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I.

Harald Kaas war sechzig Jahre alt geworden. Er führte nicht mehr sein flottes, von jeglicher Kritik unbehelligtes Junggesellenleben. Man sah seinen Lustkutter des Sommers nicht mehr an der Küste, seine Winterreisen nach England und nach dem Süden hatten aufgehört; ja, man begegnete ihm nur noch selten in seinem Klub in Kristiania.

Auch füllte seine Riesengestalt nicht mehr wie in alten Zeilen die Türöffnung aus. Obeinig war er stets gewesen, aber der Winkel war größer geworden. Auch die Herkuleslinie des Rückens war jetzt rund, und er ging gebeugt. Seine Stirn war eine der breitesten gewesen; keines andern Hut paßte für seinen Kopf. Jetzt war sie auch eine der höchsten. Er hatte nämlich kein Haar mehr, außer einem kleinen Büschel an den Ohren und einem dünnen Kranz im Nacken. Jetzt ergriff er das Branntweinglas gewöhnlich mit beiden Händen – sie zitterten ihm. Selbst die Zähne, die klein aber stark und von Tabak geschwärzt waren, fingen an auszufallen. Er war stets mit halb geschlossenen Händen gegangen, als hielten sie etwas fest; jetzt krümmten sie sich, sie konnten sich nicht mehr ganz ausstrecken. Den kleinen Finger an der Linken hatte ihm ein Riese, den er zu Boden streckte, aus Dankbarkeit abgebissen. Kaas erzählte das Ereignis so, daß er den Burschen gezwungen habe, ihn gleich darauf zu verschlingen. Jetzt war es seine Lieblingsbeschäftigung, den Stummel zu streicheln. Oft ward dies die Einleitung zu Erzählungen von seinen Heldentaten, die größer und größer wurden, je mehr er alterte und müßig dasaß.

Seine kleinen, lauernden Augen lagen tief im Kopf und sahen einen so forschend an. Es lag Macht in seiner Persönlichkeit und scharfer Verstand in seinem Schädel; so besaß er auch ein hervorragendes mechanisches Talent. Seine unerschütterliche Selbstbewunderung war nicht ohne Größe, und der Nachdruck, mit dem sich Körper und Geist zu erkennen gaben, machten ihn zu einem der Originale des Landes. Weshalb war nicht mehr aus ihm geworden?

Er wohnte auf seinem Gute Helleberg, er hatte große Wälder an der Küste entlang und zinspflichtige Bauernhöfe flußaufwärts.

Einstmals hatte es der Familie Kurt gehört und war insofern jetzt an sie zurückgefallen, als es eine allgemein bekannte Tatsache war, daß sein Vater kein Kaas, sondern ein Kurt gewesen. Er vereinte den alten Familiensitz wieder in einer Hand; über die Art und Weise und die Mittel könnte man ein Buch schreiben.

Das Wohnhaus lag an einer von mehreren Werdern umkränzten Bucht; außerhalb derselben lagen noch mehr Werder und das offene Meer. Ein unendlich langes Gebäude, auf einer alten Riesenmauer neu erbaut, der östliche Flügel nur halb eingerichtet, der linke Harald Kaas als Wohnung dienend – hier lebte er sein wunderliches Leben. Beide Flügel waren verbunden durch zwei eingemauerte Galerien, eine über der andern, mit Treppen an beiden Enden. Sonderbarerweise lagen diese Galerien nicht nach dem Meere, also nach Süden, sondern nach den Feldern und Wäldern, also nach Norden hinaus.

Zwischen den beiden Flügeln, inwendig im Hause, war neutrales Gebiet, nämlich ein großer Speisesaal unten und ein großer Tanzsaal oben; in den letzten Jahren war keiner dieser Räume benützt worden.

Harald Kaas' Wohnung bezeichnete von außen der gewaltige Kopf eines Elentiers mit ungeheuren Hörnern, der über der Galerie angebracht war. In der Galerie selber hingen Köpfe von Bären und Wölfen und Füchsen und Luchsen, sowie ausgestopfte Land- und Wasservögel. In der Vorhalle bedeckten Felle und Gewehre die ganzen Wände. Auch die Zimmer waren voll von Fellen und zeichneten sich durch einen strengen Geruch nach Wild und kaltem Tabak aus; er selber nannte das »Mannsgeruch«. Niemand, der einmal die Nase hineingesteckt hatte, vergaß ihn je wieder. Kostbare, feine Felle an den Wänden, Fellteppiche an den Fußböden, selbst das Bett bestand aus lauter Fellen: Harald Kaas lag und saß in Fellen, ging in Fellen, und alle diese Felle bildeten willkommenen Stoff für die Unterhaltung, insofern als er selber jedes einzelne Tier geschossen und abgezogen hatte. Freilich gab es Leute, die behaupteten, daß die meisten Felle bei Brandt und Compagnie in Bergen gekauft, und daß nur die Jagdgeschichten hier geschossen seien. Ich meinerseits glaube, daß das Übertreibung ist. Wie sich die Sache nun aber auch verhalten mochte, so machte es immerhin einen gewaltigen Eindruck, wenn Harald Kaas in seinem hölzernen Stuhl am offenen Feuer saß, die Füße auf dem Bärenfell, und das Hemd öffnete, um uns die Narben auf seiner behaarten Brust zu zeigen. Was für Narben waren das? Sie rührten von den Zähnen des Bären her; damals, als Kaas dem Untier das Messer bis an den Schaft ins Herz getrieben. Alle die seltenen Krüge und Schränke und geschnitzten Stühle lauschten der Erzählung in gewohnter Ruhe.

