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Denn es hat über Herrn und Knecht
Die Torheit immer ein gleiches Recht.
Doch steckt hinter diesem Schönbart
Ein Gesicht von ganz andrer Art,
Das, würdet ihr es recht erkennen,
Ihr wohl dürftet die Liebe nennen:
Denn die Liebe und die Torheit
Sind Zwillingsgeschwister von alter Zeit.

Götz IV 18.

 

 

Kleider machen Charaktere. Der eine gibt seiner unruhigen Seele durch die gewählte und gepflegte Tracht, die seinen Körper gleichsam bestätigt, den schauspielenden Schein von Ruhe. Der andere entflammt seine Alltäglichkeit durch eine Maskerade zur Leidenschaft, zur ekstatischen Unruhe, zur hinreißenden Philosophie des bewußten Augenblicks. Beide wissen, daß sie spielen, aber sie wissen auch, daß die Illusion in guten Stunden stärkere Kräfte besitzt als die Wahrheit, und daß der Genuß des Scheins weitläufiger ist als der der Wirklichkeit. Wir können den Schein schaffen, die Wahrheit nicht. Wir können immer schauspielern, nicht immer ehrlich sein. Immer? Es ist eine Gabe, wie jede andere Kunst. Die Romanen besitzen sie ausnahmslos, die Nordländer nur strichweise. Nur wer die karnevalistische Ader hat, kann die Wirklichkeit dieser schönen Lüge ungestraft genießen, gestalten, wiederholen. Er besitzt eine Feder in sich, die er nur aufzuschnellen braucht, um die Künste der Maske zu wünschen und zu vertragen. Der unmaskierte Tänzer fühlt durch das gute Kleid sich selbst stärker – vielleicht die schönste Lüge gegen das Leben. Der maskierte fühlt durch das fremde Kleid sich als einen anderen – sicherlich von den schönen Lügen die bunteste. Aber es bleibt eine Fratze zurück, wenn die Maske über den maskenunfähigen Menschen geworfen wird: eine Lüge gegen die Lüge, die der Sünden größte ist. In einem nordischen Zimmer, ein Nachdenker, ein armer Historiker und Ästhetiker schreibe ich diese Apologie der Maske, die meinem Körper fern geblieben ist, und berausche mich an den Flügelschlägen karnevalistischer Lust und Lüge, die aus weiten Zeiten und Ländern heraufklingen, ein starker sinnlicher Ton, ein heißer Schrei des Selbstvergessens, das in Schmerz und Freude des Menschen letzte Gnade ist.

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Wir spielen in der Maske Theater und erlösen uns von dem heimlichen Theater des Lebens. Das Eingestandene befreit uns von dem Uneingestandenen. Wenn uns am Tage ein närrisches Rittertum in den Gliedern steckt und lächerlicher Ehrgeiz, am Abend dürfen wir Narren der Ehre und der Ritterlichkeit sein. Wenn wir uns am Tage des wahnsinnigen Königs in uns schämen, am Abend darf uns niemand den Lear verargen. Am Tage schweigen sie, am Abend sagen sich König Marke und Tristan die Wahrheit in der Lüge. Don Juan und der Komthur, Figaro und der Page, die Kameliendame und die Carmen steigen aus uns heraus, um hinter der Maske auf wenige Stunden ihrer Verzauberung zu entgehen. Schwarze genußfrohe, heimlich verstehende Augen, der Mund, der im Lächeln die Zähne zeigt, das Haar, das dem Knoten entfließen will, der biegsame, hüftenweiche Körper, endlich darf er die entstellende Tracht des Alltages von sich werfen und hineingleiten, sich strecken in den fließenden, den tiefgegürteten Gewändern des Orients, die sein Wesen enthüllen, indem sie es verkleiden. Was von japanischer Zierlichkeit in dem Fräulein versteckt war, das wie eine fremde Prinzessin in das Kleid der zivilen Tochter verurteilt wurde, das wird am Abend frei und wahr, und der Bann ist gebrochen. Und was an Galanterie und Gefälligkeit verborgen war in unseren arbeitenden Gedanken, in unserem Kampfe um die Ruhe, in unserem ernsten Handeln und Sagen und Schreiben, das löst nun ohne Scham und Schande das Kostüm des Casanova aus, und Seidenstrümpfe, Escarpins, Ärmelspitzen und Puderperücke machen uns abenteuerlich, gelenkig, frivol, unsere Sinne schweben, unsere Finger jonglieren, unsere Gefühle musizieren, – was ist Welt und Weltenglück? Der Narrheit süßer Augenblick.

Die festlichen Triebe der Maskerade sind eine uralte Selbstverständlichkeit. Das Zivilkleid genießt sich auch für sich allein, die Maske – wenn ihre Narrheit nicht Wahnsinn wird – besteht nur in der Gesellschaft und ruft nach Vervielfältigung. Sich gegenseitig ausspielen oder sich zeigen – aber jedenfalls gesehen werden, das ist ihr Wesen. Erst dann zündet der schauspielerische Funke, setzt sich das selbstgewollte Drama der maskierten Wahrheit und wahrhaften Narrheit in Bewegung. Solange es den Spieltrieb gibt, gibt es die Maske, und solange die Maske herrscht, gibt es das Fest der Verkleidung in allen rhythmischen Formen. Das Gesellige reizt zum Rhythmus, weil es selbst in rhythmischer Bedeutung mitten im Leben steht, und die Maske ist das Wahrzeichen unbedingter Geselligkeit. Von der Maske her kommt in das Gesellschaftsleben ein neuer Antrieb rhythmischer Künste, der vielleicht nicht die Distinction des Salontanzes an seinem Ziele findet, dafür aber weitere und farbigere Felder bestreicht, von dieser Gesellschaft selbst über alles Öffentliche in den Festen, alles Feierliche der roten Tage in Stadt, in Kirche, in Theater – vom Vergnügen bis in den Beruf hinein.

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Es gibt eine Skala von Phantasiereizen der Maske. Am tiefsten stehen die Atrappenallegorien, die nicht die Mode der letzten Jahrzehnte erfunden, eher abgedämmt hat: Aufsätze, die auf öffentliche Denkmäler oder neue technische Erfindungen anspielen und den Träger mehr belasten als befreien. Köpfe stecken in eisernen Öfen, auf der Frisur türmt sich ein betreffendes Rolandmonument, der Körper wackelt in der Litfaßsäule oder man läuft vierfüßig als Klavier, das am Ende des Rückens automatisch spielt. Ein anderes Extrem: statt der Verpackung die Entkleidung. Nacktheit ist die unzivilste der Masken, eine Nebenwirkung der erregten Tanzsinnlichkeit, die die Renaissance auf mehr als einem Adamsfest, und nicht bloß am Hofe der Régence pflegte. Wir staunen nicht, auf den Festen der Katharina von Medici Edelmädchen, fast nackt, mit aufgelösten Haaren, bei Tisch bedienen zu sehen. Sie singen frivole Lieder, die gesammelt, gedruckt, bibliophil gebunden erscheinen, in vier Goldschnittbänden mit Vermeil-Ecken und -Agraffen. Die tolle Laune treibt Weiber in Männerkleider und Männer in Weiberröcke, ein Maskenmotiv, das sich länger bewährt als das adamitische, dessen letzte öffentliche Reste auf den Bällen der Quatre' 'z arts verboten werden. Heinrichs III. Ära ist die der Geschlechtsverkleidungen: er geht als Weib auf den Ball, er läßt bei Festen Weiber als Männer – bedienen. Die feine Nüancierung der Maske, ihre Emanzipation von Theatertypen bringt das maskierteste aller Jahrhunderte, das achtzehnte. Der Chevalier d'Eon zieht durch die Welt von Opernpagen begleitet. Die Gesellschaftsmaske wird kultiviert. Es genügt ein ganz kleiner Phantasiereiz, um Stimmung zu schaffen. Eine Cyranonase, ein Redoutenhut, ein grüner Schal, ein Haremsschleier, ein schwarzes Lärvchen. Die Larve macht die Frau frei. Sie tritt aus der Gebundenheit der Konvention und lebt einige wilde Stunden. Indem sie ihr Gesicht versteckt, enthüllt sie ihre Heimlichkeiten. Sie duzt. Sie betrügt. Sie verführt. Sie verrät. Sie träumt. Sie lacht. Alles schadlos, bis das Karnevalskerzchen ausgelöscht ist. Es tut sich ein Paradies augenblicklicher Gefühle auf, in dem die Gedanken, die Wünsche, schließlich die Füße tanzen.

Es ist nach dem Dreikönigstag in Venedig vor der pariser Revolution. Die maschera buffa wird jetzt den ganzen Tag getragen. In der sala di ridotto strömt die Menge zusammen, man spielt. Die Piazetta ist umgeräumt für die Seiltänzer, Taschenspieler, Marionetten. Tausende von Masken wimmeln auf dem schöngepflasterten Tanzboden des Markusplatzes. Stumme Masken, die nur flanieren, und redende, die das Volk um sich sammeln: Advokaten mit Akten, Perücken, langen schwarzen Kurialwesten, Karikaturfranzosen mit ihren Weibern, Gondolieri, die sich streiten und in den Pausen das Tassolied singen, quäkende Pulcinelli, die bewegliche Hörner tragen und sie je nach der Begegnung symbolisch aufrichten, der Sior Todero Brondolon, die quattro rustici, der Sior Zanetto della buona grazia, der stammelnde Fischer Tita und was sich sonst noch goldonisch maskieren läßt. Contrabandieri dazwischen mit Eseln und Hunden, Kalabreser Musikanten, ein Improvisatore. Wenn ein Mönch entdeckt wird, fliegt ihm das Wort an den Kopf: heut ein Schwein, morgen ein Heiliger. Stierhetzen regen die Geister auf. Ochsen werden feierlichst geköpft, Schweine vom Markusturm herabgestürzt. Nach den Schweinen läßt sich ein Arsenalarbeiter am Strick vom Turm herab, überreicht dem Dogen das Sonett, gleitet auf demselben Wege wieder in die Galeere zurück. Stadtparteien kämpfen, wer die Turnerpyramide, die forze d'Ecole besser macht. Gefechtstänze in der alten Moreskenmanier. Feuerwerk am hellen Tage. Abends in eines der sechs Opernhäuser. Die Mara singt diese Saison für 1500 Zechinen. Man spricht in den Logen über Riesenhonorare, man besucht sich, man ißt zusammen und macht aus mehreren Logen einen balco di conversazione. Zuletzt versammelt man sich, per far tardi, nochmals auf dem Markusplatz. Endlich läuten die Glocken: per la morte del Carnevale. Aber nur per piacere della Chiesa. Denn nirgends, sagt der Chroniqueur, ist die Andacht so zur Galanterie geworden wie in der Charwoche des schönen Venedig.

Dies ist die Hochblüte des freien Karneval, der nur von der Laune und von der Phantasie des einzelnen abhängt. Nicht Konfetti, nicht Moccoli machen ihn. Es ist der unthematische Maskenscherz, der keine Geschichte und wenig Leiden hat. Der thematische aber, die Maskerade mit Überschrift ist der Stoff einer langen Historie, die kurzweiliger erscheint als sie verlaufen mußte. Hier wurde die Maske eine öffentliche Angelegenheit, mit künstlerischen Ehrbegriffen, verpflichtenden Forderungen, persönlichen Arrangements, man arbeitete, stilisierte und entwickelte sich in alle Perspektiven, in alle Widersprüche hinein.

Ein rhythmisches Interesse fand sich um so schneller ein, je feierlicher die Gelegenheit war. Und Gelegenheiten gab es bei jedem festlichen Tage auf der Straße, in der Kirche, im Saal, gesellschaftlich, theatralisch, für die Gefeierten, für die Feiernden und für die Zuschauer. Kirchlich begann es mit Selbstbeteiligung und endigte mit Theater, gesellschaftlich ebenso.

Ich habe den Menschen gezeigt, der sich erst im sportlichen Dienste eines Lebenszweckes rhythmisch bildet, dann denjenigen, der ohne Dienst, im bloßen Zusammensein, im schönen Verkehr sich kultiviert, jetzt komme ich zu dem, der im Dienste eines künstlichen Zweckes, einer Phantasievorstellung gebundenere oder ungebundenere Rhythmen der Bewegung, rein körperliche Rhythmen erprobt. Man nennt diese Gattung Ballett, aber es ist das Ballett im weitesten Sinne, der maskierte Tanz und Marsch und das Spiel ohne Worte. Es wird begleitet von der Musik, die sich dabei bisweilen sehnt, von allem Figürlichen frei und in sich selbst dem Rhythmus zu leben. Noch muß sie warten.

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Die maskierte Rhythmik tritt nicht reinlich in die Kunstgeschichte. In einem wüsten Chaos von Tanz, Musik, Deklamation, Menagerie, Clownerie und Akrobatik, in einem der barbarischesten Gesamtkunstwerke liegt sie versteckt. Mit der Musik hat sie sich seitdem am besten vertragen. Die Deklamation hat sie bis auf einige Versuche neuer Mimo-Dramen, die von einem Vorleser gedeutet werden, fallen lassen. Mit dem regulären Tanz lag sie in periodischer Liebe und Feindschaft. Die Akrobatik blieb ihr in der englischen Burleske, einer guten Gattung, treu. Menagerie und Ausstattung hat sie nicht verschmerzen können. Ihre Geschichte ist eine langsame Operation komplizierter Leiden, in der man sich über den Unsinn mit den Sinnen, über den Apparat mit dem Ideal, über die Torheit mit der Feierlichkeit, über die Kunst mit dem Publikum tröstete. Man glaubte an sie, solange sie embryonal war; als sie erwuchs, disputierte man sie zu Tode. Solange man sie erlebte, dachte man nicht nach; als man sie zum Theater machte, erkannte und verurteilte man sie. Ein Paradoxon: das Ballett vertrug es, nur getanzt, aber nicht aufgeführt zu werden. Als man es löste, tötete man es. Es war die Rache der Maske, die nur das befreit, was sie verdeckt.

Der bunte Lärm alter Hochzeiten und Festzüge dringt an unser Ohr. Ein Orpheus, eine Ceres, ein gut erzogener Achill, die Liebespaare der Urzeit, Herkules mit den Centauren und der Befreier Perseus. Viele Perseus etablieren sich, auch Apollo genannt, oder sonstige Drachentöter. Liebliche Nymphen stehen auf den Felsen, sie singen, und der Drache speit Feuerwerk. Venus und die wilden Männer, wobei Vulkan guten Stoff gibt, steht oft auf dem Repertoire. Feuer- und Wasserwerk, Musik, Gesang und Tanz nebst mannigfachen Dramen, deren Schwanz dem Hochzeitpaare zuwedelt. Die Künste der Bemalung und Dekoration werden aufgeboten: Engel fliegen von Kirchen auf vorbeiziehende Prozessionen, ein Knabe stirbt an seiner Vergoldung. Alte Römer triumphieren, Noah und David lächeln, die Allegorien des Lebensalters setzen ernste Mienen auf. Die Phantasie schlägt über.

