Bjørnstjerne Bjørnson
Mary
Bjørnstjerne Bjørnson

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Daheim

Es kam erstaunlich anders.

Schon als sie an Land stieg, sah sie bei Jung und Alt die ungeheucheltste Freude über das Wiedersehen. Alle Gesichter strahlten. Ebenso auf dem Wege zum Marktplatz; jeder freute sich; jeder grüßte. Während sie keinen Gedanken für diese Leute gehabt hatte, hatten sie ihrer gedacht. Vom Haus am Markt wollten sie später am Tage mit dem Küstendampfer nach Krogskog weiterfahren. In der Zwischenzeit bekamen sie Besuch von ihren Verwandten. Die mußten ihnen doch sagen, wie froh sie seien, sie endlich wiederzusehen. Sie mußten auch von der Freude berichten, die das spanische Bild Marys hervorgerufen hatte, erst hier, dann in der Hauptstadt und jetzt auf einer Rundreise durch das Land mit anderen Bildern. Man schreibe, – ja, sie habe doch gelesen, was man schreibe? – Nein, sie habe überhaupt keine Zeitungen gelesen, nur hier und da ein Blatt, das an ihrem jeweiligen Aufenthaltsort erschienen sei. »Liest Du denn keine hiesigen Zeitungen?« – »Doch, wenn Vater sie mir zeigt.« Ob ihr denn ihr Vater nichts davon erzählt habe, und Frau Dawes auch nicht? – »Nein.« – Ja, nun sei sie in ganz Norwegen bekannt. Dies sei doch das dritte Bild von ihr; oder gar das vierte? Und dies sei das schönste. Die illustrierten Zeitschriften hätten es gebracht. Ein englisches Kunstjournal, ›The Studio‹, habe es auch reproduziert. Ob sie das nicht wisse? – »Nein.« – Die Jugend sei ganz stolz auf sie. Darum hätten sie mit ihrem Frühlingsfest bis zu ihrer Heimkehr gewartet. »Da soll Staat mit Dir gemacht werden.« – »Mit mir?« – »Wir wollen nach Marielyst, der Dampfer von hier und einer aus der Nachbarstadt, wir treffen uns dort. Jörgen Thiis hat von Paris aus den ganzen Plan entworfen.« – »Jörgen Thiis?» – »Ja, hat er nichts davon gesagt?« – »Nein.«

Kaum war sie allein, so ging sie zu ihrem Vater ins Zimmer, der im Begriff war, einige Kunstgegenstände auszupacken, die er gekauft hatte, und die hier aufgestellt werden sollten. »Vater, hast Du die Bilder von mir ausstellen lassen?« Er lächelte und sagte unschuldig: »Ja, allerdings habe ich das getan, liebes Kind. Und viele haben ihre Freude daran gehabt. Man hat mich übrigens darum gebeten. Man hat mich jedesmal darum gebeten.« Er sagte es so nett. Daß er ihr nichts davon gesagt hatte und auch Frau Dawes und gleichzeitig wohl auch Jörgen Thiis es verboten hatte, fand sie reizend. Sie tat etwas, was sie sonst sehr selten tat, sie ging hin und gab ihm einen Kuß.

Also das war es, worüber ihr Vater so eifrig mit Frau Dawes und Jörgen Thiis getuschelt und geflüstert hatte? Deshalb waren die Zeitungen aus der Heimat ihr vorenthalten worden. Alles war verabredet, – sogar der Vorschlag, gerade jetzt nach Hause zu reisen! Sie hatte Jörgen Thiis beinahe lieb.

Als sie nach Krogskog abfuhren, hatte sich eine Menge Jugend auf der Brücke eingefunden. Sie riefen: »Auf Wiedersehen am Sonntag!«

Sie fand die Landschaft hinreißend schön. Die kleine halbe Stunde bis Krogskog war wie ein Begrüßen guter alter Bekannter, ein fortwährendes Begrüßen. Jetzt war auch die partielle Verlegung der Strandstraße an der Küste entlang fertig. Es war wirklich lustig, wie sie sich um die Landzungen herumschlängelte und oft in die Felsen hineinschnitt. Über Krogskog führte der Weg wie früher durch die Ebene von einer Landspitze zur andern, dicht an der Landungsbrücke vorbei und dicht unter der Kapelle mit dem Kirchhof.

Nein, wie behaglich Krogskog dalag: Sie hatte behalten, wie einsam es lag; aber sie hatte vergessen, wie reizvoll es war! Diese stille, blanke Bucht mit den Seevögeln! Das Gekräusel da hinten, wo der Fluß mündete, die große Ebene hoch oben zwischen den Hügeln, und die Höhen so grünbewachsen. Waren die Bäume vor dem Wohnhause wirklich nicht höher? Wie gut sich das langgestreckte Haus machte mit den schwarzen Fenstern und der schwarzen Grundmauer. Aus dem einen Schornstein stieg dichter Rauch auf; er wirbelte ein lustiges Willkommen in die Luft. Sie sprang vor den andern an Land und lief hinüber. Ein Mädchen von neun, zehn Jahren kam heruntergerannt, blieb, als sie Mary gewahrte, stehen, machte Kehrt und rannte all was sie konnte zurück. Mary aber holte sie vor der Treppe ein. »Jetzt hab' ich Dich!« sie drehte sie zu sich herum: »Wie heißt Du?« Es war ein hellhaariges, lachendes Ding, das nicht antwortete. Auf der Treppe standen die Mädchen und eine von ihnen sagte, sie heiße Nanna und sei hier Laufmädchen. »Dann sollst Du mein Mädchen sein!« sagte Mary und nahm sie die Treppe mit hinauf. Sie nickte jeder einzelnen zu, merkte aber, wie enttäuscht sie waren, als sie eilig weiterging, ohne mit ihnen zu sprechen. Sie sehnte sich danach, den Fuß auf die dicken Teppiche zu setzen, die seltsame Beleuchtung im Vorzimmer um sich zu fühlen, die großen, kostbaren Schränke und alle Malereien und Raritäten aus der holländischen Zeit wiederzusehen. Sie sehnte sich mehr noch danach, hinauf in ihr eigenes Gemach zu kommen. Diese Lautlosigkeit auf der Treppe und nachher auf dem langen, dämmerigen Gang – die hatte nie ein solches Flüsterspiel mit ihr getrieben wie heute. Etwas Weiches, Halbverstecktes, Vertrautes und Nahes zugleich. Das redete noch zu ihr, als sie vor der Tür zu ihrem Zimmer stand, es hielt sie so fest, daß es eine Weile dauerte, bis sie die Tür öffnete.

Ah, der Raum lag in vollem Sonnenlicht, es kam von dem Fenster an der Längswand, das auf die andern Häuser und auf die Anhöhe hinausging. Blasseres Licht vom Fenster gerade gegenüber, das auf den Obstgarten und drunten auf die Bucht sah. Die blinkte durch die Bäume. Über den Bäumen sah man die Inseln und das hellgraue Meer. Vom Hügel aber, der im schönsten Blüten- und Laubschmuck stand, zog Frühlingsduft herein. Das Zimmer selbst in seiner weißen Reinheit lag da wie ein Schoß, der all dies aufnahm. Hier drinnen scharte sich alles ehrerbietig um das Bett, das mitten in der Stube stand. Es war nicht nur wie für eine Prinzessin; es war die Prinzessin selber; alles andere neigte sich davor.

Der Ausflug nach Marielyst war in jeder Beziehung wohlgelungen. Aber an dem Tage kam zwischen Mary und Jörgen eine Verstimmung auf.

Das ging so zu. Jörgen Thiis kam mit einer großen, starken Dame an Bord – ihre breite Stirn, die warmen Augen, die kleine Nase und das vorspringende Kinn trieben ein leichtes Rot in Marys Wangen, das sie zu verbergen suchte, indem sie sich erhob und fragte: »Sie sind doch die Schwester des Hauptmanns im Geniekorps Franz Röy?« – »Ja«, antwortete Jörgen Thiis; »wir haben der Sicherheit halber einen Arzt mitgenommen.« – -Mary: »Das freut mich sehr; ich habe natürlich durch Ihren Bruder von Ihnen gehört. Er hat Sie sehr lieb.« – »Das tun wir überhaupt alle«, versicherte Jörgen Thiis und entfernte sich.

Fräulein Röy selbst hatte nichts gesagt, aber ihre forschenden Augen überströmten Mary mit Bewunderung. Jetzt setzte sie sich neben sie. »Bleiben Sie lange daheim?« – »Das weiß ich nicht. Vielleicht reisen wir überhaupt nicht mehr; mein Vater ist zu schwach.« – Fräulein Röys kluge Augen notierten das förmlich. Sie sagte eine ganze Weile nichts mehr. Mary aber dachte bei sich: wie taktvoll, daß sie nicht von ihrem Bruder anfängt.

Die beiden gingen während des Ausflugs einander nicht von der Seite. Sie standen auch zusammen, als nachher im Freien Erfrischungen gereicht und Reden gehalten wurden. Die Festfreude stieg Jörgen Thiis zu Kopf. Man kam zu ihm und stieß mit ihm an, und er wurde sentimental und redete. Auf das Ideal, das ewige Ideal. Glücklich der Mann, dem es schon in seiner Jugend begegne! Er trage es in seiner Brust wie einen wegweisenden, unauslöschbaren Scheinwerfer auf dem Pfade des Lebens! – Er trank das Glas bis zum Grunde aus und schleuderte es bleich und bewegt zu Boden.

Dieser fürchterliche Ernst kam den fröhlichen Menschen so unerwartet, daß sie lachen mußten. Alle miteinander!

Fräulein Röy sagte zu Mary: »Sie sind doch viel mit Leutnant Thiis zusammen gewesen?« – »Diesen Winter und im vorigen auch«, antwortete Mary leichthin und aß ihr Eis.

Ein junges Mädchen stand daneben. »Es ist eine merkwürdige Sache mit Jörgen Thiis«, sagte sie. »Zu uns ist er so nett; aber gegen die Soldaten soll er so schlecht sein.« Erstaunt wandte Mary sich zu ihr um. »Wieso schlecht?« – »Er soll sie so quälen, soll so furchtbar streng sein und so ganz sonderbar, und um das kleinste strafen.« Mary richtete ihre allergrößten Augen auf Margrete Röy. »Ja, das ist Tatsache«, antwortete die leichthin; sie aß auch ihr Eis.

Als gegen Abend der Tanz zu Ende war und sie zum Schiff hinunterzogen, Mary an Jörgens Arm, da sagte sie zu ihm: »Ist es wahr, daß die Mannschaften Ihres Kommandos über Sie klagen?« – »Das kann schon sein, gnädiges Fräulein.« Er lachte. – »Ist das zum Lachen?« – »Ja, zum Weinen jedenfalls nicht, gnädiges Fräulein«, er war so recht vergnügt, er hätte sie am liebsten in den Arm genommen und wäre mit ihr nach der Landungsstelle hinunter getanzt; das taten viele andere auch. Aber Mary weigerte sich. »Mir hat es weh getan, das zu hören«, sagte sie. Da merkte er, daß es ihr Ernst war. »Ich will Ihnen sagen, gnädiges Fräulein, der Norweger weiß im großen und ganzen nicht, was Gehorsam und Disziplin sind. In der kurzen Zeit, da wir ihn unter unserm Kommando haben, müssen wir es ihm beibringen.« – »Auf welche Weise?« – »Mit Kleinigkeiten natürlich.« – »Indem Sie ihn mit Kleinigkeiten quälen?« – »Ja. Ganz recht.« – »Mit Dingen, deren Notwendigkeit er nicht einsieht?« – »Ja gewiß. Er soll sich das Räsonnieren abgewöhnen. Er soll gehorchen. Und das, was er tut, soll er korrekt tun. Absolut korrekt.«

Mary antwortete nicht. Aber als jetzt ein Paar an ihre Seite kam, sprach sie mit denen und setzte das fort, bis sie die Landungsbrücke erreicht hatten.

Auf dem Schiff sah sie, daß Jörgen Thiis verstimmt war. Als sie von Bord gingen, stand er nicht an der Landungsbrücke. Ohne jede Verabredung begleitete die ganze Gesellschaft sie heim nach dem Haus am Markt. Sie sangen und lärmten vor der Tür, bis sie auf den Altan heraustrat und Blumen über sie streute, – die mitgebrachten und alle, die sie irgend fand. Sie gingen lachend und geräuschvoll auseinander. Aber als sie von dannen zogen, suchte sie unter ihnen nach Jörgen; er war nicht da. Das tat ihr leid; sie hatte ihm einen der schönsten Tage ihres Lebens schlecht gelohnt. Alle waren so reizend zu ihr gewesen.