Harald Kaas zählte sechzig Jahre, als er im Monat Juli mit vier Damen in die Bucht gesegelt kam: er hatte sie vom Dampfer abgeholt. Sie sollten bis in den August bei ihm bleiben. Eine ältere und drei jüngere, alles Verwandte von ihm: sie sollten im oberen Stockwerk wohnen. Dort hörten sie ihn unter sich gehen und grunzen und waren zu Anfang sehr ängstlich. Drei von ihnen hatten auch ihre Bedenken gehabt, seine Einladung anzunehmen, und diese Bedenken verringerten sich nicht, als sie Kaas am nächsten Morgen splitternackt von der See heraufwandeln sahen. Sie schrien und krochen zusammen in ihren Nachtgewändern und berieten, ob es nicht das richtigste sei, sofort wieder abzureisen. »Du hättest uns nicht rufen sollen, Tante, dann hätten wir es nicht gesehen«: dann mußten sie alle unwillkürlich lachen, und damit war der Sache die Spitze abgebrochen.

Beim Frühstück waren sie ja freilich sehr zurückhaltend: als ihnen aber Harald Kaas von einer alten, schwarzen Stute erzählte, die er besitze und die in einen jungen, braunen Hengst beim Propst verliebt sei und die wie besessen um sich schlage, sobald ein anderer Hengst Annäherungsversuche mache, dagegen den Kopf verliebt auf die Seile lege und »wiehere wie ein feines Fräulein«, sobald der Propsthengst zu hören sei, nun ja, da meinten die Damen, es sei wohl das beste, jetzt gleich zu kapitulieren. Hatten sie sich aus Neugier hierher verirrt, so mußten sie die Natur ertragen, wie Harald Kaas zu sagen pflegte (mit dem Nachdruck auf der ersten Silbe). Und doch ängstigten sie sich in der nächsten Nacht fast die Seele aus dem Leibe: er schoß gerade unter ihren Fenstern.

Die Tante behauptete sogar, er habe durch ihr offenes Fenster geschossen. Sie schrie laut auf, und die anderen fuhren aus dem Schlaf: sie waren aus den Betten, ehe sie sich's versahen. Und dann lehnten sie sich zu den Fenstern hinaus und spähten, obwohl die Tante versicherte, man werde sie erschießen. Sie mußten doch sehen, was es war. Ja, da drinnen zwischen den Kirschen- und Apfelbäumen sahen sie ihn eine Weile darauf mit dem Gewehr umhertraben und hörten ihn fluchen. Alle krochen, zum Tode erschreckt, wieder ins Bett. Am nächsten Morgen erfuhren sie, daß er mit Hagel auf die nächtlichen Freier geschossen habe: einer von ihnen habe eine halbe Ladung in die Waden bekommen, das sei ihm, hol mich der Teufel, sehr gesund. Es sei nicht die Sache an sich: er könne gern auf Freierei ausgehen, nur nicht hier. »Denn für den Bedarf auf unserem Hof sind wir Kerle genug: das besorgen wir selber.« Die vier Damen saßen da wie eben angezündete Stearinkerzen auf einem Kirchenleuchter, bis eine von ihnen brüllend aufsprang. Und dann brüllten sie alle.

Die vier Damen langweilten sich nicht. Dazu war Harald Kaas viel zu reichhaltig an Unglaublichkeiten. Auch herrschte Stimmung in den großen Wäldern, die keine Axt berührt hatte, seit Harald Kaas Herr des Gutes war. Am Flusse entlang gab es die schönsten Spaziergänge und im Flusse selber Fische in Menge. Sie badeten, machten amüsante Fahrten mit dem Kutter und zu Wagen in der Umgegend, obwohl die Fahrgelegenheiten nicht die neuesten waren.

Das jüngste der Mädchen, Kirsten Ravn, fing an, sich von den anderen zurückzuhalten. Es hatte sie eine Leidenschaft für den östlichen, unfertigen Flügel erfaßt: dort verbrachte sie lange Stunden allein am offenen Fenster. Dort standen Bäume, große Linden, unbeschnitten, mystisch. »Sie sollten einen Altan hier nach der See hinaus bauen«, sagte sie zu Kaas; »sehen Sie, wie die See unter den Linden glitzert!« Was sie sich einmal in den Kopf gefetzt hatte, gab sie so leicht nicht wieder auf, und als sie dann zum vierten- und zum fünftenmal damit kam, versprach er, es zu tun. Kaum aber hatte sie dies erreicht, als sie weiterging. »Unter dem ersten Altan muß noch ein zweiter, breiterer angebracht sein«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme. »Und der muß eine Treppe zu beiden Seiten haben, die ins Grüne hinabführt: das Grün ist gerade hier so herrlich.« Schon allein die ganz unerhörte Kühnheit, so etwas von ihm zu verlangen, imponierte ihm. Endlich gab er auch hierin nach.

