Rudolf Binding
Der Wingult
Rudolf Binding

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Nur wenige haben die wahrhaft wüste und ungeheuerliche Gestalt des Wingult erlebt, die im ersten Jahre des großen Krieges erschien und in einem ungeschlachten Heldentum von kurzer Dauer und kaum erkennbarer Deutung an den Augen der Menschen vorüberzog. Wie aus urfernen und urersten Zeiten stammend ging der Wingult seinen Weg. Er glich den alten sagenhaften Männern und Helden, denen ungeheure Körperkräfte zur Erfüllung riesenhafter Taten zu Gebote stehen, und andere Zeiten hätten leicht einen Mythos aus seinem Tun gemacht, bei welchem er, die Menschen denen er gedient verlassend, zu den Göttern hinüberging.

Als gegen Ende der ersten großen Kriegsbewegungen die Heere in zwei unendlich langen Fronten sich aneinander keilten, in Erde und Fels einwühlten und monatelang um den Besitz eines fußbreiten Fetzens Land oder eines Hügels statt um die Entscheidung kämpften, kam mit einem kleinen Trupp von Ersatzmannschaften für eine deutsche Dragonerschwadron ein auffälliger Kerl in einem französischen Dorf an, sein Pferd am Zügel führend wie die andern. Sie waren in gehöriger Entfernung von der Front ausgeladen worden und hatten einen erheblichen Marsch hinter sich. Der Rittmeister, der seine Schwadron in dem Dorf untergebracht hatte, trat bei der Ankunft der neuen Mannschaften aus seinem Gehöft auf die Dorfstraße. Wie die Leute hießen und wie alt sie seien. Jeder beantwortete die Fragen. »Wingult« sagte der Auffällige, als die Reihe an ihn kam, »dreiundfünfzig Jahre.« Der Offizier fand Anlaß den Mann zu betrachten. Ein Kerl, vornübergebeugten Nackens, mit riesenhaften Schultern und gewaltigem Rücken, langen Armen, ungeheuren Händen, auf starken Beinen ruhend wie eingelassen, sah er aus wie ein ragender stehengebliebener Brückenpfeiler, an dem nach vorn ein Stück der Wölbung hing während man die übrige Brücke abgetragen hatte. Langsame schwere Bewegungen verrieten unheimliche Kräfte.

»Sie sind also freiwillig ausgerückt. Wann haben Sie im Heer gedient? Was ist Ihr Beruf?« – Er sei nie Soldat gewesen, antwortete der Wingult. »Wie kommt das?« fragte der Rittmeister; »warum hat man Sie nicht eingestellt?« – Wingult grinste etwas verlegen, griff mit der einen Hand von unten auf seinen Rücken und sagte: »Ich paßte, glaube ich, nicht in eine Paradeaufstellung.« Das war richtig: ein Brückenpfeiler seiner Art war mit einer in Linie aufzustellenden Kompagnie nicht in Einklang zu bringen.

Der Wingult war Rheinschiffer von Beruf und mochte früh genug durch die zu ladenden und entladenden Lasten seinen Schultern die Muskellagen angewöhnt haben die sie jetzt so gewaltig erscheinen ließen. Nichts beschäftigte seinen Geist als nur, ob und was man in der Welt mit der Kraft seines Körpers leisten könnte. Jahraus jahrein, tagein tagaus hatte er immer schwerere Lasten gehoben und auf den eisernen Gebirgen seiner Schultern an den Ort geschleppt wohin sie gehörten. Er war stumpf geworden in diesem Dienst und der Anstrengung die er forderte. Aber er war stolz geworden, stärker zu sein als andere.

Ob er den Fahneneid geleistet habe, fragte der Rittmeister. Der Wingult wußte nicht was das sei. Ein Treueid gegen den Kaiser und das Vaterland, erklärte man ihm. Der Wingult begriff das nicht; er trete doch nur in Dienst; er diene doch; gegen Lohn und Verpflegung. Es wurde ihm bedeutet, er habe dem Kaiser zu schwören. Ob der Kaiser auch ihm schwöre, fragte der Wingult, und auf alle Fälle bekreuzte er sich, bevor er, wie er es von den andern sah, die Hand zum Eide hob. Ob das hindere daß er in Dienst stehe; er wolle nur dienen, protestierte er, auf einfache Verhältnisse bedacht, die er verstand und zu überblicken vermochte. Er wolle auch ein Dienstbuch in dem das alles stehe. Das wurde ihm zugesichert; er erhalte ein Soldbuch. Damit gab sich der Wingult scheinbar zufrieden.