Größere und kleinere gesellschaftliche Zusammenkünfte lösten jetzt einander ab; aber Jörgen Thiis war verschwunden. Zuerst war er eine Zeitlang daheim bei seinen Eltern gewesen, jetzt war er in Kristiania. Mary hatte nie weiter an Jörgen Thiis gedacht; aber nun, da er sich fernhielt, besann sie sich darauf, wieviel von jenen schönen Begegnungen mit ihren Altersgenossen auf sein Konto kam. Der wunderliche Toast, den er auf die »Treue gegen das Ideal« ausgebracht hatte, ... als er sprach, da hatte sie nur gedacht: wie sentimental Jörgen Thiis doch sein kann! Jetzt dachte sie: vielleicht galt das mir? Sie war an solche Übertreibungen gewöhnt, und sie machte sich absolut nichts aus Jörgen Thiis. Aber wenn sie überlegte, wie rasend verliebt er schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gewesen war, und daß er in all diesen Jahren genau so geblieben war, wann und wo sie sich auch begegneten, da wurde das doch ein wenig mehr. Die gierigen, verzehrenden Augen bekamen dadurch beinahe etwas Rührendes. Daß er es nicht ertrug, mit ihr zusammen zu sein, wenn sie das geringste gegen ihn hatte, bewies ja auch, wie gern er sie hatte. Daß er nichts sagte, sondern einfach fortblieb, gefiel ihr.

Da kam eines Tages Mille Falke, die hübsche, sanfte Frau des lungenkranken Oberlehrers, zu ihr heraus. Sie habe einen Brief von Jörgen Thiis bekommen. Eine Gesellschaft von zehn Personen in Kristiania habe eine Fahrt nach dem Nordkap geplant. Sie hätten schon vor zwei Monaten die Plätze bestellt, – und jetzt sei etwas dazwischen gekommen. Man habe Jörgen Thiis gefragt, ob er nicht die Billets übernehmen und zehn Personen heranholen könne, um mit ihnen diese herrliche Fahrt zu machen. Unten in den Kleinstädten lebe man in besserer Kameradschaft, da sei es leichter, eine solche Gesellschaft zusammenzubringen. Jörgen Thiis habe sich bereit erklärt, – wenn Mary Krog dabei sein wolle; er wisse, dann bekomme man die andern schon zusammen.

Frau Falke setzte Mary das in ihrer Schmeichelkatzenart auseinander, der nur wenige widerstehen konnten. Mary hatte freilich nicht die geringste Lust, in der Sommerhitze auf dem Deck eines Dampfers zu sitzen und alles abzubrechen, was hier unternommen wurde; es war gar zu nett. Aber sie wollte Jörgen Thiis nicht gern noch einmal kränken. Sie sprach mit ihrem Vater und mit Frau Dawes: sie hörte noch einmal Frau Falke an – und willigte ein.

In der ersten Hälfte des Juli versammelte sich die Gesellschaft eines Nachts an Bord eines Küstendampfers, der sie nach Bergen bringen sollte. Von dort wollte man die Reise antreten. Es waren sechs Damen und vier Herren. Eine der Damen war die würdige Vorsteherin der Schule, die Mutter des einen Herrn und die ehemalige Lehrerin von drei der Damen. Sie war das moralische Zentrum. Dann war ein jungverheiratetes Paar da, das die ganze Reise über geneckt wurde. Es lohnte sich; denn beide waren sehr lebhaft und gaben es reichlich zurück. Ein junger Kaufmann schnitt zwei Damen die Kur – behauptete man wenigstens – ohne sich klar zu werden, welche er am liebsten mochte. Das zu entscheiden, half ihm die ganze übrige Gesellschaft; die beiden Damen am eifrigsten. Ein junger Philologe wurde gleich in der ersten Nacht auf dem Küstendampfer »der Verlassene« getauft. Mit Ausnahme der alten Dame machten alle anderen einen furchtbaren Radau, und keiner tat ein Auge zu. Er allein konnte nicht tanzen und auch nicht singen und auch nicht die Kur schneiden. Er konnte nicht mal vertragen, wenn man ihm den Hof machte, dann wurde er nämlich verlegen. Die Folge war, daß alle, auch Mary, »dem Verlassenen« den Hof machten, bloß um sich an seinem jämmerlichen Zustand zu weiden. Der Urheber dieser Scherze war immer Jörgen Thiis; er neckte so leidenschaftlich gern. Seine Erfindungsgabe in dieser Beziehung konnte man nicht immer frei von Bosheit nennen.

Im Anfang ging er frei aus. Aber nach und nach wagte sich sogar »der Verlassene« an ihn heran. Über seinen Appetit, seine Herrschsucht und besonders über seine untertänige Dienerrolle Mary gegenüber wurde allgemein gestichelt. Mary hatte die wachsamen Augen der Krogs für Übertreibungen, so daß sie mitlachte, auch wenn es über die Untertänigkeit gegen sie herging. Er ließ sich nicht im geringsten stören. Er aß genau soviel, war genau so pedantisch als Führer der Gesellschaft und blieb unerschütterlich Marys erfinderischer, unablässig hilfsbereiter Diener.

Das Schiff war voll Passagiere; darunter viele Ausländer. Aber die fröhliche Gesellschaft von Jörgen Thiis wurde der Mittelpunkt. Die Natur machte so häufig Anspruch auf die Bewunderung der Reisenden, daß nicht allzu große Reibungen vorkamen. Es war, als werde etwas Gewaltiges vorgetragen. Ein Wunder löste das andere ab. Dazu kam der lange Tag. Die Nächte wurden immer kürzer; schließlich gab es überhaupt keine Nacht mehr. Sie fuhren in lauter Licht hinein, und das berauschte. Sie wurden nicht müde. Sie tranken, sie tanzten und sangen; schließlich waren sie alle auf denselben Ton gestimmt. Es wurden Vorschläge gemacht, die sonst unmöglich gewesen wären; in die Wildheit der Landschaft, in den Rausch von Licht paßten sie hinein. Als Mary eines Tages bei starkem Sturm ihren Hut verloren hatte, sprangen zwei Herren ihm nach. Der eine war natürlich Jörgen Thiis. Die Gemüter waren hoch über den Alltag hinaus gespannt. Wenn einer oder der andere müde wurde, schlief er Tage und Nächte durch. Aber die meisten hielten aus, jedenfalls solange es vorwärts ging. Unter ihnen Mary.

Jörgen Thiis hatte es durch seine ehrerbietige Energie dahin gebracht, daß alle Leute Mary mehr oder weniger genau so behandelten wie er selbst. Es kam auch nicht die geringste Störung vor, was besonders ihrer eigenen formvollendeten Art und ihrer aufmerksamen Rücksichtnahme zu danken war.

Als sie von Bord gingen und wieder den Küstendampfer bestiegen, forderte sie aus dem Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit Jörgen Thiis auf, mit ihr nach Krogskog zu kommen. »Ich kann nicht so plötzlich Schluß machen«, sagte sie.

Und er blieb mehrere Tage dort. Alles fand er schön und behaglich. Der Kunstsinn, der ihm eigen war, ging mehr aufs kleine; er schwärmte z.B. für ethnographische Schnurrpfeifereien, und deren gab es hier eine Menge. Die Zimmer und ihre Einrichtung waren so ganz nach seinem Geschmack. Frau Dawes, der gegenüber er frei heraus redete, vertraute er sich an; dies Behagliche, Gedämpfte stimme ihn erotisch, sagte er. Er phantasierte viele Stunden lang auf dem Klavier; und immer in dieser Richtung.

Mary behandelte er unter vier Augen mit der gleichen Ehrerbietung wie in Gegenwart anderer. Seit sie ihn kannte, hatte sie nicht ein einziges Wort von ihm gehört, das als Einleitung zu einer Werbung aufgefaßt werden konnte; ja nicht einmal ein Wort, das eine Einleitung zur Einleitung hätte darstellen können. Und das gefiel ihr.

Sie streiften zusammen durch Wald und Feld; sie ruderten zusammen zum Besuch bei Verwandten. Er hatte den Schlüssel zu ihrem Badehaus. Er ging hin, wenn noch keiner auf war, oft nach ihren Spaziergängen noch einmal.

Mary selbst war umgänglicher geworden. Er sagte es einmal. »Ja,« antwortete sie, »die jungen Menschen hier leben mehr wie ein Geschwisterkreis zusammen und sind daher anders, freier und frischer. Das hat mich angesteckt.«

Eines Morgens mußte er zur Stadt und Mary begleitete ihn. Sie wollte Onkel Klaus, seinen Pflegevater, besuchen. Sie hatte ihn, seit sie heimgekommen war, noch nicht gesehen.

Er saß in einer Rauchwolke wie eine Spinne in ihrem grauen Netz. Er sprang auf, als er Mary eintreten sah, war beschämt und führte sie in die gute Stube. Jörgen hatte Mary darauf vorbereitet, daß er schwerlich guter Laune sei; er habe wieder kleine Verluste gehabt. Sie saßen auch kaum in der kahlen, steifen guten Stube, als er anfing, über die schlechten Zeiten zu klagen. Wie seine Art war, machte er den Rücken krumm und spreizte die Beine auseinander, um die Ellbogen auf die Knie stützen und die langen Finger gegeneinander stemmen zu können. – »Ja, Sie haben es gut; Sie amüsieren sich bloß!« Vielleicht wollte er das wieder gutmachen. Er sagte: »Ich habe nie ein schöneres Paar gesehen!«

Jörgen lachte, wurde aber rot bis an die Schläfen. Mary saß unbeweglich; es berührte sie nicht.

Jörgen begleitete sie zurück nach dem Krogschen Haus am Markt, das dicht daneben lag. Er sagte unterwegs kein Wort und verabschiedete sich flüchtig. Später kam Nachricht von ihm, er müsse bis zum Abend in der Stadt bleiben; dann fahre er mit seinem Rade nach Krogskog hinaus. Das war gegen die Verabredung; aber sie fuhr heim.

Auf der Dampferfahrt nach Hause nahm sie den Gedanken auf: Jörgen Thiis und sie ein Paar? Nein! Das war ihr noch nie in den Sinn gekommen. Er war ein schöner eleganter Kerl, ein tadelloser Kavalier, ein wirklicher Künstler auf dem Klavier. Über seinen hellen Kopf und seinen Takt war nur eine Meinung. Selbst das, was sie früher so abgestoßen hatte, seine Genußsucht, die in Blick und Mienen auftauchen und ihnen dies Verzehrende geben konnte, von dem sie sich abwandte ... vielleicht war von dieser Grundlage aus das andere kultiviert worden? Das Gefühl für das Vollkommene in Kunst, Disziplin und Sprache? Aber doch blieb da etwas Unaufgeklärtes. Es war ihr gleichgültig, was es war; denn sie warf all diese Betrachtungen über Bord. Es ging sie nichts an.

Sie hatte eine Bauernfrau gesehen, die in ihrer Jugend bei ihnen gedient hatte; zu der setzte sie sich. Die Frau freute sich: »Na, wie geht es Ihrem Vater? Jetzt bin ich so alt geworden; aber ich sage, soviele ich kennen gelernt habe, – einen netteren Mann als Ihren Vater habe ich nie getroffen. Er ist und bleibt der Beste.«

Das kam so unerwartet und so warm heraus, daß es Mary rührte. Die Frau erzählte dann eine Geschichte nach der anderen von der Güte ihres Vaters und von seinem rücksichtsvollen Wesen. Sie hatte solange zu erzählen, bis sie da waren. Zuerst dachte Mary, etwas Schöneres sei ihr lange nicht widerfahren. Aber dann wurde ihr bange. Sie hatte fast vergessen, wie sehr sie selbst ihn liebte, hatte sich abgewöhnt, ihm das zu zeigen. Warum? Warum war sie von soviel anderem in Anspruch genommen und nicht von ihm, der der Liebste und Beste von allen war?

Sie lief eilig nach dem Hause hinauf. Obwohl der Vater kränklich war, war sie in letzter Zeit fast nie bei ihm gewesen.