»Die Zimmer müssen eingerichtet werden«, befahl sie in vollem Ernst. »Das, was auf den Altan hinausgeht, der hier unten gebaut werden wird, in ölfarbenem Tannenholz, und der Fußboden muß gebohnert werden.« Sie streckte ihre lange, feine Hand aus und zeigte. »Alle Fußböden müssen gebohnert werden. Zu dem oberen Zimmer werde ich Ihnen die Zeichnung liefern. Ich habe die Sache genau durchdacht« – und ihre großen, verwunderten Augen tapezierten die Wände, stellten die Möbel zurecht, hängten Gardinen in eigenartigen Mustern auf. »Ich weiß auch, wie die anderen Räume sein sollen«, fügte sie hinzu, ging hinein und hielt sich in jedem eine Weile auf. Er folgte wie ein altes Pferd am Zügel. Als die vier Damen die Hälfte der Zeit dort gewesen waren, vernachlässigte er mit der größten Gemütsruhe drei von ihnen.

Seine tiefliegenden Augen zwinkerten in lebhafter Bewegung, wenn sie dahergegangen kam; er suchte die Augen der anderen, um ihre Bewunderung der seinen hinzufügen zu können: er umkreiste sie wie ein alter photographischer Apparat, der sich selber aufstellen kann. Als sie eines Tages ein französisches Lehrbuch der Mechanik aus seinem Bücherschrank genommen hatte und es nicht nur verstand, sondern sagte, die Mechanik sei wohl im Grunde das, wofür sie Anlage habe, da war er geliefert. Sobald sie seit jenem Tage nur sichtbar wurde, löschte er seine eigene Persönlichkeit sowohl im Handeln als auch im Reden aus. Gleich des Morgens, wenn sie in einer ihrer originellen Morgentoiletten erschien, lachte er still vor sich hin, oder er starrte, starrte und sah zu den anderen hinüber. Sie sprach nicht viel, aber jedes Wort, was sie sagte, erregte seine Bewunderung. Ganz hingerissen war er, wenn sie schweigend dasaß und sich um niemand kümmerte; dann glich er einem alten Papagei, der den Kopf schief auf die Seite legt in Erwartung eines Stück Zuckers. Seine Wäsche war stets blendend weiß; sonst machte er sich keinerlei Umstände mit seiner Toilette. Jetzt aber stolzierte er in einem bastseidenen Rock umher, den er sich einmal in Algier gekauft, aber gleich weggehängt hatte, weil er ihm zu eng war. Er sah darin aus wie eine beschnittene Buchsbaumhecke.

Wer war denn aber diese einundzwanzigjährige Löwenbändigerin, die, ohne es nur im geringsten zu wollen, ja, ohne sich überhaupt die geringste Mühe zu machen – sie war nämlich die stillste von ihnen allen – das stärkste Tier des Waldes zwang, sich in den Sand auf den Bauch zu legen, und sie in weltvergessener Demut anzustarren.

Beachte sie, wie sie jetzt dasitzt mit ihrem aufgelösten, glänzenden Haar, rot vom schönsten Dunkelrot; beachte ihre breite Stirn und hohe Nase, vor allem aber diese großen, verwunderten Augen! Schau ihn an, diesen ihren Hals und seine Fortsetzung; folge den Linien der langen Taille, des schlanken Wuchses! Betrachte genau das Renaissancekleid, das sie trägt, seinen Schnitt, seine Farbe, und du wirst sehr neugierig sein, denn sie ist etwas ganz für sich.

Kirsten Ravn verlor ihre Mutter an dem Tage, als sie geboren wurde, und ihren Vater, als sie fünf Jahre zählte. Er hinterließ ihr ein hübsches Vermögen unter der ausdrücklichen Bedingung, daß das Kapital nicht angerührt werde, und daß die Zinsen von ihr allein verbraucht würden, sie mochte sich verheiraten oder nicht. Auf diese Weise dachte er, ihren Charakter zu beeinflussen. Sie ward von drei verschiedenen Mitgliedern der weitverzweigten Familie erzogen, die man viel eher einen Volksstamm hätte nennen können, da sie kein weiteres gemeinsames Kennzeichen besaß als den Trieb, jeder seinen eigenen Weg zu gehen. Wo zwei Ravns zusammentreffen, sind sie sich in der Regel über alles uneinig, worüber sie sprechen; doch halten sie, wie gesagt, unauflöslich zusammen. Ja, in ihren Augen gibt es eigentlich keine andere Familie, die »amüsant« ist – das Lieblingsadjektiv aller Ravns.

