Carl Albrecht Bernoulli
Ull
Carl Albrecht Bernoulli

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Viertes Kapitel

1

Der alte Empfangslakai draußen in der Besuchshalle, mit seinem leisen Gang, in Frack und weißer Krawatte, brachte auf dem Tablett eine Karte. »Aber natürlich – mit Vergnügen – ich lasse bitten,« nickte Godwein. Und zu Heinrich: »Sie bleiben hier. Das 129 ist alte Garde der Volkswirtschaft. Da läßt sich für Sie etwas lernen.« Es wurde ein älterer Herr hereingeführt, der Oberpräsident der benachbarten Provinz. Auf den ersten Blick wußte Ull: ein ruhiger, wohlwollender, erfahrener Mann. Obwohl jetzt in hoher Staatsstellung, drückte er dem Studenten herzlich die Hand.

Das Gespräch stieß mitten in die derzeitigen innerpolitischen Kämpfe vor. Der Oberpräsident im würdigen Bart gefiel sich in seiner gemütlichen Altherrenrolle. Er spitzte aber die Ohren mehr, als er merken ließ. Hier gab es Neues zu hören. Gonßen AG. hatte in aller Stille unermeßliche Strecken unfruchtbaren Ödlandes angekauft und sie massenhaft mit einem fleischigen Unkraut bepflanzen lassen, zähe Fasern blieben zurück, wenn die Staude abdorrte. Daraus ließ sich ein zähes Gespinst herstellen. Das Probestück einer solchen billigen Matte oder auch Schnur konnte sofort vorgelegt werden. Der alte Herr besah und befühlte es genau und kargte mit seiner Anerkennung nicht.

Ull kehrte an seine Arbeit zurück. Die Herren blieben allein. Der Magistrat richtete seine Augen treuherzig auf Godwein und versicherte ihn seiner persönlichen Zuneigung, weil er nämlich mit ihm das Schicksal teile, eine Waschfrau zur Mutter zu haben. Auch die seinige lebe noch. Schon als Schüler sei er stolz vor die Klasse hingetreten mit dem bekannten Gedicht. Der würdige Volksmann hatte sogar schon einmal kurze Zeit einen Ministerposten bekleidet! In seinem dunklen Rock, der weißgestärkten Hemdenbrust und der schmalen schwarzen Halsbinde unter dem niederen Stehkragen sagte er her:

»Du siehst geschäftig bei dem Linnen
Die Alte dort in weißem Haar,
Die rüstigste der Wäscherinnen
Im sechsundsiebenzigsten Jahr.
So hat sie stets mit sauerm Schweiß
Ihr Brot in Ehr und Zucht gegessen,
Und ausgefüllt mit treuem Fleiß
Den Kreis, den Gott ihr zugemessen.«

130 Er hielt ein. Auf Godweins Mienen malte sich eisige Kälte. »Sollte ich mich täuschen? Sind Sie nicht ebenfalls stolz darauf, es so weit gebracht zu haben und dabei ein Sohn des werktätigen Volkes zu sein?«

Godwein zuckte die Achseln: »Wenn ich offen sein soll, nein, ich bin nicht gern an den Beruf meiner Mutter erinnert. Ich leide unter der Tatsache meiner Herkunft. Meine Mutter ist so klug, sich in den Abstand zu finden. Sie nimmt mir mein Unbehagen, ein krasser Emporkömmling zu sein, nicht übel. Sie begreift mein herablassendes Benehmen nach unten, wenn es sie auch schmerzt. Da Sie mich freimütig darauf anreden, möchte ich nichts beschönigen, Herr Oberpräsident. Verachten Sie mich jetzt?«

Den alten Herrn berührte dieses Geständnis peinlich. Seinem schlichten Sinne habe es natürlich ferne gelegen, sich einzumischen; doch blieb er sichtlich bestürzt und traf Anstalten, sich zurückzuziehen. Mit einem Male dicht vor der Tür blieb er stehen, kehrte sich Godwein zu und hielt den Blick streng auf ihn gerichtet. Seine Stimme klang hart. Alles an ihm legte Verwahrung ein gegen die Verletzung natürlicher Gefühle: »Von seiner Frau kann man sich scheiden lassen, von seiner Mutter nicht.« Schroff hingeworfen tönte dieser Satz. Er enthielt die Entrüstung des Volksgewissens gegen einen überheblichen Sohn. Der eine Emporkömmling, der stolz darauf war, von unten herzustammen, maß den anderen, der sich seiner Herkunft schämte, mit unverhohlenem Mißfallen.

Als Godwein wieder vor seinem Schreibtisch saß, lachte er höhnisch vor sich hin. Er beharrte auf seinem Trotz. War er etwa selber ein Rabenvater? Stand es seinen Kindern einmal nicht völlig frei, sich von ihm in ähnlicher Weise abzulösen, wie er zu seiner Mutter in einen wohlüberlegten Abstand getreten war? Von Gemütsgründen durfte man sich nicht verunzieren lassen. Ungekämmte Gefühle, das war nichts für ihn. Ingrimmig griff er zur Feder und ließ sie über das Blatt rasen.

131 Darauf rief er Heinrich wieder herüber, sprach den Entwurf mit ihm durch. In diesem Augenblick schrillte klirrend die Schelle des Fernsprechers. Es war versäumt worden, die Leitung auf den leiseren Zimmerdienst umzustellen, so daß nicht das leicht brummende Signal des Schnarrers, sondern die harte metallene Glocke sich meldete. »Was ist nun wieder los? Was sagen Sie da, sie ist nicht aufzufinden? Sie wissen nicht, wo sie hingeraten ist? Das ist ja furchtbar!« Aus dem sprudelnden Echo im Schallbecher schloß Heinrich auf eine erregte Frauenstimme. Wahrscheinlich Frau Fay. Es mußte schon eine Schreckensnachricht sein.

»Ottilie ist verschwunden!« rief Godwein hohl. Sein Gesicht zerfiel. Die linke Hälfte hing sozusagen herunter, war erloschen. In der rechten flammte das Auge rot auf, als Angstruf angezündet. Der Student glaubte Zeuge eines Schlaganfalls zu werden.

»Mein Gott, wie denn? Ich werde nach dem Arzte schicken.« Godwein setzte sich zurecht. Er unterbrach seine Partnerin wenig mehr, hörte minutenlang zu, griff auch zu Blei und Block, wiederholte einzelne Angaben, um sie sich bestätigen zu lassen, schrieb zwischenhinein Namen und Daten auf. Es war aber doch, wie wenn das Gesicht einen Stoß erhalten hätte und im Gefüge geborsten sei. Als die Verbindung abgeläutet war, blickte er Ull voll an. In seinen Zügen war der schroffe, hochmütige Wille vernichtet.

»Man weiß nicht, wo meine Tochter ist,« stöhnte er.

 

2

Seine Wirtin, die Waschfrau, empfing Heinrich unter der Tür. Ihm fiel auf, wie sehr ihr der Generaldirektor aus dem Gesicht geschnitten war. Aber die Mutter sah jetzt zweifellos jünger aus mit ihren roten Wangen und dem listigen Augenblinzeln. »Gehn Sie nur man 'rin in die gute Stube!« Er werde sich wundern, wozu eine alte Großmutter alles gut sei.

Die Alte blieb draußen. Vermutlich auf vorherigen Wink 132 Ottiliens. »Sie sind's, gnädiges Fräulein? Sie haben Ihre Eltern in eine furchtbare Bestürzung versetzt. Wie konnten Sie nur!« Er rückte einen Stuhl in ihre Nähe, da das Mädchen sitzenblieb. Mit ihm müsse sie sprechen. Die Großmutter wisse von nichts.

