Rudolf G. Binding
Die Geige
Rudolf G. Binding

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Angelucia

Wie die Loire, der Strom der Touraine, den sie täglich von den Fenstern ihres Schlosses sah, hell und sonnenfroh, aber auch stolz und eigenwillig, so war die junge Gräfin von Nevers. Der Fluß weiß sich freizuhalten von der Knechtschaft der Schiffahrt; denn nahe unter dem blausilbernen Spiegel zieht er, überall zerstreut, seine gelben Sandbänke dahin, die jeden Kiel hemmen, der seine Furchen in die selbstbewußte Flut graben wollte. Auch die junge Gräfin von Nevers hat ihre Sandbänke unter der lachenden Oberfläche; auch sie will frei durch ihr Land ziehen und setzt einen geheimen Widerstand an ihre Freiheit. Mit dem Falken als dem Wahrzeichen ihres freien Adels auf der Faust streift sie auf brandrotem Pferd durch das jagdbare Land, und wenn sie auch im Trupp mit den Jägern und Edeln von den Schlössern ringsum hinausreitet, so weiß sie doch, trotz ihrer siebzehn Jahre, nicht, wie ein Mann aussieht. Denn wenn sie ihre Augen erhebt, so ist es zu dem grünen Geäst einer Kastanie oder zu einem funkelnden Stern am Abendhimmel, und wenn ihre Blicke auf etwas ruhen, so sind es die grünen Ufer, die beschaulichen Flecken, die ihren Platz behaupten wie sie, und die Berge der Loire, in deren blauender Ferne sie sich mit dem Strom zugleich zu verlieren scheint. Außer der Sonne hat ihr noch niemand ins Antlitz lachen dürfen, außer dem Wind noch keiner ihre Wangen gestreichelt, außer dem Wasser des Stroms, das frohlockend an ihr emporspritzt, wenn sie ihn durchreitet, keiner ihren Leib geliebkost.

 

Deshalb erschrak die junge Gräfin von Nevers – das erstemal in ihrem Leben –, als ihr eines Tages ihre Mutter, die verwitwete Herrin von Schloß und Land, welche aus Flandern gebürtig war und die Loire und deren Ähnlichkeit mit ihrer Tochter nicht verstand, die Mitteilung machte, der Graf von Blois habe um ihre Hand angehalten und werde in ritterlicher Weise, gefolgt von seinen Edeln, sich ihr Jawort holen. Sie erschrak: denn sie wußte, daß ihre Mutter, die nach der gemessenen Art ihrer Landsleute nichts angriff, was sie nicht durchzuführen gedachte, dieser Werbung nicht einmal Erwähnung getan haben würde, wenn ihr die Annahme des Antrags nicht als etwas Unabweisbares erschienen wäre, über das sie mit einer Tochter, zu jung, um klug zu sein, keine Worte machen werde; und sie wußte auch, daß der Graf von Blois der mächtigste Herr der Touraine war, stark und unbeugsam, wie sein Schloß über der Loire; sein Werbezug würde nicht wie das Geleit eines Ritters auf dem Heimweg von der Jagd sein, für das man sich mit einem Lachen und abgewandtem Haupt bedanken konnte.

Der Schreck fuhr dem Fräulein in die Glieder wie ein Blitz aus dem heitern Himmel ihrer Freiheit, so daß sie von dem brandroten Hengst, der nach dem offenen Burgtor und der Sonne wieherte, wieder herabglitt und von Jagen und Reiten nichts wissen wollte an diesem Tage. Klopfenden Herzens rannte sie vielmehr die breiten, flachgewendelten Stufen des runden Schloßturms hinauf, und erst als sie den Schlüssel zum Turmgemach droben in der Hand hielt, fand ihre Erregung eine Antwort.

»Hier mag er in ritterlicher Weise vor mir erscheinen,« rief sie, »wenn er es vermag«; und die Tür fiel ins Schloß, daß der Mörtel niederrieselte.

Die Mutter hielt Einsamkeit, Nachdenken und Hunger für ihre besten Bundesgenossen und Parlamentäre, und ließ sie.

Als indessen am folgenden Tage der Graf von Blois mit einem adeligen Gefolge von Freunden und Rittern in dem Schloß einzog und das Fräulein noch kein Verlangen gezeigt hatte, ihren befestigten Schlupfwinkel zu verlassen, vermochte die Gräfin von Nevers dem verwunderten Freier nichts Besseres als jenes Wort ihrer Tochter zu bestellen, daß er ihr in dem Turmgemach auf ritterliche Art nahen und seine Werbung anbringen solle. Denn sie wollte selbst mit der Wahrheit in dieser Sache nichts verschütten oder unterbinden und hoffte, daß der Graf von Blois über den kapriziösen Empfang, den ihm seine Braut bereitete, nicht das Ziel seiner Fahrt vergessen werde.

Der Graf besann sich; und da er an Umkehr nicht dachte, solange er noch eine Turmtreppe vor sich sah, ließ er die Pferde in die Stallungen ziehen, seine Gefolgschaft die weiten Flügel des Schlosses belegen, welche für sie bereitstanden, und überdachte die Botschaft, die ihm geworden war. Er begriff leicht, daß er eine keineswegs ritterliche Figur abgeben würde, wenn er droben vor dem verschlossenen Turmgemach stehen und seine Werbung dem Fräulein durch das Schlüsselloch vorbringen müsse; also sann er auf einen Ausweg, der sie zwingen würde, ihm zu öffnen und ihn anzuhören, und wenn das nicht, ihm doch wenigstens einen ritterlichen Rückzug sicherte.

 

Am andern Morgen erschrak die junge Gräfin das zweitemal in ihrem Leben, aber grausamer als das erstemal. Denn hinan zu ihr auf dröhnenden hölzernen Bohlen ritt der Graf von Blois in voller Rüstung die Schräge der Turmtreppe. Über Nacht hatte er die Stufen herausreißen und starke nach der Treppenspindel sich verjüngende Bohlen zwischen diese und die Mauer stemmen lassen, welche die Stiege in eine fortlaufende Rampe verwandelten.

Das Fräulein schrie, als sie die donnernden Huftritte in den Gewölben hallen hörte. Es war genug der Gewalt; und der Graf von Blois fand das Turmgemach offen. Aber in eine Ecke gedrückt, mit allen Zeichen des Entsetzens stand die junge Gräfin von Nevers, und ihre Augen starrten ihn an, daß es ihn seiner Tat graute und er seine Werbung vergaß. Hier, das sah er wohl, hatte er einem Kinde zu nahe getan. Er glitt aus dem Sattel, drückte das Pferd ein wenig zurück und wandte es dann zum langsamen Abstieg. Er, der zur Eroberung eines stolzen Weibes hinaufgeritten war, schlich wie ein Mädchenschänder davon.

Als das Fräulein droben schrie, wehrender und schriller als die Turmschwalben, wenn man in ihr Nest stößt, hob drunten im Schloßhof ein Ritter seine Augen zur Höhe des Gemachs empor, der diesen Schrei in seiner Schrecklichkeit verstand und in seinem Herzen bereit war, eine Lanze für die bedrängte Dame zu brechen, wenn er sie auch nie zuvor gesehn. Er gehörte nicht zu dem prunkhaften Gefolge des Herzogs von Blois, und die Länder der Loire waren ihm eine schöne Fremde. Ein flandrischer Graf war er und Sohn wohl eines jener Roberte von Flandern, die schon Jahrzehnte in wilden Erbzwistigkeiten ihre und ihres Landes Kräfte in Unwürde vergeudeten. Der Taten seines Hauses war dieser junge Ritter satt und schämte sich um ihrer willen ein wenig seines Namens, zu dem er sich erst dann wieder zu bekennen gelobt hatte, wenn Taten andrer Art, als man sie zu jener Zeit von den Grafen von Flandern zu hören gewöhnt war, ihm auch einen anderen Klang gegeben haben würden. Aber es ist wohl sein Geschick gewesen, daß er sich seines Namens schämen sollte bis an sein Ende. Denn dieses erschien der Welt als ein schimpfliches, obwohl nie ein Besserer die goldenen Sporen trug. Und so hat sie seinen Namen, in frommer Absicht und indem sie seinen Wunsch gleichsam verstand und vollstreckte, in den Strom der Vergessenheit versenkt, so daß sein Träger auch dieser Geschichte, deren Held er ist, ein Namenloser sein wird.

Auf der linken Schulter aufgeheftet trug der flandrische Graf das rote Kreuz des heiligen Krieges; denn er war nur zur Rast auf dem Schlosse von Nevers, und sein Ziel war der Hafen von Aigues-Mortes am Mittelmeer, wo er sich mit den französischen Rittern zur Ausfahrt nach dem Land einzuschiffen gedachte, in welchem sein Gott hatte sterben wollen. Er freilich hatte das Kreuz nicht so sehr im Eifer für die Sache des Heilands und sein eigenes Seelenheil genommen, als im Drang und Hang nach ritterlichen Taten; und wenn er etwas von dem Paradies des Jenseits erhoffte, so war es, daß er dort sein gutes Roß wiederfinden würde, ohne das ihm die Glückseligkeit ein unvollkommen Ding schien.