Kirsten war ein rezeptives Talent; sie las alles und behielt alles, was eigentlich bedeutet, daß sie einen logischen Kopf hatte, denn behalten ist ja gleichbedeutend mit ordnen. Sie war infolgedessen Nummer eins in allem, was sie anfaßte; dies und dann der Umstand, daß sie bei anderen war, die ein wenig in ihr spekulierten, ihr folglich schmeichelten, beeinflußte ebenso frühzeitig ihren Charakter wie das Geld es tat. Sie war in keiner Weise hochmütig, das waren die Ravns niemals, aber mit zehn Jahren wollte sie nicht mehr spielen; sie ging in den Wald und dichtete Heldenlieder. Mit zwölf Jahren wollte sie nur in Seide gehen, und trotz einer Tante mit Locken und vielen Spitzen und schrecklich vielen Worten setzte sie es durch. Sie war schlank und zierlich in ihrer Seide und nach wie vor Nummer eins. Sie machte Verse, die von Ritter Aage und Jungfer Else, von Vögeln und Blumen und großem Herzeleid handelten. Nachdem sie in den Kreis der Erwachsenen getreten war, wo andere junge Damen, denen ihre Mittel es erlauben, Seide anlegen, schloß sie mit der ihren ab. Sie war des »Glatten und Glänzenden« überdrüssig, ja, sie schwärmte jetzt für feine Wolle und teuren Samt in allen Farben. Kleider im Renaissancestil waren ihr die liebsten und der Gegenstand ihres Studiums. Sie trug sie vorn ausgeschnitten wie auf Leonardos und Raffaels weiblichen Porträts, legte es auch in anderer Weise darauf an, diesen zu gleichen. Sie schrieb keine Gedichte mehr, sondern Erzählungen, streng stilisiert, mit sprachlichem Feingefühl, aber keineswegs unmittelbar. Sie waren kurz, mit einer mehr oder weniger klaren Pointe. Erzählungen von einer achtzehnjährigen Dame pflegen kein Aufsehen zu erregen; diese waren aber in hohem Grade kühn. Ihr einziger Zweck war offenbar, Ärgernis zu erregen. Sie nannte ihren Namen nicht, sondern nahm das Pseudonym »Pus« an; es war indessen so verführerisch, zu verraten, daß der Autor, der in einer Zeit, wo alle Autoren so gern Ärgernis erregen wollen, dies mit der meisten Ruhe fertig brachte, eine fein erzogene Dame aus einer der besten Familien des Landes und nur achtzehn Jahre alt war. Bald wußten alle, daß Pus das junge Mädchen mit dem aufgelösten roten Haar, »die hohe Renaissance mit dem Tizianhaar« war. Das Haar war sehr reich, leicht gelockt und schimmernd; es lag aufgelöst über Schultern und Brust, eine Mode, die sie aus der Kinderzeit beibehalten hatte. Die Augen betrachteten alles, als sähen sie es zum erstenmal und waren auffallend groß; der untere Teil des Gesichts entsprach jedoch nicht der breiten Anlage nach oben zu. Die Kiefern gaben nach, die hohe Nase ließ den Mund kleiner erscheinen, als er war, und das Kinn existierte eigentlich nur als Anweisung auf ein zweites darunter, und dieses zweite gab wiederum eine süße Anweisung auf den Hals, besonders wenn der Kopf vornüber gebeugt war, was gewöhnlich der Fall zu sein pflegte. Diese doppelte Anweisung verdiente der Hals auch wirklich; er war fein von Farbe, edel und rund in der Zeichnung und wundervoll auf der Büste befestigt; aus dem Grunde konnte sie es nie übers Herz bringen, diese beiden Teile zu trennen, sondern ging mit entblößter, oberer Brust, denn auch diese war weiß und hoch gewölbt. Der Rand des Kleides schloß wie gegossen, etwas, worauf sie genau acht gab. Die Brüste saßen tief und waren nicht hervortretend, aber ihre feste Form, die schlanke Taille, darunter die keineswegs starken Hüften in dem strammen Kleide, ihre Haltung, der runde Arm, die lange Hand machten sie so elegant und apart, daß man sich nicht damit begnügte, zu sehen, man mußte sie studieren. Zog man alle Finessen des Kleides, alle Schmucksachen mit in Betracht, so begriff man, welche Intelligenz, welch künstlerischer Sinn hier angewendet war.

Sie war freundlich im Verkehr, gleichmäßig und still, stets durch irgend etwas in Anspruch genommen, mit immer verwunderten Augen. Die diskreten, wohlerwogenen Worte, die sie äußerte, waren nicht zahlreich; sowohl das als auch ihr ganzes Auftreten bewirkten, daß sich die Leute nicht recht an sie heranwagten. Besonders diejenigen, die wußten, wie klug die junge Dame war und welche Kenntnisse sie besaß.

Freundinnen hatte sie eigentlich nicht; aber die große, sie umschwärmende Familie sorgte für Verkehr, Freundschaft, Schmeicheleien, Lustigkeit und Schutz – sie mußte ins Ausland, um allein sein zu können. Sie war die Prinzessin der Familie; man huldigte ihr nicht nur, man wollte sie auch auf Leben und Tod verheiraten, was ihr durchaus zuwider war. Von ihren Zinsen hatte sie seit ihrer Kindheit eine bedeutende Summe zurückgelegt, aber lange nicht das, was die Familie daraus machte. Die Sage von diesem Reichtum trug nicht wenig dazu bei, daß »alle in sie verliebt waren«, nicht allein die ledigen Familienglieder männlichen Geschlechts – das war ganz selbstverständlich –, sondern auch Künstler und Kunstmatadore, besonders die blasierten, umschwärmten sie, la jeunesse dorée (die in Norwegen einfach genug ist), ohne Ausnahme.

Ein lebendes Kunstwerk von so und so hohem Preis, bewundert, pikant – sie wollten es nach Hause tragen, als ihr Eigentum und es unter vier Augen genießen. Es mußte in ihr eine reichere Intensität sein als in jeder anderen, ein diskretes Sichzurückziehen in einen einzigen – der unerreichbare Traum der Weltmüden. Mit ihr konnten sie ein bis zum äußersten stilvolles Leben in Kunst, Geschmack, Bequemlichkeit führen; ihre Bildung war ja die allerfeinste und so völlig vorurteilsfrei – unser kleines Land kannte in jenen Tagen kein verlockenderes Ziel. Sie wußten, wenn sie sie sahen, nicht, was sie tun oder wie sie sich anstellen sollten, in Profil oder in ganzer Stellung, ob sie lächeln oder ernsthaft aussehen, ob sie reden oder schweigen sollten. Ich sah einmal eine sehr hohe Windhündin von einer Menge kleiner Hunde umgeben, von denen keiner groß genug war. Weshalb hat keinen Maler dieser komische Vorwurf gefesselt? Sie sehnsuchtsvoll dahineilend wie eine kranke Ballade, ohne zu finden! Die anderen sehnsuchtsvoll hinterdrein keuchend, trunken von Geruch und Begier, bald in rasendem Kampf, der zu nichts nütze ist, nur zu erhöhter Qual.