Ja, aber dann sofort ihrem Vater melden. »Sie machen sich keine Vorstellung, wie die Nachricht von Ihrem Verschwinden ihn beinahe tötete. Ich war bei ihm, als angerufen wurde.«

»Die Meisterin vermutlich. Ihr schlägt nun das Gewissen. Sie soll sich's ordentlich gesagt sein lassen.«

Zum ersten Male erblickte er das vielbesprochene Haar aus nächster Nähe und im Naturzustande, – wie ein dunkelglänzender Rahmen um das leuchtende Gesichtchen! Sie wies ihn unwillig zurecht mit der gebieterischen Eintracht von strafendem Blick und zuckenden Stirnfalten. »Meinem Vater Nachricht geben? Das werden Sie bleibenlassen. Sonst habe ich Sie zum letzten Male in meinem Leben eines Blickes gewürdigt. Wollen Sie mich überhaupt anhören? Dann unterbrechen Sie mich, bitte, nicht nach jedem Satz.« Das reizte ihn, ihr sogleich zu widersprechen. »Ihre Eltern ängstigen sich schwer um Sie. Auch setzen Sie sich persönlichen Unannehmlichkeiten aus. Ihr Herr Vater hat Sie der Fahndungsbehörde als vermißt gemeldet. Ich an Ihrer Stelle würde es vermeiden, daß in dieser Stunde Polizeihunde auf Ihre Fährte angesetzt werden –«

Sie lachte leichthin: »Ich habe keine Ursache, meinen Vater zu schonen. Er macht es mir seit langem schwer. Die Flucht unserer Meisterin! Und wie sie wiederkam und was sie da alles erzählte, das schlug dem Faß den Boden aus. Vorgestern bin ich verduftet und führe alle Beteiligten gründlich irre. Mag man nur ein paar Tage nach meiner Leiche suchen – mir ist das gleichgültig, euch andern gönn ich den Schrecken.« Sie drohte ihm mit dem Finger. Er solle ihr mitteilen, was er von diesem Julius Röde wisse, der in allen Zeitungen stehe, sogar abgebildet sei. Über Nacht ein 133 berühmter Mann! »Kennen Sie ihn? Das ist ja ein kostbarer Bursche, Gonßen AG. so gründlich hereinzulegen. Ich will ihn kennenlernen. Ich muß durchaus wissen, wie er aussieht. Und dann gehe ich gleich von hier weg zu meinem Paten, dem Geheimrat, und werde ihn gründlich auslachen für die unsterbliche Blamage seiner Firma.« Nun gab ein Wort das andere, sie verbat sich die Unterbrechung nicht länger. Nach einiger Zeit wurde auch die Großmutter beigezogen.

»Wer hat Ihnen denn mein Photo dort an die Wand gestiftet, Frau Godwein? Ach so, Papa! Das würde ich ihm heute nicht mehr gestatten!« sagte die Enkelin zu ihr.

 

Das Wohnhaus des Geheimrat Gonßen lag nah am Markt, doch in einem genügenden Abstand von dessen lautem Getriebe. Diese Stadtwohnung der Blumenstraße hob sich aus kleinern, meist vernachlässigten Fassaden ab. Hinter ihrer übrigen Baulinie rückte diese Nummer 7 um einige Meter zurück in einer schmalen, sauber gepflasterten Einbuchtung des Bürgersteigs. Die schlichte Hausfront war graubraun gehalten und im Erdgeschoß durch einen schmiedeeisernen Fensterschutz sowie eine fünfstufige, überdachte Portaltreppe ausgezeichnet. Im Innern öffnete sich ein Vorflur ebenfalls mit breiten Stufen und Absätzen, durch ragende Säulen und in Nischen aufgestellte Statuen wurde er zu einer feierlichen Halle. Erst nachdem abermals Glastüren sich auftaten, befand man sich im Hause selbst und konnte auf weitläufigen Gängen und Treppen den Zutritt zu den zahlreichen Einzelräumen gewinnen.

Der vornehme Herr beriet mit seinem Schneider über die Farbe eines Sakkoanzuges. Er prüfte ein braunrötliches Stoffmuster auf seine Weichheit und seinen gerundeten Faltenwurf, als ihm Ottilie gemeldet wurde. Nun war er schon im Besitze der Hiobspost und schätzte sich glücklich über den Besuch. Die Eile, die er hatte, das Mädchen gleich vor sich zu sehen, hielt ihn jedoch nicht davon ab, 134 erst noch eine Weile in seinem Ankleidezimmer zu verbringen und sich den passenden Selbstbinder mit einer mittelgroßen Perle zu bestecken.

Mit dem schönen selbstbewußten Mädchen unten in seinem nach der Straße zu gelegenen Herrenzimmer zusammen wurde es gleich sehr unterhaltend. Ihm gestand sie alles. Es war nicht mehr gegangen. Oli Fay bezog zu unbeherrscht ihre Privatangelegenheiten in den täglichen Umgang mit ihren Schülerinnen und ließ jeden Takt vermissen, der einer Ottilie von ihrer Mutter her angeboren war. Ein vertrautes geliebtes Gesicht sah Gonßen verjüngt vor sich. In demselben knospenden Alter hatte er einst Frau Elisabeth gekannt! Ottilie gestand ohne lange Umschweife, sie sei zu ihm geeilt, weil nur er sie zu schützen und zu verbergen imstande sei. Und plötzlich, nach einem zufälligen Blick durchs Fenster: »Ich traue meinen Augen nicht. Das wird eine schöne Bescherung geben!« Ein Kraftwagen glitt geräuschlos vor die Rampe der Einfahrt, ihm entstieg Frau Elisabeth.

»Siehst du, lieber Pate, was du uns bist. Jeder von uns denkt dasselbe. Wenn's schief geht, lenkt man seine Schritte nach der Blumenstraße! Geh! Empfange sie gleich! Nur keine Umschweife! Du eröffnest ihr, ich sei da. Alles Weitere ergibt sich von selbst.«

So gelangte Gonßen über seinen toten Punkt hinüber. »Ich denke auch, das wird das einfachste sein. Deiner Mutter kann ich dich doch nicht verheimlichen!« Ottilie blieb im Herrenzimmer zurück und erkühnte sich angesichts der zahlreichen Rauchbestecke zu der Bitte, sich inzwischen eine Zigarette anstecken zu dürfen.

Sie brauchte sich nicht lange zu gedulden. Der Geheimrat kam zurück, gefolgt von seinem Besuch. Die Frau umarmte das Mädchen schweigend. Ottilie spürte ihre Herzlichkeit. Sie schmiegte sich an ihre Mutter, legte ihr den Arm um den Rücken. Der Geheimrat setzte sich den Damen gegenüber.

Unter seinem Dach durfte er sich die vertrauliche Anrede erlauben, 135 sie war zu ihm gekommen mit der Bitte um Rat, als Hilfesuchende. »Meine liebe Frau Elisabeth, habe ich Sie drüben recht verstanden?« Er überließ es ihr, wieviel sie vor der Tochter wiederholen wollte.

»Ich dächte, ja –« versetzte sie herb. Ganz Dame, wendete sie sich an Ottilie. »Ich habe erklärt, daß ich nicht länger mit deinem Vater zusammen wohnen will.«

»Und ich erkläre, daß ich nicht länger der Tanzschule angehöre,« tönte es zurück.

Gonßen warnte: »Vorsicht! Man könnte daraus folgern, daß der Generaldirektor und Frau Oli Fay gemeinsame Sache machen gegen seine Familie. Das ist aber eine unrichtige Annahme«

»Es ist der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt,« erklärte Frau Godwein. Ihr Ton, ihre Haltung klangen sehr abweisend. »Ich lasse mich auf nichts ein. Wenn mein Mann von heute abend ab nicht im Hotel wohnt, ziehe ich morgen mit den Kleinen zu meinen Eltern und werde meinen Sohn Karl bitten, uns nachzufolgen, sobald er sein Abiturium in der Tasche hat.« Wie der Geheimrat es nur über sich bringe, Oli Fay als die einzige Ursache der Eheirrung hinzustellen. Er sei ja vor ein paar Tagen mit dabei gewesen. Geradezu zynisch habe sich da Godwein benommen. Sie hätte erwartet, entweder der Geheimrat oder Ull würden aufspringen und den Schild der männlichen Ehre über sie halten. Ihr Sohn sei zum Ritter noch zu jung. Er durfte vielleicht des Glaubens sein, einer der älteren Geschlechtsgenossen werde dazwischentreten. »Warum geschah nichts? Der arme Junge ist völlig benommen seit jenem Abend – ganz vor den Kopf geschlagen – schleicht herum – hintersinnt sich noch. Grübelt fortwährend, ist blaß wie eine Wand.« Die Art, wie sie nun abbrach, gab Gonßen zu verstehen, wenn er ihr nicht sofort beipflichte, so habe sie ihm nichts mehr zu sagen.