In Italien findet sie ihre ersten festen Formen, die Renaissance stilisiert. Sie faßt das Ambulatorische unter dem Begriff trionfo zusammen, setzt als Accente die Szenen und Intermezzi hinein und bildet den carrus navalis, den Maskenwagen aus: als scena im trionfo. Damit gab sie der Welt die Typen der Festrhythmik. Der Wagen bewährte eine beträchtlich gruppenbildende Kraft, als Aufbau von Tugenden, Ländern, Elementen, Lebens- und Arbeitssymbolen, er war die feste Aufführung innerhalb des Zuges und wirkte rhythmisierend in den Vortrab und Nachtrab, der ihn einleitete und ausklingen ließ. Der trionfo war die wohlgeordnete Folge einer Reihe von Masken, die ein bestimmtes Thema variieren, eine Art laufende Chrie, die die Vorstellungen aller Denker und Dichter beeinflußte: Dante dichtet den Triumph der Beatrice, Petrarca den Amors, Savonarola den des Kreuzes. Die scena aber, das stehende bewegte Spiel, wurde die Mutter des Dramas. Wie die scena als Wagen in die Prozession einging, so fügte sich diese als Aufzug in das Drama, Oper und Ballett. Es ist der Wechsel von Typen des Gehens und Stehens im Maskenspiel, den Italien seit früher Zeit erfaßt, ausbildet und durch die Renaissance über Europa verbreitet.

Die illusionistischen Reize der Tiere werden bewußter einbezogen. Nicht bloß jenes phantastisch-märchenhafte Spiel mit der Freiheit der Tiere, das in der altfranzösischen Krönungssitte sein wunderbarstes Beispiel findet: man läßt plötzlich eine Anzahl Vögel frei, die jubilierend in die Lüfte fliegen. Sondern im Gegenteil, renaissancemäßig, die rhythmische Benutzung ihrer Unfreiheit, die sich von den Dressuren dieser Zeit an ähnlich wie die Stilisierung der Pflanze entwickelt. Das Tier wird in den Festzug eingestellt: das fremde Tier, das man in der Menagerie züchtete, und noch mehr das eigene, das stolzeste: das Pferd. Fräulein Francesca Caccini genierte sich nicht in ihrer Oper la liberazione di Ruggiero (1625) ein großes Pferdeballett einzufügen. Die Pferdeballetts des siebzehnten Jahrhunderts sind die Klassiker. Unser Zirkus der letzte Amateurrest.

Die Maschinen nicht zu vergessen. Ihr prachtvoll funktionierender Apparat an Engeln, Heiligen und Symbolen brachte die geometrische Präzision. Sie erzogen zum Rhythmus. Sie gaben das Uhrwerk der Reihenfolge. Bis zur Lächerlichkeit. Lionardo konstruierte eine Maschine mit beweglichen Planeten, und immer wenn ein Planet sich der betreffenden zu feiernden Braut näherte, trat ein Gott aus der Kugel und sang Verse. Gewissen Theoretikern muß diese tadellose Mechanik als rhythmisches Ideal gegolten haben, Menschenmaschinen, wie Feuerwerk, Fontänen und das Militär.

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Die erhaltene Festliteratur gibt uns immerhin nur einen Teil dieser Schauspiele. Die Festliteratur ist ein eigenes Feld der Sammlerkunst geworden, dafür ist sie groß genug. Man belehrt sich über sie in den Katalogen der Ruggieri- oder Destailleurkollektionen, in den Verzeichnissen der Ornamentstiche, der Berliner Lipperheideschen Sammlung, und findet ihre Bibliographie raisonnée in Vinet's Sammelwerk für die schönen Künste, das erst hinter diesem Abschnitt zu erscheinen aufhörte. Es ist die erste Anleitung zum Genuß alter Feste, nach deren, oft kolorierten Tafeln man sich die übrigen leichter in der Phantasie wieder herstellen kann. Da sind nicht bloß die verschiedenen Festbauten, Pavillons, Triumphtore, Malereien, und die Feuerwerke, Wasserspiele, Jagden und Bälle zu sehen, die Bühnenbilder der Schauspiele und Opern, die kirchlichen und staatlichen Zeremonien und großen Eßgelegenheiten, von denen gern eine bunte Auswahl in recueils gesammelt wird. Sondern, von mehr oder weniger langatmigen Texten begleitet, erkennen wir alle die Anfänge und ersten Stadien des Balletts, wie es aus den Ritterspielen sich entpuppt hat. Sie theatralisieren die Turniere und geben den Bürgersleuten gute Beispiele. Aufzüge kostümierter Edelherren oder gewöhnlicher Sterblicher marschieren vorüber, jeder in einer Maske, gruppenweise um Wagen, von Musikchören geführt, die sich je nach dem Thema des betreffenden Abschnittes gern individualisieren. Die Herren, mit einem fingierten Spielnamen, lassen durch ein Kartell ihre Absichten kundgeben und stellen sich zuletzt zu einem scherzhaften Turniere, das die Masken des Zuges in einem allegorischen Spiel kunstvoll verknüpft. Höchste rhythmische Ordnung ist vorgeschrieben. Der Eintritt des Volkes vollzieht sich fast choreographisch. Die Pferdeballetts sind mit genauen Grundrissen fixiert. Die Züge laufen im Crescendo und Diminuendo ihrer Typen wohldisponiert von Blatt zu Blatt, oder um das momentane Schauspiel gegliederter Massen zu bieten, ordnen sie sich furchenmäßig, bustrophedon, nach hinten kleiner und kleiner. Häuserreihen sind als Fond gezeichnet, vor denen die Menschen einherziehen, wie vor der Perspektive einer Bühne. Und wenn nun erst das Bühnenballett illustriert wird, dann sehen wir gern die Symmetrie aller Symmetrien, die sich in den phantastisch reichen Dekorationen der Burnacini, Fontana, Peruzzi, Sangallo, Sodoma wie in einem Spiegel fortzusetzen scheint. Diese Dekorationen, ob sie Häuser oder Paläste, Himmel oder Hölle schildern, sind berauschende Träume von Geometrie, die die ungeordnetsten Dinge der Welt zu einem tektonischen Kanon zwingt, Feuerschein und Wolken, Bäume und Tiere und die wildesten Wucherungen ornamentaler und baulicher Illusionen.

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Die Entwicklung der Festblätter geht allmählich von einer getreuen Berichterstattung über diese fürstlich-militärische Rhythmik zum freieren malerischen Wurf. Die Stoffe aber bleiben sich ähnlich: es sind immer dieselben Berufsuniformen, dieselben typischen Ballette, dieselben ritterlichen oder bürgerlichen Maskenzüge: die Stände, die Erdteile, die Länder, die Künste, die Gewerbe, die Elemente, die antiken Götter, die Narren, die Tugenden alle mit ihren Wappen, ihren Wagen, ihrer Musik.

Kirchliche Einzüge, hohe Geburten und Vermählungen, städtische Bewillkommnungen, elegante Trauerfälle sind die Veranlassungen, die sich durch die Jahrhunderte und die Staaten gleich bleiben. Besonders schöne Masken werden groß gestochen, besonders edle Ritter apart aufgeführt, besonders nette Stücke oder Opern oder Ballette im Text beigeheftet. Unter den tausenden von Festbüchern, ragen einige hervor durch die kunstgeschichtliche Bedeutung ihres Inhaltes oder ihrer Darstellung. Das schönste Trauerwerk erschien zum Tode Karls III. von Lothringen 1608. Das berühmteste Einzugswerk ist die Bologneser Cavalcade Karls V. Der bedeutendste Künstler ist Callot in seinem Combat à la Barrière, der für den Übergang vom Turnier zum Ballett typisch ist. Feine alte Florentiner Bücher bleiben die Francesco Medici-Hochzeit von 1579, die Cosimo Medici und Maria Magdalena-Hochzeit von 1608. Später gab Della Bella hervorragende Florentiner Festbücher heraus. Ein dänisches Buch von 1648 überliefert uns ein Ballett, in dem gezeigt wird, daß dieses Land gar nicht so fern und so winterlich sei, wie man allgemein annehme. 1672 wurde ein amüsantes Stockholmer Festbuch gedruckt, zum Antritt Karls XI. In Deutschland verdient das Braunschweiger Buch von 1653 mit den Tugenden- und Lasterallegorien in der »triumphierenden Liebe« besondere Aufmerksamkeit. Frankreich excelliert sofort im 16. Jahrhundert durch die Ausgabe des Ballet comique, das für die Hoffeste grundlegend wurde. Unter Ludwig XIV. ist das Festbuch der île enchantée ein unersetzliches Kompendium aller rhythmischen Genüsse in Reiterei, Gastmahl, Theater und Konzert. Das Perrault'sche Werk überliefert das berühmteste aller Karroussels von 1662 mit den fünf glänzenden Ballettquadrillen. Die großen Feste von Versailles, mit den Bühnenbildern der Alceste, des Malade, edirte Le Pautre. Das ist die erste Prachtblüte dieser Literatur. Die Sbarra'schen Kunstwerke über die Hochzeitsfeste Leopolds I. in Wien stehen den Pariser zur Seite: sowohl das riesige Pferdeballettfest, als die prunkvolle Pomo d'oro-Aufführung, die dem Musiker als Cestische Oper besonders wertvoll ist und nun mit all den Prachtdekorationsblättern in den österreichischen Tonkunstdenkmälern neugedruckt vorliegt. Das sind wahre Kapitalsstücke. Eine zweite Gruppe glänzender Publikationen entsteht im 18. Jahrhundert: festliche Bände über die festlichen Tage, die die »Stadt Paris« ihren Herrschern gibt. Noch einmal taucht Italien auf: Neapel bringt 1749 ein bemerkenswertes Festbuch mit naturalistischen Tierlandschaften, 1778 sticht Raphael Morghen den Zug der Türkenmasken. Mit dem dünnen und schwächlichen Festbüchlein, das 1810 zu Napoleons Hochzeit erschien, geht diese reiche und weitverzweigte Literatur ihrem Ende zu. Ihr Verlauf ist der getreue bibliologische Niederschlag des Zeitalters der großen Festkulturen und ihre schöne Ergänzung sind die gezeichneten und gedichteten Festphantasien, die man von den Werken Kaiser Maximilians über die Goetheschen Maskenzüge bis zu dem reizenden Künstlerzug des Grünen Heinrich verfolgen kann. Aber was ist die ganze Pracht, die Europa auf seine Festbücher verwendete, gegen die unsagbar feine Rhythmik und Coloristik eines japanischen Rollbildes?

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Neben den Turnieren, Ritterspielen und ähnlichen Jouissancen gibt es noch einen Quellfluß des Balletts: die Kirchenfeste. Vielleicht übte sich das Ballettorgan an ihnen noch intensiver. Denn sie waren populär und sehr zugänglich. Sie gaben sowohl die Formen der Prozession als der Szene. Weltlich wie sie geliebt wurden, verschmähten sie weder den Tanz noch die Narrheit, und über die tausendfachen Gelegenheiten kirchlicher Orchestik und Karnevalistik braucht nicht mehr berichtet zu werden. Ein Rausch sinnlicher Tanzfreude dringt in die Regionen fanatischen Glaubens, religiöser Stimulanz. Die Praesules tanzten der Prozession voran und die Derwische und die Jumpers schlagen Pirouetten. Man schlingt die Ronde bei der Hymne o filii, man tanzt das Ballett der Engel schon auf Erden. Jenseits der Pyrenäen widerstehen die religiösen Sinne am längsten dem Einspruch der Puritaner. Glückliche Zeit, da Jesus und Maria in den Villancicos selbst den Reigen führten und sangen, da um die Jungfrau wandelnde Balletts aufgeführt wurden mit fächelnden Damen und gutmütigen Teufeln, da die Seises von den sevillanischen Chorknaben getanzt wurden: im kegelförmigen, aufgekrempelten Hut mit den blauen und weißen Federn, in der Halskrause, in weißer und blauer Seide, mit der Schärpe, dem Mäntelchen, blauen Strümpfen, weißen Schuhen. Noch glaubte man mit dem ganzen Körper an seinen Gott. Die symmetrischen und choreographischen Bewegungen des katholischen Ritus, die wir in unseren Kirchen als letzte Reste erhalten haben, bestimmten so manche Vorstellung der sacra conversazione auf italienischen Bildern, wie die Mysterien und Moralitäten die cyklischen Relieffolgen bilden halfen.

Ein geschlossenes Kapitel sind die Kirchenschauspiele, die Moralitäten, deren italienische Beispiele D'Ancona als die origini del teatro italiano so sorgsam gesammelt und kritisiert hat. Von den Moralités über die Rappresentazioni und Krippendramen bis in das Volksschauspiel des Maggio erkennen wir die geistlichen Ahnen der Ballettypen. Sie haben die Phantasie lange ernährt. In Florenz begannen die heiligen Darstellungen 1303 auf dem Ponte alla Carraja, um erst 1835 in einem heimlichen Privathaus ein obscures Ende zu finden.

Sie schärfen die Milieuvorstellung. Es heißt in den altfranzösischen Manuskripten beim Szenenwechsel kurz: il fault un bois. Aber es werden auch die Dekorationen aufs Genaueste detailliert. Pavillons auf vier Säulen, Paradiese und Gott mit der Weltkugel, die vier Tugenden, Engel und Cherubim in Aureolen mit Nazareth, dem Tempel, Jerusalem, dem Meer als Hintergründen, Bassins mit Booten, Höllen mit nackten Teufeln, mit Verurteilten und Drachen sehen die Augen der Gläubigen. Die Geschichten der Heiligen werden in die typischen Szenen hineinprojiziert: Himmel, Hölle, Luft und Wasser, die die Oper noch solange rahmen sollten. In Kapsbergers Oratorium über den hl. Ignatius und Franz Xaver marschieren sämtliche Völkerschaften auf. Maschinen verhelfen zu Zauberkünsten. Engelsfiguren, durch Blei beschwert, gleiten auf Brücken von Tauen, Wolken ballen sich aus Baumwolle, in der Santa Cristina stürzt ein Haus ein, Wandeldekorationen (mutazioni a vista) machen die Zeit zum Raum, Riesenschlangen aus Pappe bringen süße Schauder, die Gemarterten werden von Puppen dargestellt, in Versenkungen verschwinden Teufel mit Übeltätern, Engel und Selige steigen auf Drähten und Rädern gen Himmel. Der große Brunelleschi stattet die Rappresentazione dell' Annunziata aus: knieende, adorierende bewegliche Figuren, zwölf Engel mit vergoldeten Flügeln und Haaren tanzen Hand in Hand, über ihnen Wolken und Sternkreise, aufsteigende Mandorlen, sich öffnende Türen und eine infinità di lumi.

Ist die heilige Handlung so sinnlich, vergnüglich geworden, schämt sie sich nicht mehr der Intermezzi. Schauspieler, Sänger, Tänzer, Instrumentalisten, Tafeleien, Ritterspiele, Jagden, Schlachten füllen die Pausen. Beim »heiligen Samson« steht geschrieben: suonasi e ballasi. In den Santa Margherita und Uliva gibt es Moresken und Kriegerballetts. In den hl. Eustachius hat sich der carro trionfale eingeführt. Die buffoni und giocolari bilden oft eine zweite Komödie in der ersten. In den französischen Mysterien sind die Diableries selbständige Stücke.

Allegorien werden nicht geschont. In der hl. Uliva gibt es eine besondere Reihe allegorischer Intermezzi, die die Prototyps der moralischen Balletts sind: die Eitelkeit; oder die drei Tugenden Treue, Hoffnung, Klugheit; die unglückliche Liebe; die Süssigkeit der Ehe; Friede und Krieg; Nacht und Tag; Herrschaft und Ruhm. Frankreich ist noch assoziationssüchtiger. In der Moralité Bien-Advisé et Mal-Advisé gibt es 50 solcher Wesen, darunter Regnabo, Regno, Regnavi. Im Homme pêcheur ist eine Figur Honte-de-dire-ses péchées. In der Condamnation de Bancquet: Diner, Soupper, Je-boy-à-vous, Pillule, Clistère. Auf alten Gobelins findet man die Illustrationen dafür.