Dieses sein Pferd aber, bei dem er zum Auszug bereit im Hof stand, rieb gerade seine Nase traulich an seiner linken Schulter und dem roten Kreuz, als der Ritter seinen Handschuh ausziehen und dem von seinem Werberitt niedersteigenden Grafen von Blois vor die Füße werfen wollte. Da gemahnte ihn das Pferd an das Kreuz, welches er trug, und er ward inne, daß ihm dieser Weg, Genugtuung für die Ehre einer Dame zu fordern, nicht offenstehe. Denn um jenes Kreuzzugs willen waren Turniere und alle ritterliche Fehde, seit Jahresfrist schon, von dem großen Innocenz in allen christlichen Landen untersagt und aufgehoben, und der Papst Honorius, der ihm nach seinem plötzlichen Tode mitten in den Betreibungen des Zuges gefolgt war, erkannte die Weisheit dieses Verbotes für den heiligen Zweck zu wohl, um ihm nicht mit allen seinen Machtmitteln Geltung zu verschaffen.

So ließ denn der namenlose Graf den von Blois unangefochten, jedoch auch ungegrüßt aus dem Schloß von Nevers ziehen; aber in seinem jungen Herzen bekümmerte ihn das Schicksal des unbekannten Fräuleins, und es schien ihm nicht wohlgetan, davonzureiten. Der Troßknecht saß schon kurzbeinig und marschbereit im Sattel des breitrückigen Packpferdes, auf dem er seinem Herrn folgte; um den Sattelkranz hingen die schweren Stücke der Rüstung, und auf der Faust hielt er den Jagdfalken des Grafen, dem es eine schlechte Rittersitte gedünkt hätte, den adeligen Vogel daheim zu lassen. Nun gebot er dem Buben, alles wieder abzuschirren und abzuzäumen zu längerer Rast.

 

Einige Tage später fand sich die junge Gräfin von Nevers auf dem Wege nach Norden und verließ das Land der Touraine, als ob es ihr niemals lieb gewesen wäre.

Sie gleicht nicht mehr der freien Loire, die ihren Willen behält, und sie verliert sich nicht mehr mit dem Strom zugleich in der blauenden Ferne. Sie hebt ihre Augen nicht mehr zu den blühenden Kastanien der Wälder oder zur Sonne empor und wirft ihren Nacken nicht mehr jauchzend zurück auf dem brandroten Hengst. In sich gebeugt sitzt sie seitlich in dem bequemen Sattel eines weißen Zelters, und ihr Schoß ist ihre Aussicht. Sie läßt es sich gefallen, daß der wiegende Gang des Tieres, Schritt für Schritt, sie einschläfert zu halbem Schlummer und halber Teilnahmlosigkeit. Nicht einmal die Zügel führt sie in den Händen, sondern läßt ihr Pferd an langem Bande leiten von dem schweigenden Grafen ohne Namen, der an ihrer rechten Seite reitet und zu dem sie nicht ein einziges Mal das Haupt wendet; denn das Diadem seines Stolzes und seiner Unbefangenheit ist ihm entrissen.

Hinter den beiden, in gemessenem Abstand, folgt ihrer Herrin auf zweirädrigem Karren eine Wäscherin der Herrschaft von Nevers mit Kleidern und westfälischem Leinenzeug; und sie ist es, die Tränen vergießt, als man den Lauf der Loire verläßt; als ob es in der ganzen Welt keine andern Flüsse gebe, in deren Wasser man Linnen spülen, auf deren Steinen man es klopfen und an deren Ufern man es bleichen könne. Was freut es sie, ihrer Herrin fortab Zofendienste leisten zu dürfen? Was ist ihr die Welt ohne die Loire? Und neben dem Karren reitet der kurze Troßknecht des Grafen und muß vor ihrer Trauer so schweigsam sein wie sein Herr neben der jungen Gräfin, obwohl er diese Pflicht dem hübschen Mädchen gegenüber nicht übernommen hat.

Das Fräulein hatte ihrer Mutter am Abend des Tages, als man sie aus dem Turmgemach willenlos in ihre gewohnten Zimmer geführt, einen Brief geschrieben. Denn sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Stimme, als ob noch etwas von dem Schrecken ihres Schreies darin sein müsse. Sie hatte die alte Gräfin gebeten, ihr einen Ort in einem adeligen Kloster zu bestimmen, fern von Nevers und der Touraine, deren Männer sie ekelten und deren Sprache sie nicht mehr ertragen könne. Die Gräfin, die sich schuldig fühlte, das Herz ihrer Tochter nicht zu kennen, sah ein, daß man sie dahin ziehen lassen müsse, wohin sie dieses Herz nun trieb. Und sie fragte die Tochter, ob ihr ein flandrischer Edelmann, der doch kein Tourangeau sei und schon das Kreuz auf der Schulter trage, auch auf Ritterwort zugesagt habe, nicht unaufgefordert das Wort an sie zu richten, als Begleiter und Schutz auf der Reise nach dem Artois genehm sei, wo ihre Schwester einem Kloster als Äbtissin vorstand und die Nichte wohl aufnehmen werde.

Das Fräulein nickte zur Antwort und hielt es nicht für wert, die Augen aufzuschlagen; der junge Graf aber war froh, ihr diesen kleinen Dienst eines Geleites an Stelle des größeren leisten zu dürfen, den er ihr zugedacht hatte.

So ritten sie langsam dahin, und er ehrte sie, indem er schwieg.

Sie hatten indessen noch kaum die bewaldeten Pässe überstiegen, welche die linienstolzen Berge der Loire in das Hügelland der Champagne hinübersenden, als der Ritter ein wenig über sich erschrak; als ob er dem Versprechen, seine stille Begleiterin nicht zu stören, untreu geworden wäre. Denn er mußte gewahren, daß, wiewohl sein Mund das Schweigen hielt, doch sein Herz mit der jungen Gräfin an seiner Seite zu plaudern begann und sich mit ihr die Zeit vertrieb. Und seine Augen stellten allerlei Fragen an den geneigten Nacken, dessen Schwere der aufrechte Rücken dennoch leicht trug, an die kastanienroten Flechten, die in weichem Geläut an die kleinen Ohren schlugen, und an die langen Linien der Hüften, mit denen der wiegende Schritt des Paßgängers sein gleichförmiges Spiel trieb. Fast schien es ihm nun wie eine Vergünstigung, daß sie ihm nicht antwortete und abgewandt saß. Denn so durfte er sie mit Fragen verstricken, so kühn er wollte, und sie anschauen, solange er mochte: sie würde es ihm mit keinem Blicke wehren. So jung war er, so glücklich jung, daß er sich auf seine Fragen bald selbst die Antwort gab, die ihm gefiel; daß seine Wünsche in vermessene Ferne flogen und trotzdem ihre Erfüllung fanden; daß er sich wie ein Sieger fühlte, weil er nichts überwunden hatte. Und so erhob er die junge Gräfin mit aller Behutsamkeit und allem Vorbedacht zur Dame seines Herzens, die er uneingestanden lieben würde nach Ritterart, und wußte nicht, daß er ihr schon verfallen war nach Mannesart. Hatte er ihnen doch noch nie ins Gesicht gesehen, den unschuldig-schuldigen Kupplerinnen der Liebe, die da heißen Mitleid und Schutz.

Wenn aber der Graf während der Reise von der Dame seines Herzens irgendein Zeichen oder eine deutbare Gunst zu erlangen hoffte, so sah er sich darin getäuscht. Im Dunkel ihrer Trauer und ihrer Schmach ritt sie dahin. Sie wandte kein einziges Mal weder Blick noch Rede an ihn, und wenn er ihr des Abends unter die Augen trat, um sie vom Pferd zu heben, oder des Morgens, um sie in den Sattel zu setzen, so mußte er gewahren, daß sie die Augen geschlossen hielt, solange er sich um sie zu schaffen machte. Als das Ziel ihrer Reise erreicht war, verschwand sie hinter den Mauern des Klosters so still und kühl, wie der Mond hinter einem Berge untergeht.

 

Den Grafen begann das Kreuz auf seiner linken Schulter zu drücken; nur wenige Tage noch, und er mußte ziehen, eiliger als er gewollt, um die nach Cypern in See gehenden Ritterheere des Kreuzzugs in einem der Häfen der Südküste noch zu erreichen. Warum ließ es ihn nicht? warum mußte er die, welche ohne Gruß und ohne Dank von ihm gegangen war, noch einmal wiedersehen?

