ihre Hand. »Was ist es denn, gnädige Frau?« – »Nein, jetzt nicht,« erwiderte sie, »aber wenn Sie wiederkommen. Sie müssen mir helfen, wenn Sie meinen, es sei recht, es zu thun.« – »Natürlich.« – »Denn in vielen Stücken denken Sie ja wie Atlung. Auf Sie wird er hören.«

»Glauben Sie?« – »Auf mich hört er jedenfalls nicht.« – »Geben Sie sich Mühe, um gehört zu werden?« – »Nein, das wäre das schlimmste, was ich thun könnte. Bei Atlung muß alles gelegentlich kommen.«

»Aber, liebe Frau Atlung, ich habe doch gesehen, daß Ihr Verhältnis zu einander im Grunde genommen, ein glückliches ist?« – »Ach Gott ja, wir amüsieren uns oft so gut zusammen.«

Ich hatte das Gefühl, als ob sie nicht wünsche, daß ich sie ansähe, und darum hatte ich mich wieder umgedreht, so daß ich wie vorhin, seitwärts vom Tische saß; die Dämmerung nahm zu. – »Sie erinnern sich unserer wohl von Dresden?« – »Ja.«

»Wir waren zwei junge Menschen, die miteinander spielten; es war so reizend, verlobt zu sein; aber verheiratet sein, mußte doch noch viel reizender sein; aber ins eigene Heim kommen und ein Haus führen, ach, so außerordentlich reizend; aber nun erst Kinder bekommen! – Ja, und nun sitze ich hier mit einem Hauswesen, das ich nicht zu bewältigen vermag, und zwei Kindern, die keiner von uns zu erziehen versteht; jedenfalls meint Atlung das.« – »Aber greifen Sie denn nicht mit zu?« – »Im Haushalt meinen Sie?« – »Nun ja, im Haushalt!« – »Gott, was sollte das nützen? Ich bekam meistens Schelte, als ich es damals versuchte.« – »Aber Sie haben ja Hilfe?« – »Ja, das ist gerade das Unglück.« – Ich war im Begriff zu fragen, was sie damit meine, als die Speisezimmerthür neben uns lautlos geöffnet wurde; Stina brachte die Lampen. Sie kam noch zwei, dreimal zurück; aber das große Zimmer wurde von den Lampen, die sie hereinbrachte, noch lange nicht erhellt. Inzwischen wurde nicht gesprochen.

Als Stina wieder gehen wollte, fragte Frau Atlung nach den Kindern. Stina berichtete, daß man sie suche: auf dem Hofe seien sie nicht. Die Frau legte dem kein weiteres Gewicht bei, und Stina ging. – »Wer ist Stina«? fragte ich, als die Thür sich hinter ihr schloß. – »Ach, sie ist eine sehr unglückliche Person; ihr Vater war ein Trunkenbold, der sie schlug, und dann bekam sie einen Mann, einen Bankkassierer, der ebenfalls anfing zu trinken und sie zu schlagen. Jetzt ist er tot.« – »Ist sie schon lange hier?«

»Seitdem unser erstes Kind erwartet wurde.« – »Aber das ist eine traurige Gesellschaft für Sie, gnädige Frau.« – »Ja, sehr lustig ist sie gerade nicht.« – »Dann müßte sie wirklich fort.« – »Das wäre gegen die Tradition hier im Hause. Eine ältere Person muß die Kinder warten, und die ältere Person muß in der Familie leben und sterben. Stina ist brav.«

Abermals trat die, von der wir sprachen, geräuschlos ein; diesmal mit dem Kaffee. Eigentlich lag etwas Gespenstisches darin, wie dieses blaugrüne Porträt von Carlo Dolci so über die Teppiche in dem großen Zimmer fortschwebte und nach einem Schirm für die Lampe suchte, als ob es nicht schon dunkel genug sei. Der Schirm war obendrein noch ein durchstochenes Transparent von der Peterskirche in Rom.

Stina war gegangen, und Frau Atlung schenkte ein. »Und nun wollt Ihr Männer uns obendrein noch unseren Unsterblichkeitsglauben nehmen?« – Worauf sich dieses »Obendrein« bezog, konnte ich mir deuten, wie ich wollte. Sie reichte mir eine Tasse herüber und fuhr fort: »Als ich heute morgen zu dem sterbenden Manne auf der anderen Seite des Parks fuhr, da fiel mir ein, der Schnee auf den erstarrten Bäumen sei doch eigentlich das allerschönste Bild der Unsterblichkeitshoffnung, die über die Erde kommt, nicht wahr? So rein von oben her, und so barmherzig?« – »Glauben Sie, er fällt vom Himmel, gnädige Frau?« – »Er fällt auf die Erde nieder.« – »Das ist wahr, aber er kommt auch von der Erde.« – Sie that, als höre sie es nicht, sondern fuhr fort: »Sie sprachen vorhin von Staub. Aber dieser weiße, reine Staub auf den gefrorenen Zweigen und auf der grauen Erde, ja, das ist doch wie die Poesie der Ewigkeit, – dünkt mich,« und dabei legte sie eine singende Betonung auf »mich«.

»Wer hat denn diese Poesie gedichtet, gnädige Frau?« Sie sah mich mit ihren größten Augen an, aber diesmal nicht fragend; nein, sicher. »Wenn es keine Offenbarung von außen ist, so ist es eine Offenbarung von innen; jeder Mensch, der so fühlt, hat sie.« – Niemals war sie schöner gewesen. Im selben Augenblick hörten wir jemand im Vorzimmer. Sie wandte den Kopf lauschend dorthin. »Atlung ist zurückgekommen«! sagte sie, stand auf und klingelte, um noch eine Tasse für ihn zu bestellen.

Es war wirklich Atlung; sobald er die Reisekleider abgelegt hatte, öffnete er die Thür weit und trat ein. Sein Disponent Hartmann war unruhig geworden und ihm entgegengekommen. Atlung hatte die ganze Sache mit ihm mitten auf der Landstraße abgemacht.

Die fragenden Augen seiner Frau folgten ihm, als er mit einigen schlendernden Schritten durchs Zimmer ging. Entweder war es ihr nicht recht, daß er uns unterbrochen hatte, oder sie sah, daß er schlechter Laune war. Als er die Kaffeetasse aus der Hand nahm, erzählte er ihr den Vorfall mit den Knaben. Er nannte keins von den Worten, das die Knaben unter solchem Jubel hinausgeschmettert hatten; aber er sagte soviel, daß sie verstehen konnte, was es gewesen. Und während er trank, erzählte er, daß er ihnen die Rute versprochen habe; »aber,« sagte er, »hier thut etwas anderes not, als die Rute.«

Wie sie stand, als sie ihm die Tasse gereicht, so stand sie noch jetzt, als er ausgetrunken hatte und wieder auf und ab ging. Entsetzen lag auf ihrem Gesicht, ihrer Haltung. Ihre Augen folgten ihm durchs Zimmer; sie wartete auf dies »andere«, das mehr war als die Rute.