Wie von selbst und als ob es seines Amtes wäre, übernahm nun der Wingult allen schweren Dienst in der Schwadron dessen er habhaft werden konnte. Er putzte und wartete sechs Pferde statt eines; er schleppte den ganzen Hafer für die ganze Schwadron allein vom Wagen; er schulterte die schweren riesigen Kisten mit Bekleidungsstücken, die fast täglich eintrafen, allein und wippte sie über den Nacken an ihren Platz daß keiner eine Hand dazu zu rühren brauchte; und in der Schmiede riß er den widerspenstigen Pferden, die sich nicht beschlagen lassen wollten, die Beine vom Boden, daß ihnen das Schlagen und Sichhinschmeißen verging. Aber das war alles nichts. Schon nach wenigen Tagen begann es den Wingult zu wurmen, daß für Waffentaten, ja selbst für Taten und Arbeit andrer Art, die seinen Schultern genügt hätte, kein Feld sich öffnete. Die Schwadron lag in Ruhe; außer einer täglichen Verwendung zu polizeilichen und wirtschaftlichen Zwecken wurden keine Lorbeern geerntet; zudem wußte man in dieser Phase des Krieges, immer von neuem auf eine große Bewegung oder einen Durchbruch hoffend, mit der Reiterei nichts Rechtes anzufangen. Der Wingult lief, nachdem er die paar Säcke vom Fouragewagen gehoben und seine Pferde versorgt hatte, mißmutig und unnütz umher wie ein leibhaftiger Atlas, dem man die Weltkugel vom Nacken genommen und der sich ohne die ihm gebührende Last nicht zurecht findet.

Als er das erste Mal nach seiner Ankunft in Reih und Glied an einer Aufstellung der Dragoner teilnahm, bei der die Ausrüstung der Mannschaft gemustert werden sollte, fiel es auf, daß er neben dem Seitengewehr eine kleine rundliche Steinflasche oder Steinkruke, fast kugelig, mit kurzem Hals, angeschnallt hatte. Sie war mit einem großen fettigen Kork verschlossen; auch die Mündung des Behältnisses glänzte ölig. Man verwies es ihm, den Gegenstand mitzuführen; er gehöre nicht zur Ausrüstung und beschwere ihn nur; zwei Feldflaschen mit Kaffee oder Tee oder was er wolle seien erlaubt.

Der Wingult trug bedächtig den beanstandeten Gegenstand in sein Quartier und legte ihn ab. Bei der nächsten Aufstellung aber erschien er wieder mit der fettigen Steinkruke am Riemen. Was er denn eigentlich darin habe, fragte der Wachtmeister, nun stutzig ob der seltsamen Unbotmäßigkeit. »Erdöl«, sagte der Wingult. Das sei doch ganz unnütz, meinte der Wachtmeister; ob er denn auch eine Lampe bei sich trage? Der Wingult aber erwiderte: das Erdöl brauche er gar nicht für eine Lampe sondern für den feuerspeienden Berg. Was das sei, fragte der Wachtmeister ärgerlich. Aber es war aus dem Wingult nicht mehr herauszubringen, als daß er das Petroleum für irgend ein Kunststück brauche. Er brauche es eben und es mache ihm Freude. Andere hätten doch eine Mundharmonika in der Tasche oder ähnliches, und das sei das gleiche. Die umstehenden Dragoner lachten über den Eigensinn des alten Mannes, der vor dem viel jüngeren Unteroffizier so gewichtig eine Liebhaberei verteidigte; und da von einer Belastung von Wingults gewaltigen Lenden durch den kleinen Gegenstand keine Rede sein konnte, behielt er seine Steinkruke.

Während nun der Wingult so unausgenutzt durch die Tage und Nächte trieb und darunter mehr seufzte als unter irgend einem Gewicht das jemals seinen Rücken drückte, griff er oft halbentschlossen nach der geheimnisvollen Kruke an seinem Gürtel. Er schien den Entschluß zu erwägen, sich irgendwie entscheidend zu befreien. Dann aber schob er das Steinbehältnis immer wieder zurück, als ob er noch ohne das Letzte auszukommen gedächte. Eines Abends jedoch konnte er sich nicht mehr lassen. »Achtung« rief er den Kameraden zu, die gelangweilt, aber weniger unzufrieden als er im Dunkel eines ausgeräumten großen Wirtszimmers um eine einzelne Kerze versammelt waren: »Achtung! der feuerspeiende Berg!« Es entstand eine Pause. Der Wingult bekreuzte sich. Dann nahm er aus seiner Kruke einen gewaltig großen Schluck Petroleum in die Höhlung seines Mundes und prustete es durch die Flamme eines Zündholzes das er in der hohlen Hand rasch angestrichen hatte. Eine dicke schwelende Feuerwolke fuhr von seinem Gesicht fort und erlosch, nach allen Seiten in kurzlebigen Flammen auseinander fahrend.