Als sie näher kam, sah sie Jörgens Rad an der Treppe stehen und hörte ihn spielen. Aber sie eilte vorbei zu ihrem Vater hinein, der in seinem Arbeitszimmer am Pult saß und schrieb. Sie schlang die Arme um ihn und küßte ihn, blickte ihm in die guten Augen und küßte ihn noch einmal. Mit ihrem scharfen Sinn für Komik lachte sie, als sie sein Erstaunen sah. »Ja, sieh mich nur an, denn ich tue es gar so selten. Aber es ist trotzdem wahr, daß ich Dich grenzenlos lieb habe.« Wieder küßte sie ihn. »Mein liebes Kind!« sagte er und lächelte mitten in dem Überfall vor sich hin. Er war glücklich, das merkte sie. Allmählich kam in seine Augen das eigentümliche Leuchten, das keiner wieder vergessen konnte. Sie dachte bei sich: dies tue ich fortan jeden einzigen Tag.

Jörgen und sie hatten eine Radtour in die Umgegend verabredet. Am nächsten Tage waren sie unterwegs. Der Verwandte, zu dem sie kamen, ein Kompagniechef, freute sich sehr über den Besuch. Sie mußten zwei, drei Tage dableiben. Die junge Welt aus der Nachbarschaft wurde dazu geladen und es kam eine Partie auf die Alm zustande, – wieder für Mary etwas Neues. »Ich kenne alle Länder, nur mein Vaterland nicht.« Im nächsten Jahr wollte sie aber eine Reise durch Norwegen machen; dazu brauchte sie keine besondere Reisebegleitung. Mit dieser Aussicht wurde es eine königliche Heimfahrt.

Gerade als Jörgen und sie ihre Räder an die Balustrade anlehnten, kam die kleine Nanna aus der Tür gelaufen und eilig die Treppe herunter. Sie weinte, bemerkte aber die Ankommenden nicht; sie wollte nach der andern Seite. Als Mary rief: »Was ist los?« blieb sie stehen und schluchzte: »Oh, kommen Sie, kommen Sie, ich sollte jemand holen!« Ebenso schnell wieder die Treppe hinauf, um zu verkünden, daß sie jetzt kämen. Jörgen hinterdrein, dann Mary. Es ging durch das Vorzimmer, die Treppe hinauf, den Gang entlang bis zur letzten Tür rechts. Da drinnen lag Anders Krog auf dem Fußboden, und neben ihm kniete schluchzend Frau Dawes. Er hatte einen Schlaganfall bekommen. Jörgen hob ihn auf, trug ihn auf sein Bett und legte ihn zurecht. Mary aber stürzte wieder hinunter ans Telephon wegen des Doktors.

Der Doktor war nicht zu Hause; sie suchte ihn überall. Dazwischen schrie in ihr die Verzweiflung, daß sie nicht bei ihm gewesen war, als dies geschah. Sie hatte sich doch gerade das Versprechen gegeben, jeden Tag lieb zu ihm zu sein, – und hatte ihn doch verlassen! Ja, noch heute hatte sie sich auf den nächsten Sommer gefreut, wo sie ohne ihn im Lande herum reisen wollte. Was war aus ihr geworden? Was war los mit ihr?

Sobald sie den Doktor gefunden hatte, eilte sie zum Vater zurück. Da war er ausgezogen, und Jörgen war fort. Frau Dawes aber saß am Kopfende des Bettes auf einem Stuhl mit einem Brief in der Hand, grenzenlos unglücklich. Kaum gewahrte sie Mary, so reichte sie ihr den Brief, ohne die Blicke von dem Kranken zu wenden.

Der Brief war aus Amerika von einem Mary unbekannten Mann, der ihnen mitteilte, daß Bruder Hans ihr und sein Vermögen verloren habe. Er selbst sei schwachsinnig, sei es sicher schon lange gewesen.

Mary war es bekannt, daß es in der männlichen Linie der Familie Krog nichts Außergewöhnliches war, wenn alte Leute geistesschwach wurden. Aber sie war erschrocken, daß ihr Vater keine Kontrolle geübt hatte! Auch das war ein bedenkliches Zeichen.

Ihr Vater mußte mit diesem Brief auf dem Wege zu Frau Dawes gewesen sein, als ihn der Schlag gerührt hatte. Die Tür war nämlich geöffnet, und er lag dicht daneben.

Mary las den Brief zweimal und wandte sich an Frau Dawes, die saß und weinte. »Ja, ja, Tante Eva, – das muß getragen werden.« – »Getragen werden? Getragen werden? Was meinst Du? Das Geld? Das lumpige Geld! Aber Dein Vater! Dieser herrliche Mensch, mein bester Freund!« Sie blickte unverwandt auf seine geschlossenen Augen und weinte unaufhörlich, während sie ihm die zärtlichsten Namen gab, die höchsten Lobesworte, aber auf englisch. In der fremden Sprache fielen die Worte wie aus einer fernen Zeit über ihn; Mary lag auf den Knien daneben und las sie auf. Sie brachten von jedem Tage in dem Zusammenleben der beiden Alten die Entbehrungen, den Dank, – einen Niederschlag dessen, was sie an guten Worten, an freundlichen Blicken, an Gaben und Nachsicht empfangen hatte. Es kam so reich und so warm heraus mit der freudigen Kraft des guten Gewissens; denn Frau Dawes hatte versucht, ihm alles zu sein, so weit es in ihren Kräften stand. So goldene Worte jetzt über Marys Haupt ihm zu Ehren ausgeschüttet wurden, sie selbst machten sie arm. Denn sie war ihm so wenig gewesen. Oh, wie sie es bereute, wie verzweifelt sie war.

Jörgen Thiis erschien draußen auf dem Gange, gerade als sie aufstand. Sie bückte sich nach dem Brief und wollte ihm das Papier geben, als Frau Dawes, die ihn auch gewahrte, ihn bat, sie in ihr Zimmer zu führen; sie müsse auch zu Bett. »Gott weiß, wann ich wieder aufstehe! Wenn es mit ihm zu Ende ist, ist es mit mir auch vorbei.«

Jörgen eilte herzu, nahm die schwere Masse aus dem Stuhl auf und segelte langsam mit ihr ab; er klingelte nach einem Mädchen, das sie dann zu Bett brachte; er selbst ging zu Mary zurück. Sie stand unbeweglich da mit dem Brief in der Hand, den sie ihm jetzt hinreichte.

Er las ihn aufmerksam und wurde bleich. Ja, er war eine Weile wie betäubt; Mary trat ein paar Schritte näher an ihn heran; aber er merkte es nicht. »Das hat den Schlaganfall verursacht«, sagte sie.

»Natürlich«, flüsterte er, ohne sie anzusehen. Gleich darauf ging er.

Mary stand wieder neben ihrem Vater. Sein schönes, feines Gesicht rief nach ihr; sie warf sich wieder über ihn und schluchzte. Denn ihm, den sie am liebsten hatte, war sie am wenigsten gewesen. Vielleicht nur, weil er selbst nie an sich gedacht hatte?

Sie verließ ihn nicht, bis der Doktor kam und mit ihm die Pflegerin. Da ging sie zu Frau Dawes hinein.

Frau Dawes war verzweifelt und elend. Mary wollte sie trösten, aber sie unterbrach sie heftig: »Ich habe es zu gut gehabt. Ich bin mir zu sicher gewesen. Jetzt kommt der Ernst!« Mary erschrak bei diesen Worten; denn das hatte ihr die ganze Zeit auf dem Herzen gelegen.

»Du verlierst uns beide, armes Kind! Und Dein Vermögen auch!« Mary war es nicht lieb, daß sie das Vermögen erwähnte. Frau Dawes fühlte das und sagte: »Du verstehst mich nicht, armes Kind! Es ist nicht Deine Schuld, es ist unsere. Wir haben Dir zu viel Willen gelassen. Aber Du warst auch so häßlich, wenn wir es nicht taten.«

Mary blickte erschrocken auf: »Ich häßlich?« – Frau Dawes: »Ich habe es Deinem Vater gesagt, Kind, ich habe es ihm oft gesagt. Aber er war so herzensgut, er beschönigte immer alles.«

Jörgen kam mit dem Doktor herein. »Wenn irgend etwas hinzutritt, kann es vorbei sein, gnädiges Fräulein.« – »Bleibt er gelähmt?« fragte Frau Dawes. – Der Doktor wich der Frage aus; er sagte nur: »Jetzt ist vor allem Ruhe nötig.« Es wurde still nach dieser Erklärung.

»Gnädiges Fräulein dürfen nicht bei dem Kranken wachen, lieber zwei Pflegerinnen.« Mary antwortete nicht. Frau Dawes fing wieder zu weinen an: »Ja, jetzt kommen andere Tage.« –

Der Doktor ging, begleitet von Jörgen Thiis. Als Jörgen zurückkam, fragte er leise: »Soll ich auch fort, – oder kann ich irgendwie nützen?« – »O nein, verlassen Sie uns nicht!« jammerte Frau Dawes. Jörgen blickte Mary an, die nichts sagte; sie schaute auch nicht auf. Sie weinte leise vor sich hin.

»Sie wissen, gnädiges Fräulein,« sagte Jörgen Thiis ehrerbietig, »daß ich keinem Menschen lieber zu Diensten sein möchte.« – »Das wissen wir, lieber Freund, das wissen wir«, schluchzte Frau Dawes.

Mary hatte den Kopf erhoben; aber bei Frau Dawes' Worten schwieg sie.

Als Mary nachher aus Frau Dawes' Stube kam, öffnete Jörgen eben die Tür seines Zimmers, das Marys gerade gegenüber lag. Er blieb in der weit geöffneten Tür stehen, so daß sie den gepackten Koffer hinter ihm sehen konnte. Sie stand still: »Sie wollen fort?« – »Ja«, antwortete er. – »Hier wird es jetzt still.« Er wartete auf mehr; aber mehr kam nicht. »Jetzt beginnt die Jagdsaison. Ich hatte Ihren Vater fragen wollen, ob ich in seinen Wäldern jagen dürfe.« – »Wenn Ihnen meine Erlaubnis genügt, steht dem nichts im Wege.« – »Tausend Dank, gnädiges Fräulein! Ja, da darf ich doch auch mal hierherkommen?« Er verneigte sich tief und nahm ihre Hand.

Dann ging er zu Frau Dawes hinein, um ihr Adieu zu sagen. Da blieb er mindestens zehn Minuten. Er kam gerade wieder heraus, als Mary zu ihrem Vater hinüberging.

Als sie über ihren Vater gebeugt stand, regte er sich und schlug die Augen auf. Sie kniete hin: »Vater!« Er schien nachzudenken und versuchte zu sprechen; es gelang ihm aber nicht. Sie sagte eilig: »Wir wissen es, – alles, Vater. Aber hab' deswegen keine Sorge! Uns wird es trotzdem an nichts fehlen.« Seine Augen bewiesen, daß er verstanden hatte, wenn auch langsam. Er wollte die Hand erheben, merkte aber, daß er es nicht konnte. Er blickte sie schmerzlich erstaunt an; sie beugte sich über ihn, küßte ihn und weinte.

Aber es wurde unglaublich schnell besser. War es Marys Gegenwart und ihr stetes Mühen um ihn, was ihm half? Die Krankenpflegerin behauptete es.

Jetzt kam eine Zeit, in der sie unermüdlich war in ihrer Sorge um die beiden Kranken; zugleich aber trat sie die Verwaltung von Haus und Hof an. Sie übernahm die Buchführung und die Oberaufsicht. Sie fühlte sich wohl dabei, denn sie hatte Talent, Ordnung zu schaffen und zu dirigieren. Frau Dawes war sehr erstaunt darüber.

Keine Sorge um die Zukunft, keine Sehnsucht nach alledem, was hinter ihr lag. Sie sagte allen, die sie bedauerten, es sei freilich hart, daß die beiden Alten krank seien; aber sonst gehe es ihr so gut, wie sie es sich nur wünschen könnte.

An einem ungewöhnlich warmen Tage Anfang August hatte sie von morgens an sehr viel zu tun gehabt. Sie hatte Sehnsucht, sich ins Wasser zu stürzen, sowie sie Zeit hatte.

