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Dritter Teil

Plötzlich erlosch das Licht in den Fenstern. Dann erschien es wieder als doppelter fahler Streifen, der ebenfalls verblaßte. Jetzt geriet die graue Fläche, die sich einen Augenblick ausgebreitet hatte, in Bewegung, zog mit außerordentlicher Langsamkeit dahin, in der Mitte schwarz, nach den Rändern zu von einem bleichen Schein erhellt. Aber fast sogleich wurde sie von blendenden Punkten durchstochen, wogte einen Augenblick hin und her, begann wütend zu kreisen, spaltete sich der Länge nach und enthüllte von neuem das stille Fenster, durch das der gleiche schräge Strahl fiel, als ob es in der Abendluft schwebte. Der Abbé Chevance rieb sich sacht die Augen.

»Wie verdrießlich!« sagte er ganz laut. »Wie krank bin ich! Was tun?« Er setzte sich aufs Geratewohl auf das Bett und seufzte. In seinem umherirrenden Blick lag die unschuldige Traurigkeit der Kinder, die so arglos ist, daß sie der Freude gleicht. Sein Mund zuckte in der gleichen ungeduldigen Bewegung, die Tränen oder Lachen ankündigt; man weiß nicht was. Die Tür ging plötzlich auf.

»Madame de la Follette,« sagte der arme Priester, »eben hatte ich wieder eine Ohnmacht. Schließlich beunruhigt mich das, nicht wahr? Was? Nicht wahr?« Aber die Beschließerin zuckte nur ihre starken Achseln. »Herr de la Follette«, sagte sie, »ist heute Abend in seinem Bureau aufgehalten und wird in der Stadt essen. Ich habe die grünen Bohnen aufgewärmt, dazu ein Würstchen. Ich frage den Herrn, ob ich sie heraufbringen darf. Es ist schon halb acht.«

Der Abbé Chevance wurde feuerrot.

»Ich bin etwas verspätet«, gestand er. »Ich dachte nicht daran. Es geht mir wirklich nicht gut. Übrigens hatte ich das Fenster offen gelassen, um sicher die Turmuhr von Saint-Eustache schlagen zu hören.«

»Nun?«

»Gut, Madame … Wie soll ich sagen? Gegen Abend habe ich jetzt Ohrensausen – einen schweren Kopf verstehn Sie? Kurz, ich fühle mich nicht sehr wohl, nicht behaglich, nicht in meinem normalen Zustand. Wie verdrießlich!«

»Wer zu sehr auf sich achtet, stirbt bald«, bemerkte Frau de la Follette. »Tatsache ist: seit ein paar Tagen sehe ich Sie nach fünf Uhr puterrot.«

Sie hielt inne, drückte den kleinen rohen Holztisch mit ihren starken Armen gegen die Brust und maß ihr Gegenüber von oben bis unten mit einem Ausdruck des Ekels.

»Herr de la Follette«, sagte sie endlich, »ist der Meinung, daß der Priester sich alle vierzehn Tage die Ader schlagen lassen müßte. Sonst erstickt Sie das Blut. Ein Elend!«

»Oh, ich habe doch nicht zu viel Blut«, wehrte der Abbé Chevance ab. »Wie Sie sehn, esse ich sehr wenig. Vielleicht esse ich nicht genug? Trotzdem zwinge ich mich sehr dazu.«

»Wer nicht ißt von Herzen, bereitet sich viel Schmerzen«, bemerkte Frau de la Follette einfach und faltete das Tischtuch auseinander. »Ich mische mich niemals in die Angelegenheiten andrer Leute. Freiheit für alle.«

Sie wandte den Kopf um und horchte.

»Pst! Verdammtes Dreckding von Wecker! Wird das Biest denn nie still sein!«

Sie lief in das Nebenzimmer und erschien alsbald wieder mit einem Wecker aus Nickel, den sie heftig auf das Bett warf.

»Das ist unerträglich! Ich kann ihn nicht mehr hören, er zieht mir die Magennerven zusammen, ich werde verrückt. Dabei steht er noch auf dreiviertel zehn, dieses blöde Biest!«

»Madame,« sagte der Abbé Chevance streng, »Sie haben ihn entzweigemacht. Sehn Sie, man muß gerecht sein, selbst gegen die armen leblosen Dinge. Der Uhrmacher hat getan, was er konnte. Er hat diesen Mechanismus mit großer Sorgfalt, mit der größten Sorgfalt zusammenstellen müssen. Wir kriegten es nicht fertig, weder Sie noch ich. Somit ist es nicht erlaubt, seine Arbeit zu verachten, das versichere ich Ihnen. Ach! Madame, wir Menschen sind nicht gut zueinander. Nein! Wir sind nicht gut! Ich möchte Sie nicht kränken, Madame, aber wir sollten uns Mühe geben, in Frieden zu leben und zu sterben.«

»Sie reden gut,« sagte die Beschließerin großartig, »aber Sie handeln ganz verquer. Herr de la Follette liebt die Priester nicht; er hat sich sein Leben selbst gezimmert. Mit fünfzehn Jahren hat er die Abendkurse besucht. Es versteht sich von selbst, daß er mehr weiß als Sie und ich. Das hindert mich nicht, daß ich seine Seelenkraft bewundere, mit der er Widerwärtigkeiten, Schnupfen und alles erträgt. Lernen ist viel wert, einverstanden! Aber Herr de la Follette ist nicht immer das gewesen, was er heute ist, oder wenigstens seine Familie. Sein Urgroßonkel war Oberst oder Hauptmann unterm Kaiserreich: das ist eben, sehn Sie, Vererbung, Natur. Sie dagegen, verzeihn Sie mir den Ausdruck, greinen von früh bis spät. Gestern Kopfweh, heute Ohnmachtsanfälle, sogenannte Wallungen, keinen Schlaf, keinen Appetit und so weiter. Bei diesem Gejammer ist es nicht leicht, Sie zu bedienen! Ich kann nicht mehr … Und zunächst eins: wenn Sie meine Bohnen nicht anrühren wollen, dann bringe ich sie Ihnen bei meinen Krampfadern nicht bis in den fünften Stock herauf.«

»Madame de la Follette,« gestand der Abbé Chevance, »es liegt viel Wahres in dem, was Sie eben sagten. Es steht nicht gut mit mir … Ach, ich bin nicht in meinem gewöhnlichen Zustand!«

»Schon wieder!«

»Gut! ja … So ist's!« sagte er mit verzweifeltem Lächeln. »Reden wir nicht weiter davon!«

»Gut! Gut! Ich lese in Ihnen wie in einer Zeitung«, fuhr die Beschließerin verächtlich fort. »Was Höflichkeit und Manieren anlangt, nehmen Sie es, als ganz einfacher Pfarrer, mit einem Jesuiten auf. Nur nehmen Sie sich die Dinge zu Herzen; das widert mich an, um frei heraus zu reden. Sagen Sie was! Sagen Sie's doch!«

Niemals, wenigstens seit geraumer Zeit nicht, hatte der ehemalige Pfarrer solchen Aufforderungen widerstehn können. Bevor er antwortete, blickte er traurig auf seine Schuhe.

»Madame de la Follette,« erklärte er nachdrücklich, »nach unserm kleinen Abkommen haben Sie sich verpflichtet, jeden Morgen meine Stiefel zu putzen.«

»Verpflichtet!« schrie sie, »verpflichtet! Herr Chevance, Ihre Unehrlichkeit beschämt mich. Um Ihre Stiefel zu putzen, müßte ich sie vor Ihrer Tür finden. Sie aber unterlassen es regelmäßig, sie hinauszustellen, aus Vergeßlichkeit oder aus Bosheit. Wenn ich komme, haben Sie sie an den Füßen. Herr Chevance, ein Erziehungsfehler ist kein Verbrechen. Nichtsdestoweniger weise ich Sie darauf hin, daß ich keine Frau bin, die sich Ihnen zu Füßen wirft, um Ihnen die Schuhe reinzumachen. Soll ich Ihnen jetzt die Bohnen heraufbringen, ja oder nein?«

Dem armen Priester war vor Überraschung das Taschentuch aus den Händen gefallen; er blickte seinen Henker ernst und aufmerksam an.

»Das ist richtig,« sagte er endlich, »das ist die Wahrheit. Ich vergesse immer, sie vor die Tür zu stellen. Ich muß Ihnen sagen, Madame de la Follette, ich habe bisher mit übergroßer Einfalt in der Welt gelebt; sie lenkt schließlich die Aufmerksamkeit auf mich. Ein Priester aber, der untadelig sein will, muß unauffällig sein. Der Klerus von Paris, Madame de la Follette, steht im Rufe guter Kleidung, ja der Eleganz. Es steht einem alten Dorfpfarrer nicht zu, eine Meinung darüber zu haben. Es ist besser, sich dem Brauch und Herkommen anzupassen. Ich verhehle Ihnen nicht, daß mir das etwas Mühe kostet. So lasse ich mich seitdem zweimal in der Woche rasieren; das ist eine große Ausgabe. Es wird geschehn, wie Gott will. Ich habe Ihnen oft wiederholt, Madame de la Follette, meine Ernennung wird von Tag zu Tag erwartet. Bald werde ich Pfarrer sein, vielleicht sogar die Verantwortlichkeit eines Vikars bekommen. Ich muß vor meiner kleinen Gemeinde Ehre einlegen.«

»Sie haben es mir gesagt, aber ich glaube es Ihnen nicht«, antwortete Frau de la Follette. »Wenigstens denke ich, man hat Ihnen was vorgemacht. Ein Pfarrer in Paris, sehn Sie, ist etwas anderes.«

»Ganz gewiß«, antwortete der Abbé Chevance. »Nur fehlt es an Ersatz. Man muß sich sputen. Es ist erstaunlich! Meine Pfarrei übrigens (er sprach die Worte mit göttlicher Milde aus) ist eine von den ganz neuen kleinen Vorstadtpfarreien. Denken Sie! Sie hat noch nicht mal einen Namen … So arm! So arm ist sie! Denken Sie! Noch keinen Namen!«

Er verschränkte unbewußt die Arme, wie um diesen Schatz ans Herz zu drücken.

»Gewiß hat man Ihnen was vorgemacht,« wiederholte die Frau starrsinnig. »Sie glauben, die gute Stelle schon in Händen zu halten, das ist schlimm. Ein so ernster Mann wie Herr de la Follette ist auf die Weise auch getäuscht worden: vergangenes Jahr hat er geglaubt, die erste Stellung am Leihhaus in der Rue de Rennes zu kriegen – Reinfall!«

»Ich versichere Ihnen, Madame de la Follette …«

»Ach, mit Ihren Versicherungen! … In Ihrem Alter versteht man zu leben und zu rechnen. Unter uns, sehn Sie, muß man auch seine kleinen Geschäfte in Ordnung bringen: zahlen macht Freunde. Angenommen, ich hätte auf Herrn de la Follette gehört, so hätte ich niemals an einen Beamten vermietet, besonders einen Pfarrer. Was geschehn ist, ist geschehn, kommen wir nicht darauf zurück. Ich gelte für muffig; aber Sie werden keinen Menschen finden, der geschäftlich zuverlässiger ist. Seinen Schuldner mahnen, heißt doch nicht, seinen Kunden quälen. Nicht wahr? Ich mache Sie also darauf aufmerksam, daß der erste Monat, der vorausbezahlt war – zweihundert Franken für das möblierte Zimmer – dreihundert fürs Essen – seit fast einer Woche abgelaufen ist, wie man sagt. Verbessern Sie mich, wenn ich mich schlecht ausdrücke.«

»Ich … Sie … Kurz, Sie drücken sich sehr gut aus … Tadellos … Tadellos!« … stammelte der arme Priester. »Madame de la Follette, entschuldigen Sie … meine Vergangenheit … meine Zerstreutheit … Ach, ich habe mir viel aufgeladen, sehr viel!«

Er zog ein zweites Taschentuch heraus, legte es sorgfältig auf den Kamin, öffnete dann sein Geldtäschchen und wühlte lange tiefernst mit zwei Fingern darin herum.

»Ich werde morgen zahlen,« sagte er endlich, »ich werde unfehlbar morgen abend zahlen, Madame de la Follette. Im Augenblick bin ich ein wenig knapp …« Er nahm wieder sein Taschentuch zur Hand und wischte sich krampfhaft Stirn und Wangen.

»Das Unglück ist nur, daß ich mit meinem Geld hängen bleibe«, schloß Frau de la Follette. »Die rechte Menschenliebe beginnt bei sich selbst. Ein ehrlicher Mann streckt sich nach seiner Decke. Wohl dem, der es begreift! Jetzt will ich bis morgen Abend mein Geld für das Fünftreppensteigen haben, gratis pro deo, wie Sie's in der Messe nennen.«

»Halt, Madame de la Follette … einen Augenblick!« sagte der alte Priester mit einem tiefen Seufzer. »Ich weiß, daß ich mein kleines Einkommen sehr schlecht verwalte: ich habe keine Ordnung. Ach, ich wäre untröstlich, wenn Sie geneigt wären, meine Amtsbrüder nach mir zu beurteilen. Im allgemeinen sind wir gute Kunden, sehr gute Kunden. Sie selbst sind eine sparsame, gescheite Hausfrau. Der liebe Gott hat auch solche Frauen gesegnet, Madame de la Follette. Glauben Sie vor allem nicht, daß ich Ordnung verachte! Es ist schön, Ordnung zu halten. Im Paradies herrscht Ordnung. Ich selbst war stets mit wenigem zufrieden. Ich bin kein sogenannter Geldmensch. Aber ich wiederhole Ihnen noch mal, Madame de la Follette, ich muß in Erwartung meiner Ernennung große Opfer bringen. Da sind Standesrücksichten zu nehmen: ich habe in dieser Hinsicht ganz genaue Weisungen; ich habe die Pflicht, mich danach zu richten. Wenn mein Pfarrhaus erbaut sein wird …«

»Das ist gut!« bemerkte die Beschließerin bitter. »Er spricht davon, Pfarrer zu werden, und hat nicht einmal ein Pfarrhaus.«

»Gewiß, gewiß! das ist lästig«, gab der Abbé Chevance nachdenklich zu. »Wenigstens habe ich hier ein anständiges, ein sehr anständiges Heim, nicht wahr? Ich kann im Zimmer nebenan Besuche empfangen, das ist mein Sprechzimmer. Zudem sind wir nur zwei Schritte von der Porte de Vannes weg: fünfundvierzig Minuten Straßenbahnfahrt, und ich bin an Ort und Stelle. Etwas verdrießlich ist's nur, so zeitig aufbrechen zu müssen. Denn ich kann meine Pfarrkinder nur sehr früh oder sehr spät sprechen, wie ich will. Am Tage schlafen sie.«