Die Dragoner, an mancherlei gewöhnt, sprangen starr auf. Mochte der Wingult diese Darbietung erfunden haben, mochte sie unter rheinischen Schiffern anzutreffen sein, noch keiner hatte das erlebt. Es stank nach rußendem Petroleum; die Luft war heiß und verbraucht; alle hatten einen ekelhaften, bittern Geschmack im Munde, manchen schüttelte es, keiner vermochte etwas zu sagen. Der Wingult aber grölte unbändig und entzückt, wie ein erster Mensch über eine erste Freude. Er fand die Sache sehr geglückt und fühlte sich, als er den Raum verließ, etwa wie ein Apoll, der eben sich selbst und eine Götterversammlung durch sein Saitenspiel ergötzt hat.

Indessen ging er mit diesen Selbstbeschwichtigungen, die ihm seine Kruke verschaffen konnten, sehr sparsam und scheu um, als ob er fürchte, sie könnten durch Wiederholung sich abnutzen oder ihre Kraft verlieren. Der feuerspeiende Berg war eine äußerste Zuflucht, ein wildes und rohes Sakrament, zu dem er sich nur in den höchsten Erregungen seines Innern verstieg. Nach jener Ausübung schien er ein paar Tage beruhigt. Aber es dauerte nicht lange. »Gebt mir zu schaffen und zu essen«, rief er, »sonst laufe ich fort.« Und diese Drohung bekräftigte er mit den obszönsten, unflätigsten Worten und Flüchen die je aus menschlichem Munde kamen. Er glaubte ein Anrecht auf Waffentaten zu haben und jeden Abend meldete er sich bei seinem Unteroffizier oder einem andern Vorgesetzten, um bei ihm sein Recht einzutreiben wie etwas das dieser ihm persönlich schulde. »Wenn der Fähnrich nicht wäre, wäre ich schon längst fortgelaufen«, sagte der Wingult düster nach solchen Unterredungen und schaute in der Richtung nach der Front.

Da es dem Wingult heilig ernst war wenn er so sprach, und er wahrhaft fürchterlich herumstrich nachdem seine Arbeit, die für ihn nur ein paar Handgriffe bedeutete, getan war, meldete man die Reden dem Rittmeister. – Es müsse jeder in diesem Kriege an dem Platz ausharren an den er hingestellt sei, suchte ihn dieser zu beschwichtigen; auch an ihn werde die Reihe kommen. – »Ja, aber er sei noch überhaupt nicht hingestellt«, erwiderte der Wingult. Man habe ihm gesagt, im Kriege würden die äußersten Anstrengungen verlangt: »Ich kann viel mehr«, sagte er gedrückt und stand da wie ein demütiger Riese. – Ob er denn schießen könne, ob er treffen könne; ob er überhaupt mit der Schußwaffe ausgebildet sei, fragte der Rittmeister nach einem Ausweg suchend. Darauf war der Wingult nicht vorbereitet. Er schoß wohl schlecht und recht, wie man damals ziemlich sorglos die Leute in die Front brachte, aber er verachtete eigentlich diese Kunst. Schießen konnte jeder, da war kein Reiz für ihn. »Wenn ich nahe genug bin, brauche ich nicht zu schießen,« sagte er schließlich zögernd.