Der Geheimrat ließ sich nicht beirren. »Hören Sie, gnädige Frau 136 und liebe Freundin, ich habe auch meine Ehre – es hat mir noch niemals einer ungestraft daran gerührt. Aber jenen Abend haben wir alle schimpflich vor dem häßlichen Schicksal kuschen müssen. Sie meinen, ich hätte mich nicht geschämt? Ich prüfte mich und sprach mich frei. Was kann ich dafür, daß mir das Leben seine schmutzige Seite zukehrt? Ich bin nicht auf Schmutz eingerichtet. Ich habe ein Recht darauf, in einem solchen Falle glatt zu versagen. Ich weise Ihre Anspielung zurück.«

Ei der Tausend! dachte Frau Godwein, er macht Ernst, so habe ich ihn ja noch nie gesehen. Aber sie blieb in ihrer fürstlichen Zurückhaltung: »Mit alledem ist Godwein nicht entschuldigt. Er ist als Geschäftsherr so leistungsfähig und geistesgegenwärtig, daß er in seinem Privatleben nicht unzurechnungsfähig erklärt werden darf, wie Sie meinen.«

»Eben,« rief Gonßen, »wer übermenschliche Arbeit bewältigt, kann unmöglich auch noch ein gesitteter Mensch sein. Ich kann Ihnen nicht helfen. Es ist offenbar auch nicht nötig. Wie Sie durchblicken lassen, helfen Sie sich selber.«

»Ja,« sagte sie bitter, »ich helfe mir selbst. Entweder Godwein übernachtet von heute an, wo er will – oder ich bin morgen in Amadsheiden.«

»Was das Hotel anbetrifft, wo er fortan hausen soll,« versetzte Gonßen mit einem Lächeln, »so braucht es doch wohl keines in unserer Stadt zu sein. Sicher ist, daß Godwein von heute an sein Wanderleben antritt. Er wird im Schlafwagen der Eil- und Durchgangszüge seine Nächte zubringen oder auswärts in den großen Städten. Gestern sagte er mir bestimmt, heute abend werde er fahren.«

»Wirklich? Glaubst du das, Pate?« fiel Ottilie ein. »Dann freilich muß er vorher erfahren, daß ich lebe – und jetzt, wo du mich aufnimmst, darf er auch wissen, wo ich bin.« Sie gab ihre Zusammenkunft mit Ull bekannt, gestand auch, daß die Begegnung 137 bei ihrer Großmutter stattgefunden habe. Ull sei von ihr verhindert worden, dem Vater ein Lebenszeichen zukommen zu lassen. Das müsse nun von hier aus geschehen.

 

Frohgestimmt blieb Gonßen in seinem Herrenzimmer zurück. Es galt, Godwein in Kenntnis zu setzen. Er erhielt sofort Verbindung. Der Gegenruf drohte die Membrane des Schallbechers zu sprengen. »Sie ist bei Ihnen in der Blumenstraße!« Oh, gewiß, er kam zum Abendessen, um das Kind zu sehen. Noch fügte er bei, Karl habe als Zweiter bestanden. Er würde ihn gerne mitbringen, aber selbstverständlich gehöre der Sohn heute der Mutter.

Die Begrüßung zwischen Vater und Tochter verlief von seiner Seite mit Umarmung und Händestreicheln – von der ihrigen gnädig, mochte man sagen.

Dann brachte er Blätter zum Vorschein – Hauspläne. Sein Junge überraschte ihn mit der Bitte, zum Umbau auf der Löhr in den Wettbewerb einzutreten. Die alte Baude wurde gedrosselt und an ihrer Statt ein kubischer Zementbau von zehn oder doch von acht bis neun Meter Einheitsmaß erstellt. Dieser Würfel konnte später seitwärts und aufwärts wiederholt werden, falls für ein Hotel unterhalb der Hohen Koppe das Bedürfnis sich melde. »Ich habe Karls Pläne unserm Architekten gezeigt. Er fand fachmännisch kaum etwas daran auszusetzen – es sei verständig ausgedacht und für einen billigen Preis in Anbetracht der abgelegenen und hohen Lage auszuführen. Ein paar Autolasten Eisen und Draht – ein paar hundert Säcke Zement und sechs Wochen lang sechs Arbeiter – fertig ist die Laube.« Da es gemeinsamer Besitz der Fabrikleitung werden sollte, bot Godwein eine bare Einlage, wenn Gonßen den gleichen Einsatz halte.

Ottilie bezeigte eine närrische Freude. »Wenn Karl das bauen darf, möchte ich heiraten. Und wißt ihr, wen? Es ist wie an den Fingern abgezählt. Ich heirate entweder Ull oder euern berühmten 138 Röde da – ich habe zwar erst sein Bild in der Zeitung gesehen. Ich bin alt genug – ich will männliche Freundschaften schließen.« Und im Handumdrehn kramte sie das schönste Glaubensbekenntnis aus, wie sie es bei Oli Fay gelernt hatte. Der reine Katechismus, auswendig heruntergeleiert! Abschaffung der Ehe, des Privatbesitzes, des Rechts, – die Erhebung des Staates zum allgewaltigen Arbeitgeber, Austilgung aller Vergangenheit und eben namentlich jeder Religion. »Du kommst mir gerade recht,« schalt sie der Vater, »nichts da! Ihr könnt etwas erleben, wenn ihr solche Fähnlein schwenkt. Ich bin auch kein Philister.«

 

3

Heinrich vergrub sich zu Hause in die Arbeit. Seine Wirtin, Frau Brigitte Godwein, ließ es an nichts fehlen. Die Stunden, die Ottilie unter dem Dach ihrer Großmutter verbracht hatte, waren zu zählen; es waren ihrer nicht einmal zwei gewesen. Die Alte lachte und wischte sich dazu mit der Schurze die Augen trocken. »So eine Range! Fitzen sollte man sie. Aber sie ist nur ein dummes Gör und kann nichts dafür. Fitzen sollte man diese geilen Frauenzimmer, die verdrehen den albernen Kindern den Kopf.« Sie hatte, wie Heinrich erriet, freilich nur sehr verschwommene Anschauungen von dem Jugenddrang der Zeit, von der unaufhaltsamen Triebsicherheit der jungen Leute.

Hätte dagegen er das Mädchen bei sich gehabt, er hätte nicht anders die erziehende Hand nach ihr erhoben, als sie in wahrhaftem Sinne zu veredeln. Keinen Trieb hätte er ausgerottet – Tag und Nacht hätte er sie beobachtet und umkreist, um jene Schößlinge wegzuschneiden, die nicht echtem Safte entstiegen. Welcher Geduld und Weisheit bedurfte es aber, um eine solche wahre Wartung durchzuführen! Da durfte die Schere erst angesetzt werden, wenn das pflanzliche Eigenwesen im Innersten erkannt war. Erfolgte der Schnitt vorschnell, so war der Wegfall unwiederbringlich. Ein vom 139 Stamm abgetrennter Zweig konnte an den gestümmelten Ast nicht mehr angeklebt werden. Wer also Ottilie zu lieben und verstehen glaubte, der mußte sie vor allen Dingen wachsen lassen. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mächtig.

 

Als er sich eines Tages wieder ins Geschäft begab, fand er Hilde Dohm nicht an ihrem Platze, doch bald kehrte sie zurück.

Er sah den schmalen Schuh und den Strumpf und den Saum des Gewandes in den Türspalt treten. An ihrem Finger blinkte der Verlobungsring. Sie sah, daß er's bemerkte! Da er es darauf anlegte, das Ereignis zu übersehen, betrachtete sie den goldenen Reif innig. Er verhehlte sich nicht, wie sehr seine Zurückhaltung sie schmerzte. Als er stumm blieb, ermannte sie sich und stellte ihn zur Rede.

»Mir geschieht bitter unrecht. Mein Verlobter nimmt nichts Schimpfliches in die Ehe hinüber. Er sieht richtiger als ihr alle.«

Heinrich entrüstete sich. »Warum fangen Sie davon an? Warum kommen Sie darauf zurück? Warum reden Sie sich aus? Sie brauchen mich nicht anzulügen.« Er schrie sie wütend an. Sie lachte hell auf. Voll Zorn. Er war eifersüchtig!