Das Bild stimmt nicht, aber es ist absichtlich gewählt. Was diese müßigen Freier ihren Erzählungen, ihrer eigentümlichen Kleidung, ihren verwunderten Augen und ihrer stillen Träumerei unterschoben, war nicht das Allerfeinste; dadurch nährten sie ihre Hoffnung und ihre Energie. Dann aber stelle man sich ihre grenzenlose Enttäuschung vor, als es im Herbst verlautete, daß – Fräulein Kirsten Ravn sich mit Harald Kaas vermählt habe.

Man lachte laut vor Wut, man höhnte, man schrie. Man hatte anfänglich keine andere Erklärung, als daß dieser kahlköpfige Geier gewagt habe, was sich die anderen nicht erkühnt hatten.

Andere hingegen, die sie kannten und die größte Achtung vor ihr hatten, waren nicht weniger entsetzt. Sie waren mehr als enttäuscht, das Wort ist viel zu milde – viele trauerten wirklich. Was in aller Welt hatte dies bewirkt? Alle, außer ihr selber, wußten ja im voraus, daß damit ihr Leben ruiniert war. Auf Kirsten Ravns unabhängige Stellung, ihren starken Charakter, ihren seltenen Mut, auf ihr Wissen, ihre Begabung, ihre Energie hatten viele, besonders Frauen, eine Zukunft aufgebaut, auch in bezug auf die Frauenfrage: sie hatte ja schon rücksichtslos dafür geschrieben. Ihr Trachten nach Originalität, nach Paradoxen müsse sich ja abschleifen, dachten sie, sobald der Kampf sie mehr in den Vordergrund schob; schließlich würde sie eine der ersten Vorkämpferinnen für die Sache werden. Das Edle, Feine war stark bei Kirsten, es würde schließlich die Alleinherrschaft erringen.

Aber nun?

Die wenigen, die das Versehen des Lebens zu erklären suchen, statt sie zu verdammen, meinten – wenigstens einige von ihnen taten es – daß der Trotz in ihren Erzählungen, der Oppositionsdrang im ganzen wohl auf eine Eitelkeit deuteten, die zu Verirrungen führen könne. Andere behaupteten, sie sei im wesentlichen eine romantische Natur, die durchgehends die eigenen Kräfte wie auch die Verhältnisse im Leben überschätzte. Wiederum andere hatten gehört, die beiden Ehegatten lebten jeder in seinem Flügel, jeder mit seiner Dienerschaft, jeder von seinem Vermögen, ferner, daß sie gerade jetzt den Flügel nach ihrem eigenen Kopf mit eigenen Mitteln einrichte und so offenbar die Absicht habe, eine neue Art von Ehe zu begründen. Einige aber behaupteten auch, nichts von alledem, nur die großen Linden vor dem östlichen Flügel des großen Helleberger Wohnhauses seien schuld an dieser Ehe. Sie sausten so eigentümlich an den Sommerabenden, diese Bäume und die See unter ihren Zweigen erzählte bezaubernde Märchen. Weit mehr als der Mann, Harald Kaas, seien ihr diese alten Wälder; es gibt ihresgleichen ja fast nicht mehr in dem geldarmen Norwegen. Ihre Phantasie habe in den Bäumen fest gehangen, sagten sie; da sei Harald Kaas gekommen und habe sie genommen. Es sei die Gegend, das Gut, das Klima, die freie Stellung in ihrem eigenen Flügel, was sie gewählt habe. Kaas sei ein altes Hausinventar, das sie mit in den Kauf habe nehmen müssen.

Aber es war zweifelhaft, ob diese Vermutung richtiger war als die andere? man kam der Sache niemals auf den Grund. Sie gehörte nicht zu denen, die man so ohne weiteres fragen konnte oder die dann antworteten.

Jeglichen Rätselratens, selbst des interessantesten, werden die Leute allmählich überdrüssig. Man mochte schließlich nicht einmal ihren Namen mehr hören, als sie vier Monate nach der Hochzeit im Parkett des Theaters zu Kristiania saß, ganz so wie in alten Zeiten, nur ein wenig blasser. Alle Operngläser richteten sich auf ihr rotes Haar und auf ihre breite Stirn. Sie barg sich nicht hinter dem Fächer. Sie schimmerte in einem hellen, fast weißen Gewand mit viereckigem Ausschnitt wie immer. Sie schaute um sich mit verwunderten Augen, als habe sie niemals eine Ahnung davon gehabt, daß hier auch andere im Theater seien, oder daß es jemand einfallen könne, sie anzusehen. Selbst die rasendsten von diesen Zudringlichen mußten doch zugeben, daß sie geistig und körperlich einzig in ihrer Art sei – hinreißend.

Aber gerade als sie wieder das Gesprächsthema aller Welt wurde, verschwand sie. Später hörte man, ihr Gatte sei gekommen, um sie zu holen, obwohl fast niemand ihn sah. Man vermutete, daß es einen kleinen, häuslichen Zwist gegeben habe – den ersten.

Einen wirklichen Einblick in ihr eheliches Leben erhielt man niemals; die Bemühungen der Verwandten, den Schleier zu heben, blieben erfolglos. Nur so viel ward festgestellt, daß sie guter Hoffnung sei. Mit der größten Sorgfalt war sie bemüht gewesen, auch dies zu verheimlichen.