In der Tat wäre er aber doch wohl auf und davon gegangen, wenn der Fähnrich Salzach nicht gewesen wäre. Der Wingult hatte eine zärtliche und vernarrte Zuneigung zu ihm gefaßt, weil der Fähnrich, ein blutjunges, leichtgliedriges Kerlchen, das eigentlich noch auf die Schulbank gehörte und wie ein zartes Spielzeug herumlief, den Anstrengungen des Feldlebens nicht gewachsen war. Das rührte den Wingult. Er konnte ihm so nebenher dienen; das befriedigte ihn. Er putzte ihm sein Pferd von oben bis unten und legte ihm den bepackten Sattel auf, was der Kleine nie allein zuwege brachte. Jeden Abend kam er und sah nach, ob der Fähnrich auch gehörig eingewickelt war. Denn es waren kalte Monate; und wenn es dem Wingult zu kalt schien, wickelte er den Kleinen in eine zweite Decke die er hatte, und schlief selbst unbedeckt. Was in dieser großen und rauhen Seele Liebe genannt werden konnte, gehörte dem Fähnrich. Der war es auch allein, dem er erzählte. So erfuhr Salzach, daß der Wingult ein ältliches Weib zu Haus am Rhein habe, mit dem er etwas wie eine gute Wirtschafts- und Sonntagsgemeinschaft gepflegt haben mußte. Sie seien am Sonntag jeweils den Rhein herauf oder herunter gefahren auf einem wirklichen Dampfboot. Nie anders als den Rhein. Es sei sehr schön gewesen. Aber jetzt müsse er Heldentaten verrichten. – Von der Frau kam nie ein Brief und der Wingult schrieb nie; sie mochten wohl beide das Schreiben zu mühsam finden. Nur einmal im Monat kam eine harte dunkle Wurst für den Wingult. Erbot sich dann Salzach an seiner Statt für ihn zu schreiben, so winkte er ab und bedeutete ihm, daß nach ihren Abmachungen alles in Ordnung sei solange die Alte Wurst schicke.

Nichts aber hätte des Wingult Neigung und Verehrung für den Fähnrich besser dartun können als die Bereitwilligkeit, mit der er ihm sein finsteres Sakrament als Opfer und Tröstung darzubringen sich erbot. Denn da Wingult den Fähnrich, der von den Bitternissen des Krieges ganz zermürbt war, Brüder im Kampf und Schwestern daheim hatte um die er sich sorgte, oftmals heimlich vor Erschöpfung weinen sah, gedachte er ihn durch sein Kunststück, dessen Wirkung auf ihn selbst unfehlbar war, aufzuheitern und zu kräftigen. »Fähnrich?« fragte er, wenn er ihn traurig sah, so zart als es ihm gegeben war und nicht ohne Großmütigkeit, »Fähnrich, soll ich den feuerspeienden Berg machen?« Und dabei strahlte er ihn an. Doch Salzach, der die bitterliche Zeremonie schon damals genossen hatte, als sie Wingult den überraschten Kameraden das erste Mal vorführte, hielt nicht viel von ihrer erbaulichen Wirkung auf seine Gemütsverfassung und wehrte ab. »Nein Wingult« sagte er gerührt; »man muß es nicht verschwenden«; und er lächelte. Dann meinte der Wingult, er habe dem Kleinen durch die bloße Erwähnung und Vorstellung des behüteten Spiels eine Art wohltätigen Vorgeschmack davon verschafft und es halb und halb mitgekostet.

Nach einigen Wochen des Hinwartens wurde endlich die Schwadron mit anderen Truppen abbefördert und an anderer Stelle, weitab von ihrem Ruheort, an die Front herangezogen. Der Wingult atmete auf. In den ersten Tagen seien Aufräumungsarbeiten auf frisch erobertem Gelände auszuführen; danach würde die Schwadron, je zwei Züge sich ablösend, in den Kampf- und Schützengräben verwendet, so lautete der Befehl für sie. Mit dem Vorgefühl eines herkulischen Heldentums warf sich der Wingult den gestellten Aufgaben entgegen.

Die Deutschen hatten an diesem Abschnitt der Front nicht unerhebliche Fortschritte gemacht und ein gutes Stück Boden gewonnen. Dieses wiederzuerobern griffen junge kriegsunerfahrene kanadische Truppen die jetzt stark durch die Natur begünstigten und eine flache Mulde beherrschenden Stellungen an. Es waren die denkwürdigen Todestage kanadischer Divisionen im Spätmai des Jahres fünfzehn. In tiefgliedriger Ordnung wie zu einem Einmarsch liefen die Kanadier am hellen Licht in die gierigen unermüdlichen zahllosen Mündungen der deutschen Maschinengewehre hinein und starben selig Wahnsinnigen gleich, die vom Tode nichts wissen. Durch Stunden folgten sich immer neue Regimenter. Als die Nacht kam, bestrahlte der Mond vor der deutschen Front ein schlafendes Heer, Mann bei Mann in guter Ordnung ruhend, um nie wieder zu erwachen. Am folgenden Tage hatten die Deutschen, da der Feind keinen ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen vermochte, an dieser Stelle mühelos ihre Linien in einen flachen Grund vorgeschoben und das tote Heer hinter sich gelassen. Aber noch am fünften Tage lagen die gefallenen Feinde unbegraben. Denn neue Kämpfe entbrannten. Die Schanzungen der eroberten feindlichen Stellungen und Gräben wurden umgedreht, neue Befestigungen aufgeführt, Verbindungsgräben hergestellt und mit Blut das Gewonnene verteidigt, das unblutig genommen war. Bald forderten eigene Verwundete und Tote jede Hand und jede Bahre.