Ull sprang auf, trat dicht an sie heran, so bekam er ihr Handgelenk zu fassen, schraubte es zwischen Daumen und Zeigefinger ein und senkte einen tiefen Blick in ihre Augen. Mit einem Ruck warf sie seine Hand zurück. Voll Hohn musterte sie ihn. »Kehren Sie, bitte, auf Ihren Platz zurück, und sagen Sie, was zu sagen ist.«

Vom Stuhle her sprach er: »Sie haben die Rede drauf gebracht, nicht ich. Daß Herr Schultze nichts Böses ahnt, würde sehr für ihn sprechen. Ich wollte Sie vorhin in Ruhe lassen. Was ist Ihnen geholfen, wenn ich beschönige?« Empört wendete sie sich von ihm ab, setzte sich an die Schreibmaschine.

Es begann das überhastende Ticken der Typenhebel unter ihren flinken Fingern. Was sich mit Arbeit, mit unverdrossener 140 pflichtmäßiger Arbeit nicht alles zudecken und hinter sich bringen ließ! Im übrigen hatte alles seine Zeit und sein Maß, auch die Arbeit. Den letzten Spruch tat das Leben selbst. Es sprach diesen Spruch auch zu Hilde Dohm, sie begann hinzuhorchen. So deutete Heinrich sich den blinkenden Ring an ihrem Finger. Was hatte es demnach für einen Sinn, sie mit ledernen Lehren zu versehen? Er hatte den Mund halten wollen – sie war es, die sich mit dem üblichen Glückwunsch nicht zufrieden gab. Sie wollte nicht fade abgefunden sein. Weil er es war! Weil sie Stücke auf ihn hielt! So erklärte sich das.

Unvermutet stellte die Dohm das Klappern ein und ließ die Hände auf den Buchstabentasten liegen. Über die Schulter weg bemerkte sie – wie um etwas nachzuholen, aber zugleich so, als wäre nichts vorhergegangen: »Was ich sagen wollte –« Und nun sang sie das Lied von der großen Bescheidenheit ihres Bräutigams. Nie habe er sich als Stadtverordneter vorgedrängt, immer sich damit begnügt, seine Obliegenheiten zu erfüllen. Auch von dem ihm zustehenden Titel eines Oberbetriebsmeisters machte er so wenig wie möglich Gebrauch, er ließ sich nur immer schlicht Werkmeister nennen. »Pflichtgetreu bis aufs Äußerste, aber niemals kleinlich!« Und dann richtete sie den Blick schnurstracks an Heinrich: »Ermessen Sie – wenn es nach ihm geht, kann ich die Stelle hier behalten! So sammelt er feurige Kohlen auf das Haupt derer, die übel von mir denken möchten.« Wenn sie erregt war, drückte sie sich gern ein bißchen schwülstig aus. Schon warf sie sich wieder in ihre Fingerübungen.

Nach Erledigung einiger Zeilen hielt sie aufs neue ein. Sie schwenkte auf dem drehbaren Holzsitz ihres Bürostuhls ganz herum und sagte vorwurfsvoll, aber im Ton einer dringlichen Bitte: »Es ist einfach nicht recht von Ihnen, seien Sie doch nett, bitte. Wir waren gute Kameraden. Ich hab es nicht leicht, das wissen Sie – und so fällt mir auch mein Glück nicht leicht, das sage ich Ihnen offen. Haben Sie kein Wort mehr für mich?«

141 Das fand er rührend von ihr; er mußte nachhelfen. »Ja, was soll ich sagen? Mir scheint, Sie müssen sich mit irgendeinem Plagegeist herumbalgen, mag er nun böses Gewissen heißen oder sonstwie. Werfen Sie über Bord, was Ihnen den tapfern Entschluß schwer machen will. Nehmen Sie von jetzt an alles aus einer höheren Warte. Dieses tägliche Gewebe von Pflicht und Sitte bleibt ein künstliches und fadenscheiniges Ding, sobald das Schicksal an die Pforte pocht. Und es hat laut genug gepocht. So mögen denn der Stadtverordnete Fritz Schultze und die Prokuristin Hilde Dohm wohlbehalten ihre Straße ziehn. Das ist der aufrichtige Wunsch Ihres gehorsamen Dieners Heinrich Ull.«

Flugs riß sie sich in ganzer Wendung vor die Tabulatur, die Stahltypen klatschten wie ein Platzregen aufs Papier.

 

4

Zwei Pärchen unternahmen den Aufstieg nach der Löhr. Denselben Weg aufwärts, den die ›Schule‹ in Begleitung Schultzes und Heinrichs damals herunterfuhr.

Die Natur war für die Jahreszeit im Rückstand. Es trieb und tönte verhältnismäßig spärlich im Gehölz. Die Botschaft baldigen Frühlings drang hauptsächlich aus dem tauenden Boden. Geschwätzig rannen Bächlein in den Weg; jeder winzige Erdspalt wollte Quelle sein. Unter den breiten Sohlen der Bergschuhe quatschten und schnalzten die feuchten Schollen und Häufchen – das Element quoll hervor als getreue Entsprechung auf menschliche Schritte. »Das Wasser kommt zum Ausdruck,« erwog Karl tiefsinnig. Sofort wurde platt und plumpsend ein stilvoller ›Ausdruckstanz‹ angeschlagen; das Aussehen der Schuhe und Wadenbinden mußte diesen Übermut büßen.

Weiter oben, am Saum jenes Fichtengehölzes, wo einst Heinrich seine Hölzer querstellte, um seine Sturzfahrt noch aufrecht abzufangen, ließen sich Oasen von Märzblümchen entdecken. Ottilie 142 bückte sich nach Seidelbast, begnügte sich aber mit einem kargen Büschel. Es herrschte keine große Lust, von der Natur sonderlich Notiz zu nehmen.

Schon in der Eisenbahn und vollends nach den ersten paar hundert Schritten war sich Ull klar, daß eine erklärte Feindschaft ausbrechen müsse zwischen ihm und Mirjam Lanz. Als hätte sie den sichern Widersacher von vornherein erraten, nahm sie ihn von allem Anfang an aufs Korn, zuerst freilich so, daß er an eine Auszeichnung denken konnte. Er werde von seiner Umgebung in seinem Werte verkannt – sie wolle verkünden, mit wem man es zu tun habe. »Sie sind rationaler Idealist, Ull, und zwar in der ganz neuen Fassung, wie sie erst heute möglich geworden ist. Ihnen wird Vernunftgebrauch zum reinigenden Lebensgefühl. Sie haben diese merkwürdige Gemütsvernunft erst in sich selbst entdeckt. Und dann haben Sie entdeckt, daß die Mitteilung dieses Gutes an andere Ihre Bestimmung ist. Hab ich nicht recht – ist es nicht so? Aber das ist noch nicht alles. Sie erblicken Ihr Eigenstes als höheren Lebenswert verkörpert in den anderen. Sie steigern sich an uns und werden in Ihren Freunden verklärt von Ihrem eigenen Gut, vom Ullschen Ich, nur ist es unterdessen größer und reicher geworden in den andern.« Sie wendete sich an die überrascht lauschenden Geschwister: »Auferstanden in euch, zieht er sich selbst empor. Hab ich nicht recht? Ist es nicht so?« Triumphierend stand sie da. Die Geschwister standen still, um ihr zuzuhören, Heinrich stieg ärgerlich einige Schritte höher. Nun drehte er sich um und maß die Prophetin seiner Tugenden von oben her. Sie kehrte ihm, seinen Dank erwartend, ihr Gesicht in schräger Fläche zu.

Dieses Gesicht war nicht ohne Anziehungskraft; weil ebenso geräumig als leer! Eine Larve kann nämlich anziehend aussehen, wenn hinter ihr ein scharfer Geist hindurchscheint. An diesem Geist ließ es die Lanz zu keiner Zeit fehlen. Geist besaß sie stets in beliebigem Vorrat auf Lager. 143

 

5

Von dem Berghaus auf der Löhr sollte Oli Fay geäußert haben, sie möchte es am liebsten anzünden. Ihm waren die Tage gezählt. Es wurde kunstgerecht nach dem neuesten Abbruchverfahren ›erwürgt‹. Um sein Verschwinden in die Wege zu leiten, hauste zur Zeit auch der Oberbetriebsmeister Schultze oben.