»Jetzt will ich dir's sagen, Amalie,« klang es hinten aus dem Zimmer her, »die Knaben sollen morgen am Tage fort.«

Sie sank langsam ins Sofa nieder, so langsam – ich glaube, sie wußte selbst nicht, daß sie sich setzte. Die Augen folgten ihm unverwandt. Etwas Hilfloseres, Unglücklicheres habe ich nie gesehen.

»Du hältst doch wohl so viel von den Knaben, Amalie, daß du dich darin finden kannst? Jetzt siehst du, wohin es führt, daß ich dir letzthin nachgab.«

Aber wenn er so fortfährt, tötet er sie ja! Sieht er sie denn nicht an?

Ob sie meine Teilnahme bemerkte oder nicht, – mit einem Male wandte sie ihre Augen, ihre Hände mir zu . . . während er von uns fort durchs Zimmer ging; ein Flehen der Verzweiflung lag in diesem Blick, dieser kleinen Bewegung. Ich begriff sofort, daß dies ihr einziger Wunsch sei; dies war es, wobei ich ihr helfen sollte.

Sie war über ihre Hände niedergesunken und blieb so liegen, ohne sich zu rühren. Ich hörte nicht, daß sie weinte; wahrscheinlich betete sie. Er ging auf und ab; er sah sie; aber sein Gang wurde immer entschlossener. Er schleuderte die Sachen, die er aufnahm und betastete, weiter und heftiger von sich.

Da ging die Speisezimmerthür langsam auf; abermals Stina. Aber diesmal blieb sie auf der Schwelle stehen, bleicher als gewöhnlich. Atlung, der gerade eine Wendung zu uns hin gemacht hatte, hielt inne: »Was giebt's, Stina?« – Sie antwortete nicht gleich; sie sah auf die Frau nieder, die den Kopf zu ihr emporhob: »Was giebt's, Stina?« rief auch sie.

»Die Knaben,« sagte Stina und hielt inne. »Die Knaben?« wiederholten beide; Atlung blieb stehen; seine Frau erhob sich.

»Sie sind nicht auf dem Hofe, nicht in den Häuslerwohnungen, . . . wir haben überall gesucht; – auch bei den Fabriken.«

»Wo habt Ihr sie zuletzt gesehen?« fragte Atlung atemlos.

»Das Milchmädchen sagte, sie hätte sie weinend nach dem Park laufen sehen, als Sie ihnen mit der Rute gedroht haben.«

»Der Fischteich!« entfuhr es mir, ehe ich mich besinnen konnte, und die Wirkung auf mich selbst und alle war so, als ob etwas zwischen uns zerspränge.

»Stina!« rief Atlung; es war nicht vorwurfsvoll, nein, es war ein Schmerzensschrei, das Weheste, was ich je gehört! und damit stürzte er hinaus. Frau Atlung lief ihm nach, indem sie seinen Namen rief.

»Verlangt Laternen!« sagte ich zu den Leuten, die ich hinter Stina im Speisezimmer gewahrte. Ich ging hinaus, nahm meinen Überrock, kehrte wieder um und fand Stina, die sich mit gefalteten Händen im Kreise drehte. »Aber so kommen Sie doch und zeigen Sie mir, wo es ist.« Ohne Antwort, und vielleicht ohne zu wissen, was sie that, änderte sie ihren Gang und lief jetzt, statt im Kreise, geradeaus, immer mit gefalteten Händen und laut betend: »Vater im Himmel um Jesu willen! Vater im Himmel um Jesu willen!« rührend, mächtig, und so fuhr sie fort, ununterbrochen, über den Hof, an den Häusern vorüber, durch den Garten in den Park hinein.

Es war nicht besonders kalt, es schneite. Wie im Traum folgte ich dem langen, dunklen Gespenst mit dem Gebetschwall hinter sich durch den Schneenebel unter die hohen, belasteten Bäume. Ich sagte mir selbst, daß zwei kleine Knaben wohl an den Fischteich gehen könnten, um dort Gott und die Engel und die neuen Kleider zu suchen; aber in das Loch springen, wenn eins da war, und das zwei zusammen . . . unmöglich, unnatürlich, dumm! Wie in aller Welt war ich dazu gekommen, derartiges zu denken oder anzudeuten? Aber alles Verständige, was man sich in solchen Augenblicken sagt, nützt nichts; das Schlimmste und Undenkbarste gewinnt trotzdem Macht über einen, und dieses »Vater im Himmel um Jesu willen . . . Vater im Himmel um Jesu willen!« sauste mir in höchster Angst in den Ohren und erzeugte auch bei mir beständig neue Angst.

Wenn sie überhaupt nicht an den Fischteich gegangen sind, oder wenn sie da waren und nicht den Mut gehabt haben, ins Wasser zu springen, so konnten sie ja anderswohin geirrt sein. Hansens Vater sollte heute nachmittag Flügel bekommen; – ob sie nicht vielleicht in ihrer Herzensangst irgendwo unter einem Baum kauern und ebenfalls darauf warten? In solchem Falle würden sie ja zu Tode frieren. Und ich sah die beiden armen, kleinen, verfrorenen Burschen, die nicht nach Hause zu gehen wagten, der jüngere weinend, der größere schließlich ebenfalls weinend; mir war buchstäblich, als ob ich sie höre . . . »Still!« . . . »Was war das!« sagte sie und wandte sich in urplötzlicher Hoffnung um. »Hören Sie sie?« – Wir standen beide still. Aber nichts war zu hören außer meinem eigenen Keuchen, wenn ich den Atem nicht mehr anzuhalten vermochte. Es war auch nichts zu sehen, was zwei kleinen zusammengekrochenen Menschen ähnlich war.

Ich sagte ihr, was ich soeben gedacht, und sie flüsterte in verhaltenem Jammer, indem sie mit gefalteten Händen vor mich hintrat: »Beten Sie mit mir! ach, beten Sie mit mir!« – »Um was soll ich beten? Daß die Knaben jetzt sterben dürfen und in den Himmel kommen und Engel werden?« – Sie starrte mich entsetzt an, wandte sich ab und ging vorauf wie vorhin; jetzt aber ohne einen Laut.

Wir verfolgten einen Fußpfad durch den Wald; er führte an den Fischteich; aber wir mußten mehr als die Hälfte des Parks durchschreiten, um ihn zu erreichen. Hier ging ein Bach durch eine Schlucht, und man hatte eine Dämmung gemacht. Diese war groß, so daß der Fischteich einen ansehnlichen Umfang hatte. Wir mußten vom Fußpfad aufwärts gehen, um den Rand des Teiches zu erreichen. Stina ging beständig voraus, und als sie oben angelangt war und den Teich sah und die beiden Eltern auf demselben, da kniete sie hin und schluchzte und betete. Jetzt that sie mir leid.