Zwischen fünf und sechs liefen sie hinunter, die kleine Nanna und sie. Zuerst waren sie beide zusammen im Badehause; der kleinen Nanna machte es solche Freude, wenn sie mit Marys schönem Haar zu tun hatte; heute durfte sie es auflösen. Dann lief sie den Hügel hinauf bis an den großen Stein, um von dort aus nach beiden Seiten Wache zu halten. Mary mochte nichts anhaben, sondern wollte nach Herzenslust plätschern und schwimmen. Sie nahm den Weg nach der Insel. Von dort aus konnte sie selbst zu beiden Seiten die Einfahrt und die Wege übersehen. Alles still, keine Gefahr. Also wieder zurück.

Die See umschmeichelte sie und trug sie, die Sonne spielte auf ihren Armen, die das Wasser teilten; das Land vor ihr lag herbstsatt da mit seinem fetten Heu; Seevögel schwebten in der Bucht, andere kreischten über ihr. »Und mir graute so vor dem Alleinsein – «

Als sie ans Ufer kam, mochte sie nicht heraus; sie legte sich auf den Rücken und ruhte sich aus. Dann ein paar Stöße und wieder eine Ruhepause. Der Strand war so einladend; sie legte sich in die Sonne. Den Kopf halb auf einem Stein, das Haar herabfließend. O, wie schön das war! Aber irgend etwas mahnte sie, aufzusehen. Sie hatte keine Lust dazu. Aber sie mußte doch wohl einmal dahin sehen, wo das Mädchen saß. Ach, was kümmerte sie das! Nanna hielt ja Wache. Aber soviel wurde doch dadurch bewirkt, daß das Wohlbehagen ihr verloren ging; sie machte ein Ende. Als sie aufstand, um auf die Badehaustreppe zuzugehen, gewahrte sie hinter dem großen Stein – Jörgen Thiis im Jagdanzug mit dem Gewehr über der Schulter! Das kleine Mädchen stand aufrecht auf dem Stein, ohne sich zu rühren; sie starrte ihn an, als sei sie festgenagelt.

Eine heiße Blutwelle durchflutete Mary – Zorn und Abscheu. War er schamlos? Oder hatte er den Verstand verloren? Äußerlich tat sie, als habe sie nichts gesehen, – warf sich kopfüber in die See und schwamm auf die Treppe zu, hielt sich ruhig daran fest, – und verschwand.

Aber ihr Atem ging heftig; ihr war so heiß, daß sie vergaß, sich abzutrocknen, sich anzuziehen. Sie geriet in immer größere Hitze, schließlich kochte sie vor Rachsucht und Wut. Der galante Jörgen Thiis wagte sie zu beleidigen, wie sie noch nie im Leben beleidigt worden war.

Sie schlug sich solange mit diesem sinnlosen, unehrenhaften Überfall herum, bis sie mitten in Vorstellungen war, die sie weit fortführten. Sie stand wieder vor der kraftvollen Gestalt des Athleten, sie fühlte wieder Alices wissende Augen auf sich ruhen. Sie zitterte, – als sie einen Schrei des Kindes da oben hörte. In ihrer Erregung war sie nahe daran, auch zu schreien. Was konnte da nur los sein? Auf die Seite ging kein Fenster hinaus. Aus der Tür zu sehen, wagte sie nicht, denn sie hatte nichts an. Nie hatte sie sich so mit dem Anziehen beeilt, aber gerade deshalb ging ihr alles verkehrt, und es zog sich in die Länge. Sie mochte nicht halbangekleidet vor Jörgen Thiis hintreten.

Als sie eben soweit war, daß sie daran denken konnte, die Tür aufzumachen, hörte sie auf der Landungsbrücke das Tripp-Trapp der kleinen Nanna. Mary riß die Tür auf, die Kleine kam hereingestürzt und warf sich ihr gleich in den Schoß. Da versteckte sie den Kopf und weinte und schluchzte, daß sie kein Wort herausbringen konnte.

Mary gelang es, sie zu beruhigen, besonders als sie ihr versprach, sie dürfe jetzt ihr Haar kämmen. Da erzählte sie, der Herr Leutnant habe hinter dem Stein gestanden, bis sie es bemerkt habe. Sie habe gesessen und gesungen und habe ihn gar nicht kommen hören. Er habe ihr gedroht. Ach, und sie habe solche Angst gehabt, denn er habe so böse ausgesehen! Ach, so böse habe er ausgesehen! Kaum sei Mary ins Haus gegangen, da sei er hinuntergestürmt, direkt auf das Haus zu!

»Jörgen Thiis?«

»Dann schrie ich aus Leibeskräften! Da stand er still. Aber dann drehte er sich um und kam auf mich zu. Ich hinunter vom Stein und hinein in den Wald – – « Sie konnte nicht weitersprechen. Sie verbarg wieder den Kopf in Marys Schoß und weinte.

Das wurde ja immer schlimmer! Marys Verstand konnte es anfangs kaum fassen.

Nach und nach aber ging ihr ein Licht auf – er mochte ein anderer sein. Er trug eine rasende Leidenschaft in sich. Er hatte den Mut starker Rücksichtslosigkeit. Wenn er nun gekommen war, um...?

Stolz und stark, wie sie sich kannte, hätte das für ihn die Verbannung auf immer bedeutet – nichts anderes.

Aber auf dem Heimwege ließ sie Nanna vorausgehen. Aus dem einfachen Grunde, weil sie kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte, – so stürmten die Gedanken auf sie ein.

Wie konnte ein Mann sich tagtäglich so beherrschen – einer so gewaltigen Begierde gegenüber? Eine lange, lange Anhäufung mußte vorauf gegangen sein; sonst hätte er nicht einem so unerhörten Überfall auf sich selbst – und auf sie – unterliegen können!

In diesen ganzen Jahren war er also von Begierde entflammt gewesen? Seine Huldigungen, seine Ehrerbietigkeit, seine steten Bemühungen um sie – war das alles Rauch aus dem unterirdischen Krater? Der eines schönen Tages lohende Steine und glühende Asche ausspeit!

Also Jörgen Thiis war gefährlich? Er wurde nicht kleiner dadurch; er stieg! Der Zwang, den er sich auferlegt hatte – ihr zu Ehren, war löblich! Wenn die Versuchung eines Tages den rebellischen Kräften das Tor öffnete – konnte sie ihm deswegen eigentlich böse sein?

Den ganzen übrigen Tag, ja noch als sie sich auszog, dachte sie darüber nach. Am andern Tage faßte sie den Entschluß, jetzt müsse es ein Ende haben. Es wurde etwas in ihr aufgewühlt, das sie schon einmal zurückgedämmt hatte; das Tempo durfte nicht unterbrochen werden, in dem sie sich ihr Leben einzurichten wünschte. Deshalb nahm sie ihre Arbeit energischer als je wieder auf, ja sie machte sich noch mehr zu schaffen. Sie sah nämlich die Bücher ihres Vaters und die losen Aufzeichnungen durch (deren es reichlich viele gab!), sie wollte Klarheit haben, wie die Dinge im ganzen standen. Er hatte doch auch hier Vermögen, und er konnte unmöglich alles verbraucht haben, was er aus Amerika bekommen hatte. Aber sie fand das Gesuchte nicht. Den Vater durfte sie nicht damit behelligen, und Frau Dawes wußte nicht Bescheid.

Aber so eifrig sie bei der Sache war, – etwas vom gestrigen Tage schlich sich hinein. Jörgen hatte natürlich baden wollen, nach dem Bade heraufkommen und sie begrüßen. Nach dem, was vorgefallen war, kam er nicht. Kam er überhaupt wieder? Ohne besonders aufgefordert zu sein? Er hatte sich ja einstweilen zur Genüge verrannt. Sie hörte an den folgenden Tagen in der Umgegend schießen. Manche sagten auch, es werde in größerer Entfernung geschossen. Aber er kam am zweiten Tage nicht, kam am dritten nicht und am vierten auch nicht. Ihr gefiel das.

Weil ihre Gedanken so oft auf den Höhen und im Walde waren, stieg sie eines Tages kurz vor dem Mittagessen hinauf. In der letzten Hälfte des August ist der Wetterumschlag im südlichen Norwegen häufig sehr kraß. Es war jetzt kalt; sie empfand es als eine Erfrischung, im Nordwind, der sie umspielte, bergan zu steigen. Sie stieg etwas unterhalb der Häuser hinauf, da ging es leichter. Sie kletterte rasch, sie war daran gewöhnt und sehnte sich, höher hinaufzukommen, im Winde zu stehen und über das aufgerührte Meer hinzuschauen. Schon von der ersten Anhöhe aus genoß sie den Blick auf die Halden, wo die Leute das Heu zum Trocknen ausbreiteten, über die Bucht, die Inseln, das Meer, das heute ganz schwarz war und viele Segler und etliche Dampfer trug. Doch über ihr machten die Krähen einen schauderhaften Lärm; da saß man sicher zu Gericht. Sie sah eine und die andere durch die Luft schießen und weiter gegen Norden zwischen den Hügeln verschwinden. Der Spektakel wurde immer schlimmer, je höher sie kam. Da beeilte sie sich; vielleicht konnte sie den Verbrecher retten. Ganz aufgeregt war sie, so daß es ihr kalt über den Rücken lief. Sie meinte, wenn sie um den nächsten Vorsprung herum sei, müsse sie sie sehen können. Statt dessen sah sie, als sie den Kopf hinübersteckte, ein gut Stück von ihr etwas weiter nördlich einen Mann auf dem Bauch liegen, direkt über den Häusern. Das war Jörgen Thiis! Zuerst duckte sie sich; aber dann stieg ein fröhliches Rachegefühl in ihr auf, und in diesem Gefühl eilte sie schnell entschlossen hinan. Er gewahrte sie und sprang verwirrt und beschämt in die Höhe, riß die Mütze herunter, setzte sie wieder auf und wußte nicht, wo er hinsehen oder sich hinwenden sollte. Sie kam langsam näher und weidete sich an ihm. Schon von weitem rief sie: »Auf die Art also gehen Sie auf Jagd? – Vielleicht wollen Sie unsere Hühner schießen?« Als sie näher kam: »Sie haben keinen Hund bei sich? Ach nein, unsere Hühner können Sie ja auch ohne Hund schießen. Oder haben Sie etwa überhaupt keinen Hund?«

»Doch, – aber heute bin ich nicht zum Jagen hergekommen. Ich habe genug.«

Diese einfachen, sanftmütigen Worte, bei denen er sie nicht anzusehen wagte, warfen ihre Gefühle über den Haufen. Sie wollte ihn nicht quälen. Sie hatte genug von der Tyrannei des Onkels gehört.

Die Krähen rasten schlimmer als bisher. »Hören Sie nur! Da wird Gericht gehalten! Daß Sie dem armen Sünder nicht zu Hilfe kommen!« – »Da haben Sie wahrhaftig recht!« sagte er, froh, daß er loskam. Er bückte sich nach seinem Gewehr und lief davon. Sie hinterdrein. Erst eine kleine Anhöhe hinan, dann den Weg entlang. Um zwei alte Bäume herum tobten die grauen Richter; es waren ihrer Hunderte. Aber kaum erblickten sie einen Mann mit einer Flinte, als sie krächzend nach allen Seiten auseinanderstoben. Ihre Aufgabe war beendet.