Als der Wingult an der Seite des kleinen Fähnrichs, der den Zug befehligte, die langgestreckte Mulde betrat in der die Kanadier ihren Tod gefunden, überblickte er das Feld mit den Augen eines Riesen, dem es ganz allein zu Werk und Tun zugeteilt war. Der Mond gab Licht genug um zu erkennen, daß selbst auf dem kleinen Raum, der den Dragonern zugewiesen war, viele Hunderte von Leichen lagen. Die Maitage, kalten Frühjahrswochen folgend, waren heiß und stechend von Sonne gewesen. Die Nacht war schwül. Eine grauenhafte Wolke von Verwesung lag auf dem Feld und stank zum Himmel. Den Soldaten drang der Schweiß aus allen Poren. Sie fielen fast unter dem Anhauch der Toten.

Aber es mußte geschehen. Man machte sich ans Werk. Bald jedoch sah man, daß es unmöglich war, jedem Toten sein Grab zu graben. Und es entstanden jene fürchterlichen Gräber auf denen die Inschrift zu lesen war; hier ruhen acht Kanadier; hier ruhen dreiundzwanzig Kanadier; hier ruhen fünfundvierzig Kanadier; hier ruhen siebzig Kanadier. Der Wingult und die welche Bahren hatten oder sich solche aus Zeltbahnen herrichteten, schleppten die Toten; die andern gruben. Der Wingult hob seine Toten allein vom Boden empor, schulterte sie quer, brachte sie heran und ließ sie über seinen gewaltigen Nacken in die gemeinsamen Gräber hinabgleiten. Er sprach kein Wort, er hatte kein Aufschauen, kein Atemholen, keinen Schauder, keine Ausnahme und gab die Leichen der Erde, als habe der Tod selbst ihn dazu bestellt.

So ging es zwei Nächte. Niemand hätte es wagen dürfen, sich bei Tage in der Mulde zu zeigen. Obwohl aber in der zweiten Nacht andere Männer diejenigen ablösten die in der ersten draußen gewesen waren, so ging der Wingult doch wieder mit und schleppte die Leichen heran wie die Nacht zuvor. Hunderte glitten hinab. Seine Muskeln waren prall und steif wie gedrehte Taue, sein Atem ging ruhig und alles war seines Amtes. Danach waren sie alle begraben.

Als er beim Morgengrauen in sein Quartier kam, trat er zu dem Fähnrich, der von der ersten Nacht erschöpft noch in tiefem Schlafe lag. Er ließ ihn ruhen. Aber er selbst, bevor er sich zur Ruhe legte, machte zum Zeichen seines Triumphs als Schluß und Krönung seines fürchterlichen Handwerks und zur eigenen Verherrlichung desselben den feuerspeienden Berg weit über den Hof hin. Dann tränkte er die Pferde im Stall und legte sich schlafen.

Aus irgend einem Grunde verzögerte sich das angekündigte Einsetzen der Dragoner in den Kampfgraben um eine Woche. Der Wingult hungerte und zitterte schon nach neuen Taten. Die Kameraden lachten wenn sie ihn so sahen; vorne, sagten sie, heiße es hübsch den Läusen und den Granaten still halten, und eine Gewehrschießerei sei doch auch nichts für ihn; höchstens wenn es einen Angriff gebe. Der Wingult aber sagte, er werde sich schon zu schaffen machen. Als sich schließlich die für den Dienst in den Gräben ausgewählten Dragoner (denn eine Anzahl mußte zur Pflege der Pferde zurückbleiben) in ihrer angewiesenen Stellung befanden, sahen sie sich am Rande eines flachen versumpften Grundes liegen, durch den ein träger Bach floß. Diesen hatte der Feind durch die fast vollständige Verstopfung seines Durchtritts durch den Körper eines hohen Eisenbahndammes, der den Grund durchquerte und fleißig unter Feuer gehalten wurde, zu einem unüberschreitbaren Überschwemmungsfeld angestaut, das freilich nur nahe dem eigentlichen Bachbett von größerer Tiefe war. Der Wingult blickte über den abfallenden Grund, über die Wasserfläche, aus der hohes dichtes Schilf kaum noch mit den Spitzen heraussah, und über den drüben wieder aufsteigenden Grund nach dem feindlichen Drahtverhau. Er schien zu Tatenlosigkeit verurteilt.