Es kam keine Anzeige und auch kein Brief; aber im nächsten Sommer schob sie auf dem »Karl Johann« einen Kinderwagen mit so verwunderten Augen vor sich her, als habe ihn ihr jemand in die Hand gedrückt. Sie war jetzt strahlender und schöner denn je. Im Wagen lag ein Knabe mit ihrer eigenen breiten Stirn, ihrem eigenen roten Haar, entzückend gekleidet und ebenso wie der Wagen mit einer solchen Phantasie und so völlig im Stil mit ihr selbst ausgestattet, daß alle die Antwort verstanden, die sie gab, als Bekannte sie anhielten und sie, nachdem die herkömmlichen Glückwünsche erledigt waren, fragten: »Bekommen wir denn nicht bald eine neue Erzählung von Ihnen?« – »Eine neue Erzählung? Hier ist sie ja!«

Aber trotz des vollkommenen Glücks, das sie auf dem »Karl Johann« zur Schau trug, ließ es sich nicht mehr verbergen, daß sie mehr fern von Helleberg weilte als daheim und daß sie den Namen ihres Gatten niemals nannte. Versuchte es jemand, die Unterhaltung auf ihn zu bringen, so ging sie nicht darauf ein.

Bald war es auch klar, daß sie daran dachte, Helleberg ganz zu verlassen. Damals mochte der Knabe wohl ein Jahr zählen. Sie hatte auf längere Zeit in Kristiania gemietet und reiste nach Hause, um ihre Angelegenheiten zu ordnen; sie sagte selber, sie kehre in wenigen Tagen zurück.

Aber sie kam nie zurück.

Am Tage nach ihrer Heimkehr, als das zahlreiche Gesinde auf Helleberg, alle Häusler, ihre Frauen und Kinder – es war gerade um die Zeit des Kartoffelaufnehmens – auf dem Hofplatz versammelt waren, kam Harald Kaas daher, sie wie ein Bündel unter dem linken Arm tragend. Er hatte sie um die Taille gefaßt, ihr Gesicht lag hinter ihm, zu Boden gewendet, von dem herabhängenden Haar verdeckt, der Unterkörper war vor ihm, die Beine bald schlaff herabhängend, bald steif ausgestreckt. Ihre Hände stützten sich auf seine linke Hüfte, die sie fest umklammerten. Er kam ruhig mit ihr dahergegangen; in der rechten Hand trug er ein Bündel langer, frischer Birkenreiser. Eine Strecke vor der verdeckten Galerie machte er halt. Sie auf sein linkes Knie legend, hob er ihre Kleider auf, riß ihr das Unterzeug vom Leibe, als sei es aus Papier und mit Nadeln festgesteckt, und begann dann, sie auf den bloßen Körper zu schlagen, bis sie blutete.

Sie gab keinen Ton von sich. Als er sie losließ, ordnete sie zuerst zitternd ihr Haar. Dabei zeigte sie ihr Gesicht in dem Augenblick, als das Blut daraus entwich: es ward so bleich, so bleich. Große Tränen rannen vor Schmerz und Scham, aber kein Laut. Sie zog ihre Taille herunter: aber das Unterzeug schleppte zerrissen hinter ihr drein, als sie langsam ins Haus ging. Sie schloß die Tür hinter sich, mußte sie aber noch einmal öffnen – das Unterzeug hing fest.

Die Frauen standen entsetzt da: einige der Kinder schrien vor Angst, sie steckten die anderen an, so daß schließlich alles im Echo schluchzte. Die Männer, die sich zum größten Teil hingesetzt hatten, um ihre Pfeife zu rauchen, waren wieder aufgesprungen. Sie standen da, starr vor Zorn.

Harald Kaas hatte sich erst nach schweren Qualen zu diesem Schritt entschlossen, davon zeugten seine Mienen und sein ganzes Wesen seit langer Zeit und auch jetzt, aber er hatte ein schallendes Gelächter auf seinen eigentümlichen Einfall erwartet. Das sah man deutlich an der großmächtigen, ruhigen Art und Weise, mit der er, sie unterm Arm haltend, angeschritten kam, und noch mehr an den rachsüchtigen Augen, mit denen er nach vollbrachter Tat um sich schaute.

Aber zuerst Todesstille, dann Weinen, dann lautes Schluchzen und helle Wut – er stand eine Weile da und ließ sich davon peitschen. Dann ging er hinein, ein geschlagener, unwiederbringlich gebrochener Mann. Bei allen Zusammenstößen mit dieser zarten Gestalt hatte der Riese den kürzeren gezogen.

Sie aber verließ seither niemals den Hof. Sie ließ sich in den ersten Jahren niemals vor anderen als vor den Leuten auf dem Gut sehen, und auch vor diesen kaum.

Man sah sie entweder mit ihrem Kleinen im Wagen oder später an der Hand oder allein, und da in der Regel in einen großen Schal gehüllt, stets in einen andern, je nachdem sie gekleidet war. Sie hielt ihn stramm um sich zusammen. Es war dies so charakteristisch für sie, daß ich noch heute die Leute davon reden höre, als sei sie niemals anders gesehen worden.

Und was tat sie denn nur? Sie studierte. Die Literatur gab sie auf: aus irgendeinem Grunde war sie ihr zuwider. Sie wechselte geistig die Kleider, indem sie sich ganz der Mathematik, der Mechanik, der Chemie und der Physik hingab: sie machte Berechnungen, Analysen und ließ sich Bücher über ihre Zwecke kommen.