Und richtig: zwischen den beiden großen Bäumen lag zerzaust und blutig eine ungewöhnlich große Krähe in den letzten Zuckungen. Jörgen wollte sie aufheben. »Nein, fassen Sie sie nicht an!« rief Mary und wandte sich ab. Sie ging gleich wieder bis an den Abhang. Sie hörte ihn nicht nachkommen und blieb stehen: »Sie kommen doch mit und essen bei uns?« Er kam. Dann gingen sie schweigend bis an die Stelle, wo er gelegen hatte. Er fragte hastig: »Wie geht es bei Ihnen zu Hause?« – Sie lächelte: »O danke, den Umstanden nach recht gut.«

Aus dem Schornstein wirbelte der Rauch in die Höhe. Vornehm wirken die Dachziegel mit ihrer blauen Glasur auf den Hausern. Die großen Gärten zu beiden Seiten mit den sandbestreuten Wegen lagen da, als hätten die Hauser gestreifte Schwingen ausgebreitet. Das Ganze so lebensvoll, als werde es sich im nächsten Augenblick in die Lüfte heben. »Haben Sie lange hier gelegen?« fragte sie unbarmherzig; sie hielt es ja für eine Art Belagerung. Er antwortete nicht. Sie begann den Abstieg; hier war es ziemlich abschussig. »Soll ich Ihnen helfen?« – »O danke, ich bin häufiger hier gegangen als Sie.«

Es wurde eine stille Mahlzeit. Jörgen aß immer sehr langsam, aber nie so langsam wie heute. Mary war mit jedem Gericht schnell fertig und saß und sah ihn an. Sagte dies und das und bekam höflich Antwort. Seine Augen, die sonst gleich Wogen über sie hinspülten, die sie in sich aufsaugen wollten ... heute hoben sie sich kaum vom Teller. Plötzlich hörte er auf. »Ist Ihnen nicht wohl?« – »Doch, danke; aber ich bin satt.« –

Wenige Minuten später kam er aus Anders Krogs Zimmer heraus. Mary war kurz vorher von Frau Dawes gekommen und hatte gerade ihr Zimmer geöffnet. Jörgen Thiis sagte: »Ich finde, gnädiges Fräulein, Ihrem Vater geht es viel besser.« – »Ja, er kann schon dies und das sagen und den Arm etwas bewegen.« – Jörgen hörte das augenscheinlich nicht. »Ist dies Ihr Zimmer? – Ich habe es noch nie gesehen.« Sie trat beiseite; er schaute und schaute. »Wollen Sie nicht eintreten?« – »Darf ich?« – »Bitte sehr!« Er ging bis an die Schwelle und überschritt sie langsam; Mary folgte ihm. Er stand still und atmete schwer; sie war neben ihm. War denn das Zimmer mit Spitzen überzogen? Er konnte sich gar nicht zurechtfinden. Das Bett, die Möbel, weiß mit blau, oder blau mit weiß, die Amoretten an der Decke, die Bilder, darunter eins von ihrer schönen Mutter, mit Blumen geschmückt. Und der Duft ... nicht allein von den Blumen, nein, von ihr selbst und all ihrer Habe. Sie stand in ihrem blauen Kleid, – es war das mit den kurzen Ärmeln, – neben ihm. In diesem reinen Duft, in diesem Farbenzauber schämte er sich. Er schämte sich so, daß er am liebsten aus dem Zimmer gestürzt wäre. Er konnte nicht Herr seiner Stimmung werden; in seiner Brust begann es zu arbeiten und zu schluchzen; ein Zittern überkam ihn. Ihm war, als müsse er in Tränen ausbrechen. Da schimmerte es von zwei weißen Armen, und er hörte etwas Leises, das auch blau und weiß und weiß und blau war. Die Tür wurde hinter ihm geschlossen, wohl um ihn zu verbergen. Da schimmerten wieder die weißen Arme und er hörte deutlich: »Aber Jörgen! – Aber Jörgen!« Er fühlte eine Hand auf seinem Arm und setzte sich hin. Sie hatte wirklich »Jörgen« gesagt, zweimal »Jörgen.« Jetzt strich sie ihm das Haar aus der Stirn. So weich, so blütenzart. Es löste sich etwas in ihm; alles Wunde und Harte schmolz unter ihrer Hand und zerrann. In einem unsäglichen Gefühl von Wärme. Die sich da über ihn beugte, war eigentlich die erste, die ihm beistand, seit er kein Kind mehr war. Er hatte sich so verlassen gefühlt. Solches Vertrauen zu ihm lag in dem Händedruck. So unverdient. Das tat gut! Oh wie gut das tat! Ihm träumte, er sei auch gut, sei in der Gewalt guter Mächte. Das Weiße und Blaue wölbe ein Zelt über ihm. Unter diesem Zelt nähmen diese großen, guten Augen seine Seele in sich auf. Er sagte als Entschuldigung ganz leise: »Ich konnte es nicht länger aushalten.« Was er nicht länger aushalten konnte, verstand sie; sie prallte zurück.

»Mary«, flüsterte er. Ohne es zu wollen, dachte er laut. Das erschreckte ihn und erschreckte sie. Sie wich weiter zurück von ihm, ihre Augen wurden unklar; es versagte da etwas. Das sah er, – und ehe sie es ahnte, ehe er selbst es wußte, war er bei ihr. Er umschlang sie und preßte sie an sich. Er wurde wild, als er ihren Körper an seinem fühlte, und küßte sie, küßte sie, wo er gerade hintraf. Sie bog aus, bald nach der einer Seite, bald nach der andern. Da bedeckte er ihren Hals mit Küssen. Sie fühlte, jetzt galt es. Einen Arm hatte sie nur frei; aber damit stieß sie ihn von sich. Gleichzeitig bog sie sich so weit nach hinten, daß sie fast gefallen wäre. Dadurch kam er über sie, das zündete, und er wollte es sich zu Nutzen machen. Aber er mußte seinen rechten Arm lösen, um sie umschlingen zu können. Gerade dadurch bekam sie ihren linken Arm frei, stemmte ihn mit aller Macht ihm gegen die Brust, daß sie sich nach der Seite wenden konnte, und stand aufrecht. Ihre Augen trafen sich. Sie waren wild, die Flammen in ihnen prallten gegeneinander. Keiner sprach ein Wort. Ihre Atemzüge gingen kurz und scharf.

»Mary!« ertönte ein Schrei draußen auf dem Gange. Das war Frau Dawes! Frau Dawes, die das Bett nicht mehr verlassen konnte, – stand auf dem Flur! »Mary!« noch einmal so verzweifelt, als sei sie einer Ohnmacht nahe. Die beiden hinaus: Frau Dawes lehnte in ihrem Nachtgewand vor ihrer offnen Tür an der Wand. Sie war am Umsinken, als Jörgen Thiis herzugestürzt kam und sie unter den Arm faßte. Die Treppe herauf kam ein Mädchen nach dem andern, auch die kleine Nanna. Jörgen stand und hielt Frau Dawes, bis sie sie mit vereinten Kräften aufhoben und hineintrugen. Es war furchtbar schwer. Soviel sie hoben und schleppten, sie bekamen sie knapp über die Schwelle ins Zimmer hinein. Dann langsam weiter; aber jetzt kam noch das Allerschwerste: den Oberkörper ins Bett hineinheben; denn das wollte ihnen nicht gelingen. Immer wenn der Oberkörper auf dem Bettrand war, wollten die Beine nicht mit; dann glitt sie wieder hinunter; sie selbst half nicht ein bißchen, sie stöhnte nur. Ehe Jörgen richtig zufassen konnte, lag sie in ihrer ganzen Größe abermals am Boden. Als sie den Oberkörper wieder einmal hochgehoben hatten, aber nicht weit genug, daß er durch seine eigene Schwere liegen geblieben wäre, waren sie ganz verzweifelt; sie wußten nicht, was sie machen sollten. Das kleine Mädchen lachte laut auf und lief weg; Jörgen sandte ihr einen wütenden Blick nach. Das war selbst für Mary zuviel. Vor drei Minuten noch hatte sie wie eine Verzweifelte gekämpft, – und nun überkam sie eine so unbegreifliche Lachlust, daß auch sie hinauslaufen mußte. Da stand sie mit dem Taschentuch vorm Munde und krümmte sich vor Lachen, als die Pflegerin aus dem Zimmer ihres Vaters herauskam; er wollte wissen, was los sei. Mary ging hinein. Sie konnte es ihm vor Lachen kaum auseinandersetzen, wie nämlich Frau Dawes dalag und was für Anstrengungen Jörgen und die Mädchen machten. Ihren Vater quälte die Frage, was Frau Dawes wohl auf dem Flur gewollt habe. Da verstummte Marys Lachen. Ein Mädchen kam aus Frau Dawes' Zimmer und berichtete, jetzt liege die gnädige Frau im Bett. Sie möchte das gnädige Fräulein sprechen.

Im Zimmer stand Jörgen am Fußende des Bettes; Frau Dawes lag und stöhnte und weinte und rief nach Mary. Kaum ließ Mary sich in der Tür blicken, da fing sie an: »Was war mit Dir, Kind? Mich überkam eine schreckliche Angst, – was war los?« Mary ging zu ihr hin, ohne Jörgen anzusehen. Sie kniete neben ihrer alten Freundin hin und legte den Arm um ihren Hals: »Ach, Tante Eva!« sagte sie und schmiegte den Kopf an ihre Brust. Nach einer Weile fing sie zu weinen an. – »Was ist denn? Was ist denn? Was macht Dich so unglücklich?« jammerte Frau Dawes und strich ihr immer und immer wieder mit der Hand über das herrliche Haar. Schließlich blickte Mary auf; Jörgen Thiis war fort. Aber sie schwieg. »Nie habe ich solch ein Gefühl gehabt,« fing Frau Dawes wieder an, »wenn nicht etwas Entsetzliches bevorstand!« Mary schwieg. »War es etwas mit Jörgen Thiis?« Mary sah sie an. – »O Gott, das habe ich mir gedacht! – Aber bedenke, Kind, er hat Dich geliebt, seit er Dich zum erstenmal gesehen hat, und nie eine andere. Das ist schwer, siehst Du. – Und kein einziges Mal hat er Dir gegenüber etwas wie eine Andeutung gemacht, – oder doch?« – Mary schüttelte den Kopf. »Das ist viel. Das zeugt von Charakter. Zu Diensten ist er Dir gewesen und verehrt hat er Dich, – ja, sei nicht zu streng! Erst jetzt, da Du arm bist, wagt er – – ja, was war denn eigentlich los?« – Mary zögerte eine Weile; dann sagte sie: »Erst war es, als werde ihm schlecht. Aber dann wurde er plötzlich toll.« – »Ach, ich könnte Dir auch etwas erzählen ... Ja, ja, ja!« Sie versank in Gedanken. Dann murmelte sie: »Wenn einer jahrelang so herumgeht...« – »Wir wollen nicht darüber reden!« unterbrach Mary sie und stand auf. – »Nein, das ist ...« – »Nichts mehr davon!« wiederholte Mary. Sie trat ans Fenster. Da hörte sie Frau Dawes hinter sich: »Er hat mit mir gesprochen, mußt Du wissen. Ob er jetzt seinen Antrag machen dürfe. Er könne sich nichts Schöneres denken. Einspringen, wenn wir nicht weiterkönnen. Aber er findet, Du bist zu unnahbar.« Mary machte unwillkürlich eine Bewegung. Frau Dawes bemerkte es: »Sei jetzt nicht zu streng, Mary! Weißt Du, Kind, Dein Vater und ich, wir finden beide ...« – »Nicht, Tante!« Mary drehte sich rasch nach ihr um – nicht gerade unwillig, aber doch so, daß das Gespräch nicht weitergehen konnte.

Mary blieb in der Stube. Sie wollte nicht Gefahr laufen, mit Jörgen Thiis zusammenzutreffen. Als Mary Frau Dawes einmal eine Handreichung leistete, sagte diese: »Du weißt, Kind, er beerbt Onkel Klaus?« Als Mary nicht antwortete, wagte sie fortzufahren: »Jörgen glaubt, Onkel Klaus wird ihm helfen, wenn er sich verheiratet.« Mary ging das zu einem Ohr hinein, zum andern hinaus.

Als die Bahn frei war, suchte Mary ihr eigenes Zimmer auf. Sie durchdachte die ganze Szene noch einmal und glühte vor Aufregung, aber sie war verwundert, daß sie eigentlich nicht erzürnt war. Es war ja doch ganz entsetzlich.

Und gerade als sie dachte: »Was jetzt weiter?« klopfte es leise an die Tür. Sie wurde sehr böse, sie wäre am liebsten aufgesprungen und hätte die Tür verschlossen. Aber nach einer Weile sagte sie: »Herein!« Die Tür öffnete sich und schloß sich, ohne daß sie aufsah; sie saß in ihrem großen Stuhl. Leise und demütig kam er heran und ließ sich aufs Knie nieder, indem er das Gesicht in ihre Hände legte. Daran war nichts Abstoßendes. Er war tief bewegt. Sie blickte hinunter auf seinen hübschen Kopf mit dem weichen Haar. Sie verweilte bei seinen langen Künstlerfingern. Etwas Feines wirkte an ihm versöhnend. Aber diese Sentimentalität! »Soll ich abreisen?« war das einzige, was er sagte. Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie: »Ja.« Ganz leise. Er ließ die Arme sinken, griff nach ihrer rechten Hand und drückte seine Lippen darauf, lange, aber ehrerbietig. Stand auf und ging.