Die Formen der »Contrasti« zerlegen die Typen im Sinne italienischer Renaissance-Dialektik: Amanti-Amore, Uomo-Donna, Mesi fra loro, Rustici e Chierici. Die Symbole ordnen sich in choreographischer Übersicht. Der ganze Apparat pantomimischer Analyse ist gegeben: das Thema der heiligen Handlung oder Legende wird von der Allegorie umrahmt, die Allegorie setzt Ornamente der Bühnentypik ab und das Intermezzo stilisiert sie an den Ruhepunkten des dramatischen Verlaufs.

Weltliche und geistliche Anordnungen wirken gegenseitig. Wie in der alten Danaekomödie Jupiter mit den Göttern in einer Illumination sitzt, die von den Freuden des Paradieses entlehnt wird, so feiert man 1609 die Heiligsprechung des Loyola in Spanien mit der Darstellung der Einnahme von Troja, die in einer Huldigung sämtlicher Erdteile schließt, voran das aktuelle Amerika, 70 Ritter von Affen und Papageien begleitet.

Turnier und Kirche treffen sich zuerst in größerem Stile beim guten König René. Provençalischer Gesang mischt sich mit Mimik, Heilige mit Helden. Die Renommée auf einem Pferd, das Urbiner Herzogspaar auf Eseln führen einen Fête-Dieuzug mit einem olympischen Götterwagen, worauf einige Teufel den König Herodes quälen, Juden das Goldne Kalb umtanzen, Jesus sein Kreuz trägt und die Königin von Saba ihre Toilettenkünste entfaltet. Der König selbst hatte sich das alles so gedacht und gemacht.

Die Provence, Burgund, Mailand, Paris sind vier Zentren des Tanzes. Ein burgundisches Fest gibt Karl der Kühne, Olivier beschreibt es. Die rhythmischen Genüsse des Menüs auf einer Tafel, die dem Modell eines Staates mehr glich als einem Eßtisch, werden von Intermezzi unterbrochen. Es erscheint ein Leoparde mit dem englischen Banner und einer Perle – zu Ehren der Dame Margarete von England. Es folgt ein goldener Löwe, auf dem Madame de Beauprant, die Zwergin des herzoglichen Fräuleins, als Schäferin mit der burgundischen Fahne sitzt, geleitet von den Herren de Ternant und Tristan de Thoulonjon, und der Löwe öffnet den Mund und deklamiert ein schönes Huldigungsgedicht. Endlich ein künstlich bewegtes Dromedar, mit wackelndem Kopfe, auf dem ein phantastischer Wilder sitzt mit den bunten Vögeln Indiens. Trompeten und Zinken. Man schmaust weiter.

Das berühmte Mailänder Fest wird 1489 von Bergonzio di Botta de Tortone zu Ehren der Hochzeit des Herzogs Galeazzo mit Isabella von Aragonien gegeben. Das Menu, die Tafelfreuden werden als Ballett rhythmisiert. Jason und die Argonauten decken den Tisch mit dem goldenen Vließ. Merkur bringt ein feistes Kalb, Diana einen Hirsch, Orpheus einige gebratene Vögel, indem er versichert, daß diese Hochzeit seine erste Freude seit dem großen Malheur mit der Euridice gewesen wäre und er nichts besseres hätte zu tun wissen, als die Vögel, seine begeisterten, aber törichten Zuhörer, diesem Zweck zu opfern. Theseus und Atalante bringen den Eber von Calydon, Isis mit leichtgeschürzten Nymphen die Pfauen, Tritonen die Fische, Hebe die Früchte und den Käse, der hohe Gastronom Agicius erklärt zum Schluß die ganze Begebenheit. Das war ein kunstvoll rhythmisiertes und mythologisiertes Menu, von entsprechenden Balletten und einer wechselnden charakteristischen Musik begleitet. Den Schluß bildet eine kleine Pantomime, in der die »schlechten« Königinnen Semiramis, Helena, Medea, Phädra, Kleopatra von Grazien und Amoretten gestraft werden, um der Huldigung der »guten« Lucrezia, Penelope, Thomyris, Judith, Porzia, Sulpicia Platz zu machen – worauf ein Bacchanälchen das Fest bekrönt.

Hundert Jahre später, 1581, unter dem Einfluß der Katharina von Medici findet am französischen Hofe das große balet comique de la reine statt, bei Gelegenheit der Hochzeit des Herzogs von Joyeuse. Arrangeur ist ein italienischer Geiger, Baltasarini, genannt Beaujoyeux, den uns Brantôme in seinen Memoiren als plaudersamen Freund und famosen Kerl beschreibt.

Prachtvolle Festkostüme, Gold und Steine, wie man sie bis dahin nicht sah. Bunte Prozessionen, Wasserfeste mit Wasserwagen, die von 24 Booten gezogen werden, verkleidet als Tritone und Delphine mit Musik (die schmählich mißlangen), Feuerwerk, künstliche Sommergärten und das große Ballett: Circe übt ihr Handwerk, Merkur entzaubert, sämtliche dii majores und minores mischen sich in die Affäre, die Tugenden machen sich mit ungeheuren Attributen wichtig, Götteraufzüge, Wasserpantomimen, Wolkenausbrüche, Drachenfeuer blenden die Sinne, kostümierte Musiker brillieren in der Individualisierung der Instrumente und Ballette werden getanzt, »so geometrisch, daß Archimedes sie nicht hätte besser setzen können.« Eine wüste Geschichte mit wahrhaft primitiver Musik, triefenden Apotheosen und dem ganzen Apparat künstlichster Künste, die mit den Elementen und Blumen und Soldaten in diesem ersten großen pariser Renaissancefeste die Reinheit der Mathematik über allen edlen Ausdruck stellten, der später das Ideal des Franzosen wurde. Gewaltige Pferde-Balletts, als florentiner Tradition, werden hinzugefügt. Aber das Fest verhält sich zu seinen italienischen Mustern, wie die erste pomphafte Dekoration von Fontainebleau zu Raffaels Loggien.

Alle Motive sind in diesen vier hervorstechenden Ballettfesten des 15. und 16. Jahrhunderts gegeben: die Auseinandersetzung der ritterlichen Giostra mit dem religiösen Schauspiel, die Ausführung des Prozessions- und des Intermezzotypus, Heraldisches, Alttestamentarisches und Mythologisches, das Gesamtkunstwerk des Amüsements bestehend in Atrappen, Apotheosen, Verkleidungen, Musik und Gesang. Ist es ein wandelndes Ballett, so beteiligen sich die Gastgeber: wie König René einst, so spielten jetzt im Circeballett Hofleute den Jupiter und seine Kinder, Edelfräulein die Tugenden, die Königin führt die Najaden, unter denen die Fürstin von Lothringen, die Herzogin von Aumale, die Marschallin von Retz figurieren. Ist es ein Intermezzo, so wird es mit den Tafelfreuden in einen wohlwollenden Zusammenhang gebracht und die Herrschaften haben das Vergnügen, ihre Speisen im verklärenden Nimbus ihrer Wappentiere oder der Olympier zu genießen. Heute um 1900 gibt es nur vereinzelte Fälle exklusiver aristokratischer Aufführungen, in denen Gesellschaft und Theater sich als Subjekt und Objekt noch nicht trennen, und unser festliches Menu gewinnt seine rhythmischen Reize weniger durch mythologische Verpackungen als durch innere verfeinerte Skandierung, durch die Ausbildung der Auftakte von hors d'œuvres, durch Strophierung vermittelst eines eingeschobenen Hummeranfangs oder Punschfinales, durch die zarte Harmonisierung wechselnder edler Weine.

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Unter den großen Ludwigs tritt die vollkommene weltliche Emanzipation des Balletts ein: allmähliche Loslösung des Theaters von der Gesellschaft, Loslösung des stummen Tanzes von der gemischten Kunst, Etablierung des Theatertanzes als zünftige Gattung.

Die Ballettphantasie bemächtigte sich sämtlicher Hilfsmittel. Berge, Meer, Luft, Erde, Winde, Tiere, einige besonders dekorationswürdige Figuren der alten Mythologie, wie Prometheus und Venus, moralische Allegorien, die Wahrheit als Siegerin, die Herrlichkeit des Ruhms, satirische Anspielungen wie le grand bal de la douairière de Billebahault et de son Fanfan de Sotteville folgen fast Jahr für Jahr. Die Lustra des Lebens von Louis XIV müssen als Tänzer auftreten. Die dreizehn vorhergehenden Ludwigs (eine getanzte Siegesallee!) werden ballettisiert. Die Crieurs de Paris, die Straßen, die Alchimisten, die Träume, der Tabak mit seinem indianischen Festapparat, die Kartenspiele müssen daran glauben. Der père Mambrun erdenkt sich ein Ballett mit dem Titel: »daß es leichter ist, Völkerzwiste durch Religion als durch Waffen beizulegen!« Madame Chrétienne de France, Duchesse de Savoye liebt das gris de lin über alles, und so komponiert Philipp d'Aglié in Turin ihr zu Ehren ein Ballett, in dem eine Farbenkonkurrenz aller schönen Dinge stattfindet. Was gibt es für Arten von Neugierde? Die unnütze, die gefährliche, die nützliche, die notwendige: so ist das Ballett Curiosité fertig. Flüsse, Nymphen, Dryaden überreichen den geehrten Herrschaften als Geschenke Goldmedaillen mit Devisen, die Königin von Spanien tanzt als Minerva zwischen dreißig Luftgenien, das Trio mazarinesque ulkt die Politik, und zum hundertsten Male besiegt Venus und Amor alle Mächte der Erde und des Himmels und triumphieren die Tugenden nur so im Tanze über die Laster mit Feuerwerk. Einige von diesen bacchischen Scherzen werden als Intermezzi in sehr berühmte Dramen eingelegt.

Ludwig XIV. tanzte das erste Mal 13jährig 1651 in der Mascarade de Cassandre. Er kam von dieser neronischen Schwärmerei nicht los, bis er 19 Jahre später hörte, wie Racine sich über Nero äußerte – sagt man. Das war die hohe Zeit des Gesellschaftsballetts. Er tanzte in 27 großen Balletts, im Triomphe de Bacchus sogar einen Dieb, sonst nur Ganz- oder Halbgötter, einschliesslich der Ceres. Im großen Ballet de Carrousel von 1662 hatte er die Römer angeführt, sein Bruder die Perser, der Prinz Condé die Türken und der Duc de Guise die Amerikaner. In der Prospérité des armes de France war das Hochgefühl der Zeit am buntesten maskiert worden: in der Hölle sieht man alle Laster mit Pluto und den Parzen und Furien, dann kämpfen sämtliche Flüsse Italiens, Spaniens, Frankreichs mit einander, worauf Arras erobert wird, und ein Défilé der Olympier die Reise durch die Elemente beschließt. Ludwig XIV hatte in dieser göttlichen Komödie die Hauptrolle getanzt. Er hat sein eigenes Waffenglück verfestlicht. Es machte ihm nichts aus in einer Rolle des komischen Balletts Impatience zu sagen:

De la terre et de moi qui prendra la mesure,
Trouvera que la terre est moins grande que moi.

Als das Ballett schon weniger majestätisch, unter Lamotte und Pécour schon anakreontischer geworden war, lebte die Erinnerung an diese alten bizarren und puppenhaften Schauspiele noch in einigen Nachbarkünsten fort. Liebhaber älterer Klavierliteratur werden zwischen den Bühnentypen dieser Jahre und den Titulaturen der Stücke aus der Couperinschule die Familienähnlichkeit erkennen. 1634 tanzte man in Savoyen die Vérité ennemie des Apparences et soutenue par le Temps. Falsche Gerüchte und Verdächtigungen treten als Hähne und Hühner auf und gackern ihre Gemeinheiten. Die Apparence erscheint mit Pfauenschweif und Flügeln, gekleidet in Spiegel. Aus Eiern kriechen Lüge, Trug und List, auch nette Lügen und Schmeicheleien, auch lustige Lügen und Plaisanterien und Petits Contes. Jede in einem eignen Kostüm: bald in schwarz mit Schlangen, bald als Jäger, oder als Affen, als Krabbenfischer mit Laternen, als Krüppel. Schließlich kommt die »Zeit«, schlägt sie alle mausetot, und die »Wahrheit« steigt aus der Sanduhr heraus, worauf die »Stunden« das Schlußballett ausführen. Couperins »Fasten der großen und alten Menestrandise« bringen in fünf Akten eine ähnliche Galerie von clownierten Figuren, seine »Folies françaises« kleiden alle Tugenden und Untugenden in die ihnen zukommende symbolische Farbe und schließen am Aschermittwoch. Für die Ideenassociationen des alten kleinen französischen Genrestücks waren die Vorbilder des Balletts unentbehrlich. Hier konstatiert man eine der ersten wirksamen Emanzipationen der Ausdrucksmusik vom Tanze. Die Bühnentypen erblassen – die Musik verfeinert ihren Charakter.

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Solange man diese alten Balletts eifrig ausbildete und vermehrte, solange man blutige politische Pläne unter diesen Kinderträumen und Bilderbüchern gastronomischer Tiermythologie und dichtender Löwen, auf denen Zwerginnen reiten, versteckte, war nicht Zeit sich die Sache ernster zu überlegen. Auch hier mußte die Kunst sich beruhigen, ehe die Wissenschaft anfing. Das Zeitalter Ludwigs XIV., das die italienischen und altfranzösischen Überlieferungen des Balletts in so großem Stile durchgebildet hatte, zeigte sich reif. Die Akademie der Tanzkunst war gegründet. Am Ende des Jahrhunderts, 1682 erschien das erste Ballettbuch der europäischen Literatur, die ballets anciens et modernes des Père Menetrier. Es ist eine kompilierende Mischung von Festgeschichte und Vergleichen mit der Antike, sehr sittsam, auf Logik bedacht und für Methode interessiert. Die Regeln des Aristoteles, Plato, Plutarch, Lucian werden auf das Festballett des französischen Hofes angewendet. Stellen des Strabo werden umgewandelt zu einem Huldigungsballett für »Auguste Louis«. Wie einst, hundert Jahre vorher, sich der erste geistliche Autor eines Gesellschaftstanzbuches in Frankreich, der Mönch Arbeau mit seinem dichtenden Vorgänger Arena auseinandergesetzt hatte, so führt dieser Père seinen Diskurs mit Père Mambrun, der über das Wesen des Balletts in lateinischer Sprache gefabelt hatte. Das war ein Tummelplatz. Es wimmelt von Belegstellen aus Suidas, Marius Victorinus, Sidonius Apollinaris und anderen fürchterlichen Klassikern. Naive Vergleiche mit Malerei sind die ersten Zeugen der späteren ästhetischen Ballettauffassung. Die Tabelle aller bisherigen großen Ballette ist reichhaltig. Jetzt fragt man sich: wie komponiere ich ein Ballett? Menetrier verkündet die Theorie der Zerlegung des Themas. Zum Beispiel: »Alles gehorcht dem Gelde.« Man zerlegt erstens alles, zweitens Gehorchen, drittens Geld. Das Geld besteht aus pistoles, écus, deniers, aus verschiedenen Münzen der Länder mit ihren Fürsten, ihren Symbolen, den lettres de change, brevets d'affaire, assignations, billets d'épargne – das alles muß tanzen, alle Stände tanzen, alle Gehorsamkeiten tanzen: voilà le ballet. Es muß die Aufgabe jedes Ballettdichters sein, ordentlich in den Attributen und Symbolen Bescheid zu wissen. Dafür sind die Poeten tüchtig zu studieren. Das Ballett selbst hat die äußerste mathematische Ordnung zu wahren. Zur Hochzeit des Herzogs von Parma mit Maria d'Este wurde 1667 ein Ballett getanzt, dessen Figurenstand, natürlich ohne die Wege, Menetrier ganz in der Art der späteren Kontreschriftsteller aufzeichnet: erste Figur, das Wort Maria, dann Tritonen, dann Statuen, dann die zwölf Nachtstunden, alles nur als Bild, als geschlossene Menschenfigur, ein soldatisches Maskenvergnügen.

