Otto Julius Bierbaum
Zäpfel Kerns Abenteuer
Otto Julius Bierbaum

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Trauriger war er noch nie gewesen, denn eingesperrt zu sein, ist für ein Kasperle die größte Qual. »Und noch dazu mit der unförmigen Nase«, schluchzte Zäpfel. »Wenn sie nur wenigstens nicht so schwer wäre. Aber sie hängt an mir wie ein Gewicht aus Blei. Selbst wenn ich hinaus könnt' – weit käme ich nicht. Und wie soll ich dieses Ungeheuer von einer Nase ernähren? Sie braucht sicher täglich allein zwei Pfund Fleisch und einen Scheffel Kartoffel. Ich bin verloren, ich bin ruiniert!«

Und seine Nase in die Ecke eines Kanapees bohrend, gab sich Zäpfel Kern laut schluchzend seinem Schmerz hin, dabei unaufhörlich zu sich selber sagend: »Ich lüge in meinem Leben nicht mehr! In meinem Leben lüge ich nicht mehr!«

Wie Frau Dschemma in ihrem Herzen fühlte, daß ihr Kasperle ganz aufgeweicht vor Reue war, beschloß sie, es nun genug sein zu lassen mit seiner Strafe. Ging also zu ihm und sprach: »Du willst also wirklich nicht mehr lügen?«

»Nie, nie, nie mehr!« schluchzte Zäpfel.

»Dann wollen wir unsere braven Tauben wieder kommen lassen«, sagte die Fee, »Schneiderinnen haben Scheren.«

»Was? abschneiden sollen sie sie mir?« schrie Zäpfel und versuchte, seine Nase zu schützen, aber er konnte kaum bis zu ihrer Mitte langen: »Nur das nicht!«

Aber Frau Dschemma hatte schon ihr Pfeifchen angesetzt, und wie sie pfiff, waren auch schon die Tauben da.

Zäpfel Kern, vor Angst zitternd, daß ihm die Nase abgeschnitten werden sollte, wollte unters Kanapee kriechen, aber die Nase war ihm im Wege. So mußte er sich darauf beschränken, mit ihr hin und her zu fahren, damit nur ja niemand sie packen könnte. Vergeblich flatterten die Tauben daran herum; es war nicht möglich, der Nase nahe zu kommen.

»Sei doch vernünftig!« mahnte die Fee, »halt still, es geschieht dir nichts!«

»Danke schön!« schrie Kasperle, »auch noch stillhalten! Nein, wer mir zu nahe kommt, wird aufgespießt!«

»Dann müssen dich also meine Soldaten zur Vernunft bringen! Die fürchten sich vor einem Kasperle nicht«, sagte die Fee. Dann rief sie zum Fenster hinaus: »Bataillon marsch!«

Sogleich hörte man Trommeln wirbeln, Trompeten schmettern, und bald kamen laute Schritte die Treppe herauf.

»Bataillon... Halt!« hörte man draußen kommandieren.

Dann ging die Tür auf, und es erschien ein wunderschöner Schnauzel in Generalsuniform. Er salutierte mit dem Degen vor Frau Dschemma und sagte in militärischem Ton: »Mit allen Kerntruppen zur Stelle! Was befiehlt meine Gebieterin? Soll ich die Kanonen auffahren lassen?«

»Nein, mein lieber General Bumbautz, so schlimm ist's nicht«, antwortete die Fee, »es genügt, wenn Sie Ihre zwanzig besten Scharfschützen hier aufstellen. An jede Wand fünf. Sie sollen auf dieses Kasperle hier anlegen, das wieder einmal nicht folgen will. Bleibt es ruhig stehen, ohne die Nase zu bewegen, so ist nichts weiter nötig. Rührt es die Nase aber nur ein klein bißchen, so müssen Sie, so leid es mir tut, Feuer kommandieren und den Ungehorsamen totschießen lassen.«

»Zu Befehl!« sagte General Bumbautz und verließ das Zimmer.

Frau Dschemma aber wandte sich an Zipfel und sprach: »Du hast gehört, was dir bevorsteht, wenn du die Nase nicht stillhältst. Richte dich danach!«

»Gnade! Gnade!« flehte Zäpfel Kern, aber da marschierten schon zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Dackel in Infanterieuniform herein, und General Bumbautz kommandierte mit fürchterlicher Stimme: »In Sektionen zu fünf schwenkt – ab! Erste Sektion an die Fensterwand – marsch! Zweite Sektion an die Türwand – marsch! Dritte Sektion an die Bettwand – marsch! Vierte Sektion an die Schrankwand – marsch! – Ganzes Bataillon kehrt!«

Es klappte alles wundervoll, aber Zäpfel Kern hatte keinen Sinn für diese militärische Exaktheit. Er stand in der Mitte des Zimmers und schlotterte wie ein zusammengeklappter alter Regenschirm, wenn's stürmt.