Die Leute auf dem Gut erblickten etwas fast Übernatürliches in ihr, von der ersten Stunde an hatten sie ihre Schönheit und Feinheit bewundert: so etwas bewundern alle, nur der Grad und die Art und Weise sind verschieden. Nach einer Weile war sie zu etwas geworden, was über ihre Begriffe hinaus lebte und dachte. Sie suchte niemand von ihnen: wer aber zu ihr kam, dem ward Hilfe zu teil, mehr oder weniger. Sie verschaffte sich genauen Bescheid, niemand konnte sie hintergehen. Mochte sie wenig oder viel geben, es geschah niemals unter Bedingungen, niemals mit langen Reden. Ihre Meinung drückte die Summe aus.

Das Verhalten ihres Mannes ihr gegenüber war derart, daß sie, wenn sie nicht so beliebt gewesen wäre, unmöglich hätte bleiben können. Er tat ihr nämlich alles Böse an, was in seiner Macht lag, aber das Gesinde wandte es ab.

Der Knabe – hätte er nicht ein Bindeglied werden können? Einige Menschen wollten wissen, daß sich das Verhältnis der Eltern seit der Geburt des Knaben so schlecht gestaltet habe. Das erstemal, als der Vater ihn sah, bemerkte die Wehmutter, daß er kam wie ein Großmogul und von dannen ging wie ein Bettler; die Wöchnerin lag da und lachte, und das hatte die Wehmutter eine Wöchnerin noch niemals tun sehen.

Hatte er erwartet, daß alles, was von ihm kam, nur ihm gleichen konnte, und war ihm dann das Ebenbild der Mutter entgegengetreten?

Sobald der Knabe sich selbständig bewegen konnte, ging er gern zum Vater hinüber, denn dort bei ihm war viel Schönes zu sehen, und der Vater nahm ihn gut auf. Er plauderte mit ihm und freute sich über seinen Verstand. Nur versuchte er stets, ihm große Enden von seinem Haar abzuschneiden. Die Mutter ließ es frei und lang wachsen wie das ihre und der Vater beschnitt es. Der Knabe selber wäre es gern los gewesen: als er aber ein wenig älter ward, begriff er, was der Vater beabsichtigte, und da hütete er sich. Als ihm die Leute auf dem Hof Züge aus den sagenreich ausgeschmückten Geschichten des Vaters erzählten, von seiner Riesenkraft, von seinen Heldentaten zu Wasser und zu Lande, ward der Sohn von scheuer Bewunderung für ihn erfüllt. Aber er empfand auch immer stärker den unleidlichen Druck, den der Vater auf ihr Leben ausübte, ja, auf alles Lebende auf dem Gut. Es ward die geheime Religion des Knaben, sich gegen ihn aufzulehnen und der Mutter zu helfen, denn sie war der leidende Teil. Er wollte ihr gleichen bis aufs Haar, er wollte sie decken, sie belohnen: es war ihm eine wahre Wonne, wenn der Vater auch ihm Leiden verursachte.

Ja, es war sein Stolz, wenn ihn der Vater statt bei seinem Namen Rafael »Rafaella« nannte; die Mutter hatte ihm den teuersten Namen gegeben, den sie kannte.

Niemand durfte die Boote benutzen, niemand durfte fahren, niemand durfte durch den Wald gehen, der wurde ganz abgesperrt. Niemand durfte den Pferden oder den Kühen hinreichend Futter geben. Keine Reparaturen wurden vorgenommen; wollte die Herrin etwas auf eigene Hand ausbessern lassen, so wurden die Handwerker vom Hof hinuntergetrieben. Es unterlag keinem Zweifel: er wollte, daß alles verfallen sollte. Das Gut verlor an Wert, ebenso der Wald; ja, es war kein Geheimnis mehr zwischen den Bewohnern des Gutes, von denen es sich weiter und weiter verbreitete, daß der Wald überreif war. Die größten und besten Bäume gingen schon in Fäulnis über; allmählich würden alle es tun.

Mit zwölf Jahren saß Rafael drüben beim Propst in der Schule neben Helene, dem einzigen Kinde des Propstes. Sie war vier Jahre jünger und Rafael so unendlich lieb. Der Propst erteilte ihnen Religionsunterricht, das einzige Fach, in dem die Mutter den Sohn nicht unterwies. Der Propst erzählte von David. Die Erzählung zog vorüber mit Einwürfen und Erklärungen. Rafael sah es in Bildern – so hatte die Mutter es ihn gelehrt. Assyrische Kriegsknechte zogen vor den jüdischen einher; spitzbärtige Kriegergestalten mit schiefen Augen und länglichen Schilden zogen in Ketten vorüber. Die Weingärten am Abhang der Hügel lagen blaugrün da, die schmalen Schatten staubbedeckter Palmenzweige fielen auf staubige Wege. Dann alle hinein in einen Wald von wohlriechenden Bäumen, da hinein flüchten nämlich die Krieger – als die Erzählung von Absalom beginnt.

»Absalom lehnte sich gegen seinen Vater auf; denkt nur, wie entsetzlich,« sagte der Propst, der ein willensstarker Mann war, »sich gegen den Vater aufzulehnen.« Ohne es zu wissen, sah er Rafael an, der dunkelrot ward. Rafaels ganzes Sinnen und Trachten ging ja darauf hinaus, daß er groß und stark genug werden möge, um sich gegen seinen Vater auflehnen zu können.