»Am Tage schlafen sie? Was treiben sie denn, Ihre Pfarrkinder?«

»Es sind hauptsächlich Lumpensammler«, gestand der Abbé Chevance ernst. »O, es gibt solche und solche Lumpensammler, wohlgemerkt, Madame de la Follette.«

»Lumpensammler! Das seh' ich von hier aus! Ein Karren, den sie draußen geflickt haben, mit einem Kaninchenkasten drauf, ebensoviel Kerle wie Kaninchen. Und Läuse in Menge! Ich will Ihnen lieber etwas sagen: Herr de la Follette hat eine einfache Arbeiterin geheiratet. Aber wenn er jemals einem dieser Lausekerle auf der Treppe begegnet, so wahr ein Gott im Himmel lebt, mit einem Fußtritt, Sie wissen wohin, befördert er ihn auf die Straße. Ich hab' es gesehn.«

»Ich werde schon zurechtkommen«, sagte der Abbé Chevance. »Man kann stets zurechtkommen. Ich habe Ihnen versichert, daß ich demnächst zum Pfarrer ernannt werde. Natürlich nicht zum Pfarrer von der Madeleine. Ich bin mir nicht bewußt, Sie wissentlich getäuscht zu haben … Ich stehe an einem Wendepunkten einem wirklichen Wendepunkt meines Lebens. Wenn Sie sich ein wenig gedulden, wird alles gut gehn. Der dunkle Punkt, sehn Sie, ist meine Gesundheit.«

»Es schlägt acht Uhr«, unterbrach die Hausfrau grausam. »Die Bohnen sind sicher angebrannt!«

»Gestatten Sie! gestatten Sie!« sagte der Abbé Chevance … »Ich möchte … Wenn Sie nichts Unpassendes dabei finden, möchte ich aufs Abendessen verzichten. Nein!« fuhr er plötzlich entmutigt fort, und sein zitternder Mund verzerrte sich furchtbar, »ich glaube, ich kann heute Abend nicht essen. Ich fühle mich zu schlecht.«

»Oh, Sie sind empfindsamer als eine schwangere Frau«, bemerkte Frau de la Follette im Tone vollkommener Gleichgültigkeit. »Leute, die sich so anstellen wie Sie, kommen nicht weit. Ich bin Aufwärterin in der Pitié gewesen, wie ich hier mit Ihnen spreche, ich habe Erfahrung. Sie spinnen einen schlechten Faden.«

»Ist's möglich?« sagte der arme Priester mit Tränen in den Augen. »Ich hätte zum Arzt gehn sollen, nicht wahr? Das wäre gewiß eine Ausgabe gewesen, aber eine nützliche, notwendige Ausgabe. Dafür bin ich nun schwer bestraft. Das Sterben fiele mir nicht leicht, Madame de la Follette.«

Sie legte beide Hände an den Mund, blies die Wangen auf und sagte frohlockend, mit einem innerlichen Lachen von furchtbarer Naivität:

»Sterben macht keinem Spaß«, sagte sie. »Das ist eine Arbeit, die ich gern dem Nachbarn überlasse. Trotzdem!« fügte sie nach einer Pause hinzu, »sind Sie recht schnurrig. Herr de la Follette hat Sie auf den ersten Blick erkannt. Sie sind wie ein Junge, hilflos, und haben Gedanken, die keine sind. Wirklich, unter uns – ich hätte gedacht, daß ein Priester mehr Kenntnisse hätte … Warum also würde Ihnen das Sterben so hart ankommen?«

»Ach, Madame de la Follette, den Tod fürchte ich eigentlich nicht, verstehn Sie? Ich war nur zufrieden, soviel Arbeit zu haben. Ich hatte mir einen kleinen Plan zurechtgelegt.«

Er blickte flüchtig in den schmalen Spiegel am Kopfende des Bettes und fuhr sich mit fiebriger Hand durch die Haare.

»So weit sind wir offenbar noch nicht, wohlgemerkt! Aber wenn ich krank wäre, würde das den schlechtesten Eindruck machen. Madame de la Follette, der Bischof will sich auf seine Mitarbeiter verlassen können, ich habe es gemerkt. Die Umstände erlauben keine halben Maßnahmen: Krieg ist Krieg! Um so schlimmer für die Nachzügler!«

Er lachte abermals wie ein Kind, mit schmerzlichem Ton, aber ohne jede Spur von Bitterkeit.

Dann ging er ans Fenster und suchte sich ins volle Licht zu stellen. »Kurz, sehn Sie, Madame de la Follette, wie finden Sie mich?«

»Wie ich Sie finde?«

»Ja, körperlich.«

»Körperlich?«

»Bah! Sie verstehn mich sehr wohl. Madame de la Follette, ich muß Ihnen sagen, es ist unrecht von Ihnen, daß Sie sich über mich lustig machen. Die Kranken sind sehr zu bedauern … O ja, das ist ein sehr demütigender Zustand für die Natur. Man tut nichts Gutes; die Lust am Gebete vergeht. Man denkt nur an die dringende Arbeit, an verpaßte Gelegenheiten, an verlorene Zeit, an das unnütze Brot, das man ißt … Ich rede nicht von den kleinen Beschwerden da und dort. Gott sei Dank, ich leide nicht, ich achte nicht allzusehr darauf … Aber sehen Sie: ich glaube, meine Kräfte nehmen ab. Es geht mit mir bergab, Madame de la Follette.«

Sie blickte ihn mit ihren ruhigen, flachen Augen neugierig an und verzog etwas den Mund, mit jener Spur von tierischer Grausamkeit, die man jeden Sonntag an ihr beobachten konnte, wenn sie im Botanischen Garten vor dem Käfig der Riesenschlange stand und vor ihrem ungeheuern schlaffen Maul das kleine Kaninchen mit gesträubtem Fell sah.

»Am Ende glaube ich, daß Sie nicht boshaft sind«, sagte sie nachdenklich. »Warum müssen Sie mir seit einer Woche mit Ihren Krankheiten ein Loch in den Kopf reden?«

»Oh! Seit einer Woche, Sie übertreiben etwas, Madame de la Follette! … Ich fühle mich wirklich erst seit vorgestern krank … Nein, seit Dienstag! … Höchstens seit Dienstag! Ich bin überrascht, umgestoßen, gepackt worden, sehn Sie! Kurz, mich beunruhigen vor allem die Ohnmachten. Ich kann nur schlecht sehn und hören. Könnte ich nur predigen und Beichte hören! Vielleicht sehe ich die Dinge schlimmer, als sie sind. Dann würde ich mir erlauben, auf Ihre Dienste zu rechnen. Eine unvoreingenommene Person urteilt sehr richtig nach dem Aussehn, nach dem Gesichtsausdruck, was weiß ich! Werden Sie es glauben, Madame de la Follette? Ich bin so wenig gewohnt, mich zu beobachten, daß mir nicht mal mein eigenes Gesicht – wie soll ich sagen? – recht vertraut ist … Bis in diese letzten Tage habe ich mich selten im Spiegel beobachtet, das ist Tatsache.«

»Was soll ich Ihnen sagen, Herr Chevance? Schlechter aussehn? Das gibts nicht. Sie werden vielleicht hundert Jahre alt werden. Weiß man's? Ich wünsche es Ihnen. Das hindert nicht, daß Sie wenig Eigenliebe haben, wenn Sie Mitgefühl, Tröstungen, Auskünfte und wer weiß was noch verlangen, und das alles von einer Fremden, die selber nie was von Ihnen verlangt hat, als was Sie ihr schuldig sind.«

Der arme Priester legte seine Hände heftig ins Kreuz, drehte sich leicht herum und blickte mit seinem armseligen Gesicht, dessen Runzeln sich mit einem Male tiefer gruben, gegen die Wand. In seinem Blick malte sich plötzlich ein so tiefer, betörender Schmerz, daß die Beschließerin fortblickte und der Form halber Miene machte, mit dem Schürzenzipfel ein Glas auszuwischen.

»Sehn Sie, sehn Sie!« sagte der Abbé Chevance mit seiner sanften Bauernstimme. »Es wird ernst, Madame de la Follette, es wird sehr ernst … Ach, hätte Seine Eminenz mich so gesehn, ich wäre verloren! Ich habe den Herren so oft wiederholt, daß ich eine eiserne Gesundheit habe! Ich habe es in den Nieren, Madame de la Follette. Was kann das nur sein?«

Er wischte sich mit dem zusammengeknüllten Taschentuch, das er in seinen Fingern preßte, feierlich die Stirn.

»Ich meine, Sie haben sich wohl zu viel zugemutet.«

»Lieber Gott! Das habe ich zuerst auch geglaubt«, sagte er kläglich. »Aber es liegen noch andere Symptome vor … Ich muß es Ihnen sagen, Madame de la Follette. Die Nieren scheinen mir … nur noch mit Mühe zu arbeiten, nicht hinreichend …«

»Sie lassen wohl kein Wasser mehr?« sagte sie mit einer Grimasse.

Der gute Mann wurde rot und stotterte.

»Sie sind wirklich sehr dreist!« fuhr die dicke Frau entrüstet fort. »Mir so was zu sagen, abscheulich! Hat man eine Ahnung von so einer Schamlosigkeit! Und nun sind es schon dreiviertel Stunden, daß ich Ihrem Geschwätz zuhöre. So!«

Sie griff wütend zur Türklinke und riß die Tür mit einem Ruck ihrer schweren Hand weit auf. Da wurde sie von der Stimme des Abbé Chevance buchstäblich auf der Schwelle festgenagelt.

»Madame de la Follette,« sagte er, »bisher hatten Sie nur einen Erdenwurm wie mich beleidigt, ein Etwas, ein Nichts. Aber jetzt haben Sie den lieben Gott schwer gekränkt. Sie müssen es wieder gutmachen, Madame de la Follette, es schleunig wieder gutmachen. Ob, wir sind leichtfertig, wir geben uns keine Rechenschaft! Es ist nicht immer leicht, am Leiden des Nächsten teilzunehmen, es zu verstehen. Nur darf man es niemals ins Lächerliche ziehen, es entehren. Niemals, niemals, Madame de la Follette! Sehn Sie, in unserer kleinen Welt ist das Leid der liebe Gott. Man geht neben ihm her, ohne ihn zu erkennen. Schön! Aber wenn man ihn erkannt hat, ihn noch schmähen, oh, das ist schlimm, sehr schlimm! Sie wollten eiligst hinausgehn, Madame de la Follette, Sie haben fast die Tür beschädigt. Sie glaubten, Sie hätten Angst vor mir – Angst vor mir, was für ein Einfall! Nicht vor mir, vor sich selber haben Sie Angst. Denken Sie doch nach! Ja, vor sich selber! Sie sind absichtlich grausam gewesen, verstehn Sie? Das ist, als ob Sie mit einem Schlage Ihre Seele getötet hätten, um mit ihr fertig zu werden. Ja, ich habe Ihre Seele sterben sehn, Madame de la Follette. Und nun schämen Sie sich. Um so besser, wenn man sich schämt; aber alles in allem, was? ist das nur eine einfache Regung der Natur. Sie verstehn? Wir stehn im Angesicht der Engel und halten den Leichnam in Händen wie Kain. Wir sind sehr in Verlegenheit. Was verlangt Gott weiter von uns? Nur wenig. Reue darüber, daß wir Böses getan haben, den Wunsch, es wieder gutzumachen, manchmal nur einen flüchtigen Blick zum Himmel, das Verlangen, besser zu sein, zu wissen, zu verstehn … Jeder nach seinen Kräften, nach der Einsicht, die ihm geworden ist, nach der Gnade – was weiß ich? Und was mich anlangt, so segne ich Sie, Madame de la Follette, segne Sie von ganzem Herzen.«

Noch immer rann Schweiß über seine Wangen. Er wischte ihn mit der gleichen mechanischen Bewegung ab. Sein kindlicher Mund war zu einem ängstlichen Lächeln gefältelt; in seine herrlichen Augen fiel der schräge Strahl des goldenen Abendlichts. So stand er, hinfällig und erhaben, wie ein herzzerreißender Akkord auf dem Höhepunkt einer Symphonie. Sein greiser Körper in dem enganliegenden schwarzen Kleide, schier regungslos und doch gleichsam von innen her von übermenschlichem Feuer bewegt, neigte sich unmerklich bald nach links, bald nach rechts, raffte sich auf oder neigte sich vor, führte seine unsichtbaren Stöße mit unvergleichlicher Genauigkeit, mit unerhörter Schnelle. Diese Art mystischer Dialektik, die ganz in der hehren Begierde seines Blickes lag, das stumme Gebet seiner Hände, der fast furchtbare Schwung seiner mageren Schultern waren so bezwingend, daß das grobe, tiefstehende Weib sich sacht in eine dunkle Ecke zurückzog und den Kopf schüttelte, während ihr breites Gesicht von einer Art Wehmut verstört wurde. Sie verschwand.

Da setzte sich der Abbé Chevance auf den Rand seines Bettes und schloß die Augen. Ein leichter Windstoß drang durchs offene Fenster. Er bot ihm sein Antlitz dar, ließ sich, vor Erschöpfung zitternd, von ihm umkosen. Das unbestimmte, aber tiefe und echte Leid, das er seit einiger Zeit erduldete (er hätte nicht sagen können, seit wie lange), war in diesem Augenblick wie eingeschläfert. Oder vielmehr: er fühlte es nur noch unbestimmter. Es breitete sich tückisch aus, ergoß sich durch den ganzen Körper, wurde vom Blut und den Lymphgefäßen weitergetragen, war überall. Ein anderer als er hätte ohne Zweifel in diesem ungleichen Kampfe seinen Mut erschöpft und in wenigen Tagen den Vorrat an Seelenkräften vergeudet, der jedem Menschen hienieden zugemessen ist. Er aber hielt durch ein Wunder von Sanftmut und Entsagung in himmlischer Fügsamkeit aus. Wie ein Kind dem Tode mit einer heiligen Gebärde die Arme öffnet, so hatte er sich bei dem ersten Schlage ausgeliefert, denn er war unfähig, sich irgendeine Abwehr auszudenken. Er hatte sich nicht nur in das Leiden ergeben, sondern war in der außergewöhnlichen Treuherzigkeit seines Herzens auch bereit, geduldig, niedrig, feig zu leiden und dem Nächsten Ärgernis zu geben. Er verachtete sich nicht einmal: er hatte bloß Mitleid mit sich, beklagte sein Leiden wie das eines Insekts oder das der unschuldigen Pflanzen, die er zuweilen kaufte und die rasch verwelkten, weil er sie zu begießen vergaß.