Bei dem Kuß, so ehrerbietig er war, durchrieselte ihren Körper ein aufregendes Gefühl. Wie sie es vorhin gehabt hatte, als er sie küßte und küßte, daß sie einer Ohnmacht nahe war. Sie blieb verwundert sitzen. Noch lange, nachdem er fort war. Sie dachte wieder ihren Kampf bis ins kleinste durch und zitterte. »Warum bin ich nicht böse auf ihn?«

Da klopfte es wieder. Das Mädchen der Frau Dawes fragte an, ob sie nicht herüberkommen wolle. »Du hast ihn abreisen lassen, Kind?« Frau Dawes war mehr als betrübt. Vor Eifer richtete sie sich auf und stützte sich auf den einen Arm. Ihre Mütze saß schief auf dem kurzen grauen Haar, der fette Hals war röter als gewöhnlich, als sei es ihr zu warm. »Warum hast Du ihn abreisen lassen?« wiederholte sie. »Er wollte doch.« – »Wie kannst Du das sagen, Kind? Er war doch bei mir und jammerte. Er wollte für sein Leben gern hier bleiben! Du hast keinen Begriff davon. Du hast ihn ja immer bloß zurückgestoßen. Und gefoltert.« Sie legte sich ganz verzweifelt wieder zurück. Das Wort »gefoltert« machte flüchtig einen komischen Eindruck; aber Mary hatte selbst die Empfindung, sie hätte mit ihm sprechen sollen, ehe sie ihn gehen ließ. Denn gehen mußte er.

Es kamen recht schwere Tage. Anders Krogs Befinden verschlechterte sich bei einem Witterungsumschlag. Dazu kamen Verdauungsbeschwerden. Es fiel ihm schwerer, sich verständlich zu machen. Mary war viel bei ihm; dann folgte er ihr mit den Augen, daß es ihr fast Angst machte.

Frau Dawes schickte ihm kleine Zettel. Von ihrer Schreiberei ließ sie sogar im Bett nicht. Immer wenn solch ein Zettel kam, blickte er Mary lange an. Da erriet sie, wovon die Zettel handelten.

Eines Tages sagte Frau Dawes zu ihr: »Du überschätzt Dich, wenn Du meinst, Du kannst hier allein mit uns leben.« – »Wie meinst Du das?« – »Daß Du im Frühling des gesellschaftlichen Lebens noch so müde sein magst, – wenn der Herbst kommt, lockt es doch. Du bist zu sehr daran gewöhnt.« –

Mary antwortete diesmal nicht; aber einige Tage später – es war lange naßkaltes Wetter gewesen, und sie hatte nicht draußen sein können – sagte sie zu Frau Dawes: »Du kannst recht haben, das Leben, das wir all diese Jahre hindurch geführt haben, hat tiefe Wurzeln in mir geschlagen.« – »O ja, tiefere als Du selbst ahnst, mein Kind!« – »Aber was soll ich denn tun? Von hier fort kann ich doch nicht? Ich will es auch nicht.« – »Nein. – Aber Du könntest Dir etwas Abwechslung verschaffen.« – »Wie denn?« – »Du verstehst mich recht gut, Kind! Wenn Du verheiratet wärst, würde er zeitweise hier mit Dir leben und Du zeitweise mit ihm da, wo er hin muß.« – »Eine wunderliche Ehe!« – »Ich glaube nicht, daß Du ihm sonst näherkommen kannst.« – »Wem näherkommen?« – »Dem, was das Leben von Dir verlangt. Und dem, woran Du gewöhnt bist.«

Mary fühlte, das, was Frau Dawes da sagte, sei auch des Vaters Wunsch. Daß es ihr Schicksal sei, was ihm die größte Sorge mache. Daß ihm eine Ehe mit Jörgen unter Onkel Klaus' Obhut eine große Beruhigung sei. Es lag wie ein Druck auf ihr, daß sie bis auf diesen Tag wenig Rücksicht auf die Wünsche des Vaters genommen hatte.

Diese ganze Zeit, all diese Erwägungen erschienen ihr wie das Rezitativ einer Oper, das zwei Handlungen miteinander verbindet.

Wenn sie jetzt, wo es herbstete, über die Bucht hinschaute, fühlte sie sich wie eine Gefangene. Stand sie oben auf der Höhe und sah mit den schaumsprühenden Wogen den rauhen Herbst daherkommen, dann hatte sie das Gefühl, er wolle sie für den Winter einkerkern. Dann brauste es in ihr auf; sie war an anderes gewöhnt.

Auch in ihrem Blut brauste es. Sie hatte ihre Ruhe verloren. In der Erinnerung erschien ihr Jörgen nicht abstoßend. Die Atmosphäre, die ihn umgab, schien ihr sogar sympathisch.

Daß ein Schlaganfall den Vater aufs Krankenlager geworfen hatte, und daß Jörgen gerade anwesend war, und daß er dem Vater willkommen war, – knüpfte das kein Band? War das nicht wie Schicksal?

An Jörgens Seite in Stockholm[Schweden und Norwegen hatten damals ein gemeinsames Ministerium des Auswärtigen.] aufzutreten und später weiter in die Welt gesandt zu werden, – einen naturgemäßeren Abschluß ihres Wanderlebens, eine vielseitigere Verwendung dessen, was sie dabei gelernt hatte, konnte man sich schwer vorstellen.

Onkel Klaus mußte helfen. Gründlich helfen. Sie war sich ihrer Macht über Onkel Klaus bewußt. –

»Kurz und gut, liebe Tante Eva,« sagte sie eines Tages, als sie neben ihr am Bett saß und mit ihr plauderte: »Du kannst an Jörgen schreiben.«

Mary stand selbst auf der Brücke, als das Boot anlegte. Es war am Sonnabend nachmittag, und wer irgend konnte, floh aus der Stadt, um die letzten Herbsttage im Freien zu genießen. Es war ein schöner Tag. Im südlichen Norwegen hat man solche Tage oft bis tief in den September hinein. Mary war in Blau und hatte einen blauen Sonnenschirm, mit dem sie Jörgen und ein paar Freundinnen winkte, die neben ihm standen. Alle Leute an Bord kamen nach der Landungsseite herüber, um zuzusehen.

Sowie Jörgen neben ihr stand, fühlte er, daß er vorsichtig sein müsse. Er erriet, daß sie ihn nur deshalb hier unten in Empfang nahm, damit ihr Zusammentreffen nicht intim ausfallen könne.

Auf dem Wege nach oben sprachen sie über die Schwalben, die sich jetzt zum Aufbruch rüsteten, über den Verwalter, der kürzlich einen mächtigen Adler geschossen hatte, über das Schreibbrett, das für Frau Dawes konstruiert worden war, über die gute Grummeternte, über die Obst-und die Futterpreise. – Drinnen im Flur lief sie ihm mit einem kurzen »Verzeihung!« weg. Sie flog die Treppe hinauf. Der Bursche, der Jörgens Koffer brachte, trat hinter ihnen in die Tür; Jörgen und er standen da und wußten nicht wohin. Da hörten sie Marys Stimme von oben: »Bitte hierher!« Sie gingen hinauf. Sie öffnete das Fremdenzimmer, das neben ihrem eigenen lag, und ließ den Burschen den Koffer dahinein setzen. Zu Jörgen sagte sie: »Wollen wir nicht jetzt zu Vater hineingehen?« – Sie ging voran. Die Pflegerin war nicht da. Vermutlich um die fortzuschicken, war sie vorhin nach oben gelaufen.

In den Augen des Kranken leuchtete es auf, als er hinter ihr in der offenen Tür Jörgen bemerkte. Kaum war die Tür geschlossen, als Mary auf ihren Vater zuging, sich über ihn beugte und sagte: »Jörgen und ich haben uns verlobt, Vater.«

Alle Güte und alles Glück, das sich in einem Angesicht vereinen kann, strahlte aus den Mienen des Vaters. Lächelnd wandte sie sich zu Jörgen, der blaß und verwirrt dastand und nahe daran war, auf Mary zuzustürzen und sie zu umarmen. Aber er fühlte, sie wollte wohl seine Überraschung, seine Dankbarkeit und seine Anbetung, aber keine Zeremonien. Das tat seinem Glück keinen Abbruch. Er begegnete ihren lächelnden Augen mit der vollsten, innigsten Freude. Er drückte die Hand, die Anders Krog ihm geben konnte, er blickte ihm in die tränennassen Augen und seine eigenen füllten sich mit Tränen. Aber gesprochen wurde kein Wort, bis Mary sagte: »Jetzt gehen wir zu Tante Eva!«

In einem Gefühl des Sieges ging sie voran. Bewundernd folgte er ihr. Sein Herz war voll, nicht zum wenigsten von Begeisterung über den Großmut, mit der sie ihm verziehen hatte. Er dachte: draußen auf dem Flur wird sie sich umdrehen, und dann ... Aber sie ging direkt auf Frau Dawes' Tür zu und klopfte an.

Als Frau Dawes Jörgen gewahrte, schlug sie die fetten Hände zusammen, zerrte an ihrer Mütze und wollte sich aufrichten, – aber es gelang ihr vor lauter Rührung nicht. Sie sank wieder zurück, weinte glückselig vor sich hin und streckte die Arme aus; Jörgen warf sich hinein, aber zum Kusse kam es nicht.

Sobald ein vernünftiges Wort gesprochen werden konnte, sagte Mary: »Findest Du nicht auch, Tante Eva, morgen müssen wir beide zu Onkel Klaus?« – »Das einzig Richtige, Kind! Das einzig Richtige. Worauf braucht Ihr zu warten?« – Jörgen strahlte. Mary zog sich zurück, damit die beiden in aller Vertraulichkeit miteinander sprechen könnten.

Als sie wieder zusammenkamen, merkte er, daß die Parole hieß: »Ansehen, aber nicht anfassen!« Das fiel ihm schwer; aber er gab zu, daß einer, der so vermessen gewesen war, im Zaum gehalten werden mußte. Sie wollte selbst über sich verfügen.

In ihrem Triumphgefühl war sie schöner als je. Es erschien ihm wie eine Gnade, daß sie »Du« zu ihm sagte. Das war auch alles, wozu sie sich herabließ. Er wartete und wartete; aber sie gab nicht mehr. Den ganzen Tag nicht. Da nahm er seine Zuflucht zum Klavier und jammerte ganz fürchterlich darauf: Mary machte die Türen auf, damit Frau Dawes etwas hören könne. »Der arme Junge!« sagte Frau Dawes.

Am andern Tage kam sie erst kurz vor der Abfahrt des Dampfers nach unten, mit dem sie zu Onkel Klaus wollten. »Heute bist Du richtig la grande dame«, – Jörgen musterte sie bewundernd; sie stand in ihrer elegantesten Pariser Besuchstoilette vor ihm. »Du willst Onkel Klaus wohl imponieren?« – »Das auch. Aber es ist doch heute Sonntag. – Sag' mal,« sie wurde plötzlich ernst, »weiß Onkel Klaus von Vaters Unglück?« – »Von seiner Krankheit?« – »Nein, von der Ursache der Krankheit?« – »Das weiß ich nicht. Ich komme von Hause. – Ich habe nichts gesagt. Nicht mal zu Hause.« – Das gefiel ihr. Deshalb wurde auch der Gang zum Dampfer hinunter und nachher die Fahrt gemütlich und fröhlich. Sie sprachen leise von der Hochzeit, von dem Urlaub für den ersten Monat nachher, von dem Leben in Stockholm, von ihrer Reise dahin, von seinem Weihnachtsbesuch zu Hause, von einem kleinen Abstecher nach Kristiania jetzt gleich – kurz, an ihrem Himmel waren keine Wolken.

Onkel Klaus trafen sie in seiner Rauchhöhle, wo sie ihn mehr ahnten, als daß sie ihn sahen. Er war selber ganz erschrocken, als Mary in ihrer ganzen Herrlichkeit vor ihm stand. Er eilte ihnen in den großen steifen Salon voran. Noch ehe sie saßen, sagte Jörgen: »Ja, Onkel, heute kommen wir, um Dir zu erzählen – «er kam nicht weiter; denn Onkel Klaus sah an ihren Gesichtern, was für eine strahlende Neuigkeit sie brachten. »Ich gratuliere, ich gratuliere!« Der große Mann streckte jedem eine Hand hin: »Ja, das sagen alle,« triumphierte er, »Ihr beide seid das schmuckste Paar, das je in der Stadt war. Denn«, fügte er hinzu, »wir andern haben Euch ja lange verlobt!« Kaum hatten sie sich gesetzt, als sich sein Gesicht verfinsterte. Er sah Mary mitleidig an: »Dein Vater, armes Kind!« – »Vater geht es jetzt besser«, antwortete sie ausweichend. – Onkel Klaus blickte sie forschend an: »Er kann ja wohl nicht mehr ...« er hielt inne, er konnte es wirklich nicht über sich gewinnen, das auszusprechen, auch Mary nicht. Sie saßen also eine Weile schweigend da.