Täglich betrat er, wenn die Schwestern zur Messe gingen, die Kirche des Klosters; aber wenn er auch durch das den Chor von dem Schiff trennende Gitter die Novizen an der Farbe der Schleier von den Klosterfrauen unterschied, die das Gelübde schon abgelegt hatten, so schienen sie doch jedesmal ihren Platz in der Reihe der knieenden Nonnen zu wechseln, und das gleichmäßige Niederfließen der Schleier über die Nacken verhüllte ihm die Linien desjenigen, den er so wohl kannte. Er gab sich keine Rechenschaft darüber, ob es ein Schmerz oder eine Wonne gewesen wäre, wenn sein Auge sie gefunden hätte, noch was er von ihr erhoffte; er hing an dem Gedanken, nur einmal noch ihrer ansichtig zu werden, wie an dem Gedanken eines Heils, von dem man nicht weiß, worin es besteht.

Als sich der Flügel der Klosterpforte so leise hinter der jungen Gräfin von Nevers schloß, wie das Wasser der See über einem müden Schwimmer, da glaubte auch sie, auf den Grund eines schweigenden wohltätigen Meeres zu versinken, wo sie in gedämpftem Licht und gedämpfter Stille dahinleben werde, wo ihr Herz nicht mehr schlagen und die Erinnerung ausgelöscht sein solle, die noch immer weiter nichts für sie hatte als den Donner von nahenden Hufen, das schreckliche Bild eines geharnischten finsterkühnen Mannes und einen gellenden Schrei. Doch sie hatte sich getäuscht; das Kloster war kein stilles, gläsernes Haus auf grünem Meeresgrund, sondern das Leben der Welt und der Zeit drang durch seine Mauern. Die Äbtissin richtete wohl nach ihrer Art milde Worte an ihre Nichte und willfahrte ihr darin, ihre Heimat und Herkunft vor den neugierigen Nonnen zu verdunkeln; und da die Gräfin in ihrer schönen Bleichheit wie ein Engel in einem überirdischen Licht erschien, gab sie ihr den Namen Angelucia zu tragen wie einen Mantel, der nur sie kleidete. Aber sie sah ihr Kloster nicht für eine Zuflucht, sondern für eine Werkstätte einer großen, geheiligten Tätigkeit an. Das Land hallte wider von den Predigten für den heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, die der Papst auf allen Kanzeln und auf den Märkten der Städte anfachte, und eine Erregung ohnegleichen verklärte die herrschende Not der Zeit, die nach einem großen, alles mit sich reißenden Gedanken schrie.

»Bist du nicht eine Glückliche,« sagte sie zu Angelucia, »daß es dich in solcher Zeit in das Kloster treibt? Denn, sieh, sie ist so groß, daß Christus selbst, um sie zu vergrößern, wieder auf Erden wandelt und denen erscheint, die ihm nachfolgen. Schon hat ihn ein adliger Mann von Assisi erblickt, der so mächtig der göttlichen Rede ist, daß er mit den Blumen des Feldes und den Vögeln des Himmels und allen Gestirnen als seinen Schwestern und Brüdern und mit Gott selbst Zwiesprach halten darf. Eine unbeschreibliche Süßigkeit, sagt er, durchdringt ihn, wenn er Gott schaut, und seine Seele ist voll des Glückes und des Trostes. Wann ward einem lebenden Menschen größeres Heil? Ach,« schloß sie, »wenn du ihn gehört hättest wie ich, da er, der Fremde, im Süden Frankreichs umzog und die Worte unserer Sprache zu glühenden Pfeilen oder zu linderndem Balsam machte, du würdest mir glauben, daß der Heiland zu ihm herniedersteigen muß, ihn solche Rede zu lehren.«

Angelucia küßte dankend ihre Hand. Mit den Blumen des Feldes und den Vögeln des Himmels und allen Gestirnen Zwiesprach halten: es war das erstemal, daß sie daran gemahnt wurde, wie es noch Blumen und Vögel und Gestirne gab, die sie einst so gut kannte, und nicht nur einen Donner, ein grauses Bild und einen Schrei. Wenn sie vermocht hätte, an die Stelle des Bildes ein anderes zu setzen, an die Stelle des Schreies ein sie erfüllendes Wort! Aber noch war ihr Gottes Bild zu fremd und unvorstellbar, und noch war sein Wort nicht ohne Schauder.

Sie unterzog sich den täglichen Verrichtungen des Klosters in einem ergebungsvollen Eifer, entließ die heimwehleidige Zofe in die Touraine, da sie ihre Sprache an ihr früheres Leben erinnerte, und bat sich als Vergünstigung von der Äbtissin schon nach Ablauf einer Woche die erste Nachtwache vor dem Altar der Kirche aus.

Dort kniete Angelucia in dem schmalen Chor; und die Stille der Nacht vermochte nicht jenen Schrei in ihrem Innern zu übertönen, das Bild der Mutter Gottes über dem Altar erstrahlte ihr nicht, um jenes grausige in ihrem Herzen zu verdrängen. Die Einsamkeit der Stunde, die Erschlaffung, welche die ungewohnten Dienste und Übungen ihr in diesen ersten Tagen verursachten, ließen sie um so weniger die Kraft gewinnen, die in ihr von neuem wachsenden Klänge und Bilder zu bannen. Wie in einem letzten Anklammern, bevor sie sich ihnen völlig preisgeben würde, versuchte sie sich die Worte zu wiederholen, welche die Äbtissin zu ihr gesprochen und die wie ein seltsames Mahnen in ihr Herz gefallen waren.

»Mit den Blumen des Feldes und den Vögeln des Himmels und allen Gestirnen Zwiesprach halten, als meinen Geschwistern,« flüsterte sie; »und Gott schauen! – Vielleicht, wenn er mir erschiene, wie dem Edeln von Assisi, daß das Bild jenes andern verschwände.« Und die Sehnsucht erfaßte sie, zu dem schwesterlichen Gestirn des Mondes das Haupt zu erheben. Sie lächelte, als es ihr einen kleinen Schmerz bereitete, den in langen Tagen gebeugten Nacken aufzurichten. Die Kniee wollten ihr versagen, und sie griff nach dem hohen, trennenden Gitter, welches den Chor abschloß, um sich daran emporzuziehen. Dann stand sie, mit halb gesenkten Armen rückwärts die Stäbe fassend, in dem ruhigen silbernen Strom von Licht, das ungebrochen durch farblose Fenster fiel.

Und langsam wendete sie sich, mit den Blicken dem Strahlenstrom in die Tiefe der Kirche zu folgen. Er floß an einem nahen Pfeiler des Schiffes herab. Vor dem Pfeiler aber stand unbeweglich eine jugendlich-männliche Gestalt in weißem Mantel, deren Blick mit sanfter Gewalt auf ihr zu ruhen schien. Sie erschrak nicht; sie vermochte nicht anders, als die Erscheinung anzustarren, die ihr wie die Erfüllung eines Gebets war. Zu göttlich war ihr die vollkommene Ausgeglichenheit der Glieder, um menschlich, zu sein; denn die Gestalt ruhte so ganz in sich selbst, daß sie den Boden kaum zu berühren schien. Und eine unbeschreibliche Süßigkeit durchrieselte Angelucias Leib. Sie fühlte, wie sich diese ruhig-schönen Züge in die sich glättenden Tiefen ihrer Seele prägten und in ihr leben würden bis ans Ende. Da war nichts in diesem Blick, das sie schmerzte; da war kein wildes Herandringen, kein Fordern, kein rohes Antasten ihres Herzens. Unbenennbare Empfindungen schienen von dem Bilde in sie hineinzutreten. Sie breitete die Arme aus; sehnend, seufzend vor Glück. Dann verließen sie die Sinne.

»Veni creator spiritus«, hauchte sie und sank an dem Gitter nieder, an dem die tastende Hand keinen Halt mehr fand.

Und dann, zwischen Wachen und Schlaf, war es ihr, als trete die Gestalt auf sie zu; eine gute Hand streichele die gespannte müde Stirn und erfasse auf Augenblicke die ihre. Wie in einer ganz sanften Abwehr zog sie die Hand, die durch das Gitter gefallen war, zurück.

 

So fanden sie die Schwestern, als sie in der dritten Stunde nach Mitternacht zur Mette kamen und ein spärliches Kerzenlicht den Chor füllte, aus dem der Mond wie ein stiller Beter, der seine Andacht beendet hatte, gewichen war. Sie gedachten, der Äbtissin die Pflichtvergessenheit der Novize, die nicht bei ihrem Heiland zu wachen vermocht hatte, mitleidig zu verschweigen. Als sie die wie aus einem seligen Traum Erwachende an den Händen aufhoben, hätten sie fast einen lose an ihrem Finger sitzenden breiten Ring abgestreift, bei dessen Anblick Angelucia ein solch freudiger Schreck durchzuckte, daß sie die Hand zur Faust ballte und den Ring wie ein Heiligtum geschlossenen Auges an die Lippen führte. Die Inbrunst, mit der sie ihn küßte, ließ die Nonnen in Ehrfurcht vor der Verzückung ihrer Mitschwester starr im Kreise stehen.

»Mein himmlischer Bräutigam war bei mir«, hauchte die Verzückte und sank ohnmächtig in die Arme der sie sanft auffangenden Schwestern.