Für die kommende Nacht bat er sich einen Patrouillengang aus. Der Rittmeister lachte: weiter als bis an den Bach würden sie nicht kommen ohne zu ersaufen; nicht einmal schwimmen konnte man in dem Schilf. – Vielleicht fänden sie eine seichte Stelle, sagte der Wingult. – Als es ganz finster war, gingen sie in das Schilfmeer hinunter; aber überall wurden sie von dem Morast festgehalten und standen im Wasser. Der Wingult sah sich unzufrieden um. Nach einer Weile vergeblichen Umherwatens winkte er den andern, stehen zu bleiben, und verschwand wortlos bachabwärts im Dunkel, bis an dem Nabel im Wasser. Die Dragoner warteten geduldig eine lange Zeit. Dann geriet mit einem Male eine deutliche Strömung in den überschwemmten Grund, das Wasser floß in langsamen Wirbeln ab. Kurz darauf erschien der Wingult wieder. Was er eigentlich vollbracht hatte wußte niemand; doch mußte es wohl etwas Riesenhaftes gewesen sein. Er war schwarz von Schlamm und Geschling, mit Erde und Moor bedeckt bis über den Kopf, spie sumpfiges Wasser aus Nase und Mund und zitterte vor Anstrengung am ganzen Leibe. Er habe einen Stein weggewälzt, brachte er schließlich hervor; aber der Wirkung nach mußte er einen Damm eingerissen haben.

Am folgenden Tage unterhielt der Feind, beunruhigt durch die Veränderung des Wasserstandes in dem Schilfgrund, ein lebhaftes Feuer darauf. Da von deutscher Seite ein erneuter Angriff geplant wurde, war den Truppen befohlen worden, den Bach mit schmalen Laufstegen zu überbrücken und jedenfalls Balken, Pfähle und Planken bereit zu halten. In der nächsten Nacht führte man alles Notwendige mit einem vierspännigen Wagen bis an den Rand des Schilfes herunter wo man es unauffällig lagern wollte. Der Fähnrich und der Wingult waren bei dem Unternehmen. Während der Wagen zum Abladen hielt, riß eine Granate zwei der Pferde tot nieder. Man solle den Steg besser gleich bauen, sagte der Wingult, der hinüber wollte. Die ersten Pfähle hielten; die aufgelegten Planken führten bis nahe an das versumpfte Bachbett. Aber zu seinem Unwillen sah der Wingult daß die weiter vorgetriebenen Pfähle keinen Grund faßten. Ein Stück offenen grundlosen Sumpfes schimmerte zwischen dem Schilf. Der Wingult blickte sich um; irgend eine wilde Vorstellung einer schwimmenden Brücke blitzte in ihm auf. Er trat von dem begonnenen Steg herunter und wies zwei Dragoner an, ihm zu helfen. Und er schob, sich fast niederlegend, seinen Kopf und Nacken unter die Brust eines der gefallenen Pferde. Er faßte die Vorderbeine über seine Schultern: von den Dragonern hinten gestützt, ritt der gewaltige tote Leib auf seinem Rücken bis zum Ende des Stegs. Dann stürzte der Wingult ihn über seinen Nacken vor sich in den Sumpf.

Den kleinen Fähnrich, der wie alle zurückgetreten war, überging ein leiser Schauder nicht so sehr über den Anblick, als über die Ungeheuerlichkeit des Einfalls, den die körperliche Kraft ausgelöst zu haben schien. Der Kadaver, von dem brechenden Schilf wie von einer Unterlage gestützt, schwamm ganz wenig nach abwärts; dann hielt das Schilf ihn gegenstemmend still.

Der Wingult richtete sich auf. Er erprobte, ob der Pferdeleib trage. Der schwimmende Pfeiler hielt zwei Planken und das Gewicht eines Mannes ohne zu versinken; wenn der Mann herunter trat, hob er sich wieder.