Er empfing das Quartett, als es über der letzten Erhöhung sichtbar wurde. Eine etwas bunte Bewohnung des baufälligen Gebäudes war vorgesehen. Unten im ausgeräumten ehemaligen Tanzsaal der Schenke hausten die Bauarbeiter, es waren ihrer zur Zeit sechs anwesend. In einem hinteren Zimmer ›der junge Techniker‹ Julius Röde. Ihm war die Stellvertretung des Bauleiters bis auf weiteres zugedacht, falls er sich bewähre.

Schultze bat gleich Heinrich und Karl zu sich in sein kleines Arbeitszimmer zu ebener Erde und führte dann die jungen Herren hinaus, an Ort und Stelle den Stand der Dinge in Augenschein zu nehmen, weil ja – er blinzte anzüglich – ›der Herr Architekt‹ anwesend sei. Diese Höflichkeit galt Karl. Seine von diplomierter Seite durchgesehenen Pläne lagen dem Neubau zugrunde.

Das Zementhaus kam nicht völlig auf die freizulegende Trümmerstätte zu stehen. Es sollte mehr Rücken gegen den Fels gewinnen und überschnitt das alte Bergwirtshaus in seiner hinteren Ecke. Wo der Bauplatz freilag, wurden schon die Mauerzüge in den Grund oder Fels eingeschnitten und Kellerraum ausgehoben. Es sollte etwas mehr vorstellen als ein Schindelhüttchen für das Wochenende. Jetzt begann man, einige Zeit vor Ostern; im Hochsommer wollte die Familie Godwein vollzählig Unterkunft finden. »Es läßt sich ganz gut an. Ich hoffe, daß wir den Termin halten können,« meinte Schultze. Die benötigten Bretter zum Einbinden des Zements, Sand und Kies, der sich zum Teil in einem benachbarten Steinbruch gewinnen ließ, und die Stangen und Hebel für den Abbruch waren schon zur Stelle. Morgen sollte ein kleiner, nicht allzu schwerer Kran 144 von einem Traktor heraufgezogen werden. Dem Gelingen dieses Experimentes sah man mit einiger Spannung entgegen.

Erholung in der Frühlingsluft des Gebirges blieb aber der Zweck der nächsten Tage auch für Schultze. Spaziergänge, Besteigungen der Hohen Koppe, Streifzüge im Forst zur Erkundung von Pflanzenwuchs und Wildstand füllten die eilenden Stunden aus, freilich stets begleitet von Gesprächen, die weit über den stillen Genuß der ländlichen Gegend hinausführten. Wurden doch alle in Atem gehalten vom schweren Sturmgang der Zeit und der Furcht vor den Wetterwolken, die über das unter ihren Augen weithin sich erstreckende Heimatland drohend dahintrieben.

 

Das zeigte sich am dritten Abend, als ohne viel Bedenken von irgendeiner Seite, aus zwanglosem Bedürfnis menschlichen Zusammengehörens in abseitiger Einsamkeit, die anwesenden Maurer und Handarbeiter sich zu den Gästen setzten. Der Gedanke ging von den Mädchen aus, sie hatten genügend Tee und Geschirr für alle, um es an einem heißen Getränk nicht fehlen zu lassen. Auch Tabak gab es, und ein Kasten wurde zutage gefördert, mit frischen Würsten, die brauchte man nur durchs siedende Wasser zu ziehen. Ein Maurer besaß eine Ziehharmonika und bediente sie kunstfertig. Trotz der fröhlichen Musik wollte in Anwesenheit nur zweier junger Damen sogar die rechte Lust zum Tanzen nicht aufkommen.

Trübe erleuchteten zwei Petrolfunzeln den viel zu großen Raum. In den rotdunstenden Lichtkreis streckten sich erregte Köpfe vor. Julius Röde hockte im Hintergrunde der Bauarbeiter, die hatten sich zum Teil auf die Erde hingestreckt. Er verhielt sich still, klapperte aber mit Bierflaschen und beobachtete die fünf Städter, sie saßen unter dem hingestreuten Lampenschein auf den ehemaligen Wirtshausbänken.

Einstweilen weidete er sich am Anblick der beiden schönen Mädchen. Vom Eifer für die unmittelbar bevorstehende Erörterung der 145 öffentlichen Dinge gepackt, waren sie innerlich erregt, ihre Gesichter glühten. Das war noch schönes Weiberfleisch da drüben, zwei saftige Happen! Die wollte er sich schmecken lassen. Der Saft lief ihm im Munde zusammen. Was ihn reizte, war, sich die Wahl zu ersparen. Sie sollten ihm beide zufallen! Er hustete und trank, den Flaschenhals am Munde. Ull federte von seinem Sitze, die Bank schnellte ihn hoch. Auf dem einen Ende saß Karl, auf dem andern seine Schwester.

»Herr Schultze hat das Wort zur Tagesordnung,« rief er und erhob seine Hand, als stelle er in einer Volksversammlung einen Antrag. »Herr Schultze soll uns sein Parteiprogramm entwickeln,« tönte es aus der Mitte der am Boden kauernden Bauhandwerker. Sie waren stolz, unter sich einen Führer der großen Regierungspartei freundlich wie mit seinesgleichen verkehren zu sehn. Sie, die kleinen Leute hinter dem Walde, fühlten sich angeschlossen an das ungeheure Netz der republikanischen Verfassung, das dehnte seine Maschen über das ganze große Reich aus. »Unterstützt!« rief nun aus der Dunkelheit Julius Röde. Er hatte schon die dritte Flasche gestürzt. Der dicke Sozialfaschist sollte nur seinen Wanst auspacken, – dann blühte der Weizen der Kommunisten! Die beiden Mädchen klatschten in die Hände, Heinrich und Karl ermunterten den Oberbetriebsmeister durch Zurufe, mit seiner politischen Weisheit nicht hinter dem Berge zu halten.

Durch eine derartige regelrechte ›spontane Akklamation‹ geht im Parteileben jede brauchbare und dauerhafte Beförderung und Schilderhebung vonstatten. Ihr entsprach Herr Schultze, als säße er irgendwo an entscheidender Stelle am grünen Verhandlungstisch, und er verstieg sich zu einer regelrechten Ansprache, fünftausend hätten zuhören können, statt dieses knappe Dutzend. »Meine Freunde werfen mir in der Partei vor, ich sei gar nicht mehr in der Wolle rot, ich sei schon blaßrosa gefärbt. Wir alten Revolutionäre haben uns schon gesetzt und gesättigt. Ich nehme kein Blatt vor den Mund, 146 wir sind Kleinbürger geworden, – brave kleine Verdiener und Verbraucher mit spießbürgerlichem Pflichteifer. Als glücklicher Bräutigam darf ich auch im bestandenen Alter mit freudigen Ereignissen rechnen.«

»Zur Sache, zur Sache, Herr Schultze!« unterbrach Heinrich lustig. »Was Sie mit Ihrer Erfahrung anfangen, das möchten wir gerne wissen.«

»Meine Erfahrung geht in meiner Überzeugung vollständig auf. Meine Erfahrung gebietet mir, Mitglieder für meine Partei zu werben. Es ist die eigentliche Volkspartei. Ich gehe sogar sehr weit. Erst den anerkenne ich voll als Reichsbürger, der mir sein Parteibuch vorweisen kann. Nur solche kann ich mit gutem Gewissen fördern und unterstützen. Ich bin darin streng. Letzthin lehnte ich, als Vorsteher des Volksbildungsvereins, einem mir befreundeten Musiker rundweg ab, ein Konzert zu veranstalten. Tut mir leid, sagte ich ihm; nichts zu machen, ehe du nicht bei uns eintrittst! Ich lasse mich nicht erweichen. Wir können unser Leben und unsere Interessen heute nur noch kollektiv verfechten. Wer nicht einen Verband, eine organisierte Gruppe sich im Rücken weiß, steht auf einem verlorenen Posten. Merkt euch das, junge Leute! Wenn ihr Einspänner bleibt, kommt ihr mit tödlicher Sicherheit früher oder später unters Rad. Zu euch spricht einer, der sich auskennt. Futterkrippenwirtschaft, meinetwegen, ich leugne es nicht. Aber wie bewundernswürdig ist sie aufgezogen! Tausendfach verästelt bis in die hintersten Bedürfnisse des Elends hinein. Partei heißt heute für Tausende von Menschen Wohnung, Kleidung, Nahrung. Ihr Dasein bleibt kümmerlich, aber es läßt sich doch fristen, sie gehen nicht unter, dank der Partei.« Herr Schultze gab sich aus wie auf der Tribüne des Versammlungssaals mitten im Wahlkampfe. Nun lehnte er sich befriedigt zurück und wischte sich die Tropfen von der Stirn.