»Ich bin von Natur leichtsinnig«, wiederholte er sich gerne mit seiner ernsten, singenden Stimme, womit er wahrscheinlich ausdrücken wollte, daß es ihm völlig an jener so bewunderten, so ersehnten Seelenstärke gebrach. »Unser Herr«, pflegte er auch zu sagen, »sendet den Großen seines Reiches das bevorrechtigte Leiden, den kleinen Leuten aber Not und Demütigung.«

Als er endlich die amtliche Mitteilung von seiner demnächstigen Ernennung in einer neuen Vorstadtpfarrei erhalten hatte, die so arm war, daß sie selbst den Kühnsten zurückgeschreckt hätte, war bei ihm alsbald der Plan entstanden, sein Lager auf freiem Felde aufzuschlagen, auf einem Grundstück, das die erzbischöfliche Verwaltung mit der Absicht gekauft hatte, auf ihm eine behelfsmäßige Kapelle und eine geteerte Bretterbaracke zu errichten, die Pfarrhaus getauft wurde. Aber sein Gönner, der Kanonikus Mesurier, brachte ihn bald davon ab, indem er die Befürchtung aussprach, solche Eile möchte Seiner Eminenz mißfallen und unziemlich erscheinen. »Hüten Sie sich, sich zu sehr zu beeilen!« riet dieser scharfblickende Mann; »das sähe so aus, als wollten Sie Ihren Vorgesetzten Lehren erteilen.« Nun aber konnte der Abbé Chevance in einem Augenblick seines Lebens, den er für so wichtig, so entscheidend hielt, nichts mehr fürchten, als den Anschein, daß es ihm an der Kardinaltugend der Vorsicht gebräche. Er glaubte sie mit großer Mühe erworben zu haben, trachtete aber stets heimlich nach ihr mit der Geduld und Emsigkeit einer Ameise und wurde von Zweifeln und Bedenken geplagt. »Ein guter Pfarrer muß ein guter Verwalter sein«, gab er seinem Freund, dem Kanonikus, bei jedem Besuche mit rührendem Ernste zu. Dabei machte er sich stets die wunderlichsten Vorstellungen von der Verwaltung und ihren Geheimnissen. Doch man kannte ihn als einen ebenso guten Almosensammler wie schlechten Rechner. Er war einer jener schlichten Menschen, die geboren sind, um ihr Leben bescheiden unter Reichen und Genußsüchtigen zu verbringen und doch mit der Armut zu gehn.

Er hatte also sein Zimmer im Hotel Saint-Étienne aufgegeben und ganz in der Nähe der Haltestelle der Vorortstraßenbahn die häßliche Wohnung gemietet, die er nichtsdestoweniger für sehr anständig hielt. Er stand vor Tagesanbruch auf und lief bis in den Abend hinein durch die dürre Ebene, die unter der Augustsonne gärt. Vom ersten Tage an hatte er zu seiner tiefen Bestürzung gemerkt, daß ihn schon die Kräfte verließen, daß der greise Körper vielleicht unversehens seine Aufgabe verweigerte. Wäre ein solcher Mensch der Verzweiflung fähig gewesen, er wäre in diesem Augenblick zusammengebrochen. Aber für ihn war Verzweiflung nur eines jener unbestimmten, abstrakten Worte, bei denen sich sein Denken niemals lange aufgehalten hatte. So reine Seelen sind unfähig, sich diesen Zustand aus sich heraus vorzustellen. Sie kennen ihn nicht, wenigstens so lange, bis der geduldige Scharfblick des Hasses irgendeinen unmerklichen Riß in ihrer unschuldigen Heiterkeit aufdeckt.

Er kannte die Verzweiflung nicht, doch er empfand bittere Beschämung. Da er gewiß war, niemals etwas Gutes oder auch nur Nützliches vollbracht zu haben, sollte er also die einzige, unverhoffte Gelegenheit verpassen! Seinen Vorgesetzten diese Schwäche einzugestehn, hätte ihn auf der Stelle getötet: er konnte nicht daran denken, ohne daß ihn eine unerträgliche Schwäche befiel. Er fürchtete auch, daß man sie vorzeitig erkannte und ihm die wundervolle, die letzte Aussicht seines beklagenswerten Lebens zunichte machte. Da entschloß er sich, sich einzuschließen und sich nicht mehr zu zeigen. Er träumte davon, sein Elend vielleicht zu zermürben, es heimlich in sich hineinzufressen. Vergebliche Hoffnung! Eine Woche dieser heldenhaften Vereinsamung schmetterte ihn vollends nieder. Er hatte nie ein anderes Heilmittel für seine Schmerzen gekannt, als auf dem Gipfel seiner Trübsal die erstaunlichen Tröstungen seines von Vaterliebe verzehrten Herzens an andere zu verschwenden. Diese Einkapselung in sich selbst erstickte ihn. Das gestand er zuweilen der widerlichen Gefährtin seines Hinsterbens. Er versuchte ihre stumpfe Gleichgültigkeit zu bezwingen, vergeudete bei diesem wahnwitzigen Unterfangen mit vollen Händen die heiligen Kräfte seines Wesens, die hehre Flamme, die in ihm brannte, den Genius seiner Menschenliebe. So verströmte er sein mystisches Blut.

Er glaubte, sich in der Einsamkeit heimisch zu machen, vergrub sich schon in ihren Schatten. Sein Fleisch, das er bezwungen und mit so unerbittlicher Milde gebändigt hatte, stöhnte vor Angst auf, als es vom ewigen Frost gepackt ward. Wiewohl ein fast übermenschlicher Wille es noch in Knechtschaft hielt, lockerte es heimlich die Zügel, um zum erstenmal dem Gesetze seiner Natur zu gehorchen, um an dem Todeskampfe teil zu haben. Diese Art eintöniger Klage, demütig, unaufhörlich, wie das ferne Blöken einer verlassenen Herde in der Nacht, erschlaffte ihn, wiewohl er ihm instinktiv seine Seele verschloß. Und fast unbewußt sehnte er sich nach dem Gesicht eines Freundes.

Unter so vielen Menschen, deren Gegenwart er gewünscht hätte, wäre Fräulein de Clergerie seinem Herzen am liebsten gewesen. Die Tochter des kriecherischen Geschichtsschreibers, der fast hundert Jahre alt geworden ist und erstaunlicherweise den Ruhm so vieler verhaßter Nebenbuhler überlebt hat, den er mit seinen fleißigen Zähnen unermüdlich benagt hatte, ist für jedermann nur noch ein armseliges, verblaßtes Phantom. Das dunkle Drama, in dem dies kleine, so klare Leben untergegangen ist, hat es gleichsam für immer mit einer Schmutzdecke zugedeckt, es in einer der tausend vermischten Nachrichten für den gemeinen Geschmack begraben. So ist das Vergessenwerden, das sie so lebhaft herbeigesehnt hat, ihr in dieser abstoßenden Form zuteil geworden, und sie muß darin in Frieden ruhn.

Die Zärtlichkeit des Abbé Chevance für das zweifellos einzige Mädchen, das ihn vor aller Welt zu ehren wagte, war Herrn de Clergerie wohlbekannt. Er dachte nicht ohne Beunruhigung daran, denn er hielt den guten Mann für einen Sonderling, nachdem er ihn einen Augenblick lang als einen zweiten Vinzenz von Paul gerühmt hatte. Es ist das Schicksal des ehemaligen Pfarrers, derart die Aufmerksamkeit, ja die Bewunderung der Dummköpfe durch seine Einfalt zu erregen, deren Geheimnis sie leicht zu erfassen glauben. Wie eine solche Frische wohltut! Welche wilde Blume, die dem Garten des Paradieses entwendet ist! Freilich, bei näherer Berührung verspürt der Gröbste wie der Schlaueste mit Verblüffung oder mit Wut die plötzliche Offenbarung einer geheimnisvollen Gewalt, der er kaum einen Namen zu geben wagt, der übrigens stets absichtlich gewählt, stets falsch ist. Alle merken gleichzeitig, aber zu spät, daß dieser Priester schlecht erzogen ist.

Herr de Clergerie hat es wie alle ziemlich rasch gemerkt und seiner Tochter die bittere Enttäuschung nicht verschwiegen. Dann hat er nicht ohne väterliche Würde geklagt, bei einer solchen Auseinandersetzung Partei nehmen zu müssen; denn er zweifelt nicht daran, daß seine Autorität vor dem Innenleben Halt macht. Trotzdem entschließt er sich dazu: seine Überzeugung steht fortan fest. Der Abbé Chevance scheint zwar ein vortrefflicher Priester zu sein; seine Vorgesetzten schätzen ihn, loben seinen Eifer. Aber was Lob verdient, braucht nicht immer unklug nachgeahmt zu werden. Ein junges Mädchen muß mehr Zurückhaltung üben als irgend jemand; die Bosheit liegt auf der Lauer. Einen Mann zum Beichtvater wählen, der, auch ganz unschuldig, zum Lachen reizt, ist nicht ungefährlich, wenn auch ein zwanzigjähriges Hirn es sich nur schwer vorstellen kann. »Ich fürchte, es liegt Anmaßung in deiner Wahl. Nimm doch einen andern Beichtvater, wenigstens offiziell. Ich will dir nicht verbieten, den Abbé Chevance zu besuchen; ich halte ihn für harmlos. Hilf mir nur, die bösen Zungen zu entwaffnen. Was soll ich dich schelten? Ich selbst bin eine Zeitlang in dem außerordentlichen, evangelischen Bann unseres verehrten Freundes gewesen. Ich achte ihn unendlich. Ich werde ihn stets achten.«

Sie öffnete ihre ruhigen, fast lachenden Augen noch weiter.

»Armer Abbé Chevance! Du wirst sehn, es wird ihn bekümmern.«

»Liebe Chantal …«, begann der kriecherische Geschichtsschreiber.

»Oh, ich will nur sagen, daß er im Augenblick etwas überrascht sein wird, das ist alles. Und dann wird er es sehr rasch vergessen, beruhige dich! Er ist so zerstreut!«

»Nein, nein! liebe Chantal«, erwiderte Herr de Clergerie ernst. »Du kannst mich nicht täuschen. Das Opfer, das ich dir auferlege …«

Da schüttelte sie von neuem den Kopf und lachte. Sie rückte näher an ihn heran, legte beide Hände auf seine Schultern und bot seinen schmalen zwinkernden Augen ihren unveränderlichen Blick.

»Ich täusche dich niemals«, sagte sie. »Das ist nicht wahr. Ich bin immer so glücklich; immer. Bist du nicht zufrieden, daß ich glücklich bin? Ich habe nie Kummer, Vater. Gönnst du mir mein Glück nicht?« Er haschte nach ihrer kleinen Hand, die alsbald erbebte und nachgiebig zwischen seinen Fingern lag.

»Du machst mir im Gegenteil Sorge, Chantal«, sagte er aufrichtig. »Ich bin nicht sicher, dich zu begreifen. Mein Gott, gewiß, du bist außerstande, dich zu verstecken: warum habe ich nur den Eindruck, daß ich dich verfolge, ohne dich zu erreichen? Daß ich dich um ein Haar verfehle wie im Traum? Jedesmal verfehle ich dich um ein Haar: das ist das rechte Wort.«

Bevor sie antwortete, runzelte sie die Brauen.

»Das kommt vielleicht daher,« sagte sie, »daß du ein wenig zu berechnend bist … Die Historiker sind einmal so, nicht wahr? Da mache ich nun deine Berechnungen zuschanden, ohne daß ich es will. Du hältst mich für ein hochgetakeltes, schwerbeladenes Schiff mit reicher Fracht, mit einem tüchtigen Kapitän, allem, was dazu gehört. Aber ich bin nur ein armer leerer Nachen, der schwimmt, so gut er kann.«

»Doch, du täuschst mich«, antwortete Herr de Clergerie. »Du täuschst mich ungewollt, weil du dich nicht eine Minute bemühst, aus meinen Augen zu sehn, meine Sprache zu sprechen, dich zu rechtfertigen mit Gründen, die ich verstehn kann. Was soll ich von dir kennen, liebes Kind, außer dem, was ein jeder von uns im Familienleben im täglichen Umgang an Gewohnheiten, Neigungen – kurz an Vorliebe verrät! Aber du hast ja keine Vorliebe; mit allem scheinst du zufrieden. Das wäre für dein Alter schon unnatürlich. Aber noch schlimmer: du könntest keinen Grund für diese dauernde Heiterkeit angeben. Man muß sie nehmen, wie sie ist. Sie ist eben da.«

»Lieber Gott! Nimm sie doch, wie sie mir kommt!« sagte sie. »Ich bin doch nicht so schwer zu verstehn …«

»Nun sind wir wieder am alten Fleck. Ach, meine Rolle ist nicht leicht«, sagte er bitter.

Sie warf ihm einen so klaren und traurigen Blick zu, daß er ihn nicht ertragen konnte, und errötete leicht.

»Gib mir wenigstens zu, daß ich ein Recht habe, etwas erstaunt zu sein! Du hast niemals gelogen; du bist die Ehrlichkeit selbst. Nun gut, angenommen … halt! angenommen, mir würden zum Beispiel hinsichtlich deiner Verheiratung gewisse Fragen gestellt … sehr einfache Fragen …, ich könnte nicht darauf antworten. Welche Art von Frau wirst du einmal sein? Ein Schelm, wer es sagen könnte. Du fühlst dich in deinem Hause wohl, gut! du scheinst sogar sehr häuslich zu sein. Aber wenn ich dir morgen unsere Abreise nach Indien oder nach Kanada mitteile, wirst du die Nachricht, ich wette, mit dem gleichen zufriedenen Lächeln aufnehmen. Liebst du die Gesellschaft? Liebst du sie nicht? Auch das ist ein Problem: ich habe es nicht gelöst. Du zeigst in ihr eine Lebhaftigkeit, ein Feingefühl, die entzückend sind, gerade genug, um zu gefallen, nicht genug, daß ich sicher sein könnte, daß du auch wirklich Freude daran hast. Du bist deinen Freundinnen bis in die kleinsten Dinge treu, bis zum Skrupel. Und doch scheinst du nicht zu leiden, wenn sie dich verlassen. Du läßt dich hintergehn und bleibst guter Laune, ja von verblüffender Naivität. Zuweilen äußert sich dein Wille unvermittelt, sozusagen blitzhaft. Dann fügt er sich sofort wieder in den friedlichen Ablauf des Lebens. Wohin zielt er? Wo verbirgst du ihn? Denn du verbirgst ihn. Man müßte blind sein, müßte dich nie gesehn haben, um zu zweifeln, daß du deiner armen Mutter gleichst, daß du das gleiche Herz hast, die gleiche Leidenschaftlichkeit … Ich sehe dein Tun und Lassen in schmerzlicher Ahnung. Oh, du bist keine von denen, ich fühle es, die dem Hindernis ausweichen oder es wenigstens zu umgehn wissen. An welchem Hindernis wirst du zerschellen? Das frage ich mich … Weine nicht, Chantal!« rief er plötzlich aus. »Ich bin ein armer Mann!«

Sie weinte nicht, obwohl ihr Mund vor Ermüdung zitterte.