»Aber Absalom ward auch auf eine wunderliche Weise bestraft«, erzählte der Propst: »Absalom verlor die Schlacht und blieb auf der Flucht durch die großen Wälder an seinem langen Haar hängen. Das Pferd lief unter ihm fort, und er ward von einem Speer durchbohrt...«

Rafael sah Absalom dort hängen, nicht in den langen assyrischen Gewändern, nicht mit spitzem Bart; nein, schlank und jung, in Rafaels eng anschließenden Beinkleidern, die am Knie mit den Strümpfen zusammentrafen, und in seiner eigenen Samtbluse und an seinem eigenen roten Haar! Er sah es so deutlich, so deutlich! Wie das Pferd weiterlief, das graue von daheim, auf dem er heimlich ritt, wenn der Vater seinen Mittagsschlaf hielt. Er sah den dünnen, langen Jüngling baumeln und sich hin und her drehen, einen Speer durch den Magen. So deutlich, oh, so deutlich!

Dies Bild, über das er mit niemand sprach, wollte ihn nicht wieder verlassen. Eine so sonderbare Strafe: weil er sich gegen seinen Vater aufgelehnt hatte, an seinem Haar hängen zu bleiben!

Die Geschichte kannte er ja schon von früher, nie aber hatte er Gewicht darauf gelegt.

Es war an einem Freitag, als sie so wie ein Blitz in ihn einschlug, und am Montagmorgen erwachte er dadurch, daß die Mutter mit ihren allergrößten, verwunderten Augen über ihn gebeugt stand. Das Haar war noch für die Nacht geflochten; die eine Flechte kitzelte ihm die Nase, dadurch erwachte er, ehe sie noch sprach. Sie stand über ihn gebeugt und starrte ihn an, angsterfüllt! Sie stand da in ihrem langen, weißen Nachtgewand, zierlich und voller Spitzen und mit bloßen Füßen. Sie würde sich niemals so vor ihm gezeigt haben, wenn nicht etwas Entsetzliches vorgefallen wäre, was sie zu ihm hineingetrieben hatte. Weshalb sprach sie nicht? Starrte nur, oder war es etwa kein Entsetzen, das aus ihren Augen sprach?

»Mutter!« rief er, sich aufrichtend.

Da beugte sie sich dicht über ihn. »Der Mensch ist tot«, flüsterte sie. Es war sein Vater, den sie »den Menschen« nannte; sie nannte ihn niemals anders. Rafael begriff es nicht, oder er war wie gelähmt. Sie wiederholte es laut, lauter: »Der Mensch ist tot, der Mensch ist tot!« und dann richtete sie sich zu ihrer ganzen Höhe auf, streckte die nackten Beine unter dem Nachtgewande hervor und tanzte. Nur ein paar Takte, worauf sie zur halb geöffneten Tür hinausschlich. Er sprang auf und ihr nach; da lag sie da drinnen über dem Sofa und schluchzte. Sie fühlte ihn hinter sich, erhob sich schnell, preßte ihn an sich, schluchzte. Er fühlte, wie sie am ganzen Körper bebte, gleichsam im Krampf.

Noch als sie unten an seiner Leiche standen, zitterte ihre Hand, die er in der seinen hielt, derartig, daß er den Arm um sie schlang: er glaubte, sie werde zusammenbrechen.

Wenn er später im Leben hieran zurückdachte, begriff er, welch eine unbeugsame Willenskraft sie in dem Kampf eingesetzt, aber auch, was er sie gekostet hatte!

Jetzt, im selben Augenblick, verstand er es nicht. Er dachte, sie leide bei dem Entsetzlichen, was sie jetzt sahen, so wie er litt. Dort lag der Riese elend und jämmerlich. Er, der sich einst seiner Sauberkeit rühmte und sie von allen forderte, lag dort schmutzig, unrasiert in den fettigen Fellen, die rochen, in so zerlumpter, unreinlicher Wäsche, daß kein Arbeiter auf dem Hofe es schlechter haben konnte. Die Kleidungsstücke vom gestrigen Tage lagen auf einem Stuhl neben dem Bett, ärmlich, vertragen, voller Schmutz, Schweiß, Tabak, stinkend wie alles hier. Sein Mund war verzerrt, die Hände krampfhaft geschlossen: er war am Schlag gestorben.

Und wie öde und verlassen es hier rings um ihn her war! Weshalb hatte der Sohn das bisher niemals gesehen? Weshalb hatte er nicht gefühlt, daß sein Vater einsam und verlassen war? Endlos verlassen war er gewesen.

Rafael fing an zu weinen. Und sein Weinen wuchs und füllte das Zimmer, ja alle Räume hier unten.

Sie kamen herein, die Leute vom Hof, einer nach dem andern; sie wollten sehen. Das Schluchzen des Knaben gab eine so unwillkürliche Erklärung, daß alle die Sache von einem neuen Gesichtspunkt sahen. Er war unsagbar unglücklich, verlassen, hilflos gewesen, er, der dort lag. Der Herr sei uns allen gnädig!

Nachdem Harald Kaas' Leichnam eingekleidet, das Gesicht rasiert war und man ihm die Augen geschlossen hatte, da schwand das Verzerrte; man sah die Leiden in dem Gesicht, aber auch die männlichen Züge. Man fand, daß er schön sei...

Wenige Tage nach der Beerdigung befanden Mutter und Sohn sich auf dem Wege nach England.


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