Der praktische erste Ballettmeister ist Beauchamps, ein kleiner, aber lebhafter Mann, wie so viele seiner Kollegen. Als Theaterkuli beginnt er seine Laufbahn, wie ebenfalls viele seiner Kollegen. 1661 – er war fünfundzwanzig Jahre – kommt sein großer Tag. Molière wählt ihn für ein Divertissement in seinen Fâcheux. Lulli, der sich schon persönlich so sehr für die Tanzerei interessiert und die Tempi zeitgemäß ein wenig verschnellert, wird krank, Beauchamps rückt ein. Die Amours déguisés, die 1664 im Louvre getanzt werden, entscheiden seine Karriere. Eine der vielen kleinen Amoretten, die in diesem berühmten »Grand ballet du roi« von den Olympiern über die Römerhelden bis in die romantischen Regionen der Armide und des Regnault ihr verstohlenes Wesen treiben, schlich sich auch in das Zimmerchen des kleinen Beauchamps und brachte ihm das Diplom des Akademiedirektors und Hofballettmeisters. 1672 tanzten Herzöge und Marquis vor den Damen des Hofes seinen Amour et Bacchus, zu dem Lulli die Musik geschrieben hatte. Im Triomphe de l'Amour 1681 tanzt er in St. Germain mit Ludwig XIV. als Weib. Aber dieses selbe Ballett brachte das Ende des Männertanz-Monopols. Als es später in Paris öffentlich aufgeführt wurde, wagte man den großen Schritt, auch vor dem zahlenden Publikum tanzende Damen einzuführen, wie sie in der Gesellschaft schon lange umworben waren. Der Beruf der Tänzerin wird geschaffen – eine folgenreiche Tat. Die Freude am Weibe und die Freude am Tanz schlagen nun auch im Theater zusammen. Die Tänzerin wird der strahlende Stern des Balletts, eine liebenswürdige und geliebte Person, um die Kunst und Sinnlichkeit Guirlanden schwingen. Aber freilich ging die Verweiblichung des Balletts erst langsam vorwärts. Im 17. Jahrhundert herrscht durchaus der Tänzer. Im 18. teilen sich beide Geschlechter gleichmäßig in diese Ehre. Im 19. siegt das Weib. Etwas von Effemination ist in jeder Verfeinerung der Kunst und des Lebens. Auch in jedem Verfall.

Die Franzosen hatten von Anfang an eine starke Neigung, nicht bloß Ballettaufführungen und Intermezzi jeglicher Art zur Belustigung der Sinne zu pflegen, sondern sie auch in den Rahmen der Oper stärker aufzunehmen, als die Italiener. Immer wenn die italienische Oper in Paris ein Gastspiel gab, sah man zu, sie durch Balletteinlagen für den Geschmack der Franzosen herzurichten. Schon 1645, als die Italiener sich in Paris etablierten, verzierten Ballettkünste ihre Oper. Die Finta pazza wird mit den mimischen Tänzen des Achill und Odysseus, der Deidamiaabenteuer, der Affen und Bären, Straußen und Indianer ausgestattet. Noch 1660, als Cavallis Serse an die Reihe kam, streute man sechs Balletteinlagen ungeniertester Zusammenhanglosigkeit ein: baskische Bauern, Spanier, Scaramuzzen, Matrosen, die Affen ausschiffen, Bacchus mit seinen Satyrn. Im ganzen Operngeschlecht um 1700, das die französische Nationaloper begründete, spielt das Ballett seine ständige Rolle. Die Ochsentreiber, die Feldarbeiter, die Gespenster, die Dämonen finden einen Grund, oder auch keinen, die Sinne in geometrisch steifen Entrees zu ergötzen. Beauchamps brauchte nicht erst durch die Taubenfütterung (wie man sich erzählte) zu Balletttouren angeregt zu werden, um zu Camberts Pomone die Tänze zu schaffen. Es wäre sonst gar nicht gegangen. Bei der Komödie schon liebte man diese rhythmischen Intermezzi, bei der Oper blieben sie unentbehrlich. Die Passepieds, die Musettes, die Tambourins und Chaconnen standen in der Oper gleichmäßig verteilt wie lyrische Höhepunkte der Bewegung, die durch keine dramatische Handlung in der Entfaltung ihrer mathematischen Harmonien behindert werden. Die Liebhaberei blieb Spezialität von Paris bis in unsere Tage. Wie Cavalli für seinen Serse, mußte Wagner für seinen Tannhäuser das Ballett ausbauen. Denn die große französische Oper setzt sich über die ästhetische Schwierigkeit, aus jedem Drama einen Tanz zu destillieren, mit dem Machtbewußtsein des Jockeyklubs hinweg. Selbst ein Faust erlebt ja seine Walpurgisnacht.

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Man teilte um jene Zeit die Balletts in historiques, fabuleux und poetiques, die ersten historisch ernst, die zweiten spielend phantastisch, die dritten auf einen bestimmten tendenziösen Hintergrund, sowie man die Gattungen der Tänzer in seriöse, demi-caractère und groteske unterschied. Die »poetischen« Balletts konnten allegorisch sein oder moralisch oder buffonesk, wie die »vagabundierende Wahrheit«, die in Venedig viel bewundert wurde mit den Ständeschichten der Mediziner, Apotheker, Kapitäne, Kaufleute, die man aus den bürgerlichen Possen liebte und hier im Lichte einer höheren getanzten sittlichen Weltordnung sah. Der Geschmack der Zeit wandelte sich immer mehr vom Seriösen ins Galante. Die große Quinaultsche Tragödie in schweren fünf Akten wurde vergessen, seine Typen erstarrten. Lamotte gewann die jungen Herzen durch seine graziösere Hand, die ohne viel Raisonnement lauter kleine verschiedene Tänze und Gesänge miniaturartig aneinanderreihte, choreographierte Watteaus. Die Europe galante leitete die anakreontische Gattung ein. Issé, Carnaval, Folie waren ihre Erfolge, die das Barocke in das Rokoko verzärtelten.

Langsam wird aus den Festballetten mit Gesang und Gerede die amüsante Feerie und schließlich die ausdrucksvolle Pantomime, wie aus den Tänzern der halbitalienischen Kapriolenzeit Darsteller und Interpreten wachsen. Beauchamps hatte in seinem Neffen Blondi einen großen Springer vor dem Herrn als Schüler hinterlassen, der mit Ballons Kunststücken wetteiferte. Als er 1705 starb, wurde Pécour sein Nachfolger im Dienste, der als Fünfzigjähriger schon auf eine bedeutende Vergangenheit zurückblickte. Beauchamps war ein Arbeiter und Eiferer gewesen, Pécour tanzte nicht nur plastischer, sondern bewegte sich auch weltmännischer, verkehrte in den Salons der Gesellschaft, für die er die noblen Tänze des Menuettzeitalters formierte, und hatte seine vielgenannten lebemännischen Abenteuer. Ein modernerer Lebenstyp des Tanzmeisters verrät sich in der Szene, da Pécour bei der Ninon d'Enclos mit dem Duc de Choiseul zusammentrifft, ohne den Lakaien spielen zu müssen. Im übrigen tanzte er und komponierte er gleichzeitig, wie alle seine Kollegen. Seine Balletts, das Parisurteil, die Lebensalter, die Elemente, Proteus, das Fest von Villers-Cotterets zeigen die traditionellen Stoffe mit einem leichten schäferlichen Ausklang. 1722, sieben Jahre vor seinem Tode, wird er von Dupré überschattet, dessen Künste die einstimmige Bewunderung der Zeitgenossen sind. Dupré aber ist der Lehrer Noverres, mit dem der pantomimische Ausdruckstanz zum Durchbruch kam.

Nach der Ausdruckskunst drängt nun alles. Bonnets histoire génerale de la danse vom Jahre 1724 war noch durchaus »mittelalterlich« ausgefallen. Indem er die Menetriersche Tabelle des Balletts bis zum Jahre 1723 fortführte, konnte er doch von den humanistischen Idealen sich so wenig frei machen, daß er sogar alle Seiltänzer, auch die berühmte Schwerttänzerin Belle Tourneuse auf die Antike zurückführen zu müssen meint, und den Dädalus braucht, um einen sanktionierten Ursprung des Kontres festzustellen. In Cahusacs danse ancienne et moderne von 1754 hat sich das humanistische Ideal verfeinert. Etwas von der hehren Feierlichkeitsstimmung, dem theatralischen Kultus, den das ausgehende achtzehnte Jahrhundert dem Ballett gegenüber empfand, liegt in seinem eleganten Buche zutage. Das Ballett ist das große Fest künstlerischer Ideale, ein Gottesdienst der tiefsten Vorstellungen von Natur und Leben. Pylades und Bathyllos, die antiken Mimiker, werden zu Heroen, und man versüsst ihr Andenken durch einige dialektische Auseinandersetzungen über das Verhältnis der Künste, in denen man mit Du Bos' Reflexions sur la Poésie et la Peinture leicht polemisiert. Beziehungen des Tanzes zu den Künsten und zum Leben werden ästhetisch kultiviert, Ratschläge für die Karriere in weltmännischem Tone eingeflochten. Auch der Tanz hat sich aus einer mathematischen Lehre zu einer Darstellung der Wirklichkeit zu entwickeln. Die »Entrees«, in denen typische Figuren ihre formalen, stilisierten Tänze ohne jeden inneren seelischen Zwang ausüben, müssen der Aktion, der Handlung auch auf diesem Gebiete weichen. Il faut, que la nature soit en tout le guide d'art.

Am schwierigsten vielleicht war die Überwindung des alten Tanzkostüms. Die Renaissance Italiens hatte auch hier gegenüber der gotischen Individualität ein Einheitssystem geschaffen, im bürgerlichen und im Bühnenleben. Nicht nur, daß die Mode alle Trachten stärker harmonisierte, es gab besondere feierliche Gelegenheiten, die einen bedeutenden stilisierenden Einfluß ausübten. Die Festkleidung uniformiert sich, die Trauer fühlt sich in der Gemeinsamkeit der Farbe. Diese Zeit hatte Organ dafür, bei fünebren Gelegenheiten nicht bloß die Kirche schwarz auszuschlagen, auch die Menschen gleichmäßig schwarz zu kleiden und Briefe schwarz zu umrändern. Das wirkliche Theater zog Effekte aus dieser Uniformierung. Sie symbolisierte gut. Die orchestische Idee zerlegte sich augenfällig in ihre soldatischen Elemente. Tritonen sind immer grünsilbern, Dämonen immer feuerrot, Furien immer schwarzbraun. Die Entree wird eine tanzende Armee. Persönlichkeit und Ausdruck gehen im dekorativen Spiel der Kostümkünste unter.

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Man scheute keine Kosten für die üppige Symbolik der Kleider. Von der Rechnung für das Versailler Ballett von 1668, die 52 972 Pfund betrug, gehen 2400 auf die Kostüme. Die Coiffeuse des Flora-Balletts, das 1688 im Trianon getanzt wurde, steckte 128 Pfund ein. Sinnbilder, Anspielungen, Attribute häufen sich. Welche Phantasie war nötig, um die Typen des 1657er ballet de nuit festzustellen, in dem sämtliche Wesen auftraten, die zur Nacht eine Beziehung hatten, Laternenanzünder, Zeitungsverkäufer, Wasserausrufer, Bäcker, die Gattungen des Amüsements: Bal, Ballet, Comédie, Festins, Concert, Sabat. Oder das Jeu de Piquet, das 1676 in Corneilles Triomphe des dames eingefügt wurde: die Buben machen Platz, die Könige kommen mit ihren Damen, deren Schleppen die Bälle, Billards, Würfel und Trictracs tragen, und mit den Assen, Achten, Neunen wird ein Tanz gestellt, der in Abwechslung roter und schwarzer Farben die wichtigsten Kartenkombinationen in effigie stilisiert. Die Jeux selbst sind in dieser Zeit mit noch dickeren Allegorien bepflastert, sie werden zu wahren Enblemen historischer Gelehrsamkeit. Indem man spielt, setzt man Geschichte und Heraldik in kleine Dramen des Zufalls um. Die Allegorie zerstört die Natur. Menetrier noch begeistert sich an dem Ballettkostüm der »Welt«, die als Frisur den Olymp trägt, als Kleid eine Landkarte, wo man auf dem Bein Italien, auf dem Bauch Deutschland, auf dem Herzen Frankreich verzeichnet findet.

Die Solotänzer als Studien über gelehrte Anhäufung von Symbolen, das Korps als uniformierte Truppe ist der Standpunkt des alten Kostüms. Der Typus und die Klassifikation herrschen. Das Kostüm ist ein Bau auf dem Gerüst von Korsetts und Reifröcken. Eine zeitlose, traditionelle Tracht. Die Tänzer gehen noch bis ins 18. Jahrhundert in kurzen Röcken, die Tänzerinnen in längeren Kleidern, die, wenn sie nicht in Symbole versteckt sind, eine architektonische Ausführung desselben Schemas darstellen. Nur die »Plaisiers« erlauben sich ein wenig Nudität, wie sie dann von der Direktoirezeit an allgemein sich durchsetzt. Charakteristik vermißt man. Pygmalionstatuen gehen noch im 18. Jahrhundert im Reifrock, Schatten treten als nette, liebenswürdige Menschen auf, Furien verlassen sich auf ihre Schlangen – und noch 1807 erschien die Jannard als »Haß« in diesem alten Furientyp. Die Konsequenz des äußerlichen Maskenstils ist die Gesichtsmaske, die den Ausdruck stilisiert, versteinert, wie das Kostüm die Figur. Es ist unglaublich, daß sie erst 1772 fiel. Castil Blaze in seiner kleinen Tanzgeschichte, die die Menetrier-Bonnat-Cahusacliteratur weiter spinnt, erzählt: man spielte am 21. Januar 1772 Rameaus Oper Kastor und Pollux. Gaetano Vestris sollte im fünften Akt die Entree des Apollo tanzen. Er stellte ihn mit einer schwarzen Riesenperrücke, Maske und Kupferstrahlenkranz auf der Brust dar. Maximilian Gardel mußte ihn im letzten Augenblick vertreten. Er tat es nur unter der Bedingung, mit seinen natürlichen blonden Haaren, ohne Maske und ohne das Attributengepäck zu tanzen. Er hatte Erfolg und die neue Sitte ging allmählich von den Solisten in das Korps über.