»Soll ich jetzt laden lassen?« wandte sich der Schnauzel-General an die Fee.

»Tun Sie das, mein lieber General«, antwortete Frau Dschemma.

Und General Bumbautz von Säbelsaus kommandierte: »Bataillon soll chargieren – geladen! Legt – an!«

Es war ein furchtbarer Augenblick. Zwanzig Gewehrläufe richteten sich wie zwanzig Fernrohre des Todes auf Zäpfel Kerns Brust. Der aber hatte kaum noch die Kraft zu wimmern: »Ich... ich... rühre mich... ganz gewiß nicht! Lie... lie... lieber laß ich mir die Nase abschneiden, als mi... mi... mich to... to... totschießen.«

»Dann also, liebe Täubchen mein,
Macht meinem Zäpfel das Näschen klein!«

rief die Fee, und hurtig schwangen sich die Tauben auf Zäpfels Nase, der vor Angst die Augen zumachte, weil er nun jeden Augenblick den ersten Schnitt erwartete. Aber die Tauben wetzten nur sanft ihre Schnäbel an seiner Nase, und bei jedem Schnabelstrich rutschte der Nasenturm zusammen, und ehe man bis fünf zählen konnte, war die Nase so klein wie vor Zäpfels Lügenpetereien. Die Tauben aber flogen geräuschlos zum Fenster hinaus.

Zäpfel aber stand noch immer mit geschlossenen Augen und wartete, daß ihm die Nase abgeschnitten würde. Erst als er das Kommando hörte: »Setzt ab!« wagte er die Augen zu öffnen, und er öffnete sie wahrhaftig ordentlich, als er bemerkte, daß die Tauben sowohl wie seine Nasenerweiterung verschwunden waren. Und so groß war seine Verblüffung, daß er nicht, wie es doch seine Art war, sofort eine freche Bemerkung auf der Zunge hatte. Erst nach einer ziemlichen Weile, während die Soldaten wieder abmarschierten, sagte er: »Hier muß man wohl krumme Beine haben, wenn man Soldat werden will?«

»Du, du«, entgegnete die Fee und drohte mit dem Finger, »ich brauche nur zu rufen, und gleich sind sie wieder da!«

Aber Zäpfel wehrte hastig ab und sprach: »Nur keine Umstände meinetwegen, schöne Frau; ich bin viel lieber mit dir allein. Zumal ich eine Bitte an Sie habe.«

»Warum sagst du denn einmal ›du‹ und einmal ›Sie‹ zu mir, Zäpfel?« fragte die Fee und setzte sich auf einen goldenen Stuhl.

Zäpfel, ohne viele Umstände zu machen, setzte sich ihr auf den Schoß, legte die Arme um ihren Hals, gab ihr einen echten, schallenden Kasperlekuß und sprach: »›Du‹ sage ich, weil du so gut und lieb zu mir bist wie eine Mutter oder Schwester, und ›Sie‹ sage ich, weil Sie so schrecklich reich und vornehm sind.«

»Was ist dir nun lieber an mir: mein Gutsein oder mein Reichsein?«

»Na, aber doch natürlich das Gutsein!«

»Recht geantwortet! Und nun sollst du immer ›du‹ zu mir sagen, und ich will dir wirklich eine Schwester sein.«

»Ja, aber erst muß ich wissen, wer du bist.«

»Ei, so vorsichtig bist du?«

»Na, natürlich! Sonst könnte ja jeder kommen und Zäpfel Kerns Schwester sein wollen.«

»Also gut denn: ich bin eine Fee.«

»Was für Schnee?«

»Eine Fee.«

»Ach nee?«

»Was soll das heißen?!«

»Das soll heißen, daß ich nicht weiß, was für ein Ding das ist.«

»Lerne lesen und lies ›Zäpfel Kerns Abenteuer‹, da steht's drin.«

»Was? Meine Abenteuer sind schon beschrieben, und ich habe noch gar nicht alle erlebt?«

»Nein, aber sie werden auf meinen Befehl zum Vergnügen und zur Belehrung der Kinder geschrieben werden.«

»Krieg' ich Geld dafür?«

»Nein, es ist eine Ehre.«

»Ist das was zum Essen?,«

»Nein.«

»Zum Trinken?«

»Nein.«

»Zum Spielen?«

»Nein.«

»Dann tut's am Ende weh?«

»Nein.«

»Aber man muß vielleicht etwas dafür tun?«

»Ja.«

»Ich danke für die Ehre! Ich habe so schon genug zu tun.«

»Sei nicht frech, Zäpfel!«

»Na ja doch! Ich habe die Ehre nicht bestellt, und nun soll ich mich dafür auch noch plagen.«

»Es ist keine Plage; du mußt dich nur immer der Ehre würdig erweisen.«

»Also meinetwegen dann her mit der Ehre! Aber ein Ananaskügelchen wäre mir lieber nach diesem Nasenabenteuer.«

Frau Dschemma steckte ihm eins in den Mund und fragte: »Ist das deine ganze Bitte?«

»Nein, Schwesterchen, ich möchte dich bitten, mich nun wieder fortzulassen. Ich möchte nach Hause zu meinem guten Meister Zorntiegel.«

»Ach, und ich dachte, wir wollten jetzt immer beisammen bleiben.«

»Geht nicht, Schwesterchen, ich habe ein Geschäft.«

»Was denn?«

»Ich muß meinem Meister das Geld bringen. Der Arme hat so schon viel zu lange auf mich warten müssen.«

»Das ist brav von dir gedacht. Und weil ich das vorausgesehen habe, habe ich deinem Meister meinen Falken als Eilboten geschickt und ihn eingeladen, doch mal herzukommen. Er ist schon auf dem Weg.«

Wie das Zäpfel hörte, sprang er vom Schoß der schönen Frau hinab, warf seinen Hut in die Luft und schrie: »Hurra! Hurra! Nun ist er bald da! Aber nicht wahr, ich darf ihm entgegengehen?« fügte er hinzu.

»Gern lasse ich mein unkluges Brüderlein nicht in den Wald«, antwortete die Fee. »Aber daran hindern will und kann ich dich nicht. Vielleicht bist du doch einmal gescheiter, als du aussiehst.«

»Seh' ich denn so dumm aus?«

»Das kommt auf den Betrachter an.«

Zäpfel Kern bemühte sich, ein äußerst intelligentes Gesicht zu machen, und sagte mit dem Ton eines Professors: »Nun, Leute, über die man ein Buch schreibt, brauchen wohl keine Kritik ihres Gesichtsausdrucks zu fürchten.« Sprach's und ging sehr stolz und selbstbewußt zur Türe hinaus.

Frau Dschemma lächelte.

Von keinem anderen Gedanken erfüllt als dem, seinem guten Meister recht bald um den Hals fallen zu können, setzte sich Zäpfel Kern, sobald er das Schloß verlassen hatte, in Trab und war in wenigen Minuten schon bei der großen Eiche.

Wie er die sah, fühlte er sich unwillkürlich an den Hals und murmelte:

»Zappel, zippel, zappel, zum,
Links herum und rechts herum.

Hoffentlich kommt das Zappelabenteuer nicht in meine Lebensgeschichte«, fügte er hinzu, »Kinder müssen nicht alles wissen.«

Wie er so zu sich selber sprach, war's ihm, als ob etwas im Gebüsch raschelte. Er guckte hin und erblickte – wen? Baron Alopex und Madame Miaula.

»Welche Überraschung?!?« rief der Fuchs.

»Welche angenehme Überraschung«, flüsterte die Katze.

Und beide vereinten ihre holden Stimmen in der Frage: »Wie kommen denn Sie hierher, Herr Zäpfel Kern?«

»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete der, »und ich habe jetzt keine Zeit, sie zu erzählen.«

Aber beide baten so angelegentlich, daß er, um nicht unhöflich zu erscheinen, zu erzählen begann:

»Denken Sie sich, ich bin Räubern in die Hände gefallen.«

»Räubern?« sagte der Fuchs im höchsten Erstaunen.

»Gibt es denn das?« fragte höchst unschuldig die Katze.

»Allerdings«, antwortete Zäpfel Kern, »sie hatten es auf mein Vermögen abgesehen.«

»Diese Schurken!« rief der Fuchs.

»Sollte man es für möglich halten!« schrie die Katze.

Zäpfel Kern aber fuhr fort: »Um nur die Hauptsache zu erwähnen: Hier, an dieser Stelle, haben sie mich aufgehängt wie einen Überzieher, aber nicht am Henkel, sondern am Hals.«

»Mir steht der Verstand still!« sagte der Fuchs. »Was ist das für eine Welt! Was sind das für Zeiten! Für unsereins, die wir ehrlich und friedlich dahinleben, immer nur bedacht, Gutes zu tun, sind solche Ereignisse schmerzlicher als alle Krankheiten des Leibes.«

In diesem Augenblick bemerkte Zäpfel Kern, daß die Katze ihr rechtes Vorderbein verbunden trug, und er fragte teilnahmsvoll: »Ist Ihnen etwas zugestoßen, Madame Miaula?«

Die Gräfin auf und zu Dachhausen wollte etwas antworten, fand aber nicht sogleich das rechte Wort, weshalb an ihrer Stelle der rote Baron antwortete: »Meiner alten Freundin ist es peinlich, Sie aufzuklären. Bescheiden wie sie ist, möchte sie Ihnen nicht sagen, auf welche Weise sie ihre rechte Vorderpfote verloren hat. Sie hat sie nämlich nicht eigentlich verloren, sondern verschenkt.«

»Was, ihre Pfote?«

»Ja«, fuhr der Fuchs fort, »es klingt unwahrscheinlich, ist aber nichts als die lauterste Wahrheit.«

»Ach, bitte, mach doch kein solches Wesen um die Kleinigkeit!« fiel Madame Miaula ein.

»Nein: Ehre wem Ehre gebührt!« entgegnete der Fuchs. »Unser Freund soll sehen, daß es auch noch Opfermut auf Erden gibt! Doch ich will kurz und schlicht sein und keine großen Worte machen. Also denn: Madame Miaula ist nicht imstande, an einem Bettler vorüberzugehen, ohne ihm ein Almosen zu spenden, und so war sie heute früh in großer Verlegenheit, als wir einem hungrigen Wolf begegneten, der erklärte, seit drei Tagen keinen Löffel Suppe, geschweige denn Fleisch, gegessen zu haben. Denn, leider, sie hatte, ebenso wie ich, nichts Eßbares oder gar Geld bei sich...«

»Und da hat sie...?!« fragte verwundert das Kasperle.

»Ja, mein Freund, da hat sie sich selbst die rechte Pfote abgebissen, um damit den Hunger des armen und elenden, aber offenbar würdigen Wolfes zu stillen.«

Zäpfel Kern, hingerissen von so viel Nächstenliebe, beugte sich hinab und küßte ehrerbietig die nicht mehr vorhandene Pfote der edlen Dame und sprach: »Wenn alle Katzen so dächten, wäre es ein Vergnügen, als Maus auf die Welt zu kommen.«

Madame Miaula aber, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, fragte. »Und nun sind Sie gewiß auf dem Wege nach dem Schlaraffenland?«

»Vorausgesetzt, daß jene Schurken Ihnen nicht wirklich Ihr Geld abgenommen haben«, fügte lauernd der Fuchs hinzu.

Zäpfel Kern aber antwortete. »Drei Goldstücke hat mir ein nicht minder großer Räuber abgenommen, der Wirt des Lokals ›Zum gespickten Heupferd‹, aber zwei habe ich noch, und diese werde ich, so Gott will, meinem guten Meister überreichen.«

»Lumpige 40 Mark?« meinte der Fuchs.

»Das lohnt doch nicht der Mühe«, lispelte die Katze.

Und der Fuchs setzte hinzu: »Wo Sie jetzt so nahe am Schlaraffenland sind!«

»Vielleicht gehe ich morgen mit meinem Meister hin«, erklärte Zäpfel Kern.

»Morgen wird es leider keinen Zweck mehr haben«, sagte Baron Alopex.

»Wieso?« fragte Zäpfel Kern.

»Weil von morgen ab Baron Rothschild das mit guten Vorsätzen gedüngte Feld gepachtet hat.«

»Wie schade!« meinte Zäpfel Kern.

»Allerdings!« sagte der Fuchs. Es sind aber nur kümmerliche zwei Kilometer bis an die Grenze. In einer halben Stunde können wir dort sein, wenn wir uns gleich auf den Weg machen. Und in einer weiteren halben Stunde haben Sie fünfzigtausend Mark.«

Die zwei Worte »fünfzigtausend Mark« genügten, um unserem Kasperle seinen Holzkopf wieder vollständig zu verdrehen. Er tat alle Gegenerwägungen beiseite und sagte kurz: »Also gut! Gehen wir! Aber schnell!«

Und sie gingen.


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