Heinrich widersprach sofort. »Mich überzeugen Sie nicht. Sie haben die ganze Gefahr aufgedeckt, die mit Ihrem Parteigetriebe 147 über das Land verhängt wird. Wenn ich noch gezweifelt hätte, so weiß ich es jetzt – Ihre Rede hat es mir eingehämmert –, die große Staatsreform muß beginnen mit der Befreiung des Staats von den Parteien. Dem armen Teufel, dem das Wasser an der Kehle sitzt, ist nur um eins zu tun, nicht zu ertrinken. Ihr lebt von der täglichen Sorge des armen Teufels. Das ist kein fruchtbringender Gedanke.«

»Erlauben Sie mal gütigst, Herr Ull,« jappte Schultze auf, doch blieb der weitere Satz ihm im Halse stecken. Er würgte wie an einer Fischgräte. Hinter den Bauhandwerkern wieherte und zischelte halblaut Röde. Von ihm angestachelt bemerkte einer der Maurer, der Aussprache nach ein Ostpreuße: »Wenn ick irgendwo hinjehe, jeh ick bei die Kommunisten. Die Leute reden aus dem Jeiste.« Röde donnerte mit Beifall hinterher.

»Ach, das hat ja doch keinen Sinn, wir wollen hier oben nicht Pöbel spielen,« wies Heinrich die unruhig gewordenen Handlanger zurecht. »Darf ich Fräulein Lanz ersuchen? Soviel ich weiß, hat sie sich gründlich mit der Theorie der Sowjets beschäftigt.«

Mirjam erhob sich. Sie stand unter diesen Männern da, – wollte dastehn, so schien es insgeheim Heinrich – wie die Priesterin Iphigenie, als sie sich an die Küste roher Barbaren verschlagen sah: »Ich versuche, die Linien unseres Ideals zu zeichnen,« erklärte sie weich, »es hat – erschrecken Sie nicht! – einen uns allen wohlbekannten Namen – die Freiheit.«

»Was!« schrie Röde aus seinem Hinterhalt, »Lenin – sonst nichts! Haß auf die Tyrannen! Und Lust an der Lust!« Er torkelte nach vorn. Man sah, er hatte stark getrunken. Eine Bierflasche entglitt seiner Hand und kollerte mit rasselndem Verschluß auf den Fußboden. »Lust an der Lust – haha! Ich breche mir die Frucht frisch vom Baume – haha! Ich begnüge mich nicht mit fauligem Fallobst, das schon angeknabbert ist. Oder nicht, Herr Schultze?«

Heinrich stürzte auf ihn los, faßte ihn beim Kragen. »Was fällt 148 Ihnen ein, Sie unverschämter Mensch! Sie packen sofort zusammen. Nicht eine Nacht verbringen Sie mehr unter diesem Dach. Sie sind nur auf Wohlverhalten hier – Ihnen ist gekündigt. Weg mit Ihnen!« Es hatte sich ein Tumult erhoben. Die Bauhandwerker versuchten für Röde Partei zu ergreifen.

Röde wich einem Handgemenge aus. Seine Hand strich sich die seines Angreifers von der Gurgel weg. Dann verließ er mit gestrafftem Körper den Saal und begab sich vors Haus. Heinrich folgte ihm auf dem Fuße. Etwas später Mirjam Lanz.

Die einsame Berggegend lag in tiefer Stille. Überdies hing viel Feuchtigkeit in der Luft. Wie aus nächster Nähe hörte man die Abendglocke einer Dorfkirche aus der Tiefe läuten.

Röde wies hinunter und brach in ein widerwärtiges Gelächter aus: »Hört ihr, ihr Dummen? Damit wird jetzt aufgeräumt in der Welt. Palmsonntag haben wir in unserer Ortsgruppe der Moskauer Gottlosen eine großartige Kommunion abgehalten. Zweihundert schulentlassene Kinder feierten ihren Eintritt in die Partei. Da sah man Plakate – auf denen wurden Priester mit Kruzifixen von Kindern in den Hintern getreten.«

»Schweig, Bursche,« herrschte ihn Heinrich an. »Ihr seid gottlos, wie es das Vieh nicht ist. Euere Lästerung lehrt uns, den Glocken wieder zuzuhören.« Und er begab sich auf den Vorsprung, um dem fernen Abendläuten zu lauschen.

Mirjam trat an Röde heran mit ähnlichen Einwänden wie Heinrich. Sie bekannte ihm ihre Hochachtung vor der katholischen Kirche, obschon sie Jüdin sei.

Da schmetterte der Kommunist schrillen Haß: »Im Riesenpuppenspiel des Roten Hammers torkelten drei Meter hohe Fratzen durch den Saal, ihre Stimmen dröhnten aus dem Lautsprecher – die Kirche mit dem Palmzweig, der Teufel mit dem schwarzrotgoldenen Schlips, der Papst . . .«

Heinrich horchte unbemerkt. Schwatzte der auch Unsinn, es hatte 149 Methode! Dieser Röde bekam etwas Unheimliches. Der war schlechthin böse und gefährlich!

Drinnen machte Karl seiner Schwester den Standpunkt klar. Sie hatte einen ängstlichen Schrei ausgestoßen und Miene gezeigt, Heinrich von dem Kommunisten zurückzuhalten. »Du bist mir, bitte, mucksmäuschenstill bei dem Handel, Ottilie. Dem Burschen ist der Kamm geschwollen – ihr habt ihn viel zu sehr beachtet. Das kann so einer doch nicht vertragen. Spare deine Tränen! Wir reden noch. So ein Kerl gehört auf der Stelle an die Luft gesetzt, so ein Unverschämter! Jawohl, den ehrenwerten Herrn Schultze auf gemeine Weise zu beschimpfen.«

Schultze sah nach der Glut im Ofen. Es war ein alter Immerbrenner, aus Mangel an Kohlen wurde er aber mit Holz geheizt. Er war nichts mehr wert und sollte mit dem Abbruch zusammengeschlagen und zum Alteisen geworfen werden. Jetzt verlegte sich das Möbel aufs Rauchen, sein Qualm machte den weiteren Aufenthalt im Saal unerträglich. Doch mußte das Feuer erst gelöscht werden, und das verursachte neue Rauchschwaden.

Sie traten unten an die Haustreppe. Die Petrolampeln hatten sie im Saal abgehängt und hielten sie in der Hand. Röde kam mit geschnürtem Felleisen an ihnen vorüber und führte freche Reden in die dunkel werdende Nacht hinaus. Man hörte ihn noch spektakeln, als er schon im Hohlweg verschwunden war. Zu fordern hatte er nichts mehr. Schultze hatte ihn bereits gegen Quittung ausgezahlt.

Der Zugang zum Hohlweg ließ sich kaum noch erkennen, als Ull, um noch Luft zu schöpfen, allein in die schon fast vollkommene Finsternis hinaustrat. Er hatte keine Gedanken mehr. Ein unerklärlicher Trieb stieß ihn nach vorn.

Ein krächzendes Geräusch ließ ihn den Schritt anhalten. Saß hier ein Raubvogel im Gesträuch? Aber wenn das ein Tier gewesen wäre, hätte es nun doch weiterhin geraschelt und gefaucht. Auch 150 verstummte es nicht, es hob aufs neue an – beabsichtigt und zielbewußt – und jetzt war das hämische Gelächter einer männlichen Kehle zu erkennen. »Sind Sie's, Röde? Was treiben Sie sich noch hier herum?«

»Wenn Sie's wissen wollen – denken könnten Sie sich's eigentlich. Ich wollte spannen, ob vielleicht noch das eine Mädel herauskäme – ja, die weiche, hinter der Sie immer her sind.. Bürger Ull. Ich glaube, sie hätte sich von mir locken lassen – sie hat mich im Geruch. Nun sind es, dreimal verflucht, nur Sie. Ich fürchte mich nicht vor dir, Ull, obschon du mich von hier oben vertreibst.«

Das bleiche Oval da zwischen schwarzen Gespensterschatten konnte ebensogut wie ein Menschenantlitz ein Rest Glanz von der Mondsichel sein, die hinter den großen Baumgipfeln himmelan irrte. Er hörte nur, daß der andere vor ihm stand.