Kostümzeichnungen alter Ballette, die diese Entwickelung aufzeigen, sind ein Lieblingsgegenstand von Sammlern geworden. Auf diesen zierlichen Blättchen wird das Groteske zur Drolerie, das Revolutionäre zum Charme. Für die königlichen Amüsements zeichnen Gissel, Berain, Meissonier, Challes, die verschiedenen Slodtz, Gillot, Boucher. Schon im 18. Jahrhundert besaß Quentin de Lorengère 1850 dieser niedlichen Skizzen. Es waren fünfzehn Bände, deren augenblicklicher Aufenthaltsort unsicher ist. Die de Soleinnesche Kollektion von 500 Kostümzeichnungen gehört jetzt Rothschild. Die Goncourts hatten diese Spezialität nicht übersehen. Die Pariser Oper- und die Nationalbibliothek sind damit gesegnet. Aus ihrem Schatze gab Guillaumot zwei verbreitete Bände mit farbigen Reproduktionen heraus: Costumes de l'opéra (17. und 18. Jahrhundert) und Costumes des Ballets du roy. Nuitter schrieb die lehrreichen Einleitungen. Es sind Typen und es sind Porträts: die Tänzer Jelior, Gardel, Vestris, Malter, die Damen Allard, Asselin, Vestris, Larrivée, Perceval, Pitro, Lionnois, Gandot, Guimard in bestimmten Rollen. Wir empfinden etwas von der Süßigkeit anachronistischer Stilreize vor diesen Blättern: Dianen im Reifrock, Apollos im Federbusch, Venusse im geblümten Muster alter Meißner und Nymphenburger Porzellane.

Auf den Namen Noverre geht die große Reformation, die das Renaissanceballett an Kopf und Gliedern, in der Form und in der Erscheinung modernisierte. Aber auch diese Reformation war vorbereitet. Alle literarischen Köpfe, alle gebildeten Künstler fühlten längst, daß das wachsende Ausdrucksbedürfnis weder mit Geometrie noch mit Reifrock und Maske sich vertragen könne. Alle festlichen Schemen italienischer Überlieferung mußten dem Organ für Menschlichkeit und Seelenromantik weichen, und diese gemischt poetische Quelle war eine der ersten, die man umlenkte. Schon im Anfang des 18. Jahrhunderts gibt die Herzogin von Maine in ihren berühmten Festen, den Nuits de Sceaux, ein Vorspiel. Sie läßt von ihrem Intendanten Mouret Stücke über die Szene des vierten Aktes der »Horatier« komponieren, in der der junge Horatier Camillus tötet: und ein Paar von Tänzern mimte den Vorgang nach der bloßen Musik. Es war die erste »Pantomime«, die die starren mathematischen Regeln des Balletts in eine psychologische Rhythmik auflöste. Die berühmte Sallé tanzte später antike actions dramatiques, die Ariadne, den Pygmalion, und wagte das Unerhörte, in einem gräzisierenden Musselinüberwurf pantomimische Gesten und Stellungen zu vollführen. Wieder ein Menschenalter später erschienen als bemerkenswerteste der modernen Schriften die anonymen Remarques sur la musique et la danse (Venedig 1773), die zum erstenmal eine natürliche Abneigung gegen alles Antiquarische zeigen. Ein geistvoller Mann ließ seinen Spott gegen das Nonsens des Balletts sprühen – aus Bonsens. Die Ballettprogramme, die stillosen Mischungen mit Gesang, die ewigen Süßlichkeiten der Triomphes d'Hymen regen ihn auf. Diese steifen Tänze erinnern ihn an die Soldaten des großen Friedrich. Es fehlte nur noch, die Annalen des Tacitus zu choreographieren, wo das ganze römische Reich tanzt, die Gründung Roms und die Eroberung Afrikas zum Ballett wird, Cannä und Karthago in Kapriolen exekutiert werden, Hannibal und Scipio einen pas de deux ausführen, Cicero in doppelten Entrechats zum Senat spricht und zum Schluß Cäsar von Brutus en cadence getötet wird. Doch der Autor ist bitter. Er geht selbst über die Pantomimen seiner Zeit spöttelnd hinweg: stumme Dramen, wie von stummen Menschen, ein unerträgliches Vergnügen. Common sense zersetzt zuletzt die ganze Kunst, die nicht eine äußere, sondern eine innere Wahrheit und Ehrlichkeit verlangt.

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Der Einfluß der ersten Briefe von Noverre, die von 1760 an erschienen, liegt hier schon vor. Doch ist Noverre niemals so radikal geworden, aus Vernunft auch die Pantomime zu verurteilen. Er befestigt die Pantomime, das Ballet d'action gegen die alte symmetrisch-mathematische Schule, er versucht durch die Pantomime das Ballett zu retten. An Höhepunkten der Handlung läßt er, wie Wagner in der Oper, das Ensemble zu. Das Ensemble, die Entree soll nicht aufhören, es soll nur lyrische Accente geben einer Handlung, die in dramatischer Mimik, ohne Singen, ohne Sprechen einen würdigen Stoff darstelle.

Noverres berühmte Briefe über les arts imitateurs en général et sur la danse en particulier wurden in der Petersburger Ausgabe von 1803/4 gesammelt, und mit einer Auslese seiner Balletttexte vereinigt, die bei der Seltenheit erhaltener Pantomimen des 18. Jahrhunderts ihren literarischen Wert haben. Sie wurden ins Deutsche, Englische, Italienische übersetzt, und sind nicht bloß die wirksamste, sondern auch die beste und kultivierteste aller Schriften über Tanz geblieben, die einer vom Bau verfaßt hat. Eine gewisse weitschweifige Selbstverständlichkeit löst sich im Original vollkommen in die Eleganz der diskutierenden französischen Sprache auf. Noch heut leben sie vom feurigen Geist eines Reformators. Ein Optimismus, eine reine Leidenschaft spricht aus ihnen, wie aus Glucks Vorreden und Wagners Schriften. Obwohl die antiken Ideale, das Heroentum des Bathyllos und Pylades noch keineswegs überwunden sind, steht Noverre doch auf der vollen literarischen Höhe seiner Kunst, noch mehr: der Künste seiner Zeit. Manchmal geht er ihnen sogar voraus, wie die merkwürdige Schwärmerei dieses Rokokomenschen für die Gotik beweist. Man liest seine Seiten oft wie die Prophetien eines ersten Ruskin, der mit seinen konstruktiven Tendenzen die Begeisterung für jene wunderbare Epoche nordischer Kunst verband, in der Logik und Phantasie zu einem Gebilde märchenhafter Sicherheit verschmolzen.

Rationalist und Evolutionär in einem ist auch Noverre. Die Psychologie des Balletts ist das Erste, die Virtuosität das Letzte. Die alte Zeit kannte Rubrikentänze – ein Passepied, weil die Prevost es gut tanzt, eine Musette verfertigt für die Sallé und Herrn Dumoulin, die Tambourins für die Camargo, die Chaconnes und Passacaillen für Monsieur Dupré. Wie kann ein Ballett von den Spezialitäten der Tänzer abhängig sein? Frl. Lany ist Noverres Ideal: sie tanzt alles gut. Das Ballett ist nicht dazu da, die Anciennität der Tänzer in Szene zu setzen. Es ist Zeit mit folgender Logik zu brechen: Vestris ist der erste Tänzer, kann also nur im letzten Akt tanzen.

Noverre ist ein Nivelleur der Virtuosität, und ebenso der Gattung. Die raisonnierende Denkweise seiner Zeit führt ihn noch näher an die Vergleiche mit Poesie und Malerei, die bei seinen Vorgängern schon gern anklangen. Der Rubenszyklus aus dem Palais Luxembourg, der die Geschichte Marias von Medici ganz in den allegorischen und mythologischen Verbrämungen alter Feststile erzählt, gibt seiner Phantasie Reize. Aber ein schönes Bild ist nur die Kopie der Natur, ein schönes Ballett ist mehr, ist die Natur selbst, durch sämtliche Künste verschönert. Gesamtkunstwerk – Gedanken ziehen durch seinen Kopf, wie sie die Vorstellungen aller bewußten Theaterreformatoren bestimmt haben. Die Malerei, die Architektur, die Perspektive, die Optik, die Musik erhöhen die Wirkung der guten Balletts, die wie verdichtete Schönheiten poetischer Stoffe gebildet sind, ohne den realistischen Zwang der Dialoge und die Idealität der Gesänge. Sie sind Abstrakta berühmter mythischer und zeitgenössischer Dichtungen. Noverre fühlt sich in diesem Gedankengange so wohl, daß er das Potpourri von Motiven des Diderot, Molière, Crebillon, Racine, das er in seinem Jaloux sans rival in spanische Kleider steckt, wie ein Muster beschreibt. Mit Diderots bürgerlichem Drama hält er sich eng verwandt. Garricks Schauspielkunst, der er einige fanatische Briefe widmet, befreit ihm die Mimik. Die Maler teilt er in die drei Ballettklassen: Vanloo ist der serieux, Boucher demi-caractère, Teniers comique. Von den Schulregeln hält er nicht viel, die Choreographie hat er »gelernt und vergessen« – Bilder von Boucher und Cochin sind die wahre Schule des Tänzers.

Dreißig Balletteusen machen sechs Pirouetten zu sechs Touren – das sind 1080 Pirouettentouren in einem Ballett. Wen befriedigt die Fülle dieser Axendrehungen? Der Derwisch Menelaus hatte sich sogar vierzehn Tage lang ohne Aufhören gedreht. Aber er war dadurch kein Künstler geworden. Die körperlichen Exerzitien haben ihren großen Wert zur mechanischen Ausbildung, aber das Kunstwerk verlangt Seele. Gerade Noverre ist ein zu scharfer Körperkenner, um nicht das Recht zu haben, gegen die Seelenverächter aufzutreten. Seine Briefe über die anatomischen Grundlagen des Gehens und Stehens, über den Einfluß der Körperanomalien, der X- und O-Beine auf den Darstellungsstil, die elastischen Fähigkeiten, die Technik des Battements sind das Eindringlichste und Kennerhafteste, was in dieser Beziehung geschrieben worden ist. Das Auswärtsdrehen der Füße und der Beine bei jeder Übung wird als das notwendigste Mittel der Körperherrschaft erkannt. Noverre weiß sehr gut, daß dies gegen die Natur ist, aber wie eine edle Baumzucht oder auch ein gutes Violinspiel nur durch gewisse anfängliche Gewaltsamkeiten zu erreichen ist, so hat nicht minder die Tanzlehre ihre Nature changée, um als Tanzkunst Nature vraie zu bleiben.

Der natürliche Eindruck des Bühnenbildes wird durch eine wohlabgewogene Mitte zwischen Nachahmung und Verschönerung erreicht. Das Ballett ist die verschönerte Nachahmung. Die Figur der typisierte Charakter. Es ist ebenso gefährlich, sagt dieser kluge Dialektiker, das Modell zu sehr zu verschönern als zu verhäßlichen. Das Rampenlicht verzerrt die Beleuchtung, darum ist es von Übel. Beleuchtung, Koloristik muß in einer vollendeten Harmonie sich dem Auge bieten. Auch in der Dekoration und Kostümfrage ist die Uniformität wie die Virtuosität vergangener Stile zu überwinden. Ausdruck und Wahrheit ist alles. Um die Wahrheit der Proportionen zu erreichen, sind abziehende Truppen von immer kleineren Figuranten darzustellen, die die Illusion der Perspektive hervorrufen, und diese »dégradation« wird von einer Musik begleitet, die immer leiser und leiser verklingt – ein Effekt, den das Ballett fortan durch die Abstufung ganz-, mittel- und halberwachsener Truppen gern benutzt hat. Wie die Verhältnisse, sind die Farben abzustufen. Die Farben müssen sprechen, nicht maskieren. In seinen Fêtes du serail freute er sich über die neue und feine Nüancierung des Blau und Rosa, das als crescendo und decrescendo von den hellsten und zartesten bis in die kräftigsten Töne flutete und ebbte. Die Zeit besiegt den Raum, die Entwicklung die Tektonik. Das Ballett wird inhaltlich und darstellerisch aus dem geometrischen und virtuosen Schema der Renaissance zum modernen bewegten seelischen Prozeß, wie die Garten- und Wasserkünste, wie Sport und Militär, wie die Gesellschaftsvergnügungen, wie alle Ausdrucksformen künstlerischer Feierstunden. Noverre ist der Prophet einer neuen Zeit in seinem Lande. Und er verdammt nur folgerichtig alle die Renaissancegerüste auch der Kleidung, die typischen Masken, die steifen Röcke, die uniformen Symbole, die man im Magazin des Herrn Ducreux einkaufte und nach dem Kodex verwendete. Nicht Schema, sondern Verwandlungskunst, Spiel des Ausdrucks, Beweglichkeit der Glieder ist des Pantomimen Ideal. Was die Sallé und Clairon, die Chassé und Gardel aus erwachendem persönlichen Interesse an ihrer Kunst gegen alle Theorie der Körpertonnen und Kopffederbüsche durchsetzten, das ist die Echtheit und Selbständigkeit. Mit welchem Mitleid blickte Noverre auf die Darsteller seiner Horatier, die von ihrer Tracht erdrückt wurden, statt sie in den Dienst ihres Ausdrucks zu stellen: Camillus mit zwei monströsen Schenkelkörben, einer drei Fuß hohen Coiffure aus Blumen und Bändern, die Horatier und Curiatier mit fünf reifgepuderten Haarlocken jederseits und einer Pyramidenfrisur, die selbst für uns den Stilreiz dieser anachronistischen Masken verloren hätte. Sehr langsam erreichte er die Moralisierung dieses Betriebs.

Gerade seine Horatier wurden verspottet. Man hatte vergessen, daß die Herzogin von Maine einst mit demselben Corneilleschen Stoffe die ersten pantomimischen Versuche gewagt hatte. Jetzt war man so unverständig, zu erwidern, man würde erst applaudieren, wenn die Maximen des La Rochefoucault in Pirouetten gesetzt würden. Noverre hatte es nicht leicht gehabt und als er, 75 Jahre alt, seine sämtlichen Werke einleitete, konnte er nicht viel mehr sagen, als daß einiges indessen wohl besser geworden sei. Er war viel herumgekommen. Am Berliner Hofe hatte er sich mit dem charmanten Heinrich besser gestanden als mit dem sparsamen Friedrich. In London hatte er von der Kunst Garricks mehr gewonnen, als vom Hofe. Wie Gluck kam er erst über das Ausland nach Paris. Stuttgart und Wien führten ihn ein. Nachdem er in Lyon vier reifrocklose Balletts ohne pariser Erfolg versucht hatte, mußte man seine Pantomimen als Intermezzi einschmuggeln, um sie gefallen zu lassen. Erst Marie Antoinette schenkte ihm die Gunst, die er sich durch eine fast zu zeitige Reformation eines konservativen Kunstkörpers verzögert hatte. Er, der Streiter der Raison, hatte es sich bieten lassen müssen, auf seine Medea den Spottvers zu lesen:

Jusques dans les ballets il faut de la raison,
je n'aime point à voir les enfants de Jason
égorgés en dansant par leur mère qui danse,
sous des coups mesures expirer en cadence.

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Dazu hatte er geschrieben und geschrieben, daß das Ballett kein Tanzvergnügen sei? Daß es textlich vor der Musik zu konzipieren sei, wie er selbst Gluck den Inhalt des ballet des sauvages in der taurischen Iphigenie angegeben hatte, ehe dieser es komponierte? Er hatte ein Lebenswerk an Kämpfen, Aufklärungen, Briefen, Kompositionen hinter sich, anakreontische Stoffe wie die Toilette de Venus, Embarquement de Cythère, Réjouissances flamandes, fêtes de Vauxhall, Jalousies de sérail, Moralisches und Allegorisches hatte er geschrieben, Ajax, Medea, beide Iphigenien, Agamemnons Tod mit dem tragischen Schluß des von Eumeniden umrahmten Orest, Orpheus, Psyche, Dido, Alceste, er hatte sich niemals, als erster, vor tragischen Ausgängen gefürchtet, noch ehe die Oper an solche Experimente dachte. Er hatte von Voltaire eine höfliche Zusage erhalten, aus der Henriade einen Ballettstoff nehmen zu dürfen. Hatte über die richtigen Theatersäle, Anatomie, Dichtkunst, Feuerwerk und die Unterschiede der italienischen und französischen Musik Ansichten geäußert. Er hatte sogar den Christusorden erhalten. Aber er hatte sein Blut verspritzt. Die Tragik seiner Reformation lag in der Teufelaustreibung, die dem Ballett statt der heißen Unvernunft und ehrgeizigen Virtuosität die Tugenden der Logik, Verständigkeit, Verständlichkeit geben wollte. Es war kein Wunder, dass sich diese Kunst so schwer zu der dramatischen Konsequenz entschloß, und sich zuletzt doch entschließen mußte. Sie wußte, daß sie ihren Glanz, vielleicht ihre Existenz verliert, wenn sie die Festesfreude der Renaissance aufgibt. Aber alle Aufklärung ist unbarmherzig gegen Dionysos.