Zur selben Stunde aber ritt der namenlose Graf über die Grenze des Artois, dem Süden zu, und schaute so froh in die flimmernden Sterne, als käme er aus seiner Liebsten Haus. Das Bild einer jungen, in einem schwermütigen Glück die Arme nach ihm ausbreitenden Frau begleitete ihn wie ein Banner, unter dem er fechten würde und sterben, wenn die Reihe an ihm wäre.

In der Frühe des folgenden Tages überholte er die Wäscherin der jungen Gräfin von Nevers auf der Heimreise. Fröhlich thronte sie in ihrem Karren auf einem Bündel Kleider, die ihre gewesene Herrin an sie weggeschenkt hatte, und schaute nach den Bergen der Loire aus. Als der Graf von Flandern an ihr vorüberritt, hielt er einen Augenblick sein Pferd an und warf ihr einen Goldflorin in den Schoß. Die Zofe deckte das reiche Geschenk lachend mit der Hand.

»Für eine gute Botschaft, die du mir gebracht«, rief der Graf und nickte ihr im Weiterreiten zu. Der kurze Troßknecht aber hinter ihm stellte seufzend seine Betrachtungen darüber an, daß stolze Herren es leichter hätten, zu einem Lachen eines Mädchens zu gelangen, als Buben auf Packpferden, wenn sie auch einen noch so schönen Falken auf der Faust trügen.

 

Die Mauern des Klosters hielten der Wucht des Wunders, das in sie hereinflutete und Menschen und Dinge zu erfüllen schien wie eine schier unerschöpfliche Gnade, nicht stand und barsten schließlich. Ohne daß man etwas dazu tat, verbreitete es sich im Lande, daß eine göttliche Erscheinung vor irdischen sehenden Augen sich gezeigt, und die wunderlüsterne Bevölkerung des Artois bemächtigte sich der Kunde, als ob sie die Sache allein anginge. Von Rhein und Schelde meldete man die Erscheinung dreier wunderbarer Kreuze am Himmel, während man den Kreuzzug am Donnerstag vor Pfingsten predigte und Bewaffnete und Pilger schon den nördlichen Häfen zur Ausfahrt zuströmten. Die Leute des Artois mußten auch ihr Wunder haben.

Und wem es nicht genug war, daß die Nonne Angelucia den himmlischen Bräutigam erblickt haben wollte, dem mußte der fremdartige silberne Ring mit dem göttlichen Gebot seiner Inschrift Beweis sein. Denn in flacherhabener Schrift umlief ein Spruch seine äußere Runde, der allen Seelen geläufig schien, der nichts als die göttliche Fassung der Predigten, Aufrufe und Entflammungen war, welche täglich in einem gewaltigen Rhythmus das Land durchhallten:

»certa contra infideles«.

»Kämpfe gegen die Ungläubigen!« – Der Bischof von Arras verkündete am nächsten Sonntag den kirchlichen Aufruf zum heiligen Kriege mit den Worten des Ringes; die Kirche selbst hatte sie bekräftigt, unantastbar gemacht. Einem kopfwiegenden, bedächtigen Schullehrer aus dem Hennegau, der unter allerhand Vorbehalten zu behaupten wagte, die Aufschrift könne auch eine feine Weisung an den Ring selbst sein, seiner Aufgabe als Kämpfer gegen die Untreue von Gatten und Verlobten eingedenk zu bleiben, und die Worte bedeuteten etwa: »Kämpfe gegen die, welche untreu werden wollen«, warf man Steine nach wie einem Gotteslästerer.

Von der Erregung, die sie umgab, von den Wundern an Rhein und Schelde, von der lasterhaften Verdeutung der Ringaufschrift wußte und bemerkte Angelucia nichts. Sie lebte seit dem Tage der Erscheinung in einer süßen, verschlossenen Glückseligkeit dahin, ganz wie eine wirkliche Braut. Sie erging sich darin, bald das Bild zu betrachten, das der Geliebte in ihr zurückgelassen, bald den Ring ans Herz zu drücken, mit dem er sie sich verbunden hatte. Obgleich das Wunder allen offenbar war, schien sie sich dessen nicht bewußt zu sein und glaubte, es wie ein Liebesgeheimnis bewahren zu können. Sie schämte sich, daß ihr jenes Geständnis von dem Besuch ihres himmlischen Bräutigams im Beisein der Schwestern entschlüpft war und diese den Ring gesehen und betrachtet hatten. Und da sie nicht wußte, daß es die irdische Liebe war, deren Allmacht sie verfallen, daß es ein Mann war von Fleisch und Blut, gegen den sie sehnend ihre Brust gedehnt und ihre Arme ausgestreckt, gab sie sich um so unbefangener an alle die zarten Knospungen und stillen Entfaltungen ihres liebejungen Herzens hin; denn dieses Herz war wie ein froher starker Brombeerstrauch, der, von dem Jäger, dem er seine Dornen zeigte, verwüstet und zertreten, doch sogleich über sich selbst hinweg grüne Blätter und schneeige Blüten rankt, sobald der erste Sonnenstrahl ihn wieder trifft.

So völlig aber war sie, die Jungfräuliche, Einfache, Gesunde, im Bann der neuen Macht, daß sie die Weisung des Ringes, gegen die Ungläubigen den Kampf aufzunehmen, nicht wie eine göttliche Berufung, nicht wie eine Bestimmung ihres ganzen Daseins zu erfassen vermochte, sondern nur als einen Befehl des Geliebten, dem sie willfahren werde, wie jedem Wunsch, jeder Weisung, die er aussprechen würde. Ihm, das fühlte sie, werde sie alles opfern, alles gewähren, alles hingeben; ihm auch jeden ihrer Blicke, jeden Gedanken, jedes Wort bewahren; ihm ihren Leib und ihre Seele unberührt überantworten müssen, wenn er käme, sie zu holen. Aber um dieses Befehls willen die Sache des Kreuzzugs zu der ihren zu machen, das kam ihr nicht in den Sinn; wenn der Geliebte ihr die Weisung erteilte, so war es um des Geliebten willen, in der Hoffnung, in der Erwartung auf ihn, daß sie sie erfüllte. Ihm vertraute sie; er, der Gütige, Freundliche, dessen Hand ihre Stirn geglättet hatte, würde auch nur um ihres Glückes willen ihr einen Befehl erteilt haben, den sie als eine Berufung zu einer großen Sache nie auszuführen die Kraft gehabt hätte.

Anders aber begriff die Äbtissin die Weisung des Ringes. Dünkte ihr schon das Wunder der Erscheinung und das Beschenken mit einem handgreiflichen göttlichen Zeichen groß genug, um den Ruhm ihres kleinen Klosters auf alle Zeit zu sichern, so blickte ihr Ehrgeiz noch nach Höherem, wenn aus der Mitte ihrer Nonnen eine Streiterin für die Sache Gottes hervorgegangen sein würde. Christus, der in leibhaftiger Gestalt eine Nonne zum Kampf für sich berief, würde sie auch zur Gnade des Märtyrertodes in diesem Kampf zulassen, und Angelucia würde die Heilige ihres Klosters werden. Es war an ihr, die befangene, das Glück dieser verborgenen Verkündigung in ihrer Jugend nicht fassende Begnadete auf den heiligen Kampf vorzubereiten und ihr die Wege zu ebnen.

 

Der ziellose Eifer der Zeit, den die Kirche und in ihrem Gefolge eine zerstreute Schar fahrender Kreuzzugsprediger ins Abenteuerliche hochpeitschten, fand nirgends ein Hindernis oder eine Grenze, wenn es die heilige Sache galt. Dieben und Mördern, Frauen und Felduntauglichen gab man das Kreuz der Streiter Christi. Auch Angelucia empfing es von jenem das Land durchziehenden Kardinal de Courçon, der seine Vollmacht auf ein eigenhändiges Schreiben Innocenz III. zurückführte. Die Äbtissin jedoch hegte Bedenken, ihre adlige Nichte den Gefahren und Mißhelligkeiten auszusetzen, die eine Reise nach dem Gelobten Land inmitten dieses mißfarbigen Packs von gedungenem Fußvolk, Pilgern und Verbrechern in sich trug, mit denen zugleich Kurtisanen und schlechte Weiber zu Tausenden sich auf den billigen genuesischen Fahrzeugen einzuschiffen pflegten. Sie suchte sie daher in die Gefolgschaft jener erlesenen Schar von hohen geistlichen Herren und Rittern zu bringen, die auf die Kunde von den Ereignissen vor Damiette dort zu den schon abgegangenen Scharen des Kreuzheeres stoßen sollten. Auch Angelucia gedachte, vor ihrem Geliebten nicht als eine Unedle zu erscheinen; und da es ebensowohl der Sitte der Zeit entsprach, daß sich junge Adlige als Edelknaben in die Dienste vornehmer Bischöfe und Herren begaben, als ihr die Nonnenkleidung für einen Kreuzesstreiter nicht anzustehn schien, so beschaffte sie sich das einfache Wams, den breitkrempigen Lederhelm mit der kleinen ihn krönenden Stahlkappe und die übrige Ausrüstung eines Edelknaben, wie sie in Flandern und dem Artois üblich war. Um der Weisung des Ringes recht nachzukommen, unterstützte die Äbtissin die Verkleidung, der wegen der heiligen Sache nichts Betrügliches anhaften konnte. Das kastanienrote Haar verschwand unter der Wölbung des Helms, der Faltenkranz des Wamses deckte die Hüften, und der gestreckte, flache Schenkel hätte ebensowohl einem Jüngling adeliger Herkunft angehören können. Die goldenen Rittersporen umfaßten noch nicht die schmalen Knöchel, aber ein kurzes breites Schwert rieb den flachen kreisrunden Knauf seines langen Griffes, der jugendlichen Gestalt weit bis zur Wölbung der Rippen hinaufreichend, am Leder des Wamses.