Aber dem Wingult genügte das nicht. Noch einmal wiederholte sich das Schauspiel: noch einmal ritt ein totes Pferd auf seinem Rücken, das er über seinen Nacken in das andre hineinstürzte. Darauf schob er die ineinander verschränkte Masse mit Stangen und Balken hinaus und legte die zwei Planken nebeneinander hinüber, die bald starr mit den auf festem Boden ruhenden verbunden waren. Der Pfeiler hielt und lag still. Man war über die grundlose Stelle und eigentliche Tiefe hinweg; drüben faßten die Pfähle den Grund. –

Sechsmal durchmaß der Wingult den Steg hinüber und herüber: allein, wie zu einer Besitzergreifung. Der Steg lag gedeckt zwischen dem Schilf; man würde ihn selbst bei Tage nicht bemerken.

Darauf ergriff der Wingult einen Karabiner und sah den Fähnrich an. – Nun sei er endlich vorn, sagte er; jetzt ginge er nicht wieder hinten hin. – Der Fähnrich, der den Befehl über die Hand voll Leute führte, die an dem Steg gearbeitet hatten, verstand wohl was er meinte, fragte aber dennoch was er beabsichtige. »Ich will hinüber« sagte der Wingult, unbestimmbarer Taten voll. »Allein?« fragte Salzach, der das für die andern nicht zugeben wollte. »Allein« sagte der Wingult.

Der Kleine blickte ihn mit unverhohlener Bewunderung an. Es war eine für ihn, den Schwachen, unerreichbare Kühnheit, die er, der Starke, vor ihm voraus hatte. Da kam ihm ein Gedanke: »Nur wenn ich mitgehe« sagte er, jählings errötend, zu einer tollkühnen Nebenbuhlerschaft emporgerissen. Der Wingult wandte sich ab; er sagte nichts. Er nahm zwei Brote vom Wagen und vorsorglich eine Decke für seinen kleinen Freund von den Pferden. Die Kameraden sollten morgens vor Eintritt der Helligkeit und abends nach Anbruch der Dunkelheit Essen bis zum Steg bringen. Sie brauchten nicht hinüber zu gehn. Am Ende des Steges sollten sie es hinstellen; der Wingult deutete genau auf den Pfosten. Darauf ließ er den Fähnrich über den Steg vorangehen wie einen Zuschauer, den einer zu einem Vorhaben mitnimmt das nur ihn selbst angeht.

Sie ließen das Schilf und die Niederung hinter sich und stiegen langsam und leise den sanften Hang des Grundes hinauf. In einem zerrütteten Granattrichter, der einen Busch vor sich entwurzelt und umgewühlt hatte, richtete sich der Wingult ein. Von hier aus würde er bei Tageslicht sehen was zu machen sei; und der kleine Salzach bebte vor der Sicherheit und Zuversicht, die ihm seine überlegene Körperkraft verliehen; der brauchte nichts in sich zu überwinden, keine Anwandlung, keinen Schauder, keinen Ekel, keine Angst je niederzukämpfen, um mutig zu sein.

Bis hierher war das Heldentum des Wingult gediehen, als ihm ein Zwischenfall ein Ende setzte: sie brachten ihm kein Essen. Zwar am nächsten Morgen, als er nach einer ereignislosen Nacht zum Steg hinunterging, fand er, noch warm, zwei wohlgefüllte Eßgefäße voll Suppe vor; am Abend aber war die Stelle, wo die gefüllten Geschirre stehen sollten, leer.

Eine Stunde zuvor hatte man ihm den Fähnrich erschossen. Mochte der Feind eine unvorsichtige Bewegung bemerkt haben, mochte er nur Verdacht geschöpft haben, plötzlich wurde der umgestürzte Busch und die Wurzeln hinter denen sie lagen, von einem Geschloße von Maschinengewehrfeuer zerzaust: ein Geschoß fand ein Bett in des kleinen Fähnrichs Schläfe und Hirn. Vergeblich hielt der Wingult seinen ungeschlachten Finger auf die runde kleine Öffnung; es war nur das Blut eines Toten, das heraussprang.

Als der Wingult nach dem Steg hinunter ging, nahm er seinen erschossenen Freund mit. Wie leicht er ist, dachte der Wingult; keiner der Hunderte von Toten, die er getragen, war so leicht gewesen. Am Ende des Stegs legte er den Leichnam in das Schilf und streckte ihn gerade aus wie eine schlanke Kerze. Sie würden ihn aufnehmen, meinte er. Dann sah er nach dem Essen; aber der angewiesene Platz war leer.