Che è mai la gloria. Das ganze rauschende Schauspiel, die ideale Verehrung des Balletts als einer Apotheose höchster Abstraktionen verschwinden im Strome der Zeit. Noverres Einflüsse beherrschen das folgende Jahrhundert, zwingen alle Kulturtheater, aber seine Werke versinken und ihre Begeisterung und ihr Glaube verlischt. Mimen sind tot, wenn sie gestorben sind, doch die Dichtung lebt. Pantomimen sind an dem Mimenschicksal beteiligt. Noverre schon weiß, daß man ein Ballett nicht beschreiben, nur sehen kann. Mit seinen Aufführungen lebt es, mit ihnen stirbt es. Vergeblich versuchen wir die verführerischen Bewegungen seiner Darsteller zu rekonstruieren, glänzende Namen klingen uns im Ohr, Blumen und nichts als Blumen sehen wir gestreut, aber die Literatur gewinnt kein festes Erbe. Nicht bloß im alten Rom werden Tänzerinnen zu Kaiserinnen und Göttinnen, ohne auch nur einen Hauch ihrer Kunst zu hinterlassen, während Homer, dem sie die Stoffe entnahmen, sich aus dem Geiste der Zeiten immer wieder neu ergänzt hat.

Familien haben sich am Tanze abgearbeitet. Die Laval, die Vestris, die Gardel, die Malter, die Lany, die Blasis, die Blache, die Taglioni versorgten generationsweise die Ballettbühne. Die Sterne wurden doppelt bewundert, wenn sie sich in berühmten Ensembles zusammenfanden: wenn die Pelin und Allard mit den Lany und Dauberval einen pas de quatre inszenierten, oder der junge Vestris mit Dauberval, der Guimard, der Agelin in den Petits riens sich vereinten, die Noverre und Mozart zu Autoren hatten. Die Tanzliteratur, besonders Barons lettres à Sophie von 1825, die die begabteste Nachfolge Noverres bedeuten, überschüttet uns mit Geschichten von Tänzern und Tänzerinnen, die im Interesse des Tages untergehn. Man schwärmt für die ernste, noble Eleganz des Vestris, für die Kraft Gardels, für die Ausdrucksfähigkeit Daubervals, für die komischen Künste Lanys. Was wissen wir davon? Endlose Zetteleien finden zwischen der Dauberval- und der Gardelgruppe statt. Über ein Kapitel dieser Kabalen schrieb Jullien in seiner Opera secret au XVIII. siècle unter dem Titel mariage chorégraphique. Es sind in Daubervals, des Noverreschülers, Leben dieselben typischen Reisen nach der Provinz und in die große Welt, wie im Kurrikulum aller Kollegen. Dauberval verfertigte vielgespielte Balletts: das schlechtbewachte Mädchen, der Deserteur, Epreuve villageoise, Telemaque, Sylvie, meist im Stil demi-caractère, den er vertrat. Gardel der Alte, etwas jünger als sein Feind Dauberval, Pierre Gabriel Gardel bewegt sich in etwas ernsteren Bahnen: er komponiert seinen Telemach, Paris, Rückkehr des Zephir, Achill auf Skyros, Paul und Virginie, Alexander und Apelles, Marsfest, Pomona, Andromeda, l'Enfant prodigue, und als Tänzer gibt er erst der Mode gehorchend langsam seinen Ernst, der ihn an die Seite des alten Vestris rückte, zu gunsten einer größeren Virtuosität auf, in der er mit dem jungen Vestris rivalisieren wollte. Seine Frau, eine berühmte Gesellschafterin, ist Berufsgenossin, wie es auch Daubervals Frau war. Dauberval war ein Jäger, Gardel aber ein Violinist, und so komponiert er seine Dansomanie auf ein eigenes Violinsolo. Sein größter Erfolg blieb die Psyche. Sie ist 912 mal gegeben worden. Ihr Programm findet man im »Neuen Tanz- und Ballkalender von 1801.«

In Italien klingen die Namen der Pallerini, die für mythologische Statuen geschaffen scheint, und deren Kunst wie die der großen, schönen, leichten Molinari sich am besten ohne Profil gibt. Die Maria Conti bezaubert die Sinne. Giuseppe Bocci ist der alte Buffo. Die Plejade der Scala wird unendlich oft besungen: die Bocci, Baderna, Domenichettis, Fabbri, Ferraris, Fuoco, Granzini. Die Tänzerinnen verdrängen die Tänzer. Maria Taglioni fliegt als Sylphide über Bühne und Leben. Und der letzte große Tänzer, Clodoche, der einst mit einigen Beamten der pompes funèbres berühmte Quadrillen getanzt hatte, zieht sich als Philosoph und Möbelfabrikant ins Privatleben zurück. Über seiner Tür steht: Au vieux Clodoche.

Die Taglioni hatte 1832 den Grafen Gilbert des Voisins geheiratet. Aber er hatte es vergessen. Sie wird ihm gelegentlich als seine frühere Frau vorgestellt, und er findet die Worte: Après tout, c'est possible. Die Maillard war Royalistin gewesen, aber es hinderte sie nicht, in der Revolutionszeit die Liberté so bezaubernd darzustellen, daß alle Welt vor ihr auf den Knien lag. Die Revolutionäre sagten zu ihr: ich würde dich zur Guillotine schicken, aber erstens lohnt es sich nicht mit dir, und zweitens brauche ich dich zu meinem Amusement. Die Geschichte von der Maillard ist besser als die von der Taglioni. Denn man braucht zu dem Erlebnis mit dem Grafen Gilbert nicht tanzen zu können, aber zu dieser Ironie führt nur die Gemeinheit des Theaters und der Politik. Castil Blaze hat die Ballets depuis Bacchus jusqu'à Mlle Taglioni geschrieben. Er ist die plaudersamste Quelle für die Tänzerinnenabenteuer jeden Stils, die nicht immer den typischen Wert gut gesetzter Anekdoten haben.

Die Sallé, die Camargo, die Guimard, mit aller Höflichkeit gegen ihre Nachfolgerinnen bis zu diesem Tage, die von dem kühlen Historiker verschwiegen werden – bleiben die besungensten, bedichtetsten, bemaltesten Stars der hohen Zeit des Balletts. Die Geschichte hat ihre Akten in epigrammatischen und feuilletonistischen Papieren wohlgeordnet in einem Archiv bewahrt, dessen Wand Lancrets berühmtes Camargobildnis, eine Blume des Rokoko, ziert. Dieses sind drei Typen: die Camargo als Virtuosin, die Sallé als Expressionistin, die Guimard als Lebenskünstlerin.

Die Camargo ist die Nichte eines spanischen Inquisitors, der Juden und Hexen verbrannte. Durch eine übergroße Anzahl von Entrechats findet sie Absolution für die Sünden der Familie. Ihre Größe ist die Royale und der Entrechat coupé sans frottement. Die Entrechats macht sie 1730 à quatre, was eine spätere Zeit, die sie wie die alten Italiener wieder à seize machte, nur belächeln konnte. Im übrigen war sie im Leben ebenso traurig, wie auf der Bühne vergnügt.

Die Sallé hat nie einen Entrechat oder eine Pirouette gemacht. Sie war, was man voluptueuse nannte, voll von suggestiver und reizender Bewegung. Sie ist die erste große Künstlerin der Pantomime. Die Londoner interessierten sich sehr dafür und warfen ihr Börsen und Guineen auf die Bühne, die wie Bonbons in Banknoten gewickelt waren. Ihre Satyrn trugen sie in Säcken fort.

Das Bild der Guimard ist literarisch am wertvollsten gefaßt worden. Edmond de Goncourt hat ihr einen Band gewidmet, in dem der größte Kenner des 18. Jahrhunderts alles an Gemälden und Statuen, an Polizeiakten und Memoiren vereinigte, was sich auf diese Dame bezog, die das Leben sicher noch besser verstanden hat als ihre Kunst. Goncourt hat den rechten Griff getan. Ihre Erlebnisse sind die vollkommenste Galerie aller Tänzerinnenschicksale, ihre Abenteuer sind ein farbiges gerahmtes Gemälde.

Die Allard ist einmal verhindert, als Vertreterin debütiert die Guimard. Erste Liebelei mit einem Tänzer namens Léger. Kontraktsorgen und -erfolge. Gleitet vom Grafen Bourtourlin zum Grafen Rochefort. Ein Liebesphilosoph und Kammerdiener, Jean Benjamin de la Borde wird der amant utile. Amant honoraire in größtem Stile ist für lange Zeit de Soubise, der Sultan des Balletts, den man von Moreaus Stich »Petit loge« kennt, wo ihm soeben eine Novize vorgestellt wird. Er gibt ihr von 1768 an 2000 écus monatlich. Typische Armverletzung durch Dekorationen: also erneuter Beifall beim Auftreten. Drei schwärmende wöchentliche Soupers: das erste für die Hofgesellschaft und die Ehrenmänner, das zweite für die Künstler und Schriftsteller, das dritte eine Orgie verführerischer und lasciver Schönheiten. Requisiten des großen Lebens: ein Amoretten- und Grazien-Wagen auf der promenade de Longchamps und eine effektvoll inszenierte Wohltätigkeit. Ein kleiner Bankrott. Ein ländliches Theater in Pantin mit niedlichen unanständigen Stücken und Späßen: das Trio des pochettespielenden Prinzen von Soubise, des taktschlagenden Laborde und des hornblasenden Herzensfreundes Dauberval. Als Zahlender rückt der Bischof von Orléans ein. Typischer Spott über Magerkeit – die Sophie Arnould sagt: ich verstehe nicht, wie dieser kleine Seidenwurm nicht fett wird, er lebt auf einem so guten Blatt. Ein neues Hotel wird eröffnet: der Temple de Terpsichore in der Chaussée d'Antin, verbunden mit Theater. Triumphe in der Oper – ein Theaterzettel des Gardelschen Balletts Chercheuse d'Esprit nach Favarts komischer Oper von 1777: Reiche Farmerin Frl. Allard, Dorfnotar Herr Despreaux, Gelehrter Herr Gardel, Nicette Frl. Guimard, Alain Gardel der Ältere, l'Eveillé Dauberval. Die Guimard erfindet Toiletten, nach denen sich Marie Antoinette richtet. Ihre Kleider kosten der Oper im Jahre 30&nbsp;000 livres. Bocquet zeichnet ihre Kostüme, Delaistre führt sie aus. Neue typische Abenteuer: Brand des Theaters, Rettung im Hemde, fortgesetzte Kabalen, Eifersüchteleien, Liebschaften, Rücktrittsgesuche, Gehaltserhöhungen, londoner Reise, zum Schluß Lotterie-Verkauf ihres Hauses. Das Alter naht. Sie heiratet 46jährig den 15 Jahre jüngeren Kollegen Despreaux, einen vortrefflichen Chansonnier, der sofort sein Glück besingt. Politische Verschiebung: die Guimard wird Citoyenne. Auf der vorletzten Seite ihres Lebens steht ein wunderbarer Abschied: in einem kleinen Haustheater tanzen Despreaux und die Guimard bei halbaufgezogenem Vorhang – nur die Beine sind sichtbar. Auf der letzten Seite: sie tanzt nur noch mit den Fingern vor einem kleinen Zuschauerkreis: Sie stirbt 1816 – unbeachtet.

Unter den Tanzdichtern verdienen zwei Porträts einen besonderen Platz: Viganò, der halb vergessene Noverre Italiens, und Blasis, der internationale Stilist.

Salvatore Viganò ist Neapolitaner, 1769 geboren, wieder ein kleiner, beweglicher Mensch, wieder ein Sanguiniker, zu Zeiten aufgeregt, zu Zeiten stumpf, aber ein großer Arbeiter vor dem Herrn, der die Nächte lang über Pantomimen nachdenkt und sie aller Arten ohne Modelle und Szenen erfindet: Prometheus, Tochter der Luft, Richard Löwenherz, Isthmische Spiele, Coriolan, die Sterlitzen, die Hussiten, Numa, die Mirra nach Alfieri, Psammi Re d'Egitto, Othello, Vestalin, Titanen, Alexander in Indien, Sabinerinnen, der neue Pygmalion, der Schuhmacher von Montpellier, die Falschmünzer – mehr kann man nicht verlangen. Noch schätzte man die Tanzdichter und behandelte sie wie Alfieri, Goldoni oder Metastasio. Noch gaben verliebte und reiche Venezianerinnen für diese Klasse von Poeten ein Vermögen aus. Es war die Hochkultur der Pantomime. Man sagte: der stumme Chor ist eigentlich viel logischer als der unisonoredende antike. Man sagte: im Ballett Othello geht die Handlung viel schneller, knapper, dramatischer als im Stücke Shakespeares. Die eine Angst nur verwirrte die Köpfe: wie kann man diese großen Apotheosen der Menschheit und ihrer Kultur der Nachwelt überliefern? Viganò versuchte es mit Erfindungen mimischer Alphabete, oder mit Friesen, die die Ballette als laufende Bilder aufzeichneten, nach Takten geteilt. Die Mühe seines Lebens war nicht zu retten. Die Illusionen flammten und verloschen, wie alle Feste der Erde. Seine Grabschrift hieß: A Salvatore Vigano, sommo tra i coreografi. Seine Biographie und Arbeitsliste erschien 1838 in einem bibliophilen Bändchen von Ritorni, das nur in 505 Exemplaren gedruckt wurde. In antiker Umgebung starrt seine Porträtbüste. Man muß solche Bücher lesen, um die Begeisterung und Diskussionswut jener großen Mailänder Ballettjahre zu verstehen: eine traurige Komödie, an so viel Augenblickskunst so viel Ewigkeitsmaßstäbe zu legen.

Wie Gardel in Paris, ist Viganò der geschickte Massenfeldherr in Mailand. Er begründet den Massenstil der Scala, der bis zu Manzottis Zeit von dort die europäischen Theater beherrschte und zuletzt in primitive Freiübungen billiger Statisten entartete. Wie Noverre kehrt er die Handlung und die Psychologie des Stückes heraus, um die geschlossenen Nummern nur als rhythmische Akzente zu benutzen. An sich schon tanzen die Italiener in der Pantomime mehr als die Franzosen, ihre azione ist nicht pedestre, sondern misurata – aber freilich wenn die Franzosen tanzen, tanzen sie besser. Das allgemeine Ballabile, die dekorative französische Coppia (pas de deux bis quatre) geht dem italienischen Pantomimiker gegen den Strich. Er liebt nationalere Farben: im Othello eine Furlana, im Psammi einen ägyptischen Tanz, in der Bianca einen sizilianischen, in der Vestalin einen ritualen. In den Titanen ist der ganze erste Akt von prägnanteren Balletts gefüllt. So steht die italienische Kunst zwischen den Überlieferungen des alten Balletts und der Reformation der neuen Pantomime.

Viganòs Prometeo war unter allen seinen bewunderten Mimiken die bewundertste. Seine Aufführung 1813 wurde zu einem Festtag für Mailand. Man glaubte endlich das Faustproblem gelöst zu haben. Es ist ein Stück, charakteristisch für seine Gattung, ein Beispiel für tausende. Der Vorhang hebt sich über einer Szene auf wilder unbebauter Erde. Verstreute kulturlose Menschen. Athletische Kämpfe um den Apfel. Eine Verwandlung führt durch Wolken in den Sternhimmel, die Sonne als transparente Kristallkugel, Lucifer, Aurora auf artigen Pferden. Die Schöpfungsmusik Haydns wird dazu gespielt. Mit ihrem Prometheus beschaut sich Minerva diese Ordnung der Welt. Der aber zündet die Fackel an. Zeus erscheint in Wolken und Gewitter. Bald sind wir wieder auf der Erde, in einem Wald. Überall steigen die vernünftigen Wesen heraus und laufen herum, nach Prometheus Willen. Amoretten zügeln sie. Sie gehn zum Tempel der Tugend. Verwandlung: Höhle des Vulkan. Amor streikt: er kann mit der prometheischen Ordnung nichts anfangen und zieht die unvernünftigen Menschen den vernünftigen vor, fliegt davon. Vulkan arbeitet an der Kaukasuskette. Fünfter Akt: allegorische Szene mit Musen und Kunstgenien im Tugendtempel. Amor schießt und findet in Lino und Eone seine unvernünftigen Opfer. Liebesszene, zu der sich Viganò nicht nehmen ließ eine sehr poetische Musik zu schreiben. Hymenäus traut. Da steigen die Zyklopen auf, um Prometheus zu fesseln. Die Tugend aber beschließt flugs, Jupiter zu versöhnen. Sechster Akt: Kaukasus, die Befreiung des Prometheus in der Noverreschen Dégradation. In drei Größenverhältnissen, von Kindern bis zu Erwachsenen, mit kleinen und großen und ganz großen Tieren, kommt ein perspektivisch zunehmender Siegeszug mit Herkules aus der Ferne. Allgemeine Versöhnung mit Himmelsapotheose in Puppen à la Mysterium.

Ein zeitgenössischer Rival von Viganò ist Gaetano Gioja, der durch einen Besuch von Vestris aus einem Jesuiten zu einem Balletttänzer wurde. Er ward als Trabant eingeschätzt: verhält sich zu Viganò wie Monti zu Alfieri, Nota zu Goldoni, Zeno zu Metastasio. Dies störte ihn nicht, 221 Ballette zu machen: Napoleon als César en Egypte, Mineurs Wallaques, Figaros Hochzeit, Nina pazza per amore, die beiden Grenadiere, Sapho, Donna militare, die Zauberflöte, Niobe, Kenilworth – von denen viele, etliche Male durchgesiebt, fast autorlos seitdem durch Europa gelaufen sind.

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Die nationalen Farben, die hier schon ihre Buntheit in das mythologisch-historisch-romantische Gewebe werfen, sind die Spezialität von Blasis. Blasis ist vielleicht der meistgedruckte und meistgelesene aller Ballett- und Tanzschriftsteller. Die europäische Kunst des Mailänder und Pariser Balletts um den Anfang des 19. Jahrhunderts, das feenhafte Augenschauspiel, das aus diesen stummen Festen sich entwickelt hatte, findet in ihm einen Maestro. Er hat sich Mühe gegeben über das Gesamtkunstwerk nachzudenken und hat eine Unmenge Schriften veröffentlicht, deren vollständiges Verzeichnis, einschließlich der historischen und philosophischen, man in seinem Notes upon dansing, London 1847 abgedruckt findet. In die Notes sind historische Stücke, frühere Schriften und Familiennachrichten aufgenommen. Die Grundlage bildet sein Manuel, dessen Übungstheorie im 1820er Traité schon enthalten ist. Das Manuel heißt in der englischen Ausgabe Code of Terpsichore. In dieser Weise wiederholen und verschieben sich seine Aufsätze über Nationaltänze, Ballettgeschichte, Übung und Komposition innerhalb der verschiedenen Ausgaben. In seinem l'huomo fisico, intellettuale e morale gibt er synoptische Tabellen von Bewegungen und Gesten, auf ein philosophisch-malerisch-ethisches System gebracht. Ein bezeichnendes Werk über hundert nationale Tänze hinterließ er ungedruckt. Er ist ein Großliterat des Tanzes, ein internationaler Ästhetiker des Nationalen, unter den Tanztheoretikern der romantische Akademiker, in dem die historische Bildung und Praxis, die seine Zeit schwärmerisch aufnahm, den choreographischen Ausdruck fand. Durch seine Schriften geht ein kultiviertes Theaterstilgefühl, eine reiche Literaturkenntnis und viel Lebenserfahrung, Aber es fehlt ihnen nicht die Reklamespiegelung des Virtuosen. Seine Schule ist gut mechanistisch, seine Logik nicht zu phantastisch, seine Geschmacksrichtung geklärt von antikischen und renaissancelichen Statuen, ein wenig Giovanni da Bologna gemischt mit Canova, eine Anwendung von Thorwaldsen auf den Masseneffekt des Skalastils, kunsthistorische Bildung in ein Tableau gestellt, in die »Arabeske« gegossen.

Blasis tanzt seine berühmten pas de deux mit der Virginia Léon; ein Venezianer zeichnet sie; zu den Bildern macht Barbara anakreontische Verse; diese komponiert Paganini. Zu Hause aber sitzt der Meister in seinem Mailänder Heim zwischen Büchern und Noten als Sammler von Gravuren, Zeichnungen, Statuen, Bildern, Schnitzereien, Kameen und Juwelen, Instrumenten und Antiquitäten, die auf 200 000 Mark geschätzt wurden. So wandeln sich die Tänzertypen. Aus dem bestallten Beauchamps, weltmännischen Pécour, literaturehrgeizigen Noverre wird der artiste-amateur Blasis, der seine Familie auf ein augusteisches Geschlecht zurückführt.

Die Ballette des Sammlers sind Sammelwerke der Kunst, gesehen durch das Temperament eines Tänzers. Nach Goethe macht er das Faustballett, er macht den Sommernachtstraum und den jungen Figaro, Byron in Venedig und den Don Quixote, Patroklus' Tod und Hermann und Lisbeth, Dibutade oder die Erfindung des Zeichnens und den falschen Lord, die orientalische Mokanna und den holländischen Maler, Cyrus und Dudley, Marcus Licinius und das nächtliche Abenteuer.

Er komponiert die neue Cachucha für die Baderna. Er bringt die nationalen Soli zu ihrem Weltruhm. Die Fanny Elßler exzellierte in der Cachucha, in der Varsovienne. Seitdem berauschte man sich an diesen nationalen Bewegungsrhythmen, die die Balletts der Opern zu färben begannen. O Marietta, wer deinen schlanken Leib sah, wie er sich, vom grünen Kleide überhaucht, in süßer Lust warf, deine braune Haut sich spannte, deine Augen tanzlüstern brannten, der Kopf und die Arme mänadisch sich senkten und hoben, in einer unwillkürlichen Harmonie ihrer Rhythmik, der weiß, daß alle Gesetze über die Opposition der Glieder und alle Choreographie der Drehungen vor diesem Zauber des lebendigen Lebens zu Papier wird. Dein Leib war in dem Leibe aller Spanierinnen und Asiatinnen, die ihre Chicas und Houras daherrasten und in einigen Bühnenminuten einen Daseinsrausch ungezügelter Leidenschaft verkörperten. Als ich dich auf dem kleinen Podium des Kabarets sah, fühlte ich vor deiner Antillenkunst alle Bücher ethnologischer Gelehrten erröten, Tanznamen und Tänzernamen aller Zonen wurden zu Schatten, Fragonards und Watteaus zu staubigen Vorhängen, die plakatgepriesenen Variétédivas zu frechen Schauspielerinnen und ich selbst zu einer grämlichen Schreiberseele, die nichts vermag, als wortlose Sinnlichkeit mit unsinnlichen Worten anzurauchen.

Ich doziere die Geschichte der nationalen Typentänze aus alten Scharteken. Weiß noch, wie ich mich freute, als ich eine vollständige Ausgabe des alten Lambranzi fand, beide Teile 1716 Nuova e curiosa scuola di balli teatrali, mit einem Titelblatt, auf dem das Porträt des Autors, die Choreographie einer Loure und ein Scaramuz sich findet, mit zahlreichen Puschnerschen Stichen, witzig dekoriert, darunter Predellen, die immer eine Clownerie oder einen Lebensspiegel zum Tanztypus bringen, Musik und Schrittlehre: was einen Kunsthistoriker in seiner Rarität und Güte über die Maßen erfreut. Ein altes Variété sämtlicher Bauernpantomimen, Rüpeltänze, italienischen Theaterfiguren vom »romanischen Habit«, id est die französische Ballettuniform seriöser Tänzer, bis zum Scaramuz mit seinen Weitschritten, Zwergmenschen, die lang werden, kleine Scaramuzen in Körben, Scheintote, die steif gekugelt und weggetragen werden, Blindenspäße à la Breughel, rautengemusterte Harlekins, gestreifte und zipfelmützige Skapins, ornamentierte bebrillte Mezzetins, farbenhalbierte Mattos, die Pantalons und Pulcinellen und die Bologneser Doktoren, alle mit ihren entsprechenden Weibern und ihrer entsprechenden Musik. Venezianische Kaufleute, englische und holländische Schiffer, lanzenbewehrte Schweizer, Fahnenträger und Gärtner mit römischen Statuen, eine Keilerei im Rhythmus, Köche mit Bratspießen, Winzer mit Bacchus, Steinmetzen mit Stuckfigur, Schmiede, Schneider, Schuster, Jäger, Racketspieler, Grenadiere, Türken, Mohren, gekettete Sklaven, Akrobaten vor Ruinen, Magier mit Zigeunerinnen – ein Rhythmusspiel aller Gewerbe, Stände und Theater, die sich beliebig vermehren ließen durch sämtliche Isabellen, Bagolins, Cintios, Brigadels und Ragonden, aufgelöst in die Tingeltangelornamentik des Lebens, eingekettet in die Stilgeschichte des Körperrhythmus von der commedia italiana über die Altweimarer Schauspielerregeln zur japanischen Gauklerimpression: es ist genug. Man schaudert vor den Grenzen dieser Perspektive und bittet um Vergebung für ein wenig Intuition, die sich nicht als Buch einbinden läßt.

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Hogarth komponierte 1728 eine Tänzerreihe, an deren abwechselnd eleganten und karikierten Bewegungen er graphisch seine berühmte Wellentheorie auseinandersetzte. Goethe pries den Schauspielern die Geradlinigkeit und Frontalität des Bühnenbildes. Degas schneidet die Ballettsäle mit japanischer Kaprice aus, um in einer künstlichen Bewegung künstliche Ruhe zu genießen. Renouard zeichnet Mappen von Balletteusen, um die Rokokoplastik dieser Spitzenrockprinzessinnen in allen Typen spielen zu lassen. Thomas Theodor Heine entwickelt aus der Gemeinheit der Barrisons suggestive Symbole ausgestreckter Füße und hängender Stoffe, die Anton Lindners Buch auf seine dekorative Lebenstendenz illustrieren. Aus dem Tanz gewinnt Heine das Ornament, Somoff und Walser den Stil, Stuck das dionysische Relief des Lebens. Die Variétélinie Cherets tanzt die cancanierende Saharet, die einen australischen Wein im französischen Sektglas serviert, diejenige Toulouse Lautrecs stellt die Yvette Guilbert, die unsere Tragikomödie wie den Refrain eines Volksliedes zur Arabeske verdichtet, vor die Bühnenwand, diejenige Utamaros spielt und tanzt Sada Yacca in der kunstgewerblichen Harmonie plötzlicher Körperrhythmen mit wohlgestimmten Kostümfarben. Die Bewegungskontur des Menschen wird durch die Weltliteratur hindurch eine freiere, persönlichere, ihre Stilisierungen folgen den Anregungen des artistischen Geschmacks von der Antike bis zum Plakat, und aus dem Ballettkorps taucht immer schärfer umrissen die Solistin hervor, die die künstlerische Sehnsucht ihrer Zeit im Bilde ihres bewegten Körpers vollenden will.

Die Prevost tanzte als Erste Instrumentalsoli, die Rebel für sie schrieb: die virtuose Solistin. Die Hamilton, Frau des englischen Gesandten in Neapel, »tanzte« um 1800, die antike Statue: völlig unvirtuos, eine gebildete Dilettantin, vermied sie die Virtuosität, der Pose wegen. Eine grosse, schlanke Figur, eine antike Gesichtsform prädestiniren sie zu ihrem Beruf, die klassizistischen Neigungen der Zeit in lebendige Geste umzusetzen. Ihren Shawltanz schildert Frau v. Krüdener in der Valérie: in dunkelblauem Mousselin, das Haar zurückgestrichen, lächelnd den Shawl werfend, halb im Verhüllen, halb im Enthüllen bietet sie »schreckliche und rührende« Momente. Ihre Attitüden der Niobe, Galatee, Sibylle, Maria Magdalena, Heiligen Rosa, Medea, Iphigenie, Sophonisbe, Kleopatra, Terpsichore sind Typen der Sehnsucht, Reue, Furcht, Verzweiflung, Schwärmerei. Zwölf davon werden nach Rehbergs Zeichnungen gestochen, die Almanache und Tanzkalender schwärmen sie an. Ihre Rivalin wurde die Hendel-Schütz. Wie die Prevost mit der musikalischen Bildung sich gutgetan hatte, tun es diese mit der künstlerischen. Loie Fuller hundert Jahre später wird die Solistin der tanzenden Farbe. Die Prevost hatte virtuos getanzt, die Hamilton sich plastisch bewegt, die Füller bewegte nur ihr Kleid, das vielgefaltete, schlingende, spiralige, hochgeschwungene weiße Kleid, auf dem die gemischten farbenwandelnden elektrischen Reflektoren ihren Serpentintanz vollführten. Wir berauschten uns in tiefem Entzücken an diesem bewegten Impressionismus, der den elementaren Prozess reiner aufwallender Farben, die sich glühend umarmen, um sich zu verlieren und wiedergeboren zu werden, mit dekorativem Raffinement in Rhythmus brachte. Es war Zeitgefühl darin, eine schwebende menschliche Figur in einem tiffanyflüssigen Ornament untertauchen und vergleiten zu sehn, das unsere keramischen Neigungen in Musik setzte. Aber Loie Füller hielt die Reinheit nicht aus. Sie verlor sich in tektonische und zuletzt in philosophische Spielereien. Miss Isadora Duncan, wie sie eine Amerikanerin, scheiterte sofort an der Bildung. Die Prevost konnte tanzen, die Hamilton wollte nicht, die Fuller sollte nicht, aber die Duncan konnte nicht. Sie tanzte ohne Trikot, aber ihr Körper war ein Säulenbau mit schwachem Gebälk. Sie lächelte nicht das stilisierte Balletteusenlächeln, aber ihre Mienen hatten den Ausdruck einer Gouvernante. Sie versuchte malerische Stellungen durch lebhafte Bewegungen zu verbinden, aber ihr Rumpf war gänzlich unausgebildet. Sie ersetzte das Tänzerinnenkostüm durch poetisch gemeinte natürliche Festkleider, aber sie zeigte darin die Phantasie eines Schullehrers, der zwei Jahre seines Lebens verbummelt hat. Sie studierte Vasenbilder und Gemälde, aber hatte nicht die Spur von Einbildungskraft in der Erfindung und Versbildung orchestischer Motive. Sie tanzte zu bewährten klassischen Musikstücken, aber verriet sich in der falschen Rhythmisierung als höchst unmusikalisch. Sie tanzte Couperin und Chopin, Gluck und griechische Chöre, aber sie betrog uns um die Reformation des Balletts.