So kam es, daß die Äbtissin dem edeln Pierre de Nemours, Bischof von Paris, der sich mit vielen andern ritterlichen und geistlichen Kreuzfahrern zur Ausfahrt nach Ägypten rüstete, in einem ergebenen Brief für sein Gefolge einen vornehmen jungen Edelknaben aus dem Artois empfahl, dem Christus erschienen sei, um ihm den Kampf gegen die Feinde des Glaubens zu gebieten. Dergestalt dachte sie einerseits nach Möglichkeit bei der Wahrheit zu bleiben, andrerseits Angelucia vor zudringlichen Fragen zu schützen und als Trägerin des wunderbaren Ringes unkenntlich zu machen. Der Bischof, der danach trachtete, mit einem durch Adel und Prunk ausgezeichneten Gefolge im Felde zu erscheinen, sagte der vornehmen Dame zu, er werde ihren Schützling in seine Obhut und Dienste nehmen. Auch ahnte er wohl, da die Kunde von dem Wunder im Artois, wenn auch durch die Entfernung geschwächt, ihm zu Ohren gekommen war, wer sein Edelknabe sei; und zur Unterstützung des heiligen Vorhabens schwieg er klüglich.

Obwohl aber Angelucia alle diese Vorbereitungen zu einer Fahrt, welche sie wie die Annäherung an das Ziel einer Sehnsucht vorempfand, mit Eifer aufnahm und betrieb, so bewegte sie doch zugleich eine geheime Angst, daß nun Getümmel und Seemannsrufe, Kampfgeschrei und Stöhnen, Brand und Blut in das stille heitere Heiligtum ihrer Liebe dringen sollten, in dem sie nach Art der Liebenden mit dem Bilde dessen allein zu sein wünschte, dem alle ihre Sinne gehörten. Rauhe Männerstimmen, ihr verhaßt, würden ihr Befehle erteilen, von ihr Antwort heischen, wilde kriegerische Gesichter in schrecklicher Nähe um sie auftauchen; Glaube und Wut, Eifer und Gier, Rache und Lust sollte sie in einem ungeheuren Chaos der Entfesselung dahinbrausen sehen gleich einem schmutzigen Strom: alles dies würde sie in Berührung mit Menschen und Dingen bringen, die sie, welche in einer Reinheit und einem inneren Stolz ohnegleichen vor ihrem himmlischen Bräutigam zu bestehen hoffte, fast wie eine Befleckung fürchtete.

Im Schwanken ihrer Not ging sie am Abend vor ihrer Abreise in die Kirche des Klosters, dort vor dem Bilde der Jungfrau ein letztes Gebet zu verrichten. Sie hoffte auf kein Zeichen und suchte nicht mehr als einen Trost; aber dennoch betete sie leise in ihrer Einfalt:

»Gib mir ein Zeichen, Jungfrau, du Reine, wie ich die Liebe zu deinem Sohne rein erhalte. Keiner meiner Gedanken soll sich von ihm wenden, dem alle meine Gedanken gehören, keiner meiner Blicke sich in eines Mannes Auge verlieren, bis ich in Liebe oder Tod in seine Arme sinke. – Gib mir ein Zeichen, Jungfrau, du Reine.« –

Aber es blieb still in dem Kirchlein, so daß sie nichts hörte als ihren eigenen Atem. Da schlug sie in hilfloser Hoffnung die Augen zu dem geschnitzten Bilde mit den sanften Farbentönen auf: die Mutter Gottes stand stumm im letzten Schein des Tages und ihre Augen waren zu Boden geschlagen. So sah sie Angelucia lange knieend an; und dann, plötzlich, hielt sie in freudigem Erstaunen den Atem ein Weilchen in geweiteter Brust, erhob sich mit einem stillen glücklichen Lächeln und trug das Zeichen mit sich hinaus.

»Die heilige Jungfrau hat mich bedeutet,« sagte sie am Tage des Abschieds zu der Äbtissin, »das Gelübde des Schweigens und des Wandels mit niedergeschlagenen Augen auf mich zu nehmen, damit ich niemandem Rede stehen und niemandem ins Auge sehen soll, außer meinem Herrn und Bräutigam, Jesus Christus. Wollt mir erlauben, diese Gelübde in Eure frommen Hände abzulegen.« Die Äbtissin nahm ihr die beiden Gelübde ab und küßte sie. »Du wirst Gott schauen,« sagte sie zu Angelucia; »denn, die reines Herzens sind, werden Gott schauen.«

So schied Angelucia stumm und mit gebeugtem Nacken aus dem Kloster im Artois, wie sie in dasselbe eingegangen war. Aber ihre festen Bewegungen und ihr leichter Gang verrieten, daß es selbstgewählte Entsagung war, die sie trug.

 

Es kamen jedoch Zeiten, in denen die übernommenen Gelübde Angelucia drückten. Nicht als ob sie ihr vor den Menschen lästig geworden wären; denn diese waren es gewöhnt, noch weit abenteuerlichere Bußübungen und aus göttlichem oder eigenem Willen auferlegte Leistungen und Entsagungen unbehelligt an sich vorüberziehen zu lassen – und der Bischof selbst warf nicht mehr als einen verstehenden Blick auf die stolze Gestalt seines neuen Edelknaben –, aber vor ihrem eigenen Herzen werden sie ihr manchmal leid. Denn dieses ruft in seiner Liebesfroheit nach der Sonne, zu der sich der Blick nicht erheben darf, und sie muß es mit seinem sanften eigenen inneren Schein stillen; es verlangt nach der weiten Ruhe des nächtlichen Himmels und seiner Gestirne, und sie muß den Blick auf die schwankende schwarze Fläche des nächtlichen Meeres bannen und sich an dem ruhlosen Abbild der Sterne darin genügen lassen. So sitzt sie manche Nacht, während das Schiff die leichten Gewässer der griechischen Meere durchschneidet, und schaut in die vergleitenden Gestirne der Tiefe; und obgleich sie sicherlich nicht den Anblick der Menschen sucht, so betrachtet sie dennoch so manches Mal insgeheim, nur um ein Menschenantlitz zu sehen, ihr eigenes Gesicht in dem flachen Rund des Schwertknaufes, das sich im gleichförmigen Reiben an ihrer Seite in einen glatten metallenen Spiegel verwandelt hat. Dann gewahrt sie wohl, wie in ihren Zügen ein ihr fremdes starkes Leben sein Spiel und Wesen treibt, und senkt den Spiegel mit einem Seufzer.

 

Die Flotte des ritterlichen und geistlichen Nachzugs, welcher dem Hauptheer der Kreuzfahrer folgte, traf in dem Augenblick vor Damiette ein, als man die Einnahme und Zerstörung des gewaltigen Nilturmes, der den Zugang zu Stadt und Fluß von der Seite des Meeres her beherrschte und für uneinnehmbar galt, als ein Wunder Gottes pries und feierte. Mit den heißen trägen Lüften des Nil und seiner Sümpfe wehte Angelucia, während sie die Augen auf den trostlosen Sand des Gestades niedergeschlagen hielt, ein dumpfer glühender Odem des Wunders entgegen. An ihr Ohr hallten die Dankeshymnen der Kreuzfahrer zu dem Gott, der für sie stritt, und sie selbst kniete mit Rittern und Bischöfen, mit dem gesamten Heer und der Masse der Pilger und des Trosses vor dem Kardinal und Legaten des Papstes, der im Feldlager der Christen bald Mut und Eifer für das heilige Unternehmen, bald durch Hinweis auf göttliche Wunder, die schon geschehen, die Hoffnung und Erwartung neuer anfachte.

Mit den andern allen, Führern und Kriegsvolk, begann auch sie sich der Erwartung neuer Wunder hinzugeben. In Untätigkeit, hoffend und murrend, harrten sie alle. Das Feldlager war in Wochen und Monaten nichts mehr als eine Stätte der Tatenlosigkeit und Gebete.

 

Unmutig durchwanderte der Graf von Flandern die langen Straßen des Lagers und betrachtete den Prunk und die Fülle der für die jüngst eingetroffenen geistlichen und ritterlichen Herrn aufgestellten Zelte und Ställe. Er wenigstens hätte lieber für Gott oder eine gute Sache gestritten, als ihn für sich streiten zu lassen. Die Liebe zu seiner Dame trug er im Herzen, und keiner, dem eines Mannes Herz in der Brust schlägt, war noch je ohne den Drang zur Tat mit einer solchen Last darinnen. Ohne darauf haften zu bleiben, spielten seine Blicke über die prächtigen und seltenen Dinge, über Gewänder, Gerät und Waffen dahin, und sein inneres Auge haftete wohl auf anderen Dingen, auf einem kleinen Ohr unter kastanienroten Flechten und auf einem edeln gebeugten Nacken. Aber er mußte stehenbleiben, um sich zu vergewissern, ob es nur der Gedanke in seinem Herzen oder die Wirklichkeit war, was sein Auge eben erfaßte. Denn vor dem Zelte des Bischofs Pierre de Nemours stellte gerade ein Edelknabe ein kostbares Brettspiel auf einen niedrigen Tisch, an dem sich schon der Bischof und der edle Herr Ithier de Thacy zum Spiel bereit gegenübersaßen. Dieser Edelknabe aber trug den nämlichen Nacken auf seinen Schultern, an den der Graf von Flandern gerade in diesem Augenblick dachte. Er erkannte ihn auf den ersten Blick, und die Verkleidung konnte ihm die Dame seiner Liebe, die junge Gräfin von Nevers, nicht verbergen. Da war der Edelknabe auch schon wieder in das Halbdunkel des Zeltes zurückgetreten.

Verflogen war bei diesem Anblick Unmut und Kampfeslust zugleich. Wohl ahnte er und hoffte er; aber ehe er nicht gesehen, daß sie seinen Ring an ihrem Finger trug, durfte er nicht glauben. Er grüßte die Herren vor dem Zelte artig und schaute abseitsstehend scheinbar ihrem Spiel zu. Der Baron de Thacy war dem Bischof von Paris um vieles überlegen und gewann das erste Spiel. Er stand schon das zweite zu gewinnen, als es der Bischof, der eine kleine Schwäche dafür hatte, selbst im Spiel einen überlegenen Geist zeigen zu können, etwas mißmutig aufgab.

»Ihr spielt mir zu klug, wackerer Ithier,« sagte der Bischof, »und seid keine Partie für Leute meines Schlags.«

»Wenns an einem Gegner fehlt, Euer Gnaden,« fiel der Graf von Flandern zögernd ein, indem er hinzutrat, »soviel ich sehe, bin ich im Spiel Euch ebenbürtig.«

Ithier de Thacy erhob sich, und um nicht das Spiel mit einem Ärger zu schließen, setzte der Bischof höflich selbst die Steine von neuem auf, während der flämische Graf den freigewordenen Sitz ihm gegenüber einnahm. Doch so langsam auch der Graf zog, um den Anstand nicht zu verletzen, der Edelknabe trat nicht wieder aus dem Zelt. Der Bischof gewann das Spiel, und da er ihn guter Laune sah, fragte ihn der Graf bescheiden, ob es ihm gefallen würde, morgen wieder eine Partie mit ihm zu machen. Sein Wesen und seine Spielweise behagten dem würdigen Herrn, und er bezeugte sein Gefallen, seinen Gegner am nächsten Tage wiederzusehen.

Als am folgenden Tag der Graf sich zum Spiel einstellte und Angelucia das Brett auflegte, sah er den Ring an ihrer Hand, und die Freude wollte ihn fast übermannen; aber stumm und gesenkten Blicks ging der schöne Edelknabe davon, sobald er seine Pflicht getan, so daß der Ritter nachdenklich und von neuem zweifelhaft wurde.

»Wo habt Ihr den edeln Knaben her, Herr Bischof?« fragte der Graf halblaut und behutsam und begann das Spiel.

Aber der Bischof übersprang die Antwort auf die Frage, wie er eben einen Stein seines Gegners auf dem Brett übersprang. »Ihr seht wohl, daß ihn ein Gelübde bindet«, sagte er nur; und der Graf wagte nicht weiter zu fragen.

So spielten sie manchen Tag, wenn der Schatten des Zeltes groß genug war, daß er sie deckte, und der Graf hatte noch nicht mehr von seiner Dame erfahren, als daß sie seinen Ring trug und sie ein Gelübde band. Jeden Tag aber verlor er seine Spiele, so daß der Bischof sich wohlgelaunt schon für einen Meister hielt.

»Ihr habt da einen schönen Jagdfalken, Herr,« sagte er eines Tages zu dem Grafen; »ich habe ihn heute ohne Haube gesehen, als Euer Knecht ihn ätzte. – Man könnte ihn dem König von Frankreich zum Geschenk machen, so schön ist er!«

Eine feine Freude überflog das Gesicht des Grafen; aber er gab nur eine gleichgültige Antwort über den Vogel und hatte bald das Spiel verloren.

»Ich möchte wohl für das nächste Spiel meinen Jagdfalken verwetten gegen ein gleichwertiges Stück von Euch«, rief er heftig, als die Steine von neuem aufgesetzt wurden. Und seinem Gegner schien er endlich seinen Gleichmut verloren und in Hitze und Eifer zu geraten über sein anhaltendes Mißgeschick.

»Wählt Euch eines«, antwortete gutmütig der Bischof, der seines Sieges sicher war.

»Dann setze ich meinen Falken gegen Euern Edelknaben, Herr Bischof«, sagte der flandrische Graf.

Der Bischof bedachte sich eine kleine Weile; es schien ihm keine Gefahr für seinen Einsatz und der Edelknabe am Ende ebensogut bei dem Grafen als bei ihm untergebracht. Der Falke lockte ihn.

»Ihr werdet nicht viel an ihm haben,« antwortete er; »ja, wenn er so vorzulesen verstände, wie Philipp von Navarra, der Edelknabe des Ritters Chayr! – Was gedenkt Ihr mit ihm anzufangen?« fragte er und tat den ersten Zug.

»Er wird meinen Falken warten«, antwortete der Graf laut und verteidigte sich.

»Das wird er auch bei mir können,« erwiderte ihm lachend der Bischof, »wenn Ihr Euern adeligen Vogel bei mir abliefern müßt.«

Aber der Graf gewann und der Bischof verlor und ahnte nicht, warum er alle die andern Spiele gewonnen und gerade dieses verloren hatte. Er rückte etwas unbequem auf seinem Sitze hin und her und sagte dann:

»Erlaubt Ihr, daß ich ihn, trotzdem ich ihn zu Recht verloren habe, dennoch frage, ob er selbst einwilligt. Euern Dienst mit dem meinen zu vertauschen? denn ich möchte ihm nicht weh tun.«

»Euer Knabe mag bleiben, wo er ist,« rief der Graf, »wenn er nicht freiwillig kommt.« Und er war dem Bischof dankbar, daß dieser selbst ihm zu einem Beweis verhelfen würde, ob ihm die Gegenwart der Gräfin von Nevers im Lager der Kreuzfahrer galt.

Doch sein Herz klopfte zu laut. Er fürchtete, sich und sie zugleich zu verraten, und verließ das Zelt des Bischofs, ohne die stumme Entscheidung seines Edelknaben abzuwarten.

Am Abend jenes Tages sandte der Bischof seinen Edelknaben in einem kleinen Aufzug, wie man ein kostbares Wettgeschenk mit einem Geleite übersendet, um ihm Ehre anzutun, in die Gezelte des Grafen von Flandern. Angelucia hatte auf die Frage des geistlichen Herrn, ob sie fortan einem flämischen Grafen dienen wolle, eine zustimmende Bewegung gemacht, als sei diese Wendung in ihrem Schicksal nur die Erfüllung einer Erwartung. So sehr verlangte es ihr harrendes Herz nach einem Zeichen, daß sie ein Zittern der Freude nicht unterdrücken konnte, als ihr durch die Frage des Bischofs ein solches aus dem kreisenden Strom ihrer Erinnerung aufzutauchen schien; denn mit einem flämischen Grafen, dessen Name sie nicht kümmerte, war sie einst dahingeritten; und es war der Ritt in das Kloster im Artois gewesen, der ihr das Wunder des Ringes und das Wunder in ihrem Innern gebracht. Daran gedachte sie jetzt; es war ihr wie ein Zeichen, dem sie vertrauend folgen durfte.

 

Der kurze Troßknecht hatte um den neuen Edelknaben seines Herren eine schlimme Nacht; denn er machte große Augen, und als er davon anfing, der Edelknabe, dem er sein Zelt habe räumen müssen, habe wohl die gleiche Größe wie die Gräfin von Nevers im Kloster des Artois, fuhr ihm sein Herr an die Kehle, ohne seinen Handschuh auszuziehen, daß ihm weitere Vergleichungen nicht aufstiegen und er die gemachte hinunterschluckte, seinem Herrn zu Gefallen. Aber zwischen Kehle und Herz fühlte er die Wahrheit festgekeilt, daß der neue Edelknabe seines Herren niemand anders sei, als die junge Gräfin von Nevers, wenn ihm auch der Graf dies so kurzerhand abstritt.

Der Graf indessen ließ es sich an seinem neuen Besitz genügen. Wenn die Dame seines Herzens ein Gelübde band, so verehrte er sie in seinem jungen Ritterherzen nur um so mehr, und kein Versuch, einen noch so flüchtigen Blick von ihr zu erhaschen, noch seinen Schutz und seine Fürsorge um sie mit Blicken oder Worten belohnt zu sehn, verkleinerte seine Zurückhaltung. Aber Angelucia fühlte eine kleine Freude, als er ihr, wie ein lebendiges Spielzeug, das ihr Gesellschaft leisten würde, seinen edeln Falken anvertraute. »Ist das ein Stücklein von der Zwiesprach mit den Vögeln des Himmels, die mich erwartet?« so dachte sie und strich den Falken über den schlanken Rücken.

So wuchs von dem Tage, an welchem sie in die Gezelte des flämischen Grafen eingezogen war, ihre Erwartung, und ihre Erwartung begann an ihr zu zehren, wie ein Fieber. Ein Wallen von Erblassen und Erröten, das sie wohl fühlte, verwirrte sie. Sie wartete; wartete auf ihn, den Bräutigam. Und damit er sie fände wie eine Braut, schmückte sie sich jeden Abend, bevor sie zur Ruhe ging, mit einer schwermütigen und doch freudigen Sorgfalt. Rote Blüten stahl sie sich unter den Mauern der Stadt, wo sie die Wasser des Nil emporsprießen ließen. Die wand sie sich ins Haar, wenn sie es abends aus der Wölbung des Helms erlöste, und in den hellen, heißen Nächten betrachtete sie sich forschend in dem kleinen Rund des Schwertknaufs, der ihr Spiegel war.

Aber je länger sie auf ihn wartete, desto höher stieg das Fieber dieser Erwartung. Und dann wieder konnte sie über ihre Sehnsucht und ihre Ungeduld lächeln, die sich einbildete, der Herr werde ihr anders erscheinen als im Augenblicke der höchsten Not.

 

Angelucia bewohnt nicht mehr das flandrische Zelt des kurzen Troßknechtes, sondern ein reiches Zeltgemach eines geflohenen ägyptischen Emirs; und wie sie ist der Graf ohne Namen und andere Edle und Ritter im Besitz eines feindlichen Lagers von unerhörter Pracht, das Gott den Kreuzfahrern geschenkt hat. Ein neues Wunder ist geschehen; die Legaten des Papstes predigen es, die geistlichen Herren beugen sich vor ihm, die Kreuzfahrer glauben es.

Nach der Einnahme des Nilturmes hatte das Kreuzheer keinerlei Fortschritte in der Belagerung von Damiette gemacht. Untätig hielt sich das Ritterheer in seinem Lager auf dem westlichen Ufer des Stromes, und ihm gegenüber lagerten auf dem östlichen Ufer die Sarazenen des Sultans von Kairo, der mit den Emiren der ägyptischen und arabischen Stämme die bedrohte Stadt durch seine bloße Anwesenheit deckte. Auf dem Strom gab es zwar täglich ein zielloses Geplänkel zwischen dreistem deutschem Fußvolk, das auf Flößen oder leichteren Fahrzeugen ohne Führung und auf eigne Faust dem Feind Abbruch tun wollte, und den sarazenischen Bogenschützen; aber der Kern beider Heere wurde von keiner Seite eingesetzt. Wohl erkannte der König Johann von Brienne, der die Ritter trotz des Kardinallegaten Pelagius angemaßter Oberherrschaft führte, daß es galt, jenes Deckungsheer der Sarazenen zu schlagen, ehe man die Stadt, die man als den Schlüssel Ägyptens ansah, durch Hunger zwingen würde. Aber wie sollte er die schwergepanzerten Rosse und Reiter über den Fluß mit den sumpfigen Uferrändern bringen, wenn nicht ein Wunder Gottes ihm half?

Da fanden die Plänkler an einem Morgen das ganze reiche Lager der Sarazenen verlassen, den Sultan geflohen, das Heer ihm nach. Man verband die beiden Nilufer durch eine Schiffsbrücke. Wie zu einer Schau zogen die Ritter zu Pferd und in vollem Harnisch auf den starken Bohlen über den Strom und in das Lager der Feinde, das ihnen Gott bereitet hatte. Der heilige Georg an der Spitze einer Legion weißgeharnischter göttlicher Reiter war im Lager der Sarazenen erschienen und hatte den Sultan, die Emire, das ganze Heer in wildem Schrecken vor dem blendenden Licht ihrer Erscheinung davongejagt. So predigt es der Kardinal des Papstes, so sprechen es die Bischöfe nach, so glauben es die Kreuzfahrer.

Nach dem Wunder aber kam die Not; und Angelucia grüßte sie wie die Ankündigung der Erlösung. Denn das fliehende Heer des Sultans von Kairo stieß auf ein zweites, das seines Bruders, des Sultans von Babylon, welches aus Syrien zum Entsatz Damiettes heranrückte. Vereint zogen sie heran. Die Wüste selbst schien sich gegen die Ritterschar der Kreuzfahrer zu erheben, als die beiden Heere wie zwei undurchdringliche Sandwolken über sie hereinbrachen. Eine furchtbare Umklammerung begann. Den Sarazenen war es gelungen, die Verbindungsbrücke über den Nil, die das Ritterheer mit dem Fußvolk in Fühlung hielt, durch Brander zu zerstören. In der Flanke vom Fluß, in der Front von zwei Heeren, im Rücken von der Besatzung von Damiette bedroht, so bereiteten sich die Streiter Gottes mit ihren Scharen zum Kampf. Es war am Tag der Enthauptung Johannes des Täufers; was Wunder, daß Christenblut floß in Strömen? Und am Abend des Tages ließen die Sultane ihre Boten nach Syrien und Ägypten reiten und bis an die finstern Grenzen der östlichen Welt verkünden: wer Christensklaven braucht, der komme vor Damiette.

Am späten Abend gingen die geistlichen Herren, hohe und niedere, im Lager der Kreuzritter umher; aber es war manch ein Ritter, dem sie zu spät kamen mit einem letzten Trost, und die noch lebten, waren kleinlaut, und nicht viele trauten sich ohne Gottes Hilfe noch etwas zu.

Da kam Pierre de Nemours, der Bischof, vor die Gezelte seines Spielgenossen während untätiger Tage; denn es gelüstete ihn, einen zu sehen, mit dem er über die Dinge reden konnte, wie sie standen, und nicht nur Zuspruch und Trost auszuteilen.

»Gut, daß die Nacht die Heere trennte«, sagte er gedrückt zu dem Grafen, der sich vor seinem Zelte kühlte.

»Die Nacht, Herr Bischof! Die Nacht ist so hell, daß man Entsetzen und Entschlossenheit in jedes Kämpfers Gesicht lesen könnte. Nein; sie haben etwas Furchtbares vor, zu dem sie Atem schöpfen. – Morgen, morgen ists schon heiß, Herr, eh die Sonne aufgeht; des seid gewiß.«

»So kann uns nur ein Wunder Gottes retten,« antwortete Pierre; »anders kommen wir nicht davon!«

Da wandte sich der Graf ohne Namen verächtlich und erwiderungslos weg und betrachtete vor sich hin die Schärfen seines Schwertes im Mondlicht.

Drinnen aber, im reichen Zelt des geflohenen Emirs, das neben dem seinen stand, schmückte sich Angelucia nach ihrer Weise für die Nacht; und die Worte der beiden drangen an ihr Ohr. Sie schloß eine Weile die Augen, um die Ankündigung der Not, aus der nur ein Wunder Gottes würde helfen können, in sich einzusaugen, wie einen süßen, letzten Trank. Nun, wo die Not am höchsten schien, würde er kommen, den sie ersehnte. Vielleicht, daß er sie selbst zu dem Wunder erkor; daß sie gewürdigt sein sollte, vor dem Heere der Kreuzfahrer daherzureiten, waffenlos, und doch bewaffnet von einer überirdischen Macht, die sie die Hände ausbreiten ließ, aus deren Höhlung flammende Strahlen auf die fliehenden Ungläubigen niederschossen; vielleicht auch, daß der Bräutigam sie heimführen würde, heimlich und still, wie eine Selige.

So träumte sie sich in ein Fieber der Erwartung hinein. Ein sternentrunkener Himmel schaute durch ein zur Kühlung weggehobenes Dreieck des Zeltdaches auf sie nieder. Die gütige Helligkeit der Nacht floß über sie mit den Falten des einfachen Gewandes zusammen dahin, in dem sie auf den dunkeln Teppichen der Ruhstatt inmitten des Zeltes lag.

Und es kam ihr die Lust an, ihr Angesicht zum letztenmal zu schauen. Langsam erhob sie den Knauf des Schwertes, das ihr zur Hand lag; und während sie den runden Spiegel zu ihren Augen emporführte, erstarrte ihr die Bewegung des Armes auf halbem Wege. Denn – da – in der metallnen Scheibe stand urplötzlich ein ihr wohlbekanntes Bild in einer silberigen Milde; und es war der Graf von Flandern, der in den Eingang des Zeltes getreten war, um die, welche er liebte, einmal noch von ferne im Schlafe zu sehen, ehe er zu einem Waffengang davonritt, auf dem er unversehens in das Antlitz des Todes blicken würde, aus größerer Nähe als in das ihre.

Angelucia ließ das Schwert mit einer sanften Bewegung ohne Erstaunen sinken. Sie erhob sich nicht; aber sie breitete ihre Arme nach der Gestalt aus, verlangend und gewährend in einem.

»Bist du es, mein Bräutigam?« fragte sie in einem seligen Hauchen, und ihre Stimme war so rein und leicht, als ob diese Worte schon längst in ihr geruht hätten und nun wie ein leises Klingen von ihren Lippen erlöst würden. Die gleiche, unaussprechliche Süßigkeit durchrieselte ihren Leib wie damals, als sie die himmlische Gestalt das erstemal erblickte; dieselbe in sich selbst ruhende edle Ausgeglichenheit der Glieder, die sie, aller Schwere bar, den Boden scheinbar kaum berühren ließ, erfüllte ihr schimmerndes Auge.

»Ich bin es«, sprach er; die Freude verklärte seine Stimme; er war unfähig, den Zauber des Augenblicks durch andre Worte zu zerstören, und wußte, ach, doch nicht, daß es die Worte Eines waren, welcher sie sprach, als man ihn fragte, ob er Gottes Sohn sei. Er beugte sich über sie, nahm ihr Haupt in seine Hände und sah sie lange unverwandt an; war endlich die Stunde gekommen, wo die Gelübde erfüllt waren? wo diese Lippen, diese Augen sich ihm öffneten?

Sie ergriff seine Hände und richtete sich auf; und dann drückte sie zahllose Küsse der Dankbarkeit auf diese Hände, die ihr einst so wohlgetan. Und sie begann, den kaum verhüllten Leib mit Küssen zu bedecken, rückhaltlos, ungestüm, in einem Jubel des Gebens.

Und Küssen der Dankbarkeit folgten Küsse des Glücks; und Küssen des Glücks folgten Küsse der Liebe. Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, sie fühlte ihre Küsse in einer überirdischen Glut erwidert, in der das Leben zu entfliehen schien; zu einem wonnevollen Vergehen, in dem sie alles aufgab wie an den Tod, sank sie mit ihm dahin.

Da entschwand dem Ritter die Welt in der Umarmung der Geliebten, und ihr versank sie in der seinen.

 

Ihr beider Atem ging ruhig durch den Raum, als sich Angelucia halb aus seinem Arm löste und mit einer seltsamen Bedächtigkeit den Ring, den er ihr einst gegeben, an seinen Finger gleiten ließ. Er fühlte, daß es kein harmloses Spiel der Liebe war, und wußte doch nicht nach dem Grund zu fragen, der ihr zu gebieten schien, den Ring von ihrer Hand zu streifen. Aber sein Erstaunen wuchs zu einer Angst. Denn er sah, wie Angelucia sich erhob und auf schwachen Füßen und doch so, als dürfe sie den Erdboden nicht mehr berühren, durch das Zelt ging, den nahe dem Eingang auf seiner Stange angeketteten Jagdfalken herabnahm und ihm, den Vorhang zurückschlagend, mit einem Schwung ihres Armes die Freiheit gab. So stand sie eine Weile und blickte dem Vogel nach, bis er in der dunkeln Glut des Morgens verschwunden war, der von neuem wie ein ungeheurer heißer Groll im Osten aufstieg.

»Was ist das?« fragte der Graf mit einem Schauder, als sie sich ihm wieder zuwandte; »warum läßt du meinen Falken fliegen ? warum gibst du mir den Ring zurück? – Warum gibst du mir den Ring zurück? warum läßt du meinen Falken fliegen?« und seine Stimme erhob sich in angstvoller Erwartung.

»Herr,« sagte sie, als ob sie der Welt nicht mehr gehörte, »spottet meiner nicht! Wenn der Bräutigam kommt, ist es das Ende. – Sie sollen ihn nicht finden, den himmlischen Ring, an meinem Leib, wenn sie ihn begraben – –. Aber der Falke; der Falke ist nicht Euer, Herr; der ist einem Ritter aus Flandern. Ein adeliger Vogel darf nicht in Gefangenschaft geraten. Denn sie werden hereinbrechen in die Reihen der Männer und in die Reihen der Zelte. – Dem Ritter, dem ich diente, bevor Ihr kamt, dem hab ich ausgedient, da ich seinem Falken die Freiheit gebe nach ritterlicher Art.«

»Und wer bin ich, wenn mir der Falke nicht gehört? Wer bin ich?« rief der Ritter und sprang auf die Füße.

Da breitete sie ihre Arme weit aus und erhob ihre Augen zu ihm, wie damals, als sie ihn das erstemal erblickte. Ein Jauchzen ohnegleichen war in ihrer Stimme, und sie sprach:

»Du bist der, von dem gesagt ist: Tod, ich bin dein Tod, und dich, Hölle, werde ich zerreißen. Christus bist du, der mir den Ring gab, damit ich ihm folge. Dank dir, daß du mich heißest, dich zu bekennen.«

Und sie fiel vor ihm nieder in Anbetung.

Da schauderte es den Grafen in einem schwarzen Schauder. Er wich zurück vor dem Haupt zu seinen Füßen, über das sich die Flut der kastanienroten Haarwellen ergoß. Langsam rückwärts schreitend fand er den Ausgang.

Taumelnd, die Hände vor den Augen, jagte es ihn dahin. »Töte sie, Herr, ehe sie wissend wird. Töte sie, ehe sie wissend wird«, stöhnte er; aber der furchtbare Gedanke an sie, die er geliebt, wurde erdrückt von der Last eines weit furchtbareren, der seine Kniee wanken machte, als habe er die Welt auf seinen Schultern zu tragen. Denn obwohl das Spiel zu Ende war, ging er zugrunde an der Rolle, die er darin gespielt. Ein Name zu groß, eine Macht zu gewaltig, um auch nur einem einzigen Menschen gegenüber sich damit zu bekleiden, stiegen vor ihm auf, unerträglich in ihrer Größe.

Er suchte eine Zuflucht, sich zu verbergen vor einem Auge, vor dem er noch nie geflohen; Und es trieb ihn zu seinem Zelt. Aber er vermochte nicht hineinzugehen, denn das Bild des Gekreuzigten hing über dem Eingang. Keuchend wandte er sich nach den Grenzen des Lagers und erreichte den äußeren Rand der Wagenburg und der Palisaden. Er lehnte sich an die Pfähle, das Gesicht der Wüste zugewandt, deren Wind seinen vertrockneten Lippen keine Kühlung brachte. Es würgte ihn etwas am Hals, und als er mit schwerer Hand danach griff, zerriß unter ihr die Kette mit dem goldenen Ritterkreuz, das er trug, weil er für Christus stritt. Er schleuderte es samt der Kette von sich, weit hinaus in den Sand, als sei es der Strick des Henkers, der ihn gewürgt hätte.

Und dann, da er zusammenzusinken drohte, schob er in einer letzten Anstrengung, sich aufrecht zu halten, Arme und Ellbogen rücklings über das schulterhohe Pfahlwerk und gab seine Brust den Winden preis. Aber das Haupt sank ihm herab, die Kniee gaben nach, und er hing am Holz, als ob er gekreuzigt sei.

 

Mit Tagesanbruch schlugen ihn die Sarazenen tot, die gegen das Lager von neuem heranfluteten. Kein Zeichen verkündete ihnen den Ritter, den man um des Lösegeldes willen zum Gefangenen machen konnte, und er erschien ihnen zu erschöpft und elend, um ihn mitzuschleppen. So schlugen sie ihn tot, einen Namenlosen, – aus Barmherzigkeit, damit er nicht verschmachte.

Als der kurze Troßknecht in der Frühe seinen Herrn nicht fand, während schon das Kampfgeschrei der heranstürmenden Sarazenen die Luft erzittern ließ, wagte er am Ende, den Vorhang zu dem Zelte des Emirs emporzuheben. Da lag die junge Gräfin von Nevers entseelt auf ihrer Lagerstatt, und die beiden Hände hielten ein kurzes Schwert unterhalb des Kreuzes umfaßt, auf dessen flachen blanken Knauf ihre starr geöffneten Augen geheftet waren, als suchten sie in diesem Spiegel ein unsichtbares Bild.

 


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