»Aber ich weine doch nicht!« sagte sie und versuchte zu lachen. »Ich möchte dich so gern zufrieden stellen! Du beobachtest mich nur immerfort: du siehst in mir viele Dinge. Ich selber sehe sie nicht. Nein, ich versichere es dir.«

Sie ballte die Faust, stützte das Kinn darauf und sprach sanft, mit halbgeschlossenen Augen, während ihr feines Gesicht sich vor Anstrengung spannte:

»Ich bin sehr, sehr einfach, das ist alles.«

Alsbald erbleichte sie, als hätte man ihr dies kindliche Geheimnis entrissen.

»Ich bitte dich um Verzeihung,« fuhr Herr de Clergerie fort; »ich tue dir vielleicht wehe. Es ist so schwer, einen Menschen auszufragen, ohne ihn zu verletzen. Gewiß hast du eine außergewöhnliche Natur, aber nein … nein … das erklärt nicht alles! Mit achtzehn Jahren hat man seine Träume. Was hast du für Träume?«

»Träume?« fragte Fräulein Chantal.

»Ja, kurz: Zukunftsträume.«

»O, ich sorge mich nicht um die Zukunft«, sagte sie kopfschüttelnd. »Du hast gut dafür gesorgt: wozu also?«

»Versteh mich doch: du gehörst nicht zu den Kindsköpfen, die nicht über den nächsten Tag hinaussehn. Du hast vielmehr die Haltung, den Blick, die Stimme – was weiß ich? – die Heiterkeit einer Frau, die ihre Wahl getroffen, ihren Entschluß gefaßt hat. Denn schließlich hat diese Art Heiterkeit einen Sinn. Welchen? Du träumst nicht, sagst du? Gut, selbst dein Schweigen ist von einem Traum erfüllt, der dich unbewußt lächeln läßt.«

Entmutigt ließ sie ihre Arme sinken.

»Was soll ich antworten, Vater?« sagte sie. »Ich bin einmal so. Sei nicht böse darüber. Mir scheint, daß ich nicht anders sein könnte. Die Zukunft macht mir keine Angst, ebensowenig lockt sie mich. Die großen Prüfungen sind für die großen Seelen, nicht wahr? Die kleinen gehn ganz sacht hindurch … Nun, ich bin keine große Seele. Der arme unbezahlbare Alte, den ich eines Tages getroffen habe, sagte: »Mein Beruf ist das Entgegennehmen.« Ich brauche so wenig zum Leben. Jetzt stehe ich brav im Kirchenportal, halte dem lieben Gott meine Hand entgegen und denke, er wird mir wohl stets zwei Sous hineinlegen.«

»Das ist sehr hübsch«, entgegnete Herr de Clergerie frostig. »Das führt geradeswegs zu den Klarissinnen.«

»Zu den Klarissinnen!« rief sie lachend. »Lieber Himmel! Wie kommst du darauf, daß ich je Klarissin oder auch nur Karmeliterin werden könnte?«

Er strich sich nervös durch seinen Bart.

»Ich will dir nicht widersprechen«, sagte er. »Ganz und gar nicht. Ich glaube, deine Frömmigkeit ist gediegen, sogar erleuchtet, und doch sehr ruhig, sehr vernünftig. Ein Grund mehr, um nicht leichtsinnig von den Mystikern eine Lebensregel zu entlehnen, die nur für sie gemacht ist.«

»Ach!« (ihr ganzes Gesicht zitterte vor Freude). »Ich entlehne nur meinen Teil, den Teil eines Bettlers, du hast tausendmal recht. Sehe ich aus wie ein Mädchen, das nach Demut, Armut, Gehorsam trachtet? Ich werde ihnen niemals entgegengehn. Beim ersten Schritt würde ich vor Angst sterben. Was du meine Heiterkeit, meinen Frohsinn nennst, das ist gerade die Gewißheit, zu nichts zu taugen, und auch die Hoffnung, am Jüngsten Tage so beurteilt zu werden, eine Vorzugsbehandlung zu genießen. Ich will mich nicht verteidigen. Sieh meinen Hund Tabalo: wenn ich Miene mache, auf ihn loszugehn, macht er sich davon. Wenn ich ihm wirklich zu Leibe gehe, legt er sich auf den Rücken und streckt die Pfoten in die Luft. Das ist's. Ich verteidige mich nicht. Ich wollte, daß Gott nicht mehr verlangt. Ich biete keinem Dinge Trotz, weder dem Schmerz, noch dem Tod, nicht mal dem kleinsten Verdruß: ich würde fürchten, sie aufzuwecken, sie zu erzürnen. Wenn die Prüfung auf mich zukäme, würde ich ohne Zweifel etwas zurückweichen; das ist zunächst natürlich … Aber ich würde mich alsbald überzeugen, daß ich keine Kraft habe; ich würde mich auf den Boden werfen, den Kopf zwischen die Schultern ziehn und die Augen schließen. Im Grunde gibt es vielleicht nur einen einzigen Heroismus, aber ich bin sicher, daß es hundert Arten gibt, Angst zu haben, und ich möchte, der liebe Gott lehrte mich die, die ihm am wenigsten mißfällt. Man hat stets Kraft genug, Schläge zu empfangen, ohne wieder zu schlagen, und sobald man nichts anderes von sich erwartet, nichts mehr verlangt, schläft man schließlich ruhig. Nicht die Furcht hält einen wach, sondern die Berechnung der Möglichkeiten.«

Herr de la Clergerie hatte ihr regungslos zugehört. Als sie schwieg, betrachtete er sie noch lange mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit. Dann raffte er mit beiden Händen die auf dem Tisch zerstreuten Papiere zusammen, wie ein Rechtsanwalt, der seine Sache verloren hat, seine Akten.

»Du machst dich lustig«, sagte er.

Sein ehrwürdiges Haupt schwankte langsam, als hätte er sich selbst mit einem ängstlichen »Nein« geantwortet. Vierzig Jahre hohler, zäher Arbeit, untermischt mit so vielen Ränken, die nicht weniger hohl waren als sie, die bittere Erkenntnis seines eigenen Nichts, die kindische Furcht vor jeder Wahrheit, vor jeder Einfalt, in der sein Mißtrauen nur eine verwickelte Hinterlist, eine weniger leicht zu entwirrende Lüge sah; kurz, sein ganzes Leben, die unerträgliche Mittelmäßigkeit seines Lebens, leuchtete in seinen grauen, rasch abgewandten Augen auf. Er seufzte tief.

»Das ist gut und schön«, sagte er noch. »Aber unbestimmt, sehr unbestimmt … Nein! das ist keine Lebensregel! Ich mache dich übrigens darauf aufmerksam, daß du nicht auf die Frage geantwortet hast, die ich dir gestellt hatte.«

Er hob den Kopf und pfiff gedankenvoll.

»Merke dir wohl, ich billige … ich billige, was zu billigen ist. Nur gehöre ich – Gott sei Dank! – einer Generation an, die mehr als jede andere die Vollkommenheit der Methoden von Maß, Untersuchung und Kontrolle bewiesen hat. Ich bin kein Feind des Übernatürlichen; ich gedenke sogar, ein untadeliger Katholik zu bleiben. Dennoch glaube ich fest, daß wir bis auf wenige Ausnahmen (die zusammen das bisher unerklärbare Wunder ausmachen), daß du, ich, – wir alle – in enger Abhängigkeit von den Umständen und Verhältnissen bleiben, und dein Traum von einem einfachen Hinnehmen erscheint mir undurchführbar. Ich zweifle sehr, ob er dir nicht ebenso erscheint, ob dein Benehmen nicht erzwungen ist. Nun?«

Er schlug mit der flachen Hand leicht auf den Tischrand.

»Du wirst mir nicht weismachen, daß du so leicht ein Opfer bringst … Den Verzicht auf deinen Beichtvater zum Beispiel?«

»Warum?« sagte sie. »Oh, du hast mich schlecht verstanden. Du sprichst von einem Opfer: soweit bin ich noch nicht, siehst du. Ich könnte niemanden opfern. Du nimmst mich zu ernst, Vater, darin liegt der Fehler. Es kostet mich so wenig zu gehorchen, daß ich wohl annehmen muß, daß meine Schmerzen so viel wert sind wie ich, das heißt nichts. Ich verstehe nicht zu leiden; ich schäme mich darüber. Vielleicht werde ich es niemals lernen?«

»Trotzdem«, sagte er, »hättest du zeigen können … Kurz, es scheint mir … Es ist unwahrscheinlich, mein Kind … Der Abbé Chevance hat dir stets Zuneigung bekundet … Gewiß wollte ich dich grade bitten … einen vernünftigeren Beichtvater zu wählen … einen weniger … weniger seltsamen … aber ich dachte nicht daran, dir zu verbieten … kurz, es wird dir genügen, ihn bloß seltener zu besuchen.«

»Ich danke dir«, sagte Chantal. »Ich bin glücklich um seinetwillen.«

»Siehst du!« rief er und blickte sie schief an. »Du wußtest so gut wie ich, daß dieser Bruch ihm unangenehm, ja schmerzlich sein würde … Er hat dich sehr gern.«

Sie öffnete den Mund, bewegte die Lippen und errötete. Dann sagte sie in geheimnisvoller Hingerissenheit, die ihr Lächeln nicht auslöschte, mit ihrer sanften Stimme, die unveränderlich war wie ihr Blick:

»O, Vater, er hängt nicht sehr an dem, was er gern hat!«

. . . . . . .

»Hier ist Ihr Frühstück«, meldete Frau de la Follette ruhig, obwohl in außerordentlich ernstem Tone.

Erst als sie die Tür mit einem sanften Schubs ihres dicken gefütterten Pantoffels aufstieß, sah sie zur Rechten den Körper des Abbé Chevance unbeweglich hingestreckt, das Gesicht nach der Wand gekehrt.

»Sicher ist er tot, ein Elend!« murmelte die arme Frau zwischen den Zähnen. »Es steht geschrieben, daß er nichts wie die andern tun wird, der alte Narr. Eine Geschichte, die einem das Herz umdrehn könnte – noch dazu bei meinem Alter!«

Die Bohnen dampften auf dem Tischtuch. Der Wecker war in den Alkoven gefallen und tickte dort blöder als je. Schon ging sie rückwärts, mit niedergeschlagenen Augen zur Schwelle; da richtete sich der Tote ganz natürlich auf seinen Ellbogen empor, drehte sich langsam herum, setzte sich schließlich aufrecht.

»Was für ein dummer Zufall!« stammelte er … »Ich bin sicher auf dem Fußboden ausgerutscht, habe einen Fehltritt getan. Verzeihn Sie mir!«

»Auf dem Fußboden ausgerutscht! Ha ha!« sagte Frau de la Follette verdrießlich. »Sehn Sie etwa so aus, als hätten Sie einen Fehltritt getan? Sie sollten sich im Spiegel ansehn: Sie wissen noch nicht, wie es mit Ihnen steht. Ein Elend!«

»Doch, ich weiß es, weiß es ganz genau«, antwortete der Abbé Chevance etwas gereizt. »Sollte man's glauben? Es war schlimmstenfalls eine Ohnmacht. Ich habe keine Sekunde das Bewußtsein verloren: ich habe ganz genau gemerkt, wie ich fiel.«

»Gut!« sagte die Beschließerin. »Glauben Sie's nur, wenn Sie können. Für mich sind Sie vor Schwäche so weit gekommen. Sie müssen Ihr Blut auffrischen. Essen Sie, solang es warm ist.«

Er war aufgestanden und bewegte schmerzhaft den Kopf. Sein Blick war wie berauscht. Endlich erreichte er mit kurzen Schritten den Tisch, griff mit seiner schweren Hand nach einem Stuhl und ließ sich plötzlich darauf fallen, ein furchtbares Lächeln auf den Lippen.

»Sehn Sie! Da!« sagte er mit seiner fügsamen Stimme. »Ich danke Ihnen, Madame de la Follette … Ich halte es für nötig, meine Kräfte … meine Kräfte wieder herzustellen. Der Tag neigt sich, Madame de la Follette … Es ist furchtbar, wie der Tag sich neigt … Ich kann kaum mehr sehn, Madame de la Follette.«

»Was Sie sagen!« rief sie, immer noch mißtrauisch. »Statt Späße zu machen, essen Sie doch, das ist mehr wert. Ich warte, bis Sie fertig sind, damit ich hinunter kann. Herr de la Follette macht sein Spielchen; aber er kann jeden Augenblick zurückkehren, und er liebt das Getue nicht.«

Sie beobachtete ihn heimlich, ergötzte sich ohne Bosheit an einem Schauspiel, das denen auf der Straße glich, wo selbst das Schreckliche drollig wirkt. Das stumpfsinnige Lächeln des Unglücklichen, die berechnete Langsamkeit seiner Bewegungen, ihre Ungeschicklichkeit, ein seltsames Hin- und Herwiegen des Körpers, das er plötzlich bezwang, alles trug dazu bei, dem armen Priester ein komisch-feierliches Aussehn zu geben. Er hatte etwas von den nachdenklichen, schwerfälligen Trunkenbolden, die von einem Bürgersteig zum andern langsam durch die leichtfertige Menge schwanken. Und gerade in dieser Minute drang durch das Fenster, das im Abend plötzlich riesengroß wurde, während der Straßenlärm nachließ, der abscheuliche Singsang eines Konzertcafés wie die Spitze eines zitternden Wasserstrahls, ein Federbusch aus Schaum, mit einem frischen Luftzug in das Zimmer hinein, gedämpft, unverkennbar, unerklärlich rein.

»Madame de la Follette,« sagte er, »als ich fünfzehn Jahre alt war, mußte ich im Knabenseminar zu Montligeon – verzeihn Sie – große Mengen rohes Fleisch verschlingen. Der Arzt hatte es befohlen, ausdrücklich befohlen. Verstehn Sie? Noch heute wird mir bei dem Gedanken übel. Wie ekelhaft!«

Er ergriff die Schüssel, füllte seinen Teller bis an den Rand und begann, die Gabel in der geballten Faust, mit außerordentlicher Hast zu essen.