Der Wingult stutzte und blickte nach den deutschen Linien. Dort war alles still. Ab und zu ging eine Leuchtkugel hoch, sank langsam und starb über dem Grund. Er glaubte an irgend einen Zufall, eine Verzögerung, hing die entleerten Kochgeschirre, aus denen er und der Fähnrich gegessen, an den Pfosten des Stegs und ging gelassen zu seinem Standort zurück. In der Morgenfrühe fand er abermals nichts. Die Kochgeschirre hingen wie er sie verlassen; die Leiche des Fähnrichs lag unberührt. Wieder blickte er nach den deutschen Gräben hinüber. Sie waren nicht das Viertel einer Stunde Wegs entfernt. Es hungerte ihn; die Brote waren verzehrt. Aber er setzte den Fuß nicht von dem Steg. Er wollte wissen, ob er vergessen war und wie weit sie es treiben würden. Er wußte ja freilich nicht, daß die Schwadron schon am Abend des vergangenen Tages eilig zu anderer Verwendung herausgezogen war; daß andere Truppen jene Gräben und Stellungen besetzt hielten in denen er seine Kameraden wähnte; daß allerdings der neuen Besatzung dringlich aufgegeben worden war, täglich zweimal an den Steg im Grunde Essen für zwei Leute zu bringen; daß der Kommandeur der neuen Truppe indes dies glatt verboten hatte, da er auf keinen Fall wegen zweier Kochgeschirre voll Essen auch nur einen Mann aufs Spiel setze; es sei undenkbar daß drüben jemand sei, und wen es hungere, der werde schon zurückkommen. Das alles wußte der Wingult freilich nicht. Er ging vielmehr wieder an den Ort den er sich gewählt, und unausgesetzt beschäftigte es ihn den ganzen Tag, daß sie ihm nichts zu essen brachten. Unzählige Male blätterte er das Soldbuch durch, um zu sehen, zu was der Kaiser sich ihm verpflichtet habe. Aber das Buch enthielt keine Bestimmung und wenn es eine enthalten hätte, würde er sie nicht haben lesen können. Er sann nach, ob sie ihn sonst vernachlässigt hätten; aber er erinnerte sich daß er eines Morgens sein ganzes Kochgeschirr voll frischer Milch gefunden habe, die die Kameraden nächtlich für ihn von den Kühen auf den Koppeln des Bauern abgemolken hatten; sie waren sicher weit darum gelaufen.

Als er am Abend des zweiten Tages nach dem Steg hinunterging (er ging spät, damit er nicht zu früh käme), knurrte sein Leib und sein Sinn war sehr düster. Er fand alles wie zuvor. Ungläubig sah er in die Gefäße hinein: sie waren leer wie gestern. Er wendete sie um, sah von neuem hinein: sie blieben leer.

Da stöhnte der Wingult auf, wild und tief. Die umgestürzten Geschirre in den riesigen Händen haltend, wandte er sich dem Dunkel zu, in dem die deutschen Posten lagen, die Vortruppen, die Heere und dahinter weit ein Volk und ein Land in dem er einst Kind war. Er reckte sich aus und brüllte wie ein ungeheures hungriges Tier über alles dies hin in die Nacht. Dann ließ er die Geschirre fallen.

Danach trat er zu dem Leichnam des kleinen Fähnrichs am Ende des Stegs. Er war steif von der Starre des Todes. Der Wingult hob ihn aus dem Schilf und nahm ihn unter den Arm wie ein Brett. Er wandte sich um und schritt über die schwankende Kadaverbrücke zurück. Nahe der Mitte blieb er noch einmal halten. Er legte den Leichnam behutsam vor sich auf die Planken, drehte sich schwerfällig um und blickte zurück. Wie einer mit seinem besten Stücke Abschied nimmt, nahm er einen mächtigen Schluck aus dem Behältnis an seiner Seite. Einen Augenblick lang sahen die von seinem Gebrüll aufgeschreckten Posten im Schein eines flammenden Gewölks die riesenhafte Gestalt eines Mannes auf dem Wasser stehen. Dann verschwand die Erscheinung. Der Wingult aber schlug mit der flachen Hand den Pfropfen fest in den Hals der Flasche, nahm den Leichnam vor sich von der Brücke und drehte dem Volke, dem er gedient, den Rücken. Er würde andere Dienste nehmen, dachte er dumpf. Langsam und versunken ging er mit seinem toten Freunde unter dem Arm hinüber; feindwärts; – ins Dunkel.

 


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