»Röde,« stöhnte Ull, »du kannst nicht stumpfsinnig dahinstolpern – wie die andern. Du hast Geist – wirklichen Geist. In dir könnte ein Erfinder stecken. Das hast du dir nun verscherzt. Was willst du denn tun?«

»Was wohl? Alles will ich. Fressen, saufen und – –.« Er bediente sich des gemeinen, unanständigen Ausdrucks, der den Geschlechtsakt bezeichnet. »Und wenn das nicht reicht – dann kann ich ja stehlen, kann brandschatzen – ich kann sogar morden. Das sind alles Dinge, wo man Erfindungsgabe wohl brauchen kann.«

Die Stimme verstummte. Keine Spur eines Lebenden regte sich mehr, wo sie sich eben noch hatte vernehmen lassen. Ein sturmartiger Wind hatte sich aufgemacht, und die Finsternis schwoll pechschwarz ringsum.

Heinrich stob zurück, von einer plötzlichen Angst gejagt, dann taumelte er rechtsum kehrt auf den schwachen Schein los – den Schein, der aus dem einen Fenster des alten Berghauses flimmerte. Im Flur stieß er auf Schultze.

»Sie haben irgendeinen Schrecken hinter sich – bleich wie der 151 Tod – und keuchen – und die Pupillen – kommen Sie ans Licht! Zeigen Sie mir Ihre Pupillen!«

Nun fand Ull sich. »Hören Sie, Herr Schultze, aber nur zu Ihnen! Es trägt ja nichts ab. Die andern sollen es nicht wissen. Die Fräuleins würden kein Auge zutun diese Nacht. – Also – Röde treibt sich noch draußen herum – ich wollte noch ein paar Schritte tun, prallte an ihn heran, habe mit ihm gesprochen. Er ist nichts weniger als besoffen. Er bringt's fertig und zündet uns heute nacht die Bude überm Kopf an. Wir brauchen sie dann nicht abzureißen. Er erspart uns Arbeit!«

Schultze war nun auf seinen vollen Schick gebracht. »Das lassen Sie bloß meine Sorge sein, lieber Herr Ull. Ich habe doch einen Hund hier von der Försterei unten. Der hat Röde längst in der Schnauze. Ich werde aufbleiben und ein bißchen die Runde machen. Wir sind natürlich nun aufgeregt. Die Hauptsache ist, daß er den Laufpaß bekommen hat. Das ist Ihr Werk. Ich werde Ihnen das nie vergessen, nein, nie. Der Schurke – sich an meiner Ehre zu vergreifen und am Leumund meiner teuren Verlobten!« Und nun kam Schultze ins Stottern und konnte nicht mehr weitersprechen.

In der nächsten Viertelstunde gelang es den beiden, sich wieder zu den anderen zurückzufinden, ohne daß sie Verdacht schöpften. Röde wurde erwähnt, und es gelang Ull, sich dieses Namens in der Unterhaltung so zu bedienen, als wäre nicht das geringste geschehen.

 

6

Der Bauaufseher an Rödes Stelle traf ein. Alsbald wurde das Haus mit dem Gerüst umsteckt, es mußte zu Falle. Schultze übergab aber die Leitung dem Polier, einem ruhigen, in jedem Betracht vertrauenswürdigen Manne. Ehe er abreiste, suchte er Ull auf. Schon nach den ersten tönenden Worten ergriff er die Hände des jungen Mannes. »Ich stehe vor dem Glück meines Lebens, lieber verehrter junger Freund, wie ich Sie wohl nennen darf nach dem allen, was 152 uns verbindet, – hier auf der Löhr, wo ich damals Keueler dingfest machte, – hier, wo wir an jenem Wintersonntag von dem Hügelkamm das Haus suchten, dessen Tage gezählt sind, zusammen mit der hochberühmten Künstlerin Oli Fay – hier, wo Sie selbst noch vorigen Abend treu und mannhaft für mich einstanden, als der Schandbube sich unterfing, mir an die Ehre zu greifen! Das vergesse ich Ihnen nie. Das Glück will erjagt sein, es fällt uns nicht in den Schoß.« Heinrich überließ seine Hand nur zögernd dem gerührten und wohlmeinenden Manne, der ›gestiefelt und gespornt‹, wie er sich ausdrückte, am Hohlweg stand, um ins Tal zu steigen.

Ihn selbst drückten andere Sorgen. Das Quartett hauste nun noch zwei Tage allein auf der Löhr. Es herrschte zwischen den vier jungen Leuten schönste Kameradschaft. Ull und Mirjam schlossen einen auf beiden Seiten innegehaltenen Waffenstillstand zwischen ihren einander feindlichen Weltanschauungen. »Ihre Freiheit wäre gut und schön, wenn sie möglich wäre,« erklärte er ihr. »Ihr Männer wäret gut und schön, aber ihr seid Hasenfüße!« erwiderte sie. Man nahm sich nichts übel.

 

Am vorletzten Tage holten sich Heinrich und Karl Besen, die Diele im Tanzsaal könnte noch dienen. Draußen war ein Frühlingsmorgen aufgegangen. Die Tänzerinnen kamen in ihrem Übungsanzug und streiften sich die Sandalen von den Füßen. Ottilie wollte eine Stunde haben. Karl und Heinrich sahen zu. Barfuß traten Mirjam und Ottilie einher.

Die einfache Strebung nur, aufwärts. Der rechte Arm, an dem der kurze Ärmel ganz zurückfällt, flammt nackt hinan, zuoberst züngelt die Hand schmal. Der Leib, vorgetrieben, gleicht sich ohne jede eckige Biegung in einem langverlaufenden Bogen dem Aufschwung an. Das Haupt fällt in den Nacken, der andere Arm flattert in einem leichten Winkel. Von der Achselhöhle aus senkt er sich in der zweiten Krümmung glatt über die Hüfte hin zu dem 153 rückwärtsschreitenden Fuße, der auf der Zehe schwebt. Und darauf nun die doppelte Strebung, aufwärts und abwärts zugleich. Nun knickt der Rücken in der Hüfte durch, das vordere Knie schiebt sich vor, die Fingerspitze berührt hinten die Ferse. Und dann verläuft die schwebende Hand steil und völlig senkrecht über die Brust weg in den wieder gen Himmel geworfenen Arm. Es lodert durch den gelenkigen Leib die eine pfeilgerade Erhebung aus der Fußspitze in die Luft hinauf.

Es war aber eben unmöglich, in diesem dumpfigen, baufälligen Saal länger zu üben, auch wenn er vorher gescheuert und gelüftet war. Wie sollte man sich da gar noch zur Erde werfen, um zu schnellen und zu rollen mit gewölbtem Rücken? Draußen aber fand sich glatter Boden nicht, man bedurfte der Tenne. Ach, diese Nöte würden bald behoben sein, wenn die Schule in die Gonßensche Gartenliegenschaft übersiedelte und sich des ehemaligen Tennisplatzes bediente.

In dieser Zeit der schwebenden Stimmung und verhaltenen Zurückhaltung oder Hingabe geschah es, daß, so wie nun eben eins das andere suchte oder floh, Ottilie für sich allein den Waldweg einschlug, über den Kamm der Mulde empor nach dem Gipfel der Hohen Koppe. Heinrich erspähte ihren Weggang, legte sein Buch aus der Hand und folgte ihr. Das Gehölz erwachte in den schmetternden Stimmen der Vögel und in den schon prangenden Zweigen.

Sie blickte sich nach ihm um, blieb stehen, wartete auf ihn. Sie schritten behutsam aufwärts. Das Gras trocknete unter ihren Augen, so wohlig wärmte die Sonne schon. Sie sahen die Blumen völlig erwachen und ihre Köpfchen heben. Mit Andacht beobachtete das Mädchen alles. »Es ist höchste Zeit, daß die alte Bude da unten morgen dran glauben muß. Es war ja nicht mehr auszuhalten – das Leder, das nasse Stroh, der Schweiß dieser armen Lohnsklaven, die ihre Lasten schleppen, damit wir nachher hier wohnen können!«

154 »Müssen Sie wirklich alles von dieser Seite nehmen – darf es niemand auf der Welt schlechter haben, als Sie selbst?«

»Nein,« sagte sie, »das darf nun einmal nicht sein. Davon bin ich überzeugt. Und ich denke, Sie werden sich auch noch zu dieser Ansicht bekehren. Sie ist einzig unser würdig.«

»Dieser Meinung bin ich nicht,« wendete er ein. Schweigend gingen sie weiter.

Darauf sagte sie zutraulich: »Es ist aber so. Solange ich jenem Teile der Welt angehöre, in den ich geboren bin und von dem ich mich noch nicht losgelöst habe, solange bist es du. Ja, du! Es hat keinen Sinn, mir das nicht einzugestehen. Ich weiß es längst. Und es war ja schon so weit mit mir, als wir damals zusammen dort oben standen, wo wir jetzt wieder hingehen. Was war das nur damals?« Sie nahm den Blick, der ihn von der Seite streifte, schon wieder von ihm weg, schöpfte tief Atem und schlug die Augen zu Boden.

Ull geriet außer sich, als er sie so reden hörte. »Ja, du – du!« Sein Arm schmiegte sich um ihre Schulter. Er riß sie an sich. Sie sträubte sich weiter nicht und ließ sich hinnehmen. Aber sobald ihr Haar sich auf seine Brust bettete, schlug sie die Lider zurück; ihn traf ihr blanker, eisgrauer Blick, und von ihren Lippen kam es müde: »Laß es lieber noch! Vielleicht wird es gar nie sein. Ich weiß es nicht, siehst du, ich weiß es nicht.« Aber sie erhob keine Anstrengung, um sich frei zu machen. Sie entwand sich seinem Arme nicht. Sie blieb in der weichen Rundung liegen, nahm an Gewicht zu, wurde schwerer – er fühlte es.

Da überkam ihn eine namenlose, unaussprechliche Angst, daß es um sein eigenes Leben gehe und in Zeit und Ewigkeit um ihn geschehen sein müßte, wenn er sich nicht in wilder Eile stahl und raubte, was ja jetzt sein war, weil er es umfangen hielt. Er senkte sich über ihr Gesicht, es ruhte an ihm, als ob es schlafe, suchte ihre Lippen; nach dem traurigen Flüstern lagen sie geschlossen, und öffneten sich mit 155 einem langen, innigen Kuß. Dann gab er sie frei, stellte sie zurück in den Umkreis des sonnigen Lichtes, dem er sie entrissen hatte. Es ergriff ihn, wie sie nun wieder einsam neben ihm stand, ohne sich zu widersetzen. Er hätte erwarten müssen, daß sie ihm Trotz bot. Aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Tiefe Trauer dämmerte in ihre Stimme.

»Du hättest es besser gelassen, Heinrich – ich glaube nicht, daß es gut war, mich zu küssen. Aber so komm doch. Wir wollen uns oben hinsetzen. Sieh nur, die wundervolle Welt!« Sie winkte in die Weite mit einem runden Schwung beider Arme und begann den Aufstieg fortzusetzen.

Er blieb zurück, ließ sie sich von ihm entfernen, schaute, wie sie stieg. Schwer lastete ihre Traurigkeit auf ihm. Grimm und Haß wollten ihn befallen.

Wieder stand sie stille und wartete auf ihn. Ihre Züge verklärte ein Lächeln. Als er sie eingeholt hatte, hielt sie ihm lässig den Zeigefinger hin, sachte faßte er zu. So zog sie ihn mit sich. »Warum lässest du mich allein? Du wirst mir doch nicht böse sein? Ich liebe dich ja.« Da glitt seine Hand von ihr weg.

Etwas, das spürte er, war in diesem Augenblick zweifellos zwischen ihnen vorhanden. Ein festes und enges Band. Sie trugen die gleiche Last. Diese gemeinsame Pein fiel ihr so schwer wie ihm. Auch sie vermochte eine Liebe nicht abzuschütteln, die ihr stürmisches Herz ihr schenkte, aber ihr unruhiger Geist ihr verbot. Wie unerträglich rückte diese Qual, die sie einigte, an Stelle des nahen, lockenden, sicheren Glücks! So mußten sie sich selbst entfliehen, mußten auf andere Gedanken kommen, sonst hätte ihnen der nächste Atemzug gestockt.

Sie lauschten einem auftauchenden Geräusch. Am fernen Horizont machten sie einen Flieger ausfindig. Es bedurfte keines Wortes, es war die Luftpost, die pünktlich kursmäßig drüben ihres Weges surrte wie jeden Tag um dieselbe Zeit. Ottilie wurde lebhaft: »Ach ja, 156 Heinrich, – du bist ja selbst geflogen,« erinnerte sie sich. »ich bin auf jeden Flieger stolz, den ich kenne.« Mädchenhaft kindlich sagte sie das. »So ein Jagdflieger, der sich in zwanzig Minuten auf dreitausend Meter hinaufschraubt, das ist wahrhaftig nicht zu verachten.« Er wendete ein, was doch erkünstelte, abgezirkelte Technik zu bedeuten habe angesichts der Wunderkünste beflügelter Tiere!

Bei diesem Beispiel griff Ottilie zu und begann vom Schulunterricht her eine anschauliche, ja hinreißende Schilderung dieser rätselhaften Ortsveränderungen im Tierreiche zu entwerfen. Ull hörte ihr versonnen und mit innigem Anteil zu. »Nun aber möchte ich doch wissen, wie ein Flieger von den Schwalben denkt,« bat sie lieblich.

»Wahre Flugkünstlerinnen,« fiel er ein, »völlig geräuschlos, in kühnstem Bogen aufschießend, im jähen Sturz fallend – schräg segeln sie, kanten scharf ab und kommen zuletzt doch immer gerundet auf. Da gibt es auch kein Fliegerunglück, es sei denn, es erwische sie eine falsche Katze.« Für die wahre Schwalbe gab es nur eine Wonne – die unausgesetzte, schöne, lustvolle Bewegung!

Über diesem beruhigenden Zwiegespräch hinsinnend, vollendete Ottilie den Aufstieg und war ihm wieder um einige Schritte voraus. Oben angelangt, warf sie sich ins Gras, setzte sich dann aber aufrecht und sah in die Tiefe, in welcher ihr zu Füßen die Welt versank. Sie schwieg. Sie schaute.

»Es muß sein,« drängte es in ihm, »ich werde sie fassen, werde sie überwältigen, – sie muß es jetzt wissen, daß ich eher sterbe, als von ihr lasse – sonst wird sie niemals mein.« Alles um ihn wuchs zum Angriff, zum Sprung. Er wollte sanft sein, wollte liebkosen, beteuern und ihre Scheu in Ehren halten. Aber küssen, sie küssen – das mußte er jetzt.

Ottilie folgte mit zurückgelegtem Haupte während eines langen Zeitraums zwei großen weißen Wolken, die zogen durch den tiefblauen Äther langsam dahin. Ihr mußte ja der Nacken steif 157 werden von diesem unausgesetzten Blick in die Höhe. Und schon warf sie mit einem sichtbaren Stoß ihres Willens den Kopf nach vorn und griff sich ihr Gesicht in die Hände, die habgierig zufaßten. Was nun folgte, war ein unsäglicher Ausbruch von Qual. Nicht nur, daß sie alsbald bitterlich zu weinen begann, sie wurde gepackt von einem herzzerbrechenden Schluchzen, das ihr den zarten, schwankenden Leib durchwühlte. Schreckliche Schreie, aus rauhem Schlunde hervorstürzend. – Arme Ottilie! Unmöglich, seine Hand ihr zu nähern, mit einem Zurufe ihr zu Hilfe zu eilen. Vernichtet sah er sie kauern. Manchmal riß sie den Kopf empor und gab ihm den Anblick ihres Gesichtes frei. Es war das Antlitz der Seherin Kassandra, die in einer nicht zu beschreibenden Verzweiflung das unentrinnbare Schicksal herannahen sieht!

 


 


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