»Es geht ja«, sagte die Beschließerin. »Sie erholen sich; Sie sehn schon besser aus.«

»Ich fühle eine große Leere im Kopf«, gestand der Ärmste mit vollem Munde. »Vielleicht kam die letzte Ohnmacht davon. Es ist sicher ein Schwächezustand.«

Seine Stimme behielt eine gewisse Munterkeit, was Frau de la Follette beruhigte. Doch sie vermochte den Blick nicht von seinem brennenden, glühenden, aber schreckensstarren Gesicht abzuwenden, in dem nur die Kinnladen sich bewegten.

»Ich habe großen Durst«, sagte er noch.

Er goß sich rasch hintereinander zwei Gläser Wein ein und trank beide auf einen Zug leer. Ein dünner roter Faden floß langsam vom Mundwinkel auf sein Kinn herab.

»Sie müssen die Lampe anzünden«, fuhr er sanft fort. »Der Abend kommt früh. Einstmals … ach, auf den Weihern meines Heimatdorfes … auf den Weihern … wie seltsam! … da hörte der Tag nicht auf zu sterben … Wie ganz seltsam! … Es ist eine kühle, ganz kühle, die kühlste Stunde, wenn wir unsere Ochsen zur Tränke führen, die schönen Tiere. Das Haus ist nicht weit, am Ende des Pfades, der dunkel zwischen den Bäumen liegt, unter den Bäumen … Das ist das Paradies. Dahin werde ich meine Kinder führen, meine armen Kinder. Urteilen Sie selber, Madame de la Follette! Ich kenne Frauen, die ihre Kleinen mit Suppen aus Abfällen nähren. Man brauchte viel Milch … viel Milch! Manches davon geht verloren, Madame de la Follette. Rinnt am Eimer herab, ins Gras, weißer Schaum. Der Tau löscht ihn nach und nach aus. So viel vertane Milch! Ich hab' es der Tochter von Simon Clos gesagt, als ich aus der Schule zurückkam. Sylvia! Sylvia! gib acht! stell deinen Eimer senkrecht hin, Mädchen! Sie hat ihren Holzschuh am Brunnen gefüllt und mir das Wasser ins Gesicht gespritzt … Patsch! Patsch! den ganzen Guß auf meine neue Schürze … Wie, Eminenz … Eminenz, wir haben Leute, die Hungers sterben! Was soll ich den Leuten sagen, die Hungers sterben?«

Er füllte sein Glas von neuem, führte es zitternd an die Lippen, beroch es zweimal und stellte es feierlich wieder auf den Tisch.

»Nanu! Nanu!« schrie Frau de la Follette.

Sie sah, wie er den Kopf wandte, als verstände er oder suchte aus der Tiefe seines Traumes zu verstehn. Und sie hörte auch das Zahnfleisch in seinem leeren Munde schnalzen.

»Schau! Schau!« sagte sie. »Sie schlafen, was? Das ist dumm!«

Er winkte, ihn nicht zu beunruhigen, ihn in Frieden zu lassen. Die alte Hand machte in der Luft ein unverständliches Zeichen, dann sank sie schlaff auf das Tischtuch nieder, legte sich dort auf den Rücken, mit der Handfläche in die Luft, wie ein sterbendes Tier.

»Madame de la Follette,« murmelte er, »Sie können ruhig lauter sprechen. Gestern sagte ich zu dem Herrn Erzpriester: Ein bißchen Schlaf genügt mir, ein kleines Bißchen … Wie viel Uhr ist's? Ach was! Ich weiß, Sie erschrecken zu Unrecht … Doch, ich versichere Ihnen! Ich verstehe alles, Madame de la Follette, alles und jedes. Ich sehe Sie sehr deutlich, den Tisch, das Glas … sogar das Tischtuch hier, das ich mit den Fingern knille, so … sehn Sie … Also! Reden wir nicht mehr von dieser Dummheit … Niemand soll davon erfahren … Ich bitte Sie darum … Versprechen Sie mir …«

»Die Augen!« schrie Frau de la Follette. »Er macht mich verrückt!«

Denn eben hatte er sein armes Gesicht mit den unermüdlich kauenden Kiefern erhoben, und zwei graue, in Tränen gebadete Kugeln drehten sich langsam, majestätisch unter den Wimpern. Dann kreisten sie plötzlich um sich selbst und ließen von neuem den verstörten, zusammengezogenen Augapfel sehn.

»Was hat er nur? Was hat er?« ächzte das Weib, von einer Neugier verzehrt, die noch stärker war als ihre Angst. »Was hat er nur, dieser fromme Hanswurst?«

Sie wich heftig zurück, schlich an der Wand entlang und blieb dort wie angeleimt stehn, mit ausgestreckten Armen und einem rauhen Seufzer der Spannung. Der unglückliche Priester hatte mit beiden Fäusten die Tischkanten gepackt; zusammengeknickt, mit vorgebeugten Schultern, wie von dem erbarmungslosen Erstickungsanfall emporgerissen, mit offnem Munde, der nach der tückischen Luft schnappte, kämpfte er ächzend und grimmig um sein Leben. Sie sah, wie seine schweißtriefende Haut sich allmählich mit dunkelroten Flecken sprenkelte, wie die Nase leichenfahl wurde, der Hals sich scheußlich hin und her wiegte. Einen Augenblick sahen Mensch und Tod sich so ins Angesicht, Stirn gegen Stirn, ohne nachzugeben. Dann fiel die alte Brust ein, als wäre sie endlich gebrochen, höhlte sich unter dem schwarzen Tuch; das Röcheln in der Kehle erstarb, und ein letztes Aufstoßen warf ein Häuflein blutigen Schmutzes auf das Tischtuch.

»Das Schwein! Er ist ja betrunken«, dachte Frau de la Follette, ihre zehn Finger auf die Lippen gepreßt, von dem Anblick gebannt.

Zweifellos hatte sie unbewußt gesprochen, denn die gleiche Stimme, die sie unter tausend erkannt hätte, antwortete nach einer Pause:

»Nein! ich bin nicht betrunken, Madame de la Follette … Hören Sie lieber … hören Sie wohl … Es geht schon besser … Es macht sich schon … Gehn Sie … Gehn Sie auf der Stelle … Rufen Sie … Holen Sie eine Droschke … kurz einen Wagen … sofort. Ich habe einen dringenden Gang … höchst dringend … unaufschiebbar.«

»So wie Sie da sind? Immerhin!« sagte sie, rot vor Verwirrung. »Ruhen Sie sich aus. Ich will Herrn de la Follette holen … Wenn er nicht da ist, na, dann wird der Kollege von Nummer zwölf sich nicht weigern, eine Handreichung zu tun. Man wird Sie zu Bett bringen. Sie gehören ins Bett, ganz gewiß.«

Sie wartete auf die Antwort, eine, zwei, drei Minuten. Endlich kam sie, langsam ausgesprochen, fast ein Murmeln, aber im gleichen Ton unbeugsamer Sanftmut.

»Ich rühre mich nicht … ich warte … um einen neuen Anfall zu vermeiden … aus Vorsicht … verstehn Sie … nur deshalb. Die Kräfte kehren wieder. Laufen Sie rasch nach einem Wagen, Madame de la Follette … Der Abbé Cénabre! …«

»Nicht doch!« sagte sie. »Seien Sie vernünftig! Das läßt sich auf morgen verschieben.«

Er saß noch an der Stelle, an der der schwarze Gefährte seinen Griff gelockert hatte, mit gekreuzten Armen, das Gesicht auf der Tischdecke. Geduldig antwortete er:

»Nein, nein, nicht morgen … heute! … Ich kann fünf Tage, eine Woche bettlägerig werden … Wer weiß? Wegen solcher Kleinigkeit verlieren Sie den Kopf? Schämen Sie sich nicht, Madame de la Follette? Wenn Sie noch zögern, hole ich mir selbst den Wagen! In fünf Minuten werde ich auf den Beinen sein … Ich kenne mich. Ach, das Alter kommt. Madame de la Follette! Ich muß mich schonen. Sonst sähen Sie mich nicht so niedergebeugt … Diese … diese Art Anfälle sind mir viel vertrauter, als Sie denken … Ich gestehe … die Dauer des letzten hat mich etwas überrascht … erstaunt. So … so … nun ist's gut. Da bin ich wieder auf dem Damm.«

Schaudernd wich sie vor ihm zurück. Mit ungleichen Schritten ging er vorwärts, den einen Arm leicht ausgestreckt, den andern regungslos. Sein marmornes Gesicht troff immer noch von Schweiß. Die Wangen waren von grauem Schaum beschmutzt, der bis auf die Schultern herabgeflossen war, die Augen halb geschlossen. Sie wich zur Seite, um ihn vorbeigehn zu lassen, sah ihn gegen die Wand taumeln, sich mit beiden Händen gegen sie lehnen. Dann kam er gerade auf sie zu, erblickte sein eigenes Gesicht im Spiegel und lächelte.

»Ich sehe nicht schön aus, schauderhaft!« sagte er. »Doch was tuts? Wir sollen die Leute nicht nach ihrem Aussehn beurteilen, Madame de la Follette … Etwas Wasser wird die Sache machen … Es … wird … nicht mehr … zu sehn sein …«

»Nun gut!« schrie Frau de la Follette. »Nun gut! … Nun gut! …«

. . . . . . .

Der Wagen bog plötzlich nach rechts aus, verlangsamte folgsam sein Tempo, nahm seine Fahrt wieder auf. Er fuhr durch die weiche, eben erst herabgesunkene Nacht, die noch vom Lärm des Tages widerhallte, bevor das wilde, dumpfe Getöse der nächtlichen Stadt erwacht, das sich erst bei Tagesanbruch stillt. Durch die Scheibe, die von der Dunkelheit bald verfinstert, bald freigegeben und an jeder Straßenecke von einer doppelten blendenden Lichtgarbe gepeitscht wurde, rollte sich die endlose Straße ab, die von den letzten Vorstadthäusern bis zum Herzen der Mutterstadt fast in einem Zuge träge dahinläuft, jetzt schon menschenleer und mit geschlossenen Fenstern. Aber der Blick des Abbé Chevance unterschied nur noch einen eiteln, possierlichen Tanz, der seltsamerweise mit seinem beschleunigten Herzschlag zusammenstimmte. Denn seit einem Augenblick nahm ihn dies eintönige unerträgliche Schlagen völlig gefangen; umsonst versuchte er, sich wieder zu fassen. Was ihm an bewußtem Leben blieb, hing unerklärlicherweise gleichsam an dem wilden Pochen seiner Adern. Kaum hatte es sich mit unerhörter Anstrengung in seinem armen wirren Hirn wieder gesammelt, so war das Schweigen alsbald gebrochen, zerstückelt, zerkrümelt durch den unerbittlichen Rhythmus, den die betörte Einbildungskraft durch das schmerzende Netz seiner Nerven widerhallen ließ. Umsonst preßte er die dröhnende Brust zusammen; sein erschöpfter Körper bebte bis in die letzte Faser, mit wunderbaren Wiederholungen, seltsamen Pausen und schwarzen Löchern, in denen seine eisige Angst mit einem Schlage versank. Es war ein ganzes Spiel feiner Listen, plötzlicher Angriffe, tückischer Aufschübe, das den Willen überrumpelte, ihn in unnützen Anstrengungen zermürbte, ihn der Seele stückweise entriß … »Es ist nur ein Herzklopfen, ein einfaches Herzklopfen«, wiederholte er laut mit jenem sanften Starrsinn, der ihm so oft durch sein bitteres Leben hindurch geholfen hatte. Aber kaum war das trügerische Wort gesprochen, so kehrte die Beklemmung desto stärker wieder. Mehr noch, sie übermannte alle Sinne, einen nach dem andern. Manchmal war es ihm, als ob das lächerliche Klopfen noch schneller würde, bis es nur noch ein einziges Summen war, zuerst dumpf, dann schrill, das an der Grenze der Tonleiter in tausend Blasen blendenden Rots zerplatzte. Das Trugbild war so grausam, daß der Unglückliche seine Finger mit aller Kraft zusammenkrampfte, um der Versuchung zu entgehn, nach diesen geheimnisvollen Kugeln zu greifen, sie zu betasten, ihre Widerstandskraft zu prüfen. Dann warf er wütend seinen Kopf in die gepolsterte Ecke und flehte mit dem gleichen Stöhnen die Stille und die Nacht herbei … Der Entschluß, den er gefaßt, die Handlung, die er auszuführen geschworen hatte, koste es, was es wolle, blieb ihm zweifellos irgendwo, in einem geheimen Winkel seines Gedächtnisses bewußt, aber es war gleichsam eine verhüllte Gestalt, unerkennbar, unbeweglich in dem herzbeklemmenden Wirbel des Schwindels. Zudem wagte er nicht, sie zu befragen, aus Furcht, sie möchte stumm bleiben, sich schweigend abwenden und auf immer etwas weit Kostbareres als das Leben mit sich nehmen … Nicht in einem Augenblick die höchste Aussicht verlieren! … Aber welche? … Die Aussicht worauf? … Denn in der Verwirrung seiner Vernunft war ihm ein bescheidener Trost wie ein Engel vom Himmel gekommen. Er wußte, er war sicher, daß er in seinen alten Händen nicht sein eigenes Heil, sondern das eines andern hielt, eines Mannes, der noch unglücklicher, noch verlassener war als er selbst. Wer war dieser Mann? … Ach, die Antwort würde zur rechten Zeit kommen! Er hatte den Namen vergessen, erkannte das Gesicht nicht durch so viele fremdartige Zeichen hindurch, fuhr aber zu ihm, eilte ihm zu Hilfe, würde ihn bald an sein Herz drücken! Eine eigenartige, aber doch nicht so seltene Erscheinung: das halbe Delirium ließ manche Erinnerung, manches frische Bild, manchen Zipfel der Vergangenheit unberührt, wie im dichten Nebel ein Hausfirst, eine Mauerecke, ein einzelnes Fenster auftaucht. Aber er war noch unfähig, diese Erinnerungen nach den Gesetzen der gewöhnlichen Perspektive zu verknüpfen. Sie stellten sich eine nach der andern ein, entfernten sich ebenso, tauchten plötzlich wieder auf. Zuweilen gingen die Worte sogar den Gedanken voraus; er sprach sie mechanisch, fast unbewußt aus. Erst lange nachher – so schien es ihm wenigstens – stieg das Bild langsam dahinter auf, trat allmählich hervor. – »Ich mußte darauf gefaßt sein«, murmelte er. »Ich werde jeden Tag schwächer, die Kräfte nehmen ab … nehmen ab …« Dann sah er wieder den grünen Empiresalon des Kanonikus Degrais, den Tisch, die hastig herbeigeholte Ätherflasche, die besorgte Miene des braven Mannes, seinen teilnahmsvollen Blick … Er fühlte von neuem den furchtbaren Wadenkrampf, den Schmerz, der blitzhaft bis in die Hüften strahlte, dann das Brausen in den Ohren und fast gleichzeitig den Sturz in die Nacht … Dann, dann erst kam er mit Mühe auf den Sinn der Worte, die er vor einem Augenblick gesprochen hatte. So hatte er auf die ängstliche Frage seines Freundes geantwortet, als er nach langer Ohnmacht die Augen öffnete. Übrigens war das deutliche Bild schon vorbei, hatte den Bereich des Bewußtseins verlassen. Das Herz pochte noch wilder gegen die Rippen, die höllische Runde schlang und löste um ihn ihre funkelnden Ringe; sein leicht und leer gewordener Leib trieb wie ein Fetzen dahin, ward nur durch den riesigen schmerzhaften Kopf, eine Bleimasse, am Boden festgehalten … Da liegt er am Fuß einer Pappel am hellen Mittag, hat seine kleinen bloßen Füße aus den Holzschuhen gezogen, umklammert den Peitschenstiel mit der Faust … Linkisch fährt die Kuh Muguette mit dem Maul über seinen Kittel; er fühlt ihren warmen Atem durch die Leinwand, schiebt sie mit einer Liebkosung weg, hört ihr Muhen … vernimmt das stoßweise Tuten der Autohupe, das Rattern des Motors durch das Fenster, das sich auf die beleuchtete Straße öffnet, wird sich seines elenden Sterbens bewußt, auf der Fahrt mitten durch die Menge, durch so viele unbekannte Gesichter … »Ich werde zu ihm gehn … ihn treffen … ihm sagen … Sicher habe ich noch die Kraft, ihm zu sagen …« Der Mann steht vor ihm, ganz aufrecht, ganz schwarz, unbeugsam … Oh, welches Mitleid! Welche Not! Es war Zeit! … Wenn doch wenigstens dies Herz eine Minute, eine einzige Minute, seinen wilden Galopp verlangsamte – oder daß er ihn nicht mehr hörte! – »Nein! ich werde nicht vor Gott treten, ohne Ihnen den Friedenskuß gegeben zu haben … Ich … ich weiß … ich allein! Ich kann Ihnen in seinem Namen verzeihen … Haben Sie Mitleid mit sich! Ich … ich …« Aber die Worte drängen sich wirr, dann schwirren sie davon wie ein Mückenschwarm, alle zusammen, mit ungeheuerm Gesumme. »Kurz, was wollen Sie von mir?« fragt ihn der Mann mit freundschaftlichem Lächeln. Da nimmt er seine Kräfte zusammen, sucht einen Schrei, einen einzigen Schrei aus seiner zusammengeschnürten Kehle hervorzustoßen: »Ihr Leben! Ihr ewiges Leben! …« Ach, es ist sein Leben, sein eigenes Leben, sein armes Leben, das er durch tausend unsichtbare Kanäle ausströmen fühlt … Welche plötzliche Sammlung! … Welche Stille! Selbst das wütende Herz zögert … will stehn bleiben … bleibt stehn … alles schweigt.

. . . . . . .

»Hören Sie mich, Herr?« fragt der Chauffeur. »Hören Sie mich jetzt?«

Er ist nämlich durch die Vorderwand des Wagens hineingekommen, die sich wie eine gewöhnliche Tür geräuschlos um ihre Achse gedreht hat. Umsonst hebt der Abbé Chevance ein wenig den Kopf, versucht einen Blick durch die Scheibe zu werfen.

»Wo sind wir denn, mein Lieber?«

Aber der andere zuckt die Achseln, ohne zu antworten, nimmt eine Kerze aus dem Kasten, hält sie näher und fährt mit ihr einen Augenblick vor den Augen des alten Priesters hin und her, so dicht, daß die Flamme die Wimpern streift.

» Ich will lieber warten«, sagt er. »Ich werde gleich etwas Neues versuchen.«

»Warten Sie nicht!« fleht der Abbé Chevance. »Ich habe es sehr eilig: ich habe keine Minute zu verlieren. Wenn Ihr Wagen eine Panne hat, so helfen Sie mir lieber aussteigen … Ich sehe nicht deutlich, wo wir sind. Bei … bei Saint-Germain-des-Prés vielleicht? Nicht wahr? So ist es. Lassen Sie mich heraus!«

Mit aller Gewalt drückt er das Handgelenk des Sprechenden, der ihn mit der flachen Hand sanft auf das Polster zurückschiebt und sagt:

» Ich gehe mir die Hände waschen. Sie können ihn so lassen, nur dürfen Sie sich nicht entfernen.«

»Danke! Ach, danke!« sagt der Abbé Chevance schrecklich verwirrt. »Aber ich muß Ihnen noch eins gestehn … ich habe schlechte Augen … sehr schlechte Augen … Kurz, ich kann die Ziffern am Zähler nicht genau ablesen. Ich habe geschlafen und werde kaum wieder wach … Was bin ich Ihnen schuldig?«

In der Tat wird er wach. Wenigstens ein Teil seines Selbst, ein kleiner Teil, und das genügt, um die übrige schwerfällige, leblose Masse nach sich zu ziehen. Allmählich findet er mit einer Art Freude sein Leiden wieder, das wirkliche, wirksame Leiden, nicht mehr den gräßlichen Traum. Es ist, als schlüpfe er von neuem behutsam, demütig, mit unendlicher Vorsicht in dies Leid hinein wie in ein altes, abgetragenes, aber treues Kleid. Jeder andere als er hätte in einer solchen Lage bei gleichem Mute diese kostbaren Minuten zweifellos durch übermäßige Hast in vergeblichen Anstrengungen vergeudet. Er läßt das bleiben. Geduldig hat er sich stets mit dem Guten, dem Mäßigen oder dem Schlimmen abgefunden. Was Gott verweigert, ist überflüssig. Was er gibt, genügt … Schon steht er am Rande des Bürgersteiges, vor dem bestürzten Chauffeur.

»Was bin ich Ihnen schuldig?«

»Elf fünfzig, mein Herr. Nachttarif.«

»Ach!«

Der Bürgersteig scheint unter seinen Sohlen zu versinken, die Straße beginnt sich langsam von rechts nach links zu drehen, dann schwankt sie unmerklich auf der Stelle wie ein Schiff, das an seinen Ankern festliegt … Elf fünfzig! … Mit den Spitzen seiner starren Finger wühlt er in fiebriger Hast in seiner Geldtasche, zählt im Kopfe hoffnungslos Zahlen über Zahlen zusammen, um Zeit zu gewinnen … Ach! wenn er sich nur einen Augenblick sammeln könnte, den Kopf zwischen den Händen!

»Da, mein Lieber!« sagt er und streckt seine Börse hin. »Bezahlen Sie sich selbst. Ich sehe nichts mehr …«

 

» Nichts Schlimmeres als solche Menschen mit Krämpfen!« antwortet die Stimme, aber aus der Ferne, wie hinter einer Wand. »Regen Sie sich nicht auf! Ich komme zurück.«

» Kommen Sie zurück!« schreit der Abbé Chevance aus vollem Halse. »Lassen Sie den Abbé Cénabre holen! Ich will es! Er wird kommen! Ich will … ich verlange!«

 

Aber der Chauffeur kehrt mit gemessenen Schritten, ohne auf ihn zu hören, zu seinem Wagen zurück. Der arme Priester ist tief beschämt, daß er so laut geschrien hatte. Doch was hat er geschrien? … Er erinnert sich nicht mehr.

Noch einen Augenblick lang blieb er unbeweglich auf der gleichen Stelle stehn, mit der Miene eines Mannes, der sich orientiert, bevor er einen Entschluß faßt. Doch er ließ das langsame Anfahren des Wagens nicht aus dem Auge. Seine Not war so groß, daß er nicht die Kraft gehabt hätte, auf eine neue Frage, einerlei welche, zu antworten. Lieber sterben! Vielleicht zum erstenmal in seinem Leben, zum ersten und letzten Male, entsann sich der einstige Pfarrer von Costerel hier an der Straßenkreuzung der bescheidenen Wonnen, die er einst gekannt, ohne Reue verlassen und für immer verloren hatte. Zwischen zwei Ängsten entdeckte der greise Körper endlich die Ermüdung, nicht nur die Erschöpfung nach höchster Anstrengung, sondern auch die weiche, unwiderstehliche Trägheit, das weiche Sichhinstrecken der Trägheit, das dem Hinschwinden der Seele gleicht. Die Autobusse, die vom fernen Bahnhof Montparnasse kamen, überquerten den leeren Platz mit einem Satze und machten kreischend zwei Schritte vor ihm Halt. Er sah wieder das Tor des ockerfarbenen Pfarrhauses, den kleinen, grasüberwucherten Hof, die baufällige Hundehütte, den schmalen, dunkeln und kühlen Flur, und er roch – ach, er roch vor allem – den Baumwoll- und Lavendelduft des großen Daunenbettes hinten im Alkoven. Ja, da hätte er ruhig sterben können! »Früher war ich Pfarrer von Costerel …« Er hat es so oft wiederholt, wie man eine sagenhafte, wenig glaubwürdige Tatsache berichtet, ohne große Hoffnung, daß man ihm aufs Wort glaubt … Und jetzt kommen bescheiden die gleichen Worte wieder auf seine Lippen, und er wagt sie nicht auszusprechen, um nicht aufzuschluchzen.

Mit kurzen Schritten setzte er seinen Weg fort, ging an der Vorhalle entlang und verschwand … Doch die plötzliche Einsamkeit der Rue de l'Abbaye flößte ihm Angst ein, und plötzlich erblickte man in der hastenden Menge seinen schmalen, langsamen, schwarzen Schattenriß wieder. Eine Minute blieb er dem Portal gegenüber nachdenklich stehn, wagte nicht aufzublicken, betrachtete verstohlen und bang den Schatten der Vorübergehenden an der Mauer. Sein Kopf war wieder so schmerzhaft und so schwer, daß ihm jede plötzliche Bewegung eine Klage entriß. Kaum vermochte er sie zwischen den zusammengepreßten Zähnen zurückzuhalten. Ihn entsetzte der Gedanke, gehört, gesehn, wohl gar ausgefragt zu werden. So erreichte er die Ecke des Boulevard, glitt am Gitter der Anlagen hin bis zu seinem Ende, und dort, in einer dunkeln Ecke, klammerte er sich an den Eisenstäben fest, stützte sein Kinn auf die verschränkten Hände und sog lange, geräuschvoll, mit letzter Kraft die Stille des kleinen Gartens ein.

Da fiel der Lichtkegel eines großen Scheinwerfers eine Sekunde lang schräg auf eins der Fenster des Querschiffes und ließ einen Funkenregen aufsprühen. Die gewaltige Steinmauer schien von oben bis nach unten zu erbeben. Aber sofort stand sie wieder fest auf ihren mächtigen Grundmauern, wandte sich wieder hochmütig der Nacht zu und nahm abermals ihre furchtbare Zwiesprache mit ihr auf.

 

»Mein Freund,« murmelte der Abbé Chevance, »mein armer, unglücklicher Freund!« … Ganz leise wiederholte er diese Worte, ohne ihnen vielleicht irgendeinen bestimmten Sinn beizulegen. Aber sie erleichterten sein Herz; er ward es nicht müde, sie zu hören. Er war sicher, sie würden schließlich in der Tiefe des Gedächtnisses langsam und zart jene widerspenstige, umsonst verfolgte Erinnerung aufwecken … vorausgesetzt, daß nichts ihr leichtes, kaum befestigtes, so zartes Gewebe zerrisse! … Hinter ihm war alles Lärm, Licht und Bewegung, aber er gab sich Mühe, einen kleinen dunkeln Winkel in einer Vertiefung des Steins, im Schutze eines mageren, hinwelkenden Lorbeers, nicht aus dem Blick zu verlieren. Die Erde ringsum schimmerte schwach; dünnes Gras sproßte zwischen den Kieselsteinen hervor; ein leichter Wind, der über den Boden hinstrich, wirbelte still etwas Staub auf … »Mein Freund, mein armer Freund!« … Er verbarg sich, so gut er konnte, drückte seine Brust gegen das Gitter, strengte sich an, für einen Augenblick die riesige, eitle Stadt zu vergessen, der er dreißig Jahre seiner harten Arbeit gewidmet hatte und die ihm noch das letzte Gut entreißen wollte, das ihm verblieb, das er sich noch nicht hatte nehmen lassen, sein demütiges Sterben. Gewiß hätte er nicht daran gedacht, es ihr streitig zu machen; hatte er doch seit so langem nie etwas zu eigen gehabt. Aber dies höchste Geschenk war schon vergeben; ohne Verrat konnte er nicht mehr darüber verfügen. Ein anderer … Ein anderer hatte Anrecht darauf! Ach, wie leer war sein Kopf! Noch zaghaft versuchte er den durchlaufenen Weg Stück für Stück noch einmal zurückzulegen, in der Hoffnung, an einer vergessenen Biegung vielleicht den Schlüssel zu dem Problem zu finden, dessen Wortlaut sein erschöpftes Gedächtnis nicht einmal mehr behalten konnte. Alle Einzelheiten seines kläglichen Abenteuers stellten sich auf einmal ein oder verschwanden ebenso auf der gleichen Bildfläche, ohne irgend eine Verkettung von Ursache und Wirkung, wofern sie nicht plötzlich in der unsinnigen Logik der Träume verkehrt abrollten und er ihren Ablauf nur mit grausamem Zwange verfolgen konnte. Zudem ward alles durch das geringste Hindernis, die geringste, unversehens auftauchende Schwierigkeit wieder in Frage gestellt. Lange hielt er an einem nichtssagenden Punkte inne, bis ein Fieberbild mit einem Schlag sein Denken ablenkte, es in ein neues Labyrinth abwegiger Gedankengänge verwickelte, aus dem er sich mit Mühe einen Ausweg suchte. Aber selbst dann, wenn sogar die Vorstellung der gebieterischen, dringenden Pflicht verblaßte, zu deren Erfüllung er den letzten Hauch seiner Brust dransetzte, riß ihn der Schwung seines Mitleids stets zu dem unbekannten Freunde hin, der mehr gefährdet war als er selbst. Die schlimmste Angst zerriß dies brüderliche Band nicht, sie knüpfte es nur umso fester. Das höchste Geheimnis des alten Priesters war ein Geheimnis der Liebe.

 

Schließlich gab er den Kampf auf, weniger entmutigt als besiegt. In der Verwirrung seines Bewußtseins ließ auch die bis zum äußersten gespannte Willenskraft nach und bat um Gnade. Er glaubte, sein schmerzendes Hirn unter der Schädeldecke zu fühlen, als wäre es der Stumpf eines abgeschnittenen Gliedes. Seine Schwäche war außerordentlich. Um sich aufrecht zu halten, mußte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Gitter lehnen, stieß mit den Knien gegen den Steinsockel. Er machte seine Linke frei, legte sie auf die Augen, sah mit Schrecken die Schatten der Vorübergehenden an der Mauer wachsen und abnehmen und begann so still wie möglich zu weinen.

Er weinte, wie manchmal Kinder weinen, nicht aus Müdigkeit oder Verdruß, sondern nur, weil man weinen muß, weil dies die einzige wirksame Antwort auf bestimmte grimmige Widersprüche, auf gewisse wesentliche Unstimmigkeiten des Lebens ist, kurz, lediglich weil das Unrecht vorhanden ist und es vergeblich wäre, es zu leugnen … Die welken Lippen schnitten von selbst die gleiche kindliche Fratze; die alten Schultern machten die gleiche Bewegung naiver, eingestandener, unheilbarer Ohnmacht. Und er vermochte wirklich nichts mehr, weder für sich noch für andere. Er verbrauchte den Rest seiner Kräfte in einem nutzlosen Kampfe, um nicht auf der Stelle hinzufallen, nicht das letzte Ärgernis eines öffentlichen Sterbens unter neugierigen Passanten zu geben. Dies Gefühl unsagbarer Ohnmacht, unendlicher Erniedrigung umwogte sein Herz. Kein Wort hätte es ausdrücken können; nicht einmal ein Gebet, wenigstens kein menschliches, hätte vor Gott Zeugnis davon abzulegen vermocht; denn solche Gewißheit strahlte weit über den elenden, schwer gewordenen Leib hinaus, weit über die Welt der Zeichen und Bilder. Durch seine Finger hindurch erkannte er nur noch einen dünnen fahlen Lichtstreifen, der über den Stein hinglitt. Aber die berühmte Kirche hatte ihn schon in ihren Schatten aufgenommen; sie war ihm nahe, vertraut; ihre starken Wurzeln tauchten unzerstörbar bis ins Herz der Stadt. Wie oft, wenn er vor Tagesanbruch aufgestanden war, hatte er sie einst mit seinen damals noch lebenden Augen, mit seinem wirklichen Menschenblick gesehn, ganz nackt, von der Sonne vergoldet, streng und rein! Doch er entfernte sich, ohne zu verstehn; denn wie sicher er auch war, ein ungeschickter Diener für geringe Dienste zu sein, ihm blieb doch wenigstens die Kraft seiner Arme. Aber selbst diese Kraft ist nicht mehr. Er ist nichts mehr. Ohne Anstrengung kann er gleichsam ebenen Fußes für immer eintreten in die große Einfalt Gottes.

. . . . . . .

»Nehmen Sie das Becken weg«, sagt der Mann mit den roten Händen. »Es ist unnütz. Das Blut fließt nicht mehr.«

Er wischt sich langsam die Finger ab, einen nach dem andern, dann beugt er sich plötzlich vor und tastet linkisch über das Bettuch, um seinen Kneifer zu suchen. Das Fenster wird bleich. Eine Kerze brennt noch auf dem Kamin. Das Zimmer füllt sich mit einem leisen Murmeln, das immer gedämpfter wird.

. . . . . . .

Die Knie des Abbé Chevance stoßen noch hart an den Stein … Vergeblich hat er nach einem der Eisenstäbe gegriffen und klammert sich daran fest. Ein letzter Stoß reißt ihm die Hände los … Der riesige, lichterglänzende Boulevard gleitet schwindelschnell an ihm vorbei, macht plötzlich lautlos Halt. Der greise Priester ist auf den Bürgersteig hingestürzt, steht auf, fällt wieder hin. Niemand hat es gesehn. Es ist nur ein Fehltritt … Aber wer, wer denn, mein Gott! hat ihn mit einem so rohen Stoße zu Boden geworfen? … Schon einmal … »Ich hätte gewünscht, daß Sie mich segnen«, sagt er traurig. »Ich wollte Sie um diese letzte Gnade bitten, bevor ich Sie für immer verlasse …« Ach, mein Gott!

Er drückt die Hand auf seine Brust, versucht, nicht vor Freude ohnmächtig zu werden. Bevor er wieder aufsteht – denn jetzt hat er die Kraft dazu – wiederholt er die rettenden Worte, und jede der magischen Silben kehrt in sein Inneres zurück, mit Luft, Licht, Warme, Gewißheit, Leben … »Ich hätte gewünscht, daß Sie mich segnen … Ich wollte Sie um diese Gnade bitten …« Es sind die gleichen Worte, die er einst gesprochen hat; er hat sie wieder erkannt – weit mehr! er erkennt sich selbst in ihnen, findet sich wieder – unverletzt, befreit, immer noch lebendig! Eine einzige, aber klare, helle Erinnerung, die ganz aus seinem Traum hervorgesprungen war, mit deutlichen Umrissen, mit sicheren Merkmalen in Raum und Zeit, eine einzige Erinnerung hat genügt, um das dunkle Gewebe zu zerreißen. Das Gedächtnis bemächtigt sich ihrer, wird sie nicht mehr loslassen. Auf dem einzigen festen Punkt baut sie wie durch ein Wunder in einem Augenblick ihr mühsames, hinfälliges Gebäude auf, läßt die verstörten Bilder in die Nacht zerflattern. Wie einfach wird alles und wie klar! Er ging zum Abbé Cénabre, als dieser Anfall ihn zu Boden schlug. In Wahrheit hatte er diesen Hauptpunkt niemals aus den Augen verloren, nur den Namen, der stets nahe war, aber stets floh … Doch der Beschluß war nichtsdestoweniger gefaßt, unwiderruflich. Nichts, keine Gewalt auf der Erde, hätte ihn lange von dieser dringenden Pflicht abgehalten. Die Stunde ist gekommen, das ist alles. Warum doch heute und nicht gestern oder morgen? Was liegt noch daran? Er weiß nicht genau, woher er kommt, aber er weiß genau, wohin er geht. Wozu noch weiter fragen? »Er hat mich gerufen,« sagt er, »ich bin dessen sicher! Er ruft mich …« Gewisse Tatsachen, die dunkel bleiben, werden sich von selbst klären … Wieder erblickt er die hohe gebieterische Gestalt, die sich aus dem Schatten löst, den ausgestreckten Arm, der ihn zurückstößt, ihn so roh zu Boden wirft … »Ich hätte gewünscht, daß Sie mich segnen … Ich wollte Sie um diese Gnade bitten …« Gott hat es ohne Zweifel gewollt, daß die Vernunft, die am Rande des Abgrundes wankte, nachdem jeder Widerstand gebrochen war, sich beim bloßen Klang der armen, ruhmlosen, aber doch von Liebe erleuchteten Worte plötzlich wieder aufrichten mußte. »Ich war von Sinnen«, murmelte der Abbé Chevance mit seligem Lächeln. »Ich hatte den Kopf verloren! Was für eine Geschichte! …« Schon geht er mit kurzen Schritten über den Boulevard, weicht vorsichtig einem Wagen aus, wundert sich, daß die Dinge so beruhigend, so glaubwürdig aussehn. An der Ecke der Rue Bonaparte entschließt er sich, etwas zu verschnaufen. Seine Soutane hat einen kleinen Schmutzfleck abbekommen, den er sorgfältig und langsam entfernt … Pech! Bei seinem Fall hat er sich den Ärmel über dem Ellbogen zerrissen. Er legt die Hand an die Stelle und fühlt einen stechenden Schmerz, reibt sich stöhnend mit den Fingerspitzen, um ihn zu vertreiben …

 

»Hindern Sie ihn, am Verband zu zupfen«, sagt jemand hinter ihm.

»Es ist ein wahres Elend!« antwortet Frau de la Follette. »Er hört nicht auf zu strampeln …«

(Arme Frau de la Follette! … Sie und ihr Schatten entfernen sich schon, verlöschen. Er ist allein.)

Die Straße ist leer. Alles auf ihr lädt zur Ruhe, zum Schlafen ein. Die Stille ist so tief, daß er hinhorchen muß, um den Schall seiner Schritte zu hören: er scheint auf Samt zu gehn. Als echter Vogesenbauer hat er stets im Einklang mit seinen Beinen gedacht: in dem Maße, wie sein Körper zerbricht, wird sein Denken leichter, verliert jedes körperliche Gewicht, steigt unversehens wie eine Heidelerche empor … Ohne Ermüdung schreitet er noch weiter aus, möchte laufen. Bisher hatte er niemals an eine neue Zusammenkunft mit dem Abbé Cénabre gedacht, ohne eine starke Herzbeklemmung zu empfinden, und – um alles zu sagen – eine übernatürliche Angst. Wer könnte ein solches Geheimnis ohne Abscheu in sich verschließen? Wer hätte nicht davon geträumt, es zu vergessen? »Ich bin der einzige Mensch,« sagte sich der Abbé Chevance manchmal, »vor dem er erröten könnte.« Und er hatte gewartet, seit Tagen, dann seit Wochen, schließlich seit Monaten, in der Ahnung, daß ein Mißerfolg nicht wieder gutzumachen sei, daß er einen schon grausam gedemütigten Unglücklichen auf ewig verderben werde. Zu schlicht, um sich für fähig zu halten, irgend etwas aus sich heraus zu versuchen, hatte der arme Priester nur auf irgendein geheimnisvolles Zeichen, auf den so oft vernommenen Ruf geharrt. Doch zu seiner kindlichen Bestürzung war das Erbarmen stumm geblieben. Weit entfernt, beide Männer einander zu nähern, schienen die Umstände ihn mehr und mehr von seinem berühmten Nebenbuhler zu entfernen. Nach kurzer Zurückgezogenheit war er wieder in der Öffentlichkeit erschienen, nicht weniger frei und kühn, wenn auch mit erhöhter Vorsicht und einer Spur von schwermütigem Ernst, in der seine Verehrer die Enttäuschung einer großen Seele erblickten. Doch für den Abbé Chevance war das, was so kam und ging, was seinen berechtigten Zoll von Bewunderung und Ehren empfing, doch nur das eitle Scheinbild eines Menschen, ein hohler Mensch. Der wahre Cénabre gehörte nur ihm. Ihm allein, Chevance, das Geständnis, das er der Verzweiflung und Schande abgerungen hatte: »Ich habe meinen Glauben verloren!« – weniger als ein Geständnis, ein Schrei, ein ehrlicher Schrei. War er für diesen Schrei nicht Gott Rechenschaft schuldig? Fast täglich sprach er in einer wunderbaren Eingebung seiner Liebe selber die Worte aus, über die er sich entsetzte, als hätte er gefürchtet, dies letzte Stöhnen des niedergeschmetterten Stolzes möchte vergessen werden, diese Art von krankem Gebet, das man noch an der Pforte der Hölle vernehmen muß. Dennoch hatte er nicht gewagt, so zu seinem Meister zu sprechen: er hatte dies Geheimnis zitternd in dem dunkelsten Winkel der Kapelle der Jungfrau niedergelegt, weil ihr Mutterherz unfähig ist, etwas zu versagen. Im Übermaß seiner Trübsal hatte er sogar von einem Wunder geträumt: der Friede wäre von neuem auf diese schöne gebieterische Stirn herabgesunken, die endlich gebeugt war … »Ich hätte ihn wiedergesehn,« sagte er sich, »bestimmt wiedergesehn. Er selbst hätte mich gerufen!« Seine Seelenkenntnis, sein demütiger Scharfsinn konnten ihm übrigens keinen Zweifel daran lassen: der Mann, den er in jener Nacht gesehn hatte, war von keiner gewöhnlichen Versuchung heimgesucht: er kämpfte um sein Leben. Der Ausgang eines solchen Kampfes konnte nicht zweifelhaft sein. »Seine erste Regung«, sagte sich der Abbé Chevance noch, »wäre die gewesen, mich um Verzeihung zu bitten.« Wußte er doch besser als irgendwer, wie vergeblich fast stets die Hoffnung ist, daß man solche Seelen bezwingt oder sie überrumpelt. Er hatte abgewartet, erst geduldig, dann voller Angst, hatte allein als einziger Vertrauter, als einziger Zeuge gegen das Schweigen gekämpft, das sich, wie er fühlte, wieder um den Aufrührer ballte, wie ein Fluch, der täglich schwerer lastet. Es erschreckte ihn, er möchte zu früh sterben und die letzte Aussicht des Besiegten, die Möglichkeit seiner Rechtfertigung mit sich fortnehmen. »Ich bin jetzt sein einziger Freund!« Die handgreifliche Gemeinsamkeit ihrer Vereinsamung zermalmte ihn. Daß er derart wider Willen und ohne jemandes Wissen an den Priester gekettet war, dessen Namen er einst nur mit kindlicher Bewunderung ausgesprochen hatte, daß er – in welchem Maße wohl? – sein furchtbares Schicksal teilte, war ihm lange wie ein böser Traum erschienen, aus dem er aufwachen würde. Da zweifelte er einen Augenblick daran, recht gesehn und gehört zu haben. Er klagte sich an, ein grober, plumper Mensch zu sein, den allein der Zufall zum Besitzer eines Geheimnisses gemacht hatte, als seine Einfalt keinerlei Gebrauch davon zu machen wußte. Wütend wandte er sich seiner täglichen Arbeit wieder zu und konnte doch nicht die demütige innere Stimme ersticken, jenen kindlichen, aber hartnäckigen Einwurf … »Warum ist er nicht wiedergekommen? … Er weiß doch, welches Leid er mir zugefügt hat …« Dann schwur er sich, ein Ende zu machen, setzte sich eine Frist, die er bald überschritt. Entweder zitterte er vor Unruhe, oder er schmolz vor Scham hin bei dem Gedanken an so viel verwegene Mutmaßungen, die der Abbé Cénabre für ebenso viele Beleidigungen halten konnte. »Wenigstens wird Gott mich nicht sterben lassen, ohne daß ich meine Pflicht erkannt und erfüllt habe.« Dieser Gedanke allein hatte dem armen Priester einige Beruhigung gebracht. Doch er wähnte den Tag noch fern. Jetzt war er gekommen.

Er war gekommen, und nach einem kurzen lichten Moment wußte er es schon nicht mehr. Von dem Tode, der plötzlich aufgetaucht war, wie ein bitteres Antlitz hinter einer Fensterscheibe, hatte er nur die dunkle Gewißheit behalten, daß jedes Zaudern fortan sinnlos wäre, daß es weise sei, sich zu sputen, in raschem Laufe ans Ziel zu eilen, denn selbst die Zeit war kurz bemessen. Zweifellos erinnerte er sich unbestimmt, gelitten zu haben, ja bis an die Grenze seiner Kräfte, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, welcher Art sein Leiden war, und ihm lag nichts daran, es zu erfahren. Wozu auch? – Vielmehr schien es ihm, als hätte ein Schmerz ohnegleichen, statt ihn niederzuschlagen, sein ganzes Wesen erneuert, es geläutert, es mit seinen tausend emsigen Mäulern wie auf einmal aufgesogen. Mit diesem Schmerz war die Vergangenheit ausgeströmt, einerlei, wie sie war, gut oder böse, was lag daran? Es blieb die Gegenwart – aber frei, unverletzt, so frisch und neu, als hätte sie niemals in der wirren und zweifelhaften Zukunft gelegen – und diese Gegenwart war alles in allem nur der Abbé Cénabre, zu dem seine alten Beine ihn so rasch mit seltsam lautlosen Schritten trugen … Cénabre!

Im selben Augenblick öffnete der Abbé Cénabre die Tür und lächelte.

 

Er hielt in der Rechten einen kupfernen Leuchter, wie ihn Frau de la Follette allwöchentlich putzte. Seine Linke, die sich ihm zur Begrüßung entgegenstreckte, schien riesengroß. Das flackernde Flämmchen, vom Luftzug zurückgebogen, ließ jeden Schatten des Zimmers um sein eisiges Gesicht kreisen.

»Ich erwartete Sie, Herr Chevance«, sagte er. »Es ist recht spät.«

»Erlauben Sie!« rief der Abbé Chevance außerordentlich lebhaft: »Auch ich habe Sie erwartet! Schon lange wünschte ich … mit Ihnen … ein Gespräch fortzusetzen, das gegen meinen Willen … unterbrochen worden ist. Ich verdiene keinerlei Vorwurf, werde keinen dulden, Herr Cénabre. Das sei ein für allemal gesagt: es ist eine Übereinkunft zwischen uns, eine einfache gegenseitige Verabredung! Wenn hier übrigens keine Zeugen wären …«

»Sind Sie verrückt?« sagte der Abbé Cénabre streng, »wir sind allein. Ich verlange, daß Sie sich davon selbst überzeugen.«

Er schloß heftig die Tür, hob den Leuchter über sein Haupt und betrat die Wohnung, seinen Gast hinter sich herziehend. Die Zimmer waren kahl, völlig kahl, sie hallten. Bei jedem Schritte wirbelte etwas Staub auf, der sich gleich wieder setzte. Im letzten Zimmer lehnte sich der Abbé Cénabre an die Wand und stand lange unbeweglich und schweigend. Dann sprach er plötzlich mit gleichmäßigem, traurigem Tonfall:

»Wenn Sie es wünschen, werde ich Ihnen die Stelle zeigen, wo ich Sie in jener Nacht zu Boden geworfen habe. Ich kenne sie. Aber Sie sind daran vorbeigegangen, ohne sie zu sehn, obwohl Sie ein ordentlicher, genauer Mann sind, der seine Rechnung bis auf den Pfennig führt. Merken Sie sich trotzdem: ich schulde Ihnen nichts mehr. Ich fordere Sie heraus, noch irgend etwas von mir zu verlangen, ob Sie wollen oder nicht. Ich habe meine Möbel, meine Teppiche, selbst meine Bücher – ja, meine Bücher – verkauft. Sie werden kein einziges hier finden. Ich lebe in äußerster Armut, Herr Chevance, in vollkommener, wahrhaft evangelischer Armut. Warum verfolgen Sie mich? Jawohl: Quid me persequeris, Chevance?«

Er ging auf ihn zu, legte ihm beide Hände auf die Schultern, bohrte seinen Blick aus nächster Nähe in die Augen des erschreckten Priesters.

»Ich habe Ihnen schon verziehen, Cénabre«, sagte dieser. »Sie wissen es wohl. Wie also wagen Sie so zu sprechen?«

Der berühmte Historiker zuckte verächtlich die Achseln.

»Ich sehe, wir verstehn uns nicht«, sagte er trocken. »Sie sind ein kleiner Klügler. Seit Monaten habe ich Sie herbeigewünscht. Ich habe für Sie getan, was ich für niemanden getan hätte. Um einen belanglosen Schaden gutzumachen, einen bloßen Anfall von schlechter Laune, habe ich mich meiner ganzen Habe beraubt, mich zum Elend verurteilt. Ich habe nicht mal mehr Freunde. Ich habe eben den letzten fortgeschickt, gerade in dieser Nacht, um Sie in Frieden zu erwarten. Hier bin ich wie in der Stunde meiner Geburt, in völliger Entblößtheit. Gott ist nicht ärmer als ich.«

Er stellte den Leuchter auf den Boden, richtete sich plötzlich auf, streckte die Arme aus und drückte den alten Priester schluchzend an sich. Aber das betrogene Herz des Abbé Chevance krampfte sich schmerzhaft in der Brust zusammen; ohne ein Wort zu sagen, wandte er den Kopf ab.

»Sie hassen mich«, sagte Cénabre mit bitterem Lächeln. »Ich wußte es. Übrigens war ich erst vor einem Augenblick hinter Ihnen und folgte Ihnen bis hierher, während ich Ihre Gedanken beobachtete. Ach! teurer Freund, Sie sind voller Arglist: und doch, wenn ich mir nur die Mühe geben wollte, könnte ich Sie wie eine Spule abhaspeln, Faden um Faden; lassen Sie sich das gesagt sein. Das ist alles.«

Er trat mit dem Fuße wütend die Kerze aus, und der letzte Ton, der aus seinem Munde klang, schien vom klaffenden Rachen der Nacht wie im Fluge aufgeschnappt zu werden.

 

»Nein, nein!« stöhnte der Abbé Chevance milde, »ich glaube Ihnen nicht. Ich weiß sehr wohl, daß ich träume, ohne den Schatten eines Zweifels … Madame de la Follette, ich bitte … ich verlange … ich flehe Sie an, zünden Sie die Lichter an … alle Lichter … Nicht eins weniger … Das Paket Kerzen liegt hinten in der Schublade … Strecken Sie den Arm aus, Madame de la Follette.«

»Er hat die Augen weit offen«, sagte Fräulein de Clergerie. »Ich glaube, er spricht. Ach! sagen Sie mir, mein Herr, daß er nicht sterben wird, ohne uns wenigstens gesegnet zu haben!«

»Das ist eine erstaunliche … wirklich erstaunliche Natur …« begann der Abbé Cénabre, aber der Rest seiner Worte verlor sich in unklarem Gemurmel.

»Hören Sie mich … Wo sind Sie? … Cénabre!« schrie der Abbé Chevance mit bebender Stimme.

»Diese Posse hat lange genug gedauert, finden Sie nicht auch?« antwortete der Priester bitter. »Ich gedachte, meine Gründe bedächtig und vernünftig vorzubringen, und seit einem Augenblick führen Sie sich in diesem ehrbaren Hause auf wie ein Narr. Ja, Sie müssen verrückt sein, für die Zwangsjacke reif, um einen Augenblick zu zweifeln, daß wir hier allein sind, wo doch die geringste Prüfung der Örtlichkeit Sie von meiner vollkommenen Ehrlichkeit überzeugen kann. Ich nehme an, teurer Freund, daß Sie phantasieren. Aber ob Sie im Sterben sind oder nicht – hören Sie wohl, Chevance! – ich verbiete Ihnen, in meinem Hause zu sterben.«

»Oh, ich würde gerne sterben«, sagte der Abbé Chevance. »Nur flehe ich Sie an, mich nicht so sterben zu lassen, in diesem Dunkel, blindlings. Ich möchte noch einmal, nur ein einziges Mal, nur einmal noch sehn, Cénabre! Ich möchte wenigstens Ihre Augen sehn. Ich war stets ein unnützer Mensch, aber jetzt bin ich leer, ganz leer, Ihnen preisgegeben. Doch Sie wissen so gut wie ich, daß eine solche Nacht wie die Hölle ist.«

»Befreien Sie sich von Ihrem Irrtum!« antwortete der Abbé Cénabre. »Ich verfolge eines der interessantesten Experimente, und deshalb kann ich in keiner Weise einen törichten Eigensinn zugeben, der alles zu verderben droht. Wenn ich Sie übrigens wimmern höre, kann ich leicht erkennen, daß Ihre komische Gesundheit niemals besser war. Sie sind nicht kränker als ich.«

Während er sprach, hatte der Abbé Chevance sich schwerfällig in Gang gesetzt. Mit gespanntem Ohre ließ er sich, so gut er konnte, von der Stimme leiten. Sie schwieg. Da tauchte er beide Arme in die Finsternis und zog eine schlaffe, weiche Hand zurück, die er seufzend an seine Brust drückte.

»Lassen Sie meine Hand in Ruhe!« brummte Cénabre, halb lachend, halb ärgerlich. »Lassen Sie sie los! Was für ein Narr!«

»Ich bin Ihr Freund, ich bin Ihr letzter Freund«, flehte der greise Priester. »Wenn Sie mich zur Verzweiflung treiben, stürzen Sie mit mir hinein. Mein Gott! Ich werde kein Wort finden, um es Ihnen zu sagen; meine Sinne verwirren sich. Wenn ich Ihnen nicht bis zuletzt ganz unnütz sein soll, so gehn wir hier weg. Gehn wir anderswohin, irgendwohin, damit Sie mich wenigstens sterben sehn.«

»Ich lehne es nicht ab,« sagte Cénabre, »obwohl ich ernstliche Gründe habe, eine Falle zu fürchten. Überdies, lieber Freund, wüßte ich nicht, welchen Vorteil ich daraus ziehen sollte, wenn ich Sie sterben sähe. Das alles erscheint sehr seltsam, sehr wunderlich, um nicht mehr zu sagen.«

Er schlug Feuer an, blies auf den Schwamm, wie es der Knabe Chevance einst so oftmals am Saum der Weide getan hatte, wenn er sein Reisigfeuer anzündete, in das er Kastanien hineinwarf, eine nach der andern … Als jedoch die Kerze wieder brannte, erhellte sie nur einen Winkel der nackten Wand, gleich darauf den listigen Kopf des Abbé Cénabre und endlich seine rosige Hand, mit der er die Flamme schützte.

»Nun!« sagte er.

»Sie sind ein harter Mann«, schrie der Abbé Chevance außer sich.

»Ich habe im Gegenteil Mitleid mit Ihnen«, entgegnete Cénabre. »Wenn Sie wirklich gefährlich krank sind, müssen wir unsere Rechnung begleichen, genau, ohne länger zu zögern. Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Wer redet denn davon, eine Rechnung zu begleichen?« fragte der greise Priester, am ganzen Körper zitternd. »Sie machen sich über mich lustig wie stets. Auf dem Punkte, an dem wir jetzt stehn, Cénabre, sind Sie nur noch Gott etwas schuldig.«

»Ich habe Sie zu Boden geworfen«, sagte der Betrüger mit dumpfer Stimme. »Ich gäbe tausend Leben darum, hätte ich Sie nie angerührt. Was ich auch beginne, ich kann mich nicht mehr von Ihnen losmachen, bin an Ihre verwünschte kleine Person für alle Ewigkeit geschmiedet. Die Hölle verschlinge Sie!«

»Warum lästern Sie Gott, Sie Tor?« stammelte der Abbé Chevance. »Warum wollen Sie mich und sich zugrunde richten?«

Er fuhr empor, doch der Boden wich unter seinen Füßen. Nur auf den Knien vermochte er sich bis zu dem hohen, schwarzen, fühllosen Schattenbild hinzuschleppen.

»Ich habe meine Sache mit Gott geordnet«, sagte Cénabre mit der gleichen düsteren Stimme. »Ich habe allem entsagt; meine Entblößung ist vollkommen. Wer nichts hat, schuldet nichts. Ich bitte Sie, die vollständige Richtigkeit meiner Rechnung zu bemerken. Bliebe nur die geringste Kleinigkeit, so würde ich sie sofort vernichten, denn es liegt mehr in meiner Natur, zu zerstören als zu geben. Trotzdem könnte niemand etwas daran auszusetzen finden, denn ich bin das erste Opfer meiner untrüglichen Schlüsse. Wie ein zahlungsunfähiger Schuldner entschlüpfe ich der Gerechtigkeit durch das Übermaß meines Elends. Ich glaube, noch niemand hat vor Gott eine stärkere Stellung gehabt: in dieser Hinsicht ist meine Sicherheit vollkommen. Und gegenüber meinen lebenden oder toten Genossen wäre ich nicht weniger vorwurfsfrei; habe ich doch gegen keinen von ihnen eine Verpflichtung, außer gegen Sie. Sie allein können von mir Rechenschaft fordern über den einzigen Gewaltakt, den ich begangen habe, ich wage zu sagen, über die einzige unvernünftige Handlung. So wie er ist, für so belanglos man ihn auch halten mag, trägt er in eine schwierige Rechnung ein unauflösbares Element hinein. Ihre Verzeihung, vorausgesetzt, daß ich naiv genug wäre, sie ohne Gegenleistung zu empfangen, würde sie völlig auf den Kopf stellen, denn die Verzeihung läßt sich nicht als irgendein Posten in eine geordnete Buchführung einsetzen. Wären Sie nicht auf der Welt, Sie kleine Viper, ich wäre längst aus dem Spiel.«

Er erhob den Leuchter bis in die Kinnhöhe, und der Abbé Chevance sah genau zwischen den starren traurigen Augen einen winzigen Punkt von blendender Weiße aufblitzen. Die scharfe, fadendünne Flamme reckte sich jäh, züngelte zur Stirn, dann über die Haare, fuhr so scharf wie eine Klinge um den Nacken, und fast sogleich begann der ganze Kopf lautlos zu brennen.

Bevor der greise Priester eine Bewegung machen oder einen Schrei ausstoßen konnte, hatte er alle irdische Ähnlichkeit verloren, obwohl er noch immer senkrecht auf den Schultern zu ruhen schien, und Chevance sah zu seiner großen Überraschung, wie diese Art von leuchtender Kugel sich ihm langsam zuwandte, sich zweimal wie zum Abschied neigte. Übrigens verspürte er keinerlei Furcht, sondern