Als auch ich hinauf kam und die Eltern erblickte, ward ich heftig ergriffen. Im selben Augenblicke hörte ich hinter mir im Walde Stimmen. Es waren die Leute, die mit Laternen kamen. Das schwebende, vom Schneefall gedämpfte Licht, das die vier Laternen auf die Menschen, den Schnee, den unteren Teil der Bäume warfen; der Schatten, in den gleichzeitig einige Leute im Zuge und einzelne Bäume und Stellen in der nächsten Nähe kamen, prägten sich meinem Sinn für alle Zeiten gleichzeitig mit den Worten ein, die ich vom Teich her hörte: »Hier im Teiche ist kein Loch!« Atlungs Stimme; sie bebte vor Erregung. Ich wandte mich um und erblickte seine Frau an seinem Halse. Stina war mit einem Aufschrei aufgesprungen, der in einem langen, aber leisen »Gott sei gelobt und gedankt!« endete. Aber die beiden auf dem Teiche ließen einander nicht los; ich ging mit einiger Mühe hinunter und zu ihnen hinüber; noch hing sie an seinem Halse; und er beugte sich über sie. Ich blieb ehrerbietig in einiger Entfernung stehen; sie flüsterten miteinander. Die Lichter oben am Teich waren das erste, was sie wieder zu sich rief.

»Aber was nun? Wo wollen wir suchen?« fragte Atlung. Ich trat näher. Jetzt sagte ich den Eltern, obgleich schonender, was ich zuvor Stina gesagt hatte, daß sie vielleicht irgendwo unter einem Baume kauerten und in ihrer Herzensangst auf erbarmende Engel warteten; es sei also die Gefahr vorhanden, daß sie sich schon erkältet hätten und krank würden.

Bevor ich noch ausgesprochen, rief Atlung den Leuten oben auf dem Damme zu: »Hatten die Knaben Röcke an, als Ihr sie zuletzt saht?« – »Nein,« antworteten zwei. Er fragte, ob sie Mützen aufgehabt? und hierüber war man sich nicht einig. Ich behauptete, sie hätten ihre Mützen gehabt; ein anderer sagte nein. Atlung selbst konnte sich nicht darauf besinnen. Endlich glaubte man, der älteste habe seine Mütze gehabt, der jüngere aber nicht. »Ach, mein kleiner Storm!« klagte die Mutter. Unter den Leuten oben auf dem Damme waren einige, die weinten, so daß wir es bis herab hörten. Ich glaube, es standen dort gegen zwanzig Menschen um die Laternen herum.

Atlung rief hinauf: »Wir müssen den ganzen Park absuchen; mit den Häuslerwohnungen fangen wir an.« Und er ging hinüber, klomm hinauf und half seiner Frau nach.

Hier kam ihnen Stina entgegen: »Frau Atlung, Frau Atlung!« flüsterte sie flehend. Aber keiner von beiden beachtete sie.

Ich starrte in die Schlucht unter uns. Schneebedeckte Bäume, von oben betrachtet, sehen aus wie ein versteinerter Wald.

»Lieber Atlung, willst du nicht rufen?« bat seine Frau.

Er trat vor, es wurde still. Und dann rief er langsam über den Wald fort: »Anton und lieber kleiner Storm! Kommt wieder heim zu Vater und Mutter! Vater ist nicht mehr böse!«

War es die Luft, die in Bewegung geriet, oder fiel gerade jetzt das letzte Schneeatom, das einen überlasteten Zweig zum Nachgeben bringen mußte, oder war irgend jemand einem solchen zu nahe gekommen, – genug, Atlung erhielt als Antwort einen Schneefall von einem großen Ast halb neben, halb vor ihm. Es gab ein dumpfes Krachen, das im Walde widerhallte, der Ast schwankte und schnellte empor, und wir alle waren in Schneedampf gehüllt. Aber durch die Erschütterung warfen nun auch all die anderen Äste ihre Schneebürden ab; Krachen und Dampf hüllte uns ein, und ehe wir noch wußten wie, warf der nächststehende Baum den Schnee von all seinen Zweigen zugleich ab. Der Luftdruck hiervon war so stark, daß noch zwei, dann fünf, sechs, zehn, zwanzig Bäume unter Dröhnen und Widerhall im Walde und mit einem Dampf wie von Schneelawinen alle ihre schweren Lasten abwarfen. Darauf folgte eine Gruppe von Bäumen, dann noch eine, dann viele, viele neben uns, weiter fort, dicht vor uns, die Bewegung teilte sich erst in zwei große Arme, teilte sich nach und nach in mehrere; – der Wald erbebte. Donner rollte in weiter Ferne, neben uns, bald stoßweise, bald gleichzeitig und ohne Ende. Vor uns stand alles in weißem Dampf; der stampfende Zug durch den Wald erschreckte uns anfangs; nach und nach, als er von uns fort zog und anwuchs, ward es so großartig, daß wir alles andere vergaßen.

Die Bäume standen wieder aufrecht und schlank, frei und schwarzgrün; wir selbst sahen aus wie Schneemänner. Alle Laternen waren ausgelöscht; wir zündeten sie wieder an und schüttelten den Schnee von uns. Da hörten wir es klagen: »Ach, wenn die armen Kleinen unterm Schnee begraben liegen!« Es war die Mutter, die sprach. Einige beeilten sich zu sagen, daß der ihnen unmöglich schaden könne; höchstens könne er sie vielleicht für eine kurze Weile niederdrücken, aber sie würden sich wieder heraus arbeiten. Einer sagte, sie würden unfehlbar schreien, sowie sie sich wieder aus dem Schnee herausgearbeitet hätten, und Atlung rief: »Still!« Wir standen länger als eine Minute und lauschten; aber nichts vernahmen wir, als das Nachdröhnen von einem einzelstehenden Schneeklumpen, der erst jetzt herunterkam.

Waren die Knaben aber irgendwo am Rande des Waldes, so konnten wir sie nicht gut hören, wo wir jetzt standen; an beiden Seiten waren ja die Ränder der Schlucht höher, als der Damm, auf dem wir standen.

»Ja, machen wir uns auf den Weg, um sie zu suchen!« sagte Atlung bewegt; er trat indessen noch an den äußersten Vorsprung des Dammes, wandte sich zu uns, die wir angefangen hatten, abzusteigen, und bat uns, stillzustehen: »Anton und lieber kleiner Storm! Kommt wieder heim zu Vater und Mutter! Vater ist nicht mehr böse!« Es that so weh, zu hören. Keine Antwort; wir standen lange. Keine Antwort.

Traurig kam er zurück und ging mit uns andern auf den Pfad hinunter; die Frau nahm seinen Arm.

 

VI

Wir kamen an den äußersten Teil des Waldes und verteilten uns in so weitem Abstand, daß wir nur gerade gegenseitig uns und das, was zwischen uns lag, sehen konnten; wir gingen hinauf durch den Wald, nahmen die nächste Strecke und gingen sie wieder hinunter, jedoch langsam; denn aller Schnee von den Bäumen lag jetzt auf dem alten Schnee auf der Erde; auf einigen Stellen war er so hartgepackt, daß er uns trug, an anderen sanken wir bis ans Knie ein. Als wir uns das nächste Mal wieder sammelten, um uns abermals zu zerstreuen, fragte ich, ob es denn wahrscheinlich sei, daß zwei kleine Knaben im Walde aushielten, nachdem es dunkel geworden. Aber hierin widersprachen mir alle. Sie seien daran gewöhnt, den ganzen Tag und sogar am Abend im Walde umherzustreifen! sie hätten andere Knaben, die Schneemänner für sie bauten, und Festungen und Schneehäuser, in denen sie oft mit Licht saßen.

Hierdurch wurden die Gedanken auf all diese Bauwerke gelenkt und auf die Möglichkeit, daß sie bei einem derselben Zuflucht gesucht hätten. Aber niemand wußte, wo sie sie in diesem Jahre hatten, da der Schnee erst vor kurzem gefallen war. Außerdem pflegten sie bald hier, bald dort zu bauen. Wir mußten unser Suchen also fortsetzen.

Es traf sich, daß Stina mir zunächst ging, und als wir beide an der Schlucht waren, und diese an einigen Stellen Windungen machte, kamen wir einander ganz nahe und hatten keine Strecke abzusuchen. Sie war offenbar anderen Sinnes geworden. Ich fragte sie weshalb. »Ach,« entgegnete sie, »Gott hat so deutlich zu mir gesprochen. Jetzt finden wir die Knaben! Jetzt weiß ich, weshalb dies alles geschehen ist! Ach, so deutlich weiß ich's!« Ihre Madonnenaugen strahlten in schwärmerischem Glück; ihr feines, bleiches Gesicht war verzückt. »Was ist's denn, Stina?« – »Sie waren vorhin so hart gegen mich. Aber ich verzeihe Ihnen. Herr, mein Gott, habe ich selbst nicht gesündigt? Habe ich nicht an Gott gezweifelt? Murrte ich nicht gegen Gott? O, seine Wege sind wunderbar! Ich sehe es so deutlich!« – »Aber was meinen Sie denn?« – »Was ich meine? Die gnädige Frau hat während des letzten halben Jahres nur um eins zu Gott gebetet. Ja, das ist so ihre Art. Das hat sie von ihrem Vater gelernt. Nur um eine einzige Sache hat sie gebetet, und wir haben ihr geholfen. Darum, daß die Knaben nicht von ihr getrennt werden möchten; Atlung hat damit gedroht. Wäre dies heute Abend nicht gekommen, so wäre es vielleicht trotzdem geschehen; aber Gott hat sie erhört! Vielleicht bin ich auch ein Werkzeug in seiner Hand gewesen; ich darf es beinahe glauben. Und der Tod des kleinen Hans . . . ja, sicher auch der Tod des kleinen Hans! Wenn nun die beiden lieben, kleinen Seelchen irgendwo sitzen und frieren und auf die Engel warten, o die lieben, lieben Jungen, so haben sie ja die Engel bei sich! Zweifeln Sie? Nein, zweifeln Sie nicht! Wenn die Knaben nun krank werden, und sie werden ganz gewiß krank, ja, dann ist es ja ihr Glück! Denn wenn Vater und Mutter zusammen am Krankenbette sitzen, ah, dann werden sie nachher nicht mehr fortgeschickt. Nimmermehr, nein, nimmermehr! Dann wird Atlung einsehen, daß es sie töten würde. O, er sieht es schon heute Abend ein. Ja, er sieht es sicherlich ein. Er hat es ihr jetzt schon feierlich versprochen. Denn eben jetzt sah sie mich so innig herzlich an, und vor einer Weile noch that sie es nicht. Es war, als ob sie mir etwas zu sagen hätte – und was sollte das in ihrer Angst sonst wohl sein? Sie hat Gottes Wege entdeckt, auch sie, Gottes wunderbare Wege! Sie sagt ihm Preis und Dank wie ich, – ja, hochgepriesen sei Gott um Jesu willen in Ewigkeit!« Sie sprach flüsternd, aber sicher und innig; das letzte oder die Lobpreisung hingegen mit geneigtem Haupte, gefalteten Händen und leise wie zu ihrer eigenen Brust.

Wir kamen auseinander und dann wieder zusammen, wo die Schlucht uns zusammentrieb und alles Suchen unsererseits aufhörte. »Über eins fehlt mir noch die Erklärung,« flüsterte ich ihr zu. »Wenn seit dem jammervollen Tode des kleinen Hans alles nur passiert ist, damit die Atlungschen Knaben bei ihrer Mutter bleiben dürfen, – so muß doch auch der große Schneefall, den wir soeben gesehen und gehört haben, etwas dabei zu bedeuten haben. Aber ich vermag nicht einzusehen, wie?« – »Das? Das war nur eine Naturerscheinung, ein reiner Zufall. – »Giebt es denn so etwas wie Zufall?« – »Ja,« erwiderte sie. »Und oft greift er ein. Aber hier kann ich nicht sehen wie. Es ist schon eine große Gnade, daß ich sehen kann, was ich sehe. Weshalb soll ich mehr verlangen?«

Wir spähten umher; aber wir fühlten, daß die Knaben hier in der Nähe der Schlucht nicht seien. Was ich zuletzt gesagt hatte, beschäftigte Stina noch immer. »Was meinten Sie mit dem Schneefall?« fragte sie leise, als wir uns das nächste Mal trafen. – »Das will ich Ihnen erzählen. Frau Atlung hatte mir, kurz bevor wir in den Park hinaus kamen, gesagt, daß die Unsterblichkeitshoffnungen ebenso leise, weiß und weich vom Himmel auf unser Leben herabfallen, wie der Schnee auf die nackte Erde . . .« – »Ah, wie schön!« rief Stina aus . . . – »Und da dachte ich, als dieses laute Toben kam, der Wald erbebte und der Schnee mit Donner von den Bäumen fiel –, ja, werden Sie jetzt nicht böse!« – da dachte ich, so seien auch die Unsterblichkeitshoffnungen von Frau Atlung und von Ihnen und uns allen in der großen Angst um das Leben der Knaben abgefallen. Wir fuhren umher in Jammer und Weinen, und einige von uns im Zorn darüber, daß die Kinder nun vielleicht am Rande der Ewigkeit ständen.« – »O Gott, ja!« – »Aber nun haben wir die Unsterblichkeitshoffnungen seit vielen tausend Jahren vor uns; – sie sind viel, viel älter als das Christentum –; und so wenig haben wir uns an sie gewöhnt.« – »O, Sie haben recht! O, Sie haben tausendmal recht! Wie wahr!« sagte sie und ging in stillem Sinnen weiter. – »Sie sagten vorhin, ich sei hart gegen Sie. Und doch that ich da nichts anderes, als daß ich Sie an die Unsterblichkeitshoffnungen erinnerte, die Sie die Knaben gelehrt hatten . . .« – »O, das ist wahr; verzeihen Sie mir! Ach, allerdings . . .« – »Denn Sie hatten die Kleinen ja gelehrt, daß es viel, viel besser sei, beim lieben Gott zu weilen, als hier; daß es das Höchste sei, was ein kleines Kind erreichen könne: Flügel bekommen und Engel werden, ja, daß die Engel selbst kämen und die unglücklichen Kinder holten . . .« – »Ach nein, nicht weiter,« jammerte sie und hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu. »O, wie unbedacht bin ich gewesen!« fügte sie hinzu. – »Glauben Sie denn nicht daran?« – »Ob ich daran glaube! Diese Gedanken sind zeitweise der einzige Trost meines Lebens gewesen. Aber ich glaube, Sie verwirren mich ganz und gar.« Und dann erzählte sie mir so rührend, daß ihr Kopf nicht mehr so stark sei wie früher; sie habe zu viel geweint und gelitten; aber die Hoffnung auf ein besseres Leben nach diesem hier sei oft ihr einziger Trost gewesen.

Von Zeit zu Zeit hörten wir Atlungs melancholischen Ruf, immer mit denselben Worten, und jetzt eben auch. Mit einem Satz waren wir wieder in der entsetzlichen Wirklichkeit, daß die Knaben nicht gefunden seien; und je mehr Zeit bis zu ihrer Auffindung verging, desto sicherer war es, daß sie durch Krankheit dafür würden büßen müssen. Es schneite immer noch, so daß wir trotz des Mondscheins in einem Nebel wanderten.

Da klang ein Ruf durch den Wald und den Schneenebel, ein anderer Ruf, als von Atlungs Stimme, und von anderer Art. Ich konnte nicht unterscheiden, was gesagt wurde; aber nun erschallte ein neuer Ruf von abermals einer anderen Stimme, dann von einer dritten, und die letzte klang klar: »Ich höre sie weinen!« Es war eine Frau, die rief. Ich eilte vorwärts, die anderen vor und hinter mir, alle nach der Richtung, aus welcher der Ruf kam. Vom Waten durch den schweren Schnee waren wir müde geworden; aber jetzt liefen wir so leicht, als hätten wir festen Boden unter unseren Füßen. Das Licht der Laternen hüpfte zwischen uns und über uns, leuchtete und blendete, keiner sprach, man hörte nur die Atemzüge. »Horch!« rief ein junges Mädchen und blieb stehen, und alle mit ihr; denn wir hörten die beiden Kleinen jammern, jenes herzzerreißende Weinen, das Kinder haben, wenn sie lange, lange vergeblich geweint haben, und endlich dann das Mitleid kommt. »O du mein Gott und Herr!« sagte ein älterer Mann: er kannte solch Weinen. Wir vermochten zu unterscheiden, daß die Knaben nicht mehr allein waren; wir gingen weiter, aber ruhiger. Wir waren am Fischteich vorüber, ein Stück von der Schlucht fort, wo die Bäume regelmäßig standen; denn die Stelle lag ruhig und versteckt. Das Weinen wurde natürlich deutlicher, je näher wir kamen, und schließlich hörten wir es mit anderen Stimmen untermischt. Die des Vaters und der Mutter; sie waren doch die ersten gewesen. Als wir ganz vorkamen, so daß wir zwischen den Bäumen hindurch in den dichten Schneenebel sehen konnten, begegneten unserem Blick zwei schwarze Klumpen, die sich an etwas Hohes, Weißes lehnten; das waren der Vater und die Mutter auf den Knieen, die je eines der Kinder an sich gedrückt hielten; hinter ihnen war eine Schneefestung oder eine zerfallene Schneehütte; dort hatten die Knaben also Schutz gesucht. Als die Laternen näher kamen, sahen wir, wie jämmerlich erfroren und erstarrt sie waren; sie waren blau, die Finger steif, sie konnten nicht ordentlich auf den Beinen stehen; sie hatten beide keine Mützen; wahrscheinlich lagen die im Schneehaufen, wenn sie sie überhaupt aufgehabt hatten. Sie antworteten auf keine der Fragen oder Liebkosungen der Eltern, nicht ein einziges Wort sprachen sie, nur Weinen, Weinen. Wir standen um sie her, Stina laut schluchzend. Das Weinen der Knaben und die Klagen, Fragen und Liebkosungen der Eltern, mit der Freude und Verzweiflung, die darin abwechselten: es war heftig ergreifend.

Atlung erhob sich und nahm seinen Knaben; es war der ältere. Frau Atlung erhob sich gleichfalls und nahm den ihren. Mehrere erboten sich, ihr den Knaben abzunehmen; aber sie antwortete nicht, sondern ging nur weiter mit ihm, tröstend, weinend, ohne einen Augenblick zwischen den Worten innezuhalten, bis sie stolperte und hinfiel, der Knabe unten und sie über ihn. Sie wollte keine Hilfe haben, sondern half sich selbst mit dem Knaben auf dem Arm wieder auf, ging weiter und fiel abermals.

Da sah sie zum Himmel auf, als wollte sie fragen, wie dies nur kommen könne, wie es doch möglich sei?

Wenn ich mich ihrer jetzt in ihrem Glauben und in ihrer Hilflosigkeit erinnere, so sehe ich sie immer so vor mir, den Knaben vor sich ausgestreckt im Schnee, sie über ihm knieend, und mit Thränen und Fragen zum Himmel aufblickend.

Einer hob den Knaben auf, und Stina half ihr empor. Als aber der Knabe auf einen anderen Arm genommen wurde, begann er zu klagen: »Mutter! Mutter!« und streckte die beiden steifen, erstarrten Hände nach ihr aus. Sie wollte ihn sofort wieder tragen, aber der Mann, der ihn trug, eilte voraus und that, als höre er sie nicht, obgleich sie zuletzt so flehentlich bat. Sie waren indessen kaum auf den Fußweg gekommen, als sie auch schon hinzueilte, den Mann aufhielt und den Knaben mit vielen zärtlichen Worten wieder in die Arme nahm. Atlung war nicht mehr zu sehen.

Ich ließ alle voraus gehen.

Als ich sie aber ein Stück Wegs vor mir im Schneenebel zwischen den Bäumen sah und das Weinen und Trösten vernahm . . . da versank ich wieder in mein altes Nachdenken.

 

VII

Ich verließ Skogstad sofort, ohne mich von den Eltern, die bei den Kindern waren, zu verabschieden. Ich bekam ein Pferd bis zur ersten Station auf dem Wege zur Stadt und befand mich bald in langsamer Fahrt auf der Chaussee. Durch den Schnee, der inzwischen gefallen, war der Weg schwerer fahrbar geworden, als bei der Herfahrt. Einige Flocken stiebten noch umher; aber es klärte sich immer mehr auf, so daß das Mondlicht nach und nach stärker wurde. Es fiel auf den schneebedeckten Wald, der hier noch unerschüttert in phantastischer Macht dastand; das einzelne ging verloren, aber die Gegensätze wurden gewaltig.

Ich war müde, und demgemäß war die Stimmung. Der Wald stand unter dem Schnee wie ein gebeugtes, überwundenes Volk; er trug schwerer, als er konnte. Trotzdem geduldig, Baum an Baum, fort ohne Ende. Es war das Volk aus vergangenen Zeiten bis auf heute, das bestaubte Volk. Jener »vom Himmel gefallene, barmherzige Schnee« . . .

Und wie es allen Bildern ergangen, von den allerältesten, die wir kennen, angefangen, daß einige von ihnen sich von dem befreit, was sie verbildlichten und selbständiges Leben bekamen, so ging es dem meinen. Ich sah die entschwundenen Geschlechter in einem Staubnebel; daher kämpften sie miteinander und töteten sich millionenweise. Immer stand jemand da und streute Staub, immer mehr Staub über sie. Oft gar liebreiche, feine Seelen, die damit das Schönste und Höchste thaten, was sie zu erdenken vermochten.

Aber ich sah alle Verhältnisse des Lebens, selbst die gesundesten, mit einer Staubschicht überstreut, und ich sah es: die Menschen daraus befreien zu wollen, war der größte oder der einzige Aufruhr der Welt.

Und als ich müder wurde, und dies von mir wich, während das jüngst Erlebte wieder auftauchte, da hörte ich deutlich weinen in einem Schneestaub, der nicht mehr fiel; es waren die Knaben, die ich hörte.

Die beiden armen Jungen hatten geglaubt, was die Erwachsenen sie gelehrt hatten. Sie hatten an Wesen geglaubt, die liebevoller als unsere, an ein Leben, das wärmer als unseres; deshalb hatten sie der Kälte hier getrotzt und unter Thränen und Angst standhaft gewartet. Als der Donner dröhnte, hatten sie vielleicht der Verwandlung entgegengebebt, und wurden doch nur begraben.

Ich kam aus dem Walde heraus und fuhr am Saum entlang zur Station. Als ich mich, oben angelangt, erhob, und noch einen Blick über die Bäume warf, waren sie vom Mondlicht klar überstrahlt; jetzt war es sehr hell geworden . . .

. . . Ein Traum weit über alle Völker, entsprungen lange vor aller Weltgeschichte, in beständig neuer Gestalt, einer aus dem anderen, und immer so, daß der letzte leichter über dem Leben lag als der nächstvorige und weniger davon verhüllte.

Das Unverständliche wird allzeit bleiben, das Unendliche mit ihm; aber das darf uns nicht mehr schrecken und verdecken; – mit Ehrfurcht soll es uns erfüllen, und nicht mit Staub.

Ich saß wieder im Schlitten, und das einförmige Geräusch der Schellen machte mich schläfrig. Und nun begann das Weinen der Knaben zusammen mit den Schellen vor meinen Ohren zu singen. Und in meiner Müdigkeit mußte ich an das denken, was nun weiter mit den beiden Kleinen vorgehen, und wie es in der nächsten Zeit auf Skogstad im Krankenzimmer und bei denen aussehen würde, die ich eben verlassen hatte.

Wie verschieden war aber das, was ich damals dachte, von dem, was später geschah!

Ich mußte daran zurückdenken, als ich zwei Monate später denselben Weg mit Atlung fuhr, und dieser erzählte, was geschehen war. Damals kam ich vom Auslande, und er holte mich aus der Stadt.

Und wenn ich es nun wiedererzähle, so geschieht es nicht mit seinen Worten; denn dazu würde ich nicht im stande sein; aber was er erzählte, ist folgendes:

Die Knaben bekamen Fieber, das in Lungenentzündung überging. Alle sahen von Anfang an, daß es eine böse Wendung nahm; aber Frau Atlung war so überzeugt, daß alles geschehen sei, damit sie ihre Knaben zu Hause behalte, daß auch die anderen diesen Glauben gewannen.

Wie schwer die Krankheit auch werden mochte, – sie würde nur der Eingang zu Glück und Frieden sein. Schon im Walde hatte sie ihrem Manne das feierliche Gelübde abgenommen, daß sie nicht fortgeschickt werden sollten, sondern daß ein Hauslehrer kommen und sie unter beständiger Aufsicht haben würde. Und am Krankenlager wiederholte er es, so oft sie wollte, wenn sie sich in den langen Nächten und stillen Tagen dort fanden. Niemals war sie schöner gewesen; niemals hatte er sie mehr geliebt als jetzt: eigentlich war sie in einer steten Verzückung. Sie vertraute Atlung an, daß sie vom ersten Male an, als er vor gut einem halben Jahre gesagt, die Knaben müßten fort, unsern Herrgott angefleht habe, es zu verhindern, ihn endlos darum angefleht habe und in dieser ganzen Zeit um nichts anderes. Sie wußte, daß erhört wird, um was man in Jesu Namen betet. Sie hatte es früher schon mehrmals gethan in Fällen, die ihr selbst als Glieder in ihrem Leben unter der Führung des Glaubens erschienen, natürliche Glieder; und immer noch war es ihr gewährt worden. Diesmal hatte sie ihren Vater zu Hilfe genommen, und zuletzt Stina; beide hatten ihr auch versprochen, gleichfalls nur darum zu beten. Es war ihr nicht einen Augenblick eingefallen, daß man das Ziel noch auf andere Weise erreichen könne, z. B. soweit ihre Kräfte reichten und ihr Glaube es zuließ, Atlungs Ansichten über Erziehung zu studieren, und zusammen mit ihm den Versuch zu machen, so daß es sich herausstellen konnte, ob sie beide die Aufgabe bewältigen könnten. Sie ging davon aus, daß sie es absolut nicht könne; was vermochte sie wohl? Gott aber konnte, wenn er wollte. Es war ja seine eigene Sache, und das in viel höherem Grade, als irgend eine andere, bei der er früher ihr Flehen erhört hatte, so daß sie sicher war, er würde es thun. Jedes Begebnis, jeder Mensch, der auf den Hof kam, meinte sie, sei gottgesandt; auf irgend eine Weise mußten sie ein Glied in der Kette der Begebenheiten werden, die Atlung auf andere Gedanken brachte; als sie in ihrer Unschuld und ihrem Glauben Atlung dies erzählte, fühlte er, daß jedenfalls keine menschliche Macht ihr zu widerstehen vermöge. Er wurde in solchem Grade selbst mitgerissen, daß er nicht nur fest überzeugt war, die Knaben würden gesund werden; sondern er bemerkte nicht einmal, wie krank sie selbst war.

Der lange Aufenthalt im Park ohne Überkleider und mit nassen Füßen, der überreizte Seelenzustand und die Nachtwachen, die rücksichtslose Art gegen sich selbst, wie sie einzig und allein das eine erreichen wollte, so daß sie Essen und Trinken vergaß, ja, nicht einmal mehr das Bedürfnis danach hatte . . . alles das erschöpfte zuletzt ihre Kräfte.

Aber die ersten Anzeichen der Krankheit fielen zusammen mit ihrem rastlosen, verzückten Zustand; weder sie noch die anderen beachteten dieselben. Endlich mußte sie zu Bett, aber trotzdem war solche Wonne, solche Glückseligkeit über sie gebreitet, daß die anderen gar keine Zeit zur Angst bekamen; ihre Fieberphantasien flossen zusammen mit ihrem Leben, ihren Wünschen, ihrem Glauben; oft war es schwer, sie voneinander zu unterscheiden. Alle begriffen, daß sie krank sei, aber nicht, daß hier Gefahr vorhanden. Der Arzt war einer von jenen, die nicht gern sprechen; aber wäre Gefahr gewesen, so hätte er gesprochen, natürlich. Stina hatte ihre Pflege übernommen, und sie lebte in ihren eigenen Träumen und Hoffnungen und beschwichtigte Atlung, wenn er Unruhe zeigte.

Da kommt er eines Mittags aus den Fabriken nach Hause, wärmt sich und geht hinauf in den großen Saal, wo sie alle zusammen lagen; denn die Mutter wollte sein, wo die Knaben waren. Ihr Bett stand so, daß sie beide sehen konnte. Er trat leise ein. Es war gut und luftig im Zimmer, und tiefer Frieden. Niemand, außer den Kranken war, soweit er auf den ersten Blick sehen konnte, im Zimmer; später entdeckte er, daß die Wärterin in einem großen Stuhl eingeschlafen war, den sie in den Winkel beim Ofen gezogen hatte. Er weckte sie nicht; er verweilte ein wenig bei jedem der Knaben, die entweder schliefen oder im Halbschlaf lagen, und ging von ihnen an das Bett seiner geliebten Frau, erfreut, daß auch sie Ruhe hatte, vielleicht schlief; denn er hörte ihr Geplauder nicht, das ihn sonst immer begrüßte.

Ein Schirm war vor das Fenster gestellt; er sah nicht klar, bevor er näher kam. Sie lag mit offenen Augen da, aber Thräne auf Thräne rollte herab . . .

»Was ist dir?« flüsterte er erschrocken. Bei ihrer veränderten Stimmung sah er mit einem Male, wie mitgenommen, wie entsetzlich mitgenommen sie war. Wie in aller Welt hatte er es nicht früher gesehen? Oder hatte er es gesehen und war in solchem Grade von ihrer Sicherheit erfüllt gewesen, daß er es für bedeutungslos gehalten hatte? Einen Augenblick war ihm, als müsse er umfallen; aber seine Angst um sie gab ihm Kraft.

Sobald er dazu im stande war, flüsterte er: »Was ist dir, Amalie?«

»Ich sehe dir's an, daß du es weißt,« erwiderte sie langsam und flüsternd; ihre Lippen bebten, ihre Augen füllten und leerten sich, sonst aber lag sie ganz still. Ihre Hände – ach, wie waren sie mager; der Ring lag lose um den Finger, und das hatte er doch schon früher gesehen; weshalb hatte er sich denn keine Gedanken über das gemacht, was es bedeutete?« – Ihre Hände lagen ausgestreckt am Körper entlang, der ihm unter Decke und Laken so mager erschien. Die Spitzen am Handgelenk lagen geordnet, als hätte sie sich nicht gerührt, seitdem sie gekleidet und frisch gebettet worden war, und das mußte jetzt mehrere Stunden her sein.

»Aber Amalie!« rief er aus und kniete am Bette nieder.

»So meinte ich es nicht,« erwiderte sie in so leisem Flüsterton, daß er es unter anderen Umständen nicht gehört hätte. »Was meinst du mit ›so‹, Amalie? . . . Ach, versuch' es noch einmal, Amalie.« Er sah, daß sie wollte, aber nicht konnte, oder sich bedachte. Die Augen füllten sich wieder mit Thränen, füllten und leerten sich, der Mund bebte, aber ebenso lautlos, wie dies geschah, ebenso still lag sie. Endlich richtete sie die großen Augen auf ihn. Er beugte sich tiefer zu ihr hinab, um zu hören: »Ich wollte sie nicht wegnehmen von – dir,« hörte er geflüstert wie vorhin; das Wort »dir« kam für sich, und selbst in dem flüsternden Ton war es von einer Zärtlichkeit und Klage eingehüllt, die nichts auf Erden übertreffen konnte.

Er wagte nicht, noch einmal zu fragen, obgleich er es nicht verstand. Er begriff nur, daß am selben Vormittag etwas geschehen sein mußte, was das Leben zum Tode gemacht hatte. Sie lag wie gelähmt. Ihre Regungslosigkeit war Entsetzen; etwas ungeheuerlich Großes hatte sie zu lautloser Stille niedergedrückt, hatte sie zerschmettert. Aber er begriff auch, daß hinter dieser atemstillen Ruhe eine Bewegung sei, so groß, daß sie dieselbe zersprengen würde; er begriff, daß hier die Gefahr sei, daß seine Gegenwart die Gefahr steigere, daß hier Hilfe von nöten sei, d. h., er sah ein, daß, wenn er selbst nicht fortging, sein Gesicht, wie es jetzt aussehen mußte, genug sei, um sie zu töten. Er weiß nicht, wie es zuging. Er kann sich entsinnen, daß er auf einer Treppe war; denn er besinnt sich auf ein Bild, das sie selbst dort aufgehängt hatte, der heilige Christophorus, der das Jesuskindlein über einen Bach trägt. Er befand sich wieder auf dem Sofa in der großen Stube mit etwas Feuchtem auf der Stirn und ein paar Menschen neben sich, von denen die eine Stina war. Er kämpfte lange wie mit einem bösen Traum. Als er Stina sah, kehrte sein Entsetzen wieder. »Stina, wie geht es Amalie?« – Sie lag im Fieber.

»Aber was ist heute vormittag passiert, während ich fort war?« Stina wußte nichts. Sie verstand nicht einmal seine Frage. Sie hatte heute vormittag die Pflege der gnädigen Frau nicht gehabt; sie hatte Nachtwache gehabt, und da habe die Kranke in glückseligen Fieberphantasten gelegen, wie auch eben jetzt. Ob der Doktor denn am Vormittag bei ihr gewesen sei? Nein, er wurde erwartet. Er habe gestern gesagt, daß er heute erst später kommen könne. Das ließ darauf schließen, daß der Doktor keine Bedenken hatte.

Ob seine Frau sonst mit irgend jemand gesprochen habe? – Dann müsse es mit der Wärterin gewesen sein. – »Hol' sie!« – Stina ging; er schickte auch die andere fort, die da war; er bedurfte der Sammlung. Er setzte sich, vergrub den Kopf in die Hände, und bevor er wußte, wie ihm geschah, brach er in Thränen aus. Er horchte auf sein eigenes Schluchzen in dem großen Zimmer, und ein Schauder überlief ihn. Er fühlte es, – oh, er fühlte, daß er hier allein sitzen und es wochenlang hören werde. Und beim Gedanken an den grenzenlosen Verlust trat ihr Bild klar hervor, sie kam in ihrem weißen Gewande wie aus dem Bette und sagte ihm Wort für Wort, was sie gemeint hatte. Ihr Flehen zu Gott war gewesen, daß sie die Knaben behalten dürfe, und nun war ihr Flehen so fürchterlich erhört; denn nun sollte sie sie mit in den Tod nehmen. Das war es, was sie gelähmt hatte. Und dann wiederholte sie: »So meinte ich es nicht; ich wollte sie nicht fortnehmen von – dir.«

Wie war ihr dies mit einem Male eingefallen?

Weshalb war ihre unerschütterliche Gewißheit mit einem Male in etwas so Entsetzliches umgeschlagen?

Die Wärterin wußte nichts. Gegen Morgen war die Kranke in Schlaf gesunken, und nach und nach war dieser ruhiger geworden. Als sie am hellen Tage erwachte, lag sie noch eine Weile, bevor sie frisch gebettet wurde. Sie war außerordentlich schwach; die Haushälterin half dabei. Niemand hatte mit ihr über deren Zustand gesprochen, nicht mit einem Worte. Selbst hatte sie auch nichts gesagt, nur einmal; als sie ein wenig Suppe bekommen hatte, sagte sie: »ach nein, laßt nur.« Sie legte sich dann zurück und schloß die Augen. Sie rieten ihr, zu essen, aber sie antwortete nicht. Sie warteten noch eine Weile, dann ließen sie ihr Ruhe.

Gegen Abend wurde das Fieber stärker; auf den Rat des Doktors wurde sie in das anstoßende Zimmer getragen. Dies faßte sie auf, als würde sie ins Paradies getragen und sang mit schwacher, heiserer Stimme dazu. Jetzt sprach sie auch ohne Unterbrechung; aber mit Ausnahme jenes Psalms vom Paradiese war nichts in all ihren Reden, was darauf schließen ließ, daß sie sich an irgend etwas von dem erinnerte, was sie in dem Augenblick gedacht hatte, als sie ihre Besinnung hatte. Jetzt war alles wieder Glück und Lächeln. Gegen Morgen schlief sie ein; gleich darauf erwachte sie, und sofort stellte sich jener unsägliche Schmerz ein; aber unmittelbar darauf begann der Todeskampf. Unter demselben ward sie gewahr, daß die Betten der Knaben nicht da waren. Sie blickte Atlung an und öffnete die Hand, als wolle sie die seine haben. Er verstand sie; sie glaubte, daß die Knaben vorangegangen seien, und daß sie ihn trösten wolle. Mit dieser kleinen, kalten Hand in der seinen und ihrem leisen Zucken während des Kampfes mit den Boten des schwindenden Lebens saß er da, bis es zu Ende war.

Dann aber überließ er sich auch ganz und gar seinem grenzenlosen Schmerz. Er fragte nicht mehr wie dies zugegangen sei, oder was an jenem Vormittag geschehen war; jetzt wußte er es: – gar nichts war geschehen. Ein neuer, ungefährer Einfall, weiter nichts. Ebenso ungeahnt, wie der erste kam, daß jetzt alles gut werde, und die Kinder immer bei ihr bleiben würden, so ungeahnt kam der zweite, daß es droben in der Ewigkeit sei, wo sie mit ihr vereint sein sollten. An einem Tage gab sie sich selbst das Leben; am andern gab sie sich selbst den Tod.

Und hiergegen war nichts zu thun gewesen?

O, welche Vorwürfe er sich jetzt machte, daß er sie ein so weiches und gefährliches Phantasieleben hatte leben lassen; sie die Lasten des Hauses hatte tragen und die Erziehung der Kinder leiten, aber keine Gemeinschaft in Geist und Willen hatte finden lassen; daß er sie halb aus Rücksicht, halb aus Bequemlichkeit nachlässig dort hatte stehen lassen, wo er sie fand, sich mit ihr unterhalten hatte, wenn es ihm einfiel, aber nicht versucht hatte, zusammen mit ihr zu arbeiten; – das war es, womit er sich quälte ohne Trost, ohne Vergebung; denn das war es, woran sie gestorben.

Eines Nachts, als er draußen unter sternklarem Himmel umherwanderte, kamen die ersten tröstlichen Gedanken. Würde sie je ihre kindlichen Vorstellungen aufgegeben haben, um den seinen zu folgen? Würde nicht der bloße Versuch diese zu erschüttern, sie unglücklich gemacht haben? Sie ganz getrennt haben? Dies hatte er ja immer geglaubt, und schließlich hatte auch das ihn bestimmt, sein Leben zu leben, während sie das ihre lebte.

Es war ganz unglaublich, wie er so einen Augenblick alles zusammensuchte, was seine Schuldverantwortung vergrößern konnte, und im nächsten sich dabei beruhigte, daß es gewiß nichts genutzt haben würde, sie auf den richtigen Weg zu führen, es hätte vielleicht sogar geschadet.

Später sagte er bei Gelegenheit, daß seine Schuld gegen sie und die Kinder auch auf andere Dinge zurückzuführen sei, die zahlreich und schmerzlich genug waren; wenn auch nicht in dem Grade wie jene.

Was dies sei, erzählte er nicht; aber er sah um zehn Jahre älter aus.

Der Doktor suchte ihn ein paar Tage nach ihrem Tode auf; es drängte ihn, zu sagen, daß er nichts von der Gefahr im Zustande seiner Frau gesagt habe, weil er sicher gewesen, daß sie durchkommen würde. Aber an jenem Vormittag müsse etwas passiert sein.

Dann fügte der Doktor hinzu, daß die Knaben außer jeder Gefahr seien; der ältere sei es überhaupt immer gewesen.

Atlung hatte die Knaben und die Mutter bis jetzt noch keinen Augenblick getrennt. Während ihrer Krankheit fühlte er mit ihr, daß sie leben würden; während der letzten Tage, daß sie ihr im Tode folgen würden. Er konnte sich die Mutter nicht ohne sie denken.

Und nun, da er sie trennen mußte, war das erste Gefühl, – nicht Freude; nein, Entsetzen darüber, daß die Geliebte auch darin getäuscht worden! Es war, als ob sie lebe und sehen könne, daß alles Irrtum gewesen, und daß dieser letzte Irrtum sie unnötig getötet hatte.

Die beiden schwarz gekleideten Knaben waren die ersten, denen wir auf dem Hofe begegneten. Sie sahen bleich und verängstigt aus. Sie kamen uns nicht entgegen, und die Liebkosungen des Vaters erwiderten sie nicht.

Im Gange trafen wir Stina. Ich drückte ihr meine aufrichtige Teilnahme aus. Sie antwortete leise, Gottes Wege seien unerforschlich. Er allein wisse, was zu unserm Besten sei.

Atlung nahm mich mit in die Familiengruft, eine kleine Steinkapelle in einem Wäldchen am Flusse. Unterwegs erzählte er mir, daß es ihn jedesmal derartig überwältige, wenn er vertraulich mit den Knaben sprechen und versuchen wolle, ihnen Vater und Mutter zu sein, daß er nicht dazu im stande sei. Es müsse nach und nach kommen.

Das Grabgewölbe war eine freundliche, kleine Kapelle, auf deren Boden die Särge standen. Nur die Thür war keine gewöhnliche Thür, sondern ein Eisengitter, das jetzt offen stand; denn in der Kapelle wurde gearbeitet. Wir nahmen die Mützen ab und traten ein. Durch die Arbeit war eine feine Schicht Staub auf die Särge gefallen; wir traten an ihren kleinen Sarg heran, und mit dem Taschentuch wischte Atlung den Staub fort; wir sprachen nicht. Erst als ich die anderen Särge und ihre Inschriften betrachtete, teilte er mir mit, daß er den seiner Frau in einen steinernen setzen lassen wolle. Ich sagte, daß wir dadurch mehr von unseren Vorfahren bewahrten, als zu bewahren gesund sei. »Aber es liegt Pietät darin,« antwortete er, indem wir hinausgingen.

Wärmegrade in der Luft. Gegen den bläulichen Schnee rauschte der Fjord so drohend und frisch.

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