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Griechische Chöre! Es war der letzte Traum der Halbbildung, antike Rhythmen unserer nüanzierten Bewegungsanschauung zuzuführen. Man hatte mit den Erinnerungen an den antiken Tanz kirchliche Karnevale verteidigen, Hofballetts beschönigen, Pantomimen sanktionieren, lebende Bilder verklären wollen, aber unsere Sinne blieben an diesen humanistischen Promemorien kalt. Emmanuel in Paris hatte ein dickes Buch über den griechischen Tanz geschrieben, in dem er versuchte aus der Ballettschule der Oper Namen und Stellungen antiker Tanzbilder zu gewinnen, und er hatte sich gefreut, aus den 95 140 Kombinationen, die zwischen den Bewegungen sämtlicher Körperglieder möglich sind, unsere Hauptpas und einige Nebenpas auch in der alten Überlieferung aufweisen zu können. Aber das lebendige Bild des antiken Tanzes hat er so wenig geschaffen, wie es uns der lucianische Dialog über diese Kunst gibt, der nichts ist als Rhetorenübung, nichts als Chrie über mythologische Orchestik. Der antike Tanz war Mimik mit typischer Geberdensprache, die Bewegung ist persönlich und natürlich, keine Grammatik der Schritte bindet ihn und keine überliefert ihn: Mimische Szenen, die im Augenblick vergehn. Sie wachsen nicht in das Gedächtnis der Nachwelt, nicht in die Schule der Kunst, sie werden einzig und allein versteinert in der Plastik, die in hellenischem Geiste diese zwei Brücken zum Leben hatte: Athletik und Orchestik. Die Statuen sind die festgefrorenen Augenblicke dieser grossen rhythmischen Vergänglichkeiten: Liebes-, Kampf- und Kultmotive. All den Humanisten hätte der alte Athenäus schon die Wahrheit sagen können: »Es sind aber auch die Werke der alten Bildhauer Überreste des ehemaligen Tanzes.« Diese Statuen schauten mit klassischer Ruhe auf die kommenden Zeitalter herab, denen die beweglichen Reize ihrer Kunst mit den Empfindungen der Romantik und Musik aufgehn mußten. Um die pyrrhichischen Kämpfer spielen jetzt die Mädchen der Wedekind'schen Mine-Haha-Pension, mit ihren gegürteten Leibchen, die die nackten Beine freilassen, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, sie laufen leise mit den Fußspitzen über den Boden, daß sich kein Kieselstein rührt, schmale verjüngte Waden und ein Rumpf, der selbständig aus den Hüften herauswächst. Aber bleiben diese Mädchen in der paradiesischen Landschaft einer englischen Züchtung biegsamer nackter Körper? Sie werden zum Ballett befohlen, dessen Zinsen ihre Schule zahlen, sie hüllen ihre Schönheit in die Kostüme eines Berufs.

Die Meinung ist besser geworden, doch die Kunst ist verloren. Ausdruck ruft man, doch man hat nichts zum Ausdrücken. Die Pracht alter Feste verklingt in einer sentimentalen Neigung zur dekorativen Schönheit stummer bewegter Bilder. Die Kostüme befreien sich. Das stereotype Gazeröckchen, das das erste Empire geschaffen, das zweite verkürzt hatte, weicht mit unwilliger Erkenntnis den Tanzgewändern moderner Phantasie, und jedes Jahr entschließt sich eine andere Diva europäischer Bühnen schweren Herzens, die Künste ihrer Beine unter dem langen Kleid zu verstecken, das Malerei und Regie dem bildlichen Denken empfehlen. Ein letztes Gerüststück der fürstlichen Stile schwindet vor dem verfeinerten, konstruktiveren Wunsch dekorativ gebildeter Augen, die Tänzerin nur als Dienerin der bewegten Malerei und Plastik sehn zu wollen, nicht als Virtuosin eigenwilliger Akrobatik, sie mit Gewändern zu bekleiden, die als ein Echo dem Körper folgen und seine Formen in eine ausdrucksvolle verklingende zeitliche Rhythmik überführen, sie in Farben zu hüllen, die alle zarten Harmonien von Mattgrün und Violett, von Perlgrau und Silber, von Ocker und Kupfer durch Schnitt, Ausschnitt, Überschnitt des Kostüms in tausendfachen Spielen phantastischer Mischung permutieren lassen. Doch alle Florafeste Walter Cranes, alle Künstlerfeste Ludwig v. Hofmanns, alle Weiheprogramme von Behrens, alle Blumenmädchen in Libertyseiden können keinen Parsifal zwingen, aus einem mitleidsvollen Toren zu einem dionysischen Narren zu werden. Ballette sind Feste der Sinne, wir aber sind auf einer anderen Seite unserer Seele festlich geworden.

Ein letzter toller Karnevalszug bewegt sich um die große Null, die das Ballett als Literatur darstellt. Ein unerhörter festlicher Apparat wird angefahren. Zur großen Pariser Oper tritt die Konkurrenz von Porte St. Martin, London wird zur Metropole der Ausstattungskünste, in Wien werden um 1800 jährlich an zwanzig neue Ballettstücke gegeben, auf der Skalabühne wimmeln damals schon fünfhundert Personen, Kopenhagen unter Galeotti und Bournonville, der seine Memoiren schreiben mußte, Berlin in der Taglionizeit, Rußland vor allem, das diese französische Überlieferung am teuersten bewahrte, verschwenden Mittel und Kräfte an das Ballett: alles, um eine rauschende Kunst über die Katarakte der vieux jeux in den stillen unbeachteten Dichterstuben einiger Idealisten verfluten zu lassen. Ausdruck, Ausdruck! Die Wahrheit hat seit Noverre die liebliche Karnevalslüge schön aber sicher getötet.

Fünfundzwanzigtausend Menschen feierten das Fest des »höchsten Wesens«, das der Maler David entworfen hatte: religiöse Rhythmen in antiken Kostümen unter patriotischen Klängen. Statuen der Weisheit, Wagen der Freiheit, Trabanten der Lebensalter, Berge mit dem Vaterlandsaltar, die Nationalkonventler mit Blumen und Früchten, rosenbekränzte weiße Revolutions-Mädel, Verbrüderung, Hymnen, ein Volksrausch unter der Maske der Menschlichkeit: vive la république. Noch glaubte man an die Kraft der Volksfeste mit ihren Reigen unter ländlichen Bäumen. Fürstenglanz und Volksamusement schmelzen an ihren Enden zusammen. Das Theater bleibt übrig. Man fliegt durch die Lüfte, man fährt Schlittschuh und tanzt zu Schiffe über das Meer. Man spiegelt die pas de huit, man läßt die Kinder menuettieren und der lange Henri veroffenbacht die Antike. Nur die Mormonen noch eröffnen und schließen ihre Tanzfeste mit der Bitte um den Segen des Höchsten. Immer hilft es historisch zu sein. Man übt sich durch Bälle à la Maria Stuart, Trianon lebt auf, Lafontaine wird getanzt, alte Uniform wird diktiert, noch einmal probiert man die ländlichen Wirtschaften, man affektiert sich in Pavanen und Volten, man watteaut, blumenfestelt und fackeltanzt. 1805 wird für Pauline Borghese das uralte Fest des Königs René wiederholt, die Versuchung des heiligen Antonius wird 1832 zu einer Rekonstruktion des alten Opera Balletts mit Gesang und Tanz, 1837 wird in Versailles die historische Revue von Scribe und Auber abgenommen: ein tanzender Fries aller Geister Frankreichs in alten Kostümen, von einer symphonischen Musik begleitet, die die erfreuliche Entwicklung dieses Landes bis 1830 mutig illustriert. Hat man genug Historie, so faßt man sie chronologisch zusammen. Man chronochoreographiert die Wiener Walzer und die deutschen Märsche. Man baut der Geschichte des Tanzes einen Tempel auf der Weltausstellung, und im Palast Guadalcazar zu Madrid entwirft Meister Carbonero seine kleine Encyklopädie des großen spanischen Tanzes, in der Padrillas Liebeshof, Fortunys Vicaria und Valeras Novelle Pepita Jimenez in Bewegung gesetzt werden.

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Indessen ergötzt man sich am Korsaren, dem Adam seine Musik verschrieb, an der Sakuntala, die Gautier und Reyer vertanzten, dem Papillon vom Herrn Offenbach, der Coppelia und Sylvia unter Delibes' graziösen Rhythmen, der weise Nuitter versucht es noch mit Gretna-Green und Namouna, die Guirand und Lalo komponieren, Coppée und Widor umarmen sich in der Korrigane, Messager läßt die deux pigeons auffliegen und St. Saens streut seine geistreichen Einfälle über Fräulein Javotte. Die letzte feine Pantomime hieß Wormsers »Verlorener Sohn«. Keine schlechten Tänzer, die uns amüsieren wollen. Das Publikum aber landet in den Massenfreiübungen des Manzottischen Excelsior. Man vergaß die polnischen Milchmädchen und Soldatentöchter, die in jeder Saison neu aufgelegt wurden. Man vergaß die Adam-Taglionische Weiberkur, in der das Landmädchen Mazurka mit Schluck- und Jaugefühlen zu einer Gräfin wird. Hoguets Robert und Bertrand, die Diebe, tanzen Bankdirektoren und retten sich in einem öffentlichen Garten auf dem abgeschnittenen Luftballon. Satanella, ein feines Kaliber, überwindet ihren faustischen Studenten in vier Milieus, die abgeschiedenen Willybräute walzen ihre Kavaliere tot, Arquelin wird in die Luft geschossen, packt seine Knochen zusammen, erlebt Seestürme und Liebeshändel, venezianische und chinesische Abenteuer und verwandelt und verkleidet sich bis in die Puppen. Noch spukt die altehrwürdige Pomona in Laucherys Kopf, die Danaiden bei Hoguet und die Undine bei Taglioni. Doch lieblich-dumm klingen kleine bürgerliche Polterabendscherze, naive Militärbengalismen, viel unterbrochene Hochzeiten, Seeräuber, Brasilaffen und hinkende Teufel, mit unermüdlichen lntriguen auf dem Maskenball, in der Garderobe, auf der Bühne und beim Gewitter mit Schlußregenbogen. Man beginnt mit jungen Mädchenpensionaten, führt in ungarische Modewarenhäuser, und schließt in der Narrenanstalt. Flick und Flock aber sitzen die längste Zeit auf dem Kabel, um mit den Nereiden und Flußgöttern zu spielen, die wahrlich keine Holländer sind.

Was hatte Heine die Mythologie beschworen, um balletttanzende Ritter wieder zum Leben heidnischer Feste zurückzurufen? Kaum ein Theater kümmerte sich um seinen Liebhaber der Diana und seinen Doktor Faust, die mit den Göttern und Teufeln tanzen sollten. Die Götter bleiben im Exil und Faust heiratet, glaube ich doch die Bürgermeistertochter, weil er die Tänze um den goldenen Bock, die ihm seine Mephistophela durch sämtliche Zeitalter vorzaubert, nicht mehr sehen will. Wenn wir Bacchus leibhaftig zu schauen meinen, ist es ein verkleideter Kellermeister, und Jupiter lebt nicht mehr, er ist ein alter schwindelnder Greis auf der Kanincheninsel, der die Dichter verrückt macht. Die armen Dichter. Sie vertrauen ihre letzten Wahrheiten den Balletteusenbeinen an und ihre letzten dekorativen Schönheiten den Maschinenmeistern. Richard Dehmel baut in seinem »Lucifer« ein gewaltiges tanzendes Triptychon zusammen, von Klingerscher Gedankenschwere, das die alte Freundschaft des sternlockenden Lucifer mit der serpentinenen Venus und ihre Trennung und ihre neue Himmelfahrt zur Mutter mit dem Kinde durch die Sphären klingen und tanzen läßt. Aber es wird dem Heidengott nicht besser gehn als dem Bierbaumschen »Pan im Busch«, der die ganze schöne Pension mit ihren Professoren und Gouvernanten angrinst, nachdem er ein paar Menschenkinder glücklich gemacht zu haben glaubt. Die Ballettbesucher schrecken vor diesem Pan, wie er vor den Glocken unserer Theater schreckt. Arme idealische Dichter. Sie wollen ein Feld erobern, das von Gauklern eingenommen ist. In ihren stummen Stunden schaudern sie vor der Rücksichtslosigkeit des redenden Lebens und hängen den schönen Vorstellungen nach, die die lautlose Linie bewegter geistiger Bilder zeichnet. Hugo von Hofmannsthal schrieb, er schrieb nur das sinnvollste und das dekorativste aller Ballette, die jemals rhythmische Sinne bezauberten: den Triumph der Zeit. Zerbrochene Herzen und die Schwankungen liebenden Rausches, Tänzerinnenglück und Mädchenblüte, wehmutsvolle Erinnerung und die Trägheit des Vergessens, Ruhe antiker Haine und alle Götterfreundschaft, sie sinken in der Stunde dahin. Der Harfner aber steht auf der gespannten Brücke, und sie fängt zu leuchten an und der Brückenbogen ist nichts als ein Gewinde aus schönen, ineinander verflochtenen lebenden Gestalten, die eine wundervoll leuchtende Atmosphäre umgibt und über dem Abgrund hält. Was ist Jugend, was Alter? Die große Stunde nimmt sie in sich auf, um sie ewig zu wechseln, zu verflechten, wiederzugebären. Wir zählen die Stunden, aber die Zeit, sie triumphiert. Und alle amours déguisés, die an Fürstenhöfen lüsterne Augen ergötzten, beugen sich vor der Majestät dieses letzten aller Trionfi, den unsere Weisheit ersann, des Triumphzuges der Zeit, in der die bunten Stunden im Tanze von Augenblicksamoretten umspielt sind, in der die trägen, geflügelten, erhabenen und traurigen Stunden täglich ihre selbe Pantomime auffuhren und das Kind seine Hindin verläßt, der Knabe die Schmetterlinge vergißt, der Jüngling seine geliebte Stunde aus den Armen gibt, um als Mann wie der Pensiero auf dem Mediceergrab das Greisenalter zu erwarten: vita somnium breve.

Die Bühne hört nicht auf diese Träume. Der Triumph der Zeit zwingt sie, auch ohne aufgeführt zu werden. Sie hört nicht einmal auf das Satyrspiel der Wedekindschen Pantomimen, in denen Flöhe die Hofdamen zum Cancan reizen, Mücken unter der Bettdecke geschwollene Bäuche verursachen, und eine Kaiserin sich erwürgt, weil ein Athlet nicht mehr kann. Der Mummenschanz hat die Narrheit verloren und die Weisheit nicht verdient. Die Masken liegen herum, die Beine wirbeln, die Gesichter lächeln noch, aber die Glocke hat geläutet. Die Bühne verfinstert sich. Zwei kalkweiße Clowns springen hervor, sie kegeln mit ihren Köpfen und machen einen Überschlag an der Tabakspfeife, die der abnehmende Mond sich in den Mund gesteckt hat.

 


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