Als das Gespräch wieder in Fluß kam, redeten sie über die ungewöhnlich schlechten Zeiten. Es mache den Eindruck, als wollten die kein Ende nehmen. Die Aktien hätten keinen Wert, die Schiffahrt liege darnieder, keine neuen Unternehmungen, das Geld arbeite nicht. Während sie hierüber sprachen, blickte Onkel Klaus Jörgen mehrmals an, als wolle er nach etwas fragen, wenn er erst fort sei: Sie bemerkte es und gab Jörgen einen Wink, er stand auf und entschuldigte sich: er habe sich mit einigen Kameraden in der Stadt verabredet. Es war zwischen Mary und ihm ausgemacht, daß sie allein mit Onkel Klaus reden solle. Aber was mochte Onkel Klaus mit ihr zu besprechen haben? Sie war gespannt.

Jörgen war kaum aus der Tür, da sagte Onkel Klaus mit bekümmerter Miene: »Armes Kind, ist es wahr, daß Dein Vater in Amerika große Verluste gehabt hat?« – »Er hat alles verloren«, antwortete sie. Blaß und entsetzt fuhr der große Mann in die Höhe: »Er hat alles verloren?« – Er starrte sie mit weit offnem Mund an, wurde dunkelrot und rief: »Ja, Gottsdonnerwetter, da kann ich verstehen, daß man den Schlag bekommt.« – Er begann im Zimmer auf und ab zu rennen, als sei außer ihm niemand da. Die weiten Hosen schlotterten ihm um die Beine, mit den langen Armen fuchtelte er in der Luft herum. »Er ist doch schon immer so ein leichtgläubiger Tropf gewesen! Ein richtiger Dussel! Wenn man sich vorstellt, einer hat ein so großes Vermögen im Geschäft eines andern stecken, und er kümmert sich dann nicht weiter drum! Das ist doch eine verdammte – « er hielt jäh inne und fragte in höchstem Erstaunen: »Auf was wollt Ihr denn heiraten –?«

Mary war tief verletzt, noch ehe diese Frage kam. In ihrer Gegenwart sich so zu benehmen, vor ihren Ohren so etwas von ihrem Vater zu sagen! Trotzdem antwortete sie mit ihrem reizendsten Lächeln und voll Schelmerei: »Auf Dich, Onkel Klaus!«

Seine Verblüffung war nicht zu beschreiben. Sie versuchte sie zu dämpfen, ehe sie zum Ausbruch kam, sie bedauerte ihn scherzend – und zwar auf englisch – was für ein armer Mann er sei. Aber das prallte ab wie Vogelgezwitscher an einem Bären. »Das sieht dem Jörgen, diesem Satan, ähnlich,« brach er schließlich hervor, »gleich auf mich zu spekulieren!« – Er rannte wieder durch die Stube, schneller als bisher: »Haha! das konnte ich mir ja denken! Wenn was in die Quere kommt, muß ich herhalten! In diesen Zeiten, wo ich kaum mein Essen verdiene! Solche Unverschämtheit ist mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen!« Er sah sie nicht, er sah überhaupt nichts. Dieser reiche Mensch hatte seinen Launen, seiner Wut, seiner Unverschämtheit immer freien Lauf gelassen. »Schockschwerenot, Jörgen verdiente, daß ich ihm auch das entzöge, was er jetzt bekommt. Immer will er mehr haben! Und nun sollte ich – ha, ha! Ja, das ist ein Prachtbengel!« –

Mary saß totenblaß da. Sie war nie bisher gedemütigt worden; nie bisher hatte ein Mensch sie anders als eine Bevorzugte behandelt.

Aber den Kopf verlor sie nicht. »Ich führe jetzt Vaters Bücher,« sagte sie kühl; »daraus habe ich ersehen, daß auch Ihr Geschäfte zusammen gemacht habt.« – »Oh ja,« sagte er, ohne stehen zu bleiben und ohne sie anzusehen: »Oh ja – mit ein paar Hunderttausend. Aber wenn Du die Bücher führst, weißt Du wohl auch, daß sie in diesen Zeiten fast nichts einbringen.« – »Das ist nun wohl übertrieben«, antwortete sie. »Ja, was willst Du mit den Papieren?« fragte er und blieb stehen. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus rief er: »Hat Jörgen Dich beauftragt, sie zu verkaufen?« – »Jörgen hat mich zu nichts beauftragt«, sagte sie und stand auf.

Wie sie blaß und groß und stattlich vor ihm stand und ihn mutig ansah, war er der Unterlegene. Er starrte sie nur an. Sie sagte: »Ich bedaure, daß ich nicht eher gewußt habe; was für ein Mensch Du bist.« Alle Überlegenheit fiel von ihm ab, – er stand dumm und schwerfällig da. Er war nicht imstande zu antworten, ja nicht einmal sich zu rühren. Er ließ sie gehen. Und das wollte er gerade am wenigsten.

Durch das Fenster sah er ihr nach, sah sie nach dem Markt hinuntergehen. Wie schön und stolz sie war, wie ein Bild.

Als Jörgen bald darauf kam, um Mary abzuholen oder vielmehr mit ihr zusammen zu Tisch dazubleiben, – denn er war überzeugt, sie würden zum Essen eingeladen werden – bekam er nicht allein dieselbe Lektion, die sie bekommen hatte, sondern eine viel saftigere, weil Onkel Klaus jetzt außerordentlich unzufrieden mit sich selbst war. Dafür mußte Jörgen büßen. »Warum, zum Donnerwetter, bist Du nicht selbst gekommen? Du warst wohl zu feig dazu? – Und dann hast Du sie veranlassen wollen, Aktien zu verkaufen, die jetzt gar keinen Wert haben! Ein verflucht leichtsinniger Kerl bist Du doch immer gewesen.« – Onkel Klaus hatte unrecht; aber Jörgen kannte ihn, er wußte, daß man ihm jetzt nicht widersprechen durfte. Er machte sich auf allen vieren davon und kam zu Mary, erbarmungswürdiger als damals, wo sie ihn oben auf dem Hügel getroffen hatte, wie er in das verlorene Paradies hinunterschaute. Sie selbst hatte geweint vor Ärger und Enttäuschung; aber sie hatte Sprungfedern in sich; jetzt kam der Umschlag. Ihr Sturz aus ihrer Siegesstimmung herab, die sie noch vor einer halben Stunde gehabt hatte, war so jäh, daß die ganze Geschichte, wenn man Jörgens jämmerlichen Zustand dazunahm, lächerlich wurde. Sie lachte so ausgelassen, so köstlich befreit, daß sogar Jörgen geheilt wurde. Nach Verlauf einer Viertelstunde gingen die beiden jungen Menschen über die Straße, um sich ein leckeres Mittagessen mit Champagner zu bestellen. Während das hergerichtet würde, wollten sie einen Spaziergang machen. Aber kaum standen sie draußen in der köstlich frischen Luft, da mußte Jörgen wieder hinauf und nach Krogskog telephonieren, sie würden heimkommen und dort zu Mittag essen. Es würde ungefähr zwei Stunden dauern auf der neuen Landstraße; das sollte ein herrlicher Spaziergang werden!

Sie schritten tüchtig aus; der klare Herbsttag mit seiner frischen Brise war kühl, – so rechtes Wetter zum Wandern.

Der Weg an der See entlang durchschnitt die Landzungen; sie freuten sich über den steten Wechsel von Strand und Bergeshöhe, von Bergeshöhe und Strand. Das Meer tiefblau, bis weit hinten voller Segel und Rauchsäulen. Heut war Sonntag, daher waren auch viele Lustjachten draußen; sie krochen durch die Meerengen und wagten sich auf die offene See hinaus.

Bei ihrem schnellen Tempo waren die beiden bald aus der eigentlichen Stadt heraus. Da lag ein hübsches kleines Haus in einem Garten. »Wem gehört das?« fragte Mary. Es sah so einladend aus. »Fräulein Röy, der Ärztin«, antwortete Jörgen eifrig. »Ich habe über all dem Ärger und der Enttäuschung doch vergessen, Dir zu erzählen, daß ich Franz Röy in der Stadt getroffen habe!« Ohne es zu wissen, blieb Mary stehen. Ohne es zu wollen, wurde sie rot. »Franz Röy?« fragte sie und blickte starr vor sich hin. Dann ging sie weiter, noch bevor sie eine Antwort bekommen hatte. »Er soll hier die Hafenarbeiten leiten. Du weißt, Irgens ist tot.« – »Der Ingenieur? Der ist tot?« – »Und jetzt heißt es, Hauptmann Röy wird das übernehmen.« – »Ist das eine Arbeit für einen Mann wie ihn?« – »So fragt gewiß mancher. – Alle fragen, was er hier will?« lachte Jörgen. Mary sah ihn an und er Mary. Dann ging er näher an sie heran: »Aber jetzt kommt er zu spät.« Er hatte als Antwort einen verständnisvollen Blick erwartet, in dem vielleicht ein bißchen Glück lag. Aber sie ging weiter, ohne ihn anzusehen, auch ohne etwas zu sagen.

Da trat eine lange Pause ein. Sie gingen schnell. Der Herbstwind wehte erfrischend. Da wandte sie sich zu ihm, um ihm eine Freude zu machen. »Weißt Du, Jörgen, daß Vater bei Onkel Klaus zweihunderttausend Kronen stehen hat?« – »Zweihundertfünfzigtausend«, antwortete Jörgen. Sie war sehr erstaunt, – einmal darüber, daß Jörgen Bescheid wußte, dann über die fünfzigtausend Kronen. »Onkel Klaus sprach von zweihunderttausend.« – »Ja, die Dein Vater in seine Unternehmungen und in das Schiff hineingesteckt hat. Aber kurz bevor Dein Vater krank wurde, hat er Onkel fünfzigtausend Kronen geschickt, die frei geworden waren.« – »Woher weißt Du das?« – »Onkel hat es mir gesagt.« – »Ich habe nichts darüber gefunden.« – »Nein, Dein Vater hat sich mit dem Verbuchen wohl nicht beeilt; das war seine Art so. Außerdem –,« hier stockte Jörgen, »kennst Du alle Geschäfte Deines Vaters?« Sie wollte darauf nicht eingehen; die Frage kam ihr nicht unerwartet. Aber wie konnte Jörgen –? Vielleicht durch Frau Dawes. Jedenfalls freute sie sich. Sie war stehen geblieben, sie wollte etwas sagen. Aber der Wind hob ihr die Röcke hoch, löste ihr eine Haarsträhne und riß ihr den Schal ab. »Herrgott, wie entzückend Du aussiehst!« rief er. – »Aber dann steht ja nichts im Wege, Jörgen?« – »Wir können heiraten, meinst Du?« – »Ja«, und damit ging's weiter. – »Nein, Liebste, jetzt bringen die Aktien nahezu nichts ein.« – »Ja, was tut das? Wir müssen drauflosgehen, Jörgen!« Sie strahlte vor Gesundheit und Mut. »Ohne Onkels Zustimmung?« fragte er verzagt. – Sie stand wieder still: »Würde er Dich enterben?« – Ohne direkt zu antworten, sagte er schwermütig: »Wenn Du wüßtest, Mary, was ich mit Onkel ausgestanden habe. Vom ersten Tag an, da er mich zu sich nahm. Wie er mich geplagt hat. Wie er mir aufgepaßt hat. Bis auf diesen Tag bin ich wie ein ungezogener Schuljunge von ihm behandelt worden. Seine schlechte Laune hat er stets an mir ausgelassen.« Auf seinem Gesicht zeigte sich eine solche Mischung von Verbitterung und Unglück, daß Mary unwillkürlich rief: »Armer Jörgen, – jetzt fange ich an zu verstehen!« Sie gingen weiter. Sie dachte daran, daß seine Fähigkeit, sich zu beherrschen in einer harten Schule erworben sei; da hatte er auch gelernt, sich zu verstellen. Seine Zähigkeit mußte sie bewundern; was hatte er nicht alles durchgesetzt! Und allein seine Musik! Die war wohl sein Trost gewesen. Jetzt verstand sie seine ungewöhnliche Höflichkeit. Jetzt verstand sie seine Sentimentalität. Sie verstand, wodurch er so streng und pedantisch geworden war und so hart gegen seine Untergebenen.

Sie sah ein, daß auch sie vielleicht schuld gewesen, wenn es ihm schlecht gegangen war. Seine lange, schweigende Liebe zu ihr hatte ihm nur eine Last mehr aufgebürdet; denn sie hatte ihm kein aufmunterndes Wort gegönnt; im Gegenteil! Was Wunder, daß er schließlich wie verhext war? »Armer Jörgen«, sagte sie noch einmal und faßte seine Hand. Das erste Liebeszeichen, das sie ihm je gewährt hatte. Sie mußte es gleich wieder zurücknehmen, weil sie die Röcke festhalten mußte, denn um die Landzunge pfiff ein scharfer Wind, und ein Segelboot schnitt gerade unter ihnen durch das Wasser. Vom Boote aus wurde heraufgewinkt, und sie winkten hinunter. Welch ein herrlicher Tag, wie schimmernd blau der Fjord mit den roten Wimpeln überall.

Als sie zur Bucht hinunterkamen, fragte sie: »Glaubst Du wirklich, er würde Dich enterben, wenn wir uns verheiraten?« – »Wir haben nichts, woraufhin wir heiraten können, Du Liebe!« – »Wir können doch diese Papiere verkaufen«, sagte sie mutig. »Ja, wenn wir so vorgehen, um uns heiraten zu können, daß wir sie jetzt verkaufen, wo sie so niedrig stehen, ja, dann enterbt er mich sicher.« – Aber sie wollte die Hoffnung nicht aufgeben: »Und unser Wald?« – »Der muß erst jahrelang stehen.« –

Wie gut Jörgen Bescheid wußte! Wie genau er alles überlegt hatte!

Sie kamen auf die Strandstraße, die auf die letzte Landzunge bei Krogskog zuführte. Da stand ein alter wunderlicher Finnenhund. Mary war gut Freund mit ihm. Er kläffte ja immer ein bißchen, wenn jemand in seine Nähe kam; vielleicht konnte er nicht gut sehen; aber er wedelte gleich mit dem Schwanz, wenn er einen Bekannten witterte. Heute war er wie toll.

»Herrjeh,« rief Mary, »ist er etwa auf Dich so wütend?« Jörgen antwortete nicht, sondern bückte sich nach einem kleinen Stein. Als der Hund das sah, rannte er, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, hinter einen Reisighaufen am Wege. Von dort setzte er dann das Konzert fort. »Laß ihn doch!« sagte Mary, als sie sah, daß Jörgen die Schußlinie berechnete. »Es wäre doch spaßig, wenn er sich genau auf die Stelle zurückzöge, auf die ich ziele,« sagte er, »dann bekommt er den Stein nämlich gerade auf den Rücken.« Dabei tat er, als werfe er; der Hund setzte davon, – da warf er erst, und der Hund bekam den Stein genau auf den Rücken. Er heulte auf. »Siehst Du!« sagte Jörgen triumphierend. »Es gibt nicht viele, die so sicher treffen, kann ich Dir sagen.« – »Kannst Du ebenso gut schießen?« – »Ob ich es kann! Wirklich, Mary, alles, womit ich mich befasse – viel ist es ja nicht, – das tue ich gründlich.« Das mußte sie zugeben. Das rasende Gebell des Hundes in der Ferne bestätigte es auch.

Auf dem Richtsteig zum Hause hinauf sagte er: »Meinst Du, wir sagen Frau Dawes oder Deinem Vater etwas?« – »Von Onkel Klaus?« – »Ja. Es würde sie nur betrüben. Können wir nicht sagen, er habe gemeint, wir sollten bis zum Frühjahr warten?« – Sie blieb stehen. Sie war nicht für so etwas. Aber Jörgen blieb dabei. »Ich kenne Onkel Klaus besser als Du. Ihm wird es bald leid. Freilich wird er nicht nachgeben, aber er wird selbst mit einem anderen Vorschlag kommen, ungefähr mit so etwas, wie ich jetzt meine: – er möchte, wir warteten bis zum Frühjahr.«

Mary war sich längst darüber klar, wie gut Jörgen unterrichtet sei; sie mußte deshalb auch zugeben, daß er so etwas besser verstand als sie. Aber an Schleichwege war sie nicht gewöhnt. »Laß mich nur machen,« sagte er, »dann erspare ich den alten Leuten eine Enttäuschung.«

»Aber was soll ich denn sagen?« fragte Mary. – »Die Wahrheit, daß Onkel sich sehr über unsere Verlobung gefreut hat, und daß die Zeiten jetzt so schlecht seien, daß wir warten müßten. Das verhält sich doch tatsächlich so.«

Damit war Mary einverstanden. Besonders weil es sie freute, daß Jörgen auf die Schonung der beiden Alten bedacht war. Er bekam dafür einen aufrichtigen Dank – und wieder ihre Hand. Die behielt er in seiner bis an die Treppe, ja noch die Treppe hinauf. Er dachte, das ist ein Pfand für einen Kuß im Vorzimmer. Aber dann nehme ich mir zehn!

Er machte die Tür auf und ließ Mary vorangehen. »Schönen Dank für den Spaziergang, Jörgen«, sagte sie, indem sie an ihm vorbeiging und ihm fröhlich zunickte, – lief zur Treppe und nach oben. Er hörte sie in ihr Zimmer gehen. –

Wie schonend Jörgen auch seine Worte wählte, als er von dem Resultat berichtete, – es war eine schwere Enttäuschung für die alten Leute. Sowohl Krog wie vor allem Frau Dawes fanden es unerklärlich; die letztere sogar grausam. So sollte Mary den langen Winter über hier allein bleiben und Jörgen in Stockholm. Sie konnten sich vielleicht zu Weihnachten ein paar Tage sehen, aber sonst nicht. Seltsamerweise übte die Enttäuschung der beiden Alten einen Rückschlag auf Jörgen aus. Er saß wie ein flügellahmer Vogel da. Er sprach nicht, er antwortete Frau Dawes kaum, er spielte auch nicht; aber er bereitete seine Abreise für den nächsten Morgen vor. Er wollte direkt nach Stockholm; seine Zeit war um.

Nur Mary war guter Dinge. Es war, als gehe sie die ganze Geschichte nichts an. Ihr hatte der Tag nichts Schlimmes gebracht; so schien es. Das Triumphgefühl, das in ihr war, seit sie vor ihrem Vater die Verlobung zu proklamieren geruht hatte, war nicht allein ungeschwächt, es war stärker als je. Sie ging über die Flure und durch die Stuben und summte vor sich hin; sie hatte tausenderlei zu tun, als sei sie es, die eine lange, wichtige Reise vorhatte. Beim Abendessen trieb sie soviel Unsinn, daß Jörgen das unsichere Gefühl hatte, sie mache sich über ihn lustig. Er sagte ihr schließlich gerade heraus, er verstehe sie nicht. Ihm scheine, sie solle ihn lieber bedauern. Sie bleibe doch wenigstens hier in ihrem entzückenden Heim und in ihrer schönen Sorge für ihre beiden Lieben; er aber –? Jetzt habe er einen Haß auf das, was vor ihm liege, weil es ihn von ihr fernhalte. Es tue ihm leid, daß er sich vom Dienst habe beurlauben lassen. Er verabscheue Stockholm. Er wisse, wie zurückgesetzt ein junger Mann dort sei, der nicht zur höheren »société« gehöre und obendrein Norweger sei. Er war unglücklich und machte seinem Kummer Luft.

»Du hast doch bei Deiner Konfirmation so gut Bescheid gewußt, Jörgen, hast Du vergessen, daß Jakob volle sieben Jahre um Rahel dienen mußte?« – »Habe ich etwa nicht lange genug um Dich gedient, Mary?« – »Weil Du gar so früh damit anfingst, sind es so viele Jahre geworden. Es ist eine schlechte Angewohnheit von Dir – zu früh anzufangen!« – »War es denn möglich, Dich zu sehen, ohne ...? Du tust Dir selbst unrecht.« – »Du hattest doch andere Ziele, Jörgen, als mich zu erringen?« – »Die hatte Jakob auch, der Geldjäger! Und er hatte noch den offenbaren Vorteil, daß er Rahel inzwischen sehen konnte, so oft er wollte.« – »Na, – einer, der Jahre lang gewartet hat, Jörgen – « » – der kann auch noch ein halbes Jahr Iänger warten? Ja, Du hast gut reden, die nie auf etwas gewartet hat. Nicht auf das geringste!« – Sie schwieg. »Daß Du mich obendrein noch necken willst, Mary! – Der (auch wenn er bei Dir ist) auf so schmale Kost gesetzt ist!« – »Du beklagst Dich, Jörgen?« – »Ja, wahrhaftig.« – »Du hast allzu früh angefangen, mußt Du bedenken.« Sie lachte. Er wurde verlegen, sagte aber nach einer Weile: »Du weißt eben nicht, was warten heißt!« – »Ich weiß jedenfalls, daß einer, der auf schmale Kost gesetzt ist, sich leichter daran gewöhnen kann.« Sie lachte wieder. Er war gekränkt und unsicher zugleich. Eine, die ihn wirklich lieb hatte, hätte sich kaum so benommen – am Abend vor einer mehrmonatlichen Trennung. Und bei so kläglichen Aussichten für die Ehe, wie sie sie hatten.

Sie saßen eine Weile bei ihrem Vater und sehr lange bei Frau Dawes. Jörgen war still und sagte überhaupt nichts. Mary aber war vergnügt. Frau Dawes blickte die beiden verwundert an. Sie wandte sich zu Jörgen: »Armer Junge, Du mußt zu Weihnachten herkommen!« Mary antwortete statt seiner: »Tante Eva, um Weihnachten ist es in Stockholm gerade am lustigsten.«

Plötzlich stand Mary auf und wünschte sehr unerwartet »Gute Nacht«, erst Jörgen, dann Frau Dawes. »Ich bin müde von unserer Tour und ich will morgen früh aufstehen, um Jörgen zu begleiten.«

Jörgen fühlte, dieser unerwartete Aufbruch war ein wohlüberlegter Streich. Sie wollte dem entgehen, ihm draußen auf dem Flur gute Nacht zu sagen. Er schwur ihr Rache. Er verstand sich darauf.

Frau Dawes wollte wissen, ob zwischen ihnen etwas vorgefallen sei. Das bestritt er. Sie glaubte ihm nicht; er mußte allen Ernstes wiederholen, er wisse von nichts. Aber seine Verstimmung verbergen, das konnte er nicht. Er brachte es nicht einmal über sich, dazubleiben, und ließ sie allein. Auf dem Flur war es gegen die Gewohnheit völlig dunkel. Er tastete sich nach seiner Tür. Erst als er drinnen Licht angezündet hatte und unwillkürlich auf ein Lebenszeichen aus ihrem Zimmer lauschte, fiel ihm ein, daß sein Schloß geölt worden war. Heute morgen hatte es geknarrt. Ganz unbedeutend, aber geknarrt hatte es. Nie war er in einem Hause gewesen, wo wie hier die kleinste Kleinigkeit, die in Unordnung war, sofort repariert worden wäre. Trotzdem Sonntag war. Er konnte sich kein größeres Glück vorstellen, als später, wenn erst alles in Ordnung war, hierher zurückzukehren, hier auszuruhen, und hier solange und solcherart zu leben, wie sein tiefstes Bedürfnis nach Lebensgenuß es ihm vor Augen stellte.

Also galt es auszuhalten. Sich jetzt in ihre Launen zu finden wie früher in des Onkels Launen. Bis seine Zeit kam! –

– Er war beim Ausziehen, als lautlos die Tür geöffnet wurde und Mary in ihrem Nachtgewand hereintrat. Blendend schön. Sie schloß die Tür hinter sich und trat an die Lampe. »Du sollst nicht länger warten, Jörgen!« Sie löschte die Lampe aus. –


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