Otto Julius Bierbaum
Blätter aus Fiesole
Otto Julius Bierbaum

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III.

(Anfang Januar 1908.)

Es gibt keine Gerechtigkeit. Meine gute Mutter in Berlin und die Pasinger Freunde berichten von krachender Kälte, Nebel und Sturm, und hier verschwendet sich die Sonne, ist es klar und warm. – Man konnte also wohl zufrieden sein. Indessen: »man« ist es nicht. Weil man sehr unbescheiden und ein Nörgler ist. – Ein Nörgler? Wirklich? . . .

Als ich noch sehr jung war, frisch in die Freiheit entlassen aus dem Grammatikkäfig des Gymnasiums, erhielt ich zum Geschenke einen Operngucker, der sehr niedlich aussah, aber infam schlecht war. Seine Kraft, zu vergrößern und nahe zu rücken, war lächerlich klein, und er versammelte kein helles, scharfes Licht auf die Dinge, die man durch ihn betrachtete, sondern umgab sie mit einem farbigen Rande. Eine Unart das von einem Fernglase. Aber gerade sie gefiel mir, denn sie entsprach meinem damaligen Auge, das gar kein Verlangen hatte, die Dinge besonders nahe, groß, hell, scharf zu sehen, und selber die Kunst besaß, einen schmeichlerischen Regenbogenrahmen um die Realität zu legen.

Wie manches andere, das positiv nicht viel taugte, aber sehr gut zu meiner schwärmerischen Jugend paßte und mir viel Vergnügen gemacht hat, habe ich auch diesen angenehm miserablen Operngucker verloren. (Vielleicht auch versetzt und nicht eingelöst, oder es hat ihn mir jemand gestohlen. Gleichviel.) Ich bin nicht weiter traurig deswegen. Mein Zeiß-Doppelfeldstecher ist unendlich viel besser. (Heute sah ich damit einen Bauern, der gut 500 Meter von mir entfernt war, seinen Olivengarten ohne Anwendung irgendwelcher fremder Produkte auf jene uralt primitive und höchst persönliche Weise düngen, die schon Adam im Paradiese angewandt hat.) Aber alles hat seine zwei Seiten, und auch das höchst Mangelhafte besitzt Reize. Der Zeiß-Doppelfeldstecher kennt keine bunten Ränder. Er ist mit Recht stolz darauf, und ich selber ziehe heute Schärfe und Helligkeit vor. Aber das exakte, scharfe, klare Sehen, das Sehen ohne bunten Flimmerrahmen ist keineswegs immer vergnüglich.

So würde ich z. B., wenn ich heute zwanzig Jahre jünger wäre, Florenz genau so sehen, wie es sich ein dreiundzwanzigjähriger Student in Leipzig einbildet, dem schon das Wort Florenz wie eine wunderbare Südfrucht ist. Mein Jugendoperngucker, die jugendlich schwärmerische Art, ersehnte Dinge so zu sehen, wie sie in der Sehnsucht aussahen, würde einen bunten Rand darum, ja, einen flimmernden bunten Schleier darüberlegen. Auch in der Nähe wäre mir Fiorenza, was sie heute nur noch aus der Entfernung ist: eine ungeheure Blüte, ein reinem Lotoskelch, rosagelblich leuchtend, edel in allen Linien – die Stadt der Blumen selber eine Blume ehrwürdig holder Schönheit. Ich würde es sehen, wie es vor etwa zehn, zwölf Jahren Rainer Maria Rilke sah, als er mir darüber schrieb: mit weißer Farbe auf hellblauem Papier. Aber ich fürchte: selbst R. M. R. würde es heute nicht mehr so sehen. Denn ich glaube. nicht bloß der Verlust meiner bunträndrigen und schwärmerischen Optik ist daran schuld, daß mir Florenz in der Nähe gar nicht mehr gefällt.

Traurig, aber wahr: Das alte, edle herrliche Florenz ist in die Hände von Barbaren geraten, die mit scheußlicher Konsequenz erfolgreich am Werke sind, es zu verschandeln. Die Liga, die sich zu seiner Verteidigung gegründet hat, scheint machtlos zu sein, es zu verhindern, daß die Geburtsstadt der italienischen Malerei, die Vaterstadt Dantes und Michel Angelos, ästhetisch verwüstet wird. Sie vermag nichts wider den »Zeitgeist«, der unter der Fahne des »progresso« über alles Schöne wegtrampelt, von allem Vornehmen fortschreitet in eine erbärmliche, häßliche Gewöhnlichkeit.

Daß man wüst eingerissen hat, ohne es zu verstehen, dafür auch nur anständig aufzubauen, davon soll nicht einmal die Rede sein. Die »modernen« Paläste von Florenz hat Thomas Theodor Heine in seiner Weise höchst treffend durch eine Frage gekennzeichnet, die er an Hartleben richtete, als er mit ihm an einigen dieser Machwerke vorbeikam: »Nicht wahr, Herr Hartleben: das hier sind künstliche Paläste?« (Gestern sah ich unweit der Porta romana einen Neubau, der aufs gräßlichste an die Baugreuel der achtziger Jahre in Deutschland erinnerte. Selbst beim Villenbau, für den hier Tausende klassischer Muster vorhanden sind, beginnt eine Art Perversität des Geschmacks einzureißen. Schon kann man spitze Giebel und Holzfachwerk wie bei Schweizerhäusern sehen. Die Signori, die derartigen Unfug treiben, wollen damit offenbar sagen: »Seht, was wir alles auf unseren Reisen gesehen haben, ihr elenden Popolanen, die ihr nie über Toskana hinausgekommen seid!« Doch hat das Volk, wie es scheint, den alten etruskischen Instinkt für Baukunst noch nicht verloren. Mein Vetturino sagte angesichts einer dieser Villen: »Was für ein häßlicher Vogelbauer!«) Die Nachkommen des gewaltigen Baumeistervolkes der Etrusker sind offenbar einem ausgesogenen Boden zu vergleichen, der früher so ungeheuer viel hervorgebracht hat, daß er nun kümmerlich, wenn nicht steril geworden ist. Man muß sich damit abfinden. Aber scheußlich ist es, daß die maßgebenden Leute in Florenz nicht einmal Respekt vor den gewaltigen Leistungen ihrer Vorfahren und keinen Sinn für die Schönheit, den ästhetischen Charakter ihrer Stadt haben. Augenblicklich sind sie dabei, die ganze Stadt, auch die innere, mit einem Netz von Trambahnlinien zu bedecken, deren Drahtwerk in der Luft alle architektonischen Linien zerfetzt. Ruskin hielt sich darüber auf, daß vor dem Tore des Campanile die Haltestelle der Droschken und Omnibusse war, so daß man »unmöglich einen Augenblick in dessen Nähe stehen konnte, um die Skulpturen anzusehen«. Was würde er heute sagen, wenn an derselben Stelle die meisten Trambahnlinien ihren Ausgangspunkt haben. Der ganze Dom ist wie eingeschnürt von Gleisen und Drähten, und der scheußliche Lärm, mit dem hier die Trambahnwagen verkehren, dringt bis ins Innere der herrlichen Kirche. Und, wie beim Dom, so bei Santissima Annunziata, San Marco, Santa Maria Novella. In den engen, alten Straßen ist kaum mehr Platz, sich vor den häßlichen, schlecht gehaltenen und unsinnig schnell und lärmhaft, mit fortwährendem Geklingel und einem abscheulichen Gekreisch an den Biegungen, vorbeirasenden Fahrkästen zu retten. Da der Italiäner den Lärm liebt, so scheint ihm auch dieser Spektakel Spaß zu machen. Auch die vielen Unglücksfälle trüben seine Freude an dem neuen Spielzeug des »progresso« offenbar nicht wesentlich. Aber, da in Florenz keine Industrie annähernd die Bedeutung hat, wie das Geschäft mit den Fremden, die Fremdenindustrie, so wird die Freude vermutlich doch bald etwas abnehmen, denn schon mehren sich die Zeichen dafür, daß es den Forestieri nicht mehr recht gefällt in der modern geschändeten Arnostadt. Schon ziehen sich nicht wenige der angebeteten Inglesi (denen man, wie vieles andere, so auch dies nachgemacht hat) nach dem ruhigeren Siena und Perugia zurück. Ein old florentine schrieb kürzlich an den Florence Herald die folgenden Zeilen:

Twenty years ago, Florence was delightful; delightful, because unspoilt. It was a quiet, beautiful, picturesque city, where foreigners came for tranquil study, enjoyment of art, and association with artistic and intellectual people. What is it at present? A noisy, bustling, crowded place, invaded by illmanaged and unnecessary trams, ablaze with cinematographs, bereft of intellectual life, aping the worst styles of modern architecture, crammed full of drinking-shops, and presenting all the symptoms of being on the downgrade which leads to utter philistinism and vulgarity. From what I gather, you appear to be leading a movement the object of which is to attract visitors whose greatest pleasure is found in music halls, casinos and circuses. Let such people go to Margate! In Florence we care for something better. The place is terribly vulgarized already.

Der Kinematographenunfug in Florenz ist wirklich abscheulich, denn er geht mit einem greulichen Mißbrauch von Grammophonen einher, die ganze Stadtviertel mit ihrem blechheiseren Gegröle erfüllen. Eine Folge der Kinematographenmanie scheint es auch zu sein, daß das Florentiner Theaterleben schändlich verdürftigt ist, – in dem Grade, daß schon auswärtige italienische Zeitungen sich darüber aufhalten. Die Stadt, für die es ehedem ein Ereignis war, wenn Cimabue eine neue Madonna gemalt hatte, scheint sich nur noch für die Filmsrollen zu interessieren, die Pariser Amüsements und Londoner Moritaten, gestellt von Varietékomödianten, abhaspeln. Die Italiäner, die so lange das Höchste in der Kunst geleistet haben, sind offenbar völlig kunstmüde und schätzen nur noch die »Wunder der Mechanik«. Ihre krankhafte Vorliebe für die Schauspiele der lebenden Photographie hängt vielleicht auch damit zusammen, daß sie wenig reisen und nun fremde Länder in einer Art lebendiger Abbilder nahegerückt erhalten. Doch interessieren sie sich mehr noch für die gewissen Romane, Dramolets, Feerien, die diese vervollkommnete Laterna magica ihnen vorführt: Erfindungen stummer Dichter von meist recht populärer Phantasie, nicht unähnlich der, die sich in den Hintertreppenromanen austobt, mit denen sich unsere Dienstmädchen um einen Teil ihrer Nachtruhe bringen. In ihnen findet er seine geliebte Pantomime wieder, und es fehlt auch nicht die melodramatische Musik dazu. Da wird geliebt, betrogen, gemordet, daß es eine Art hat. Aber, ach, alles ist so schauderhaft schlecht natürlich, so kunstverlassen »wahr«, es fehlt nicht nur das Wort, es fehlt auch der Geist, und wäre es gleich der Geist eines schlechten Dichters. Auch begreift man nicht, wie dieses sinnliche Volk, das sich so leidenschaftlich gerne vom großen Klang einer lebendigen Stimme, von den sprechenden Blicken eines schönen Auges, von den Bewegungen, Gesten, Posen der Schauspieler hinreißen läßt, sein Genüge an diesen gespensterhaften Totentänzen des Lebens auf der weißen, kalten, öden Leinwand finden kann. Vielleicht liegt gerade darin ein Reiz, und vielleicht ist die Phantasie dieser Menschen so groß, daß sie es vermag, diese Schatten mit Blut zu erfüllen. Auch soll (und braucht) nicht verschwiegen zu werden, daß die Kunst der Dunkelkammer Möglichkeiten besitzt, im Leben Unmögliches wie mit einer wunderbaren Kraft vorzutäuschen (und darin liegen, wie H. H. Ewers mit Recht zum Lobe der Kinematographie vorgebracht hat, Perspektiven in ein neues, weites und reiches Land phantastischer Augenweide), aber hier, in Italien, spürt man von diesem Besten, das die abrollenden Films zu bieten vermögen, so gut wie nichts. Die an allen Ecken und Enden von Florenz etablierten Kinematographen bieten nichts weiter als Surrogate für theatralische Kunst. Und so sind sie ein böses Zeichen für den Geschmacksverfall dieses Volkes, dessen Vorfahren im Schaffen und Genießen lebendiger Kunstwerke einen so starken, edlen, reichen Geschmack bewährt haben, daß unsere Bewunderung für sie zur Ehrfurcht wird.

Es gibt auch alte Florentiner nicht englischer Abkunft, die empört darüber sind, wie frevelhaft gefühllos in Florenz gegen den alten Charakter der Stadt gesündigt wird. Es bleibt ihnen nichts übrig, als auf ihre Villen hinauszufliehen, wo die alte unvergleichliche Schönheit einer entzückenden, durch Kunst noch gehobenen Natur ruhig weiterlebt.

Welch ein Kunstwerk sind die Hügel von Fiesole mit ihren Villen, Gärten, Terrassen, Mauern. Das Wort wunderbar, das wir so oft eitel nennen, stellt sich hier mit seinem ganzen Sinne ein.

Aber man muß sich, die einzige Schönheit dieses Freiluftkunstwerks größten Stiles zu genießen, nicht damit begnügen, die Trambahn zu nehmen und zur Piazza di Mino in Fiesole hinaufzufahren. Und man muß auch nicht meinen, Fiesole sei bloß ein besonders schöner Aussichtspunkt auf Florenz, so daß man etwa seiner Touristenpflicht genügt hätte, wenn man zu den Franziskanern hinaufgestiegen ist, von wo aus man in der Tat einen herrlichen Blick auf die Stadt und das Arnotal genießt. Oder ein Besuch des römischen Theaters sei das Wichtigste. Oder man müsse die Kathedrale gesehen haben. Oder das malerische und (»Gott, wie dreckig!«) höchst interessante »echt italienische« Winkelwerk der Via dei caldani bestaunen (voll Dankbarkeit im Herzen, daß »so was in Deutschland denn doch unmöglich ist«). Selbst die Fahrt über Castel di Poggio und Castel Vingiliato nach Settignano und so nach Florenz zurück, durch die sich der Wissende vor den Unerfahrenen auszeichnet, die einfach (und billiger) wieder mit der Trambahn zum Domplatz zurückkehren, genügt nicht. Sie zeigt viel Schönes, aber nicht das Schöne, das aus der ganzen Welt nur Fiesole zu zeigen hat: die Komposition diesem Hügelgemeinde aus Villen und Gärten, Terrassen und Mauern, Frucht- und Blumenfeldern, Olivenanpflanzungen und Gehölzen. Will man eine Ahnung davon gewinnen, so muß man entweder vom höchsten Stadtteile Borg'unto aus, oder hinterwärts der Kathedrale den Weg überm Mugnone zurückgehen und dann, abseits von der Trambahnstraße, den alten Fahrweg zwischen den großen unteren Villengartenmauern bis nach Florenz verfolgen. Wer dies getan hat, unterläßt es gewiß, am nächsten Tage im häßlichen Gekreische von Florenz herumzusteigen. Er hat den Zauber der wunderbarsten etruskischen Kunst gespürt: aus einem Stück Natur ein Stück lebendigster Kunst zu machen, die Natur dem Menschen nicht bloß materiell, sondern ästhetisch zu unterwerfen: die Natur zum Gedichte zu bewältigen, ohne ihr Zwang anzutun. Und er wird zurückkehren, sich näher in dieser nicht verkünstelten, sondern zur Kunst sublimierten Natur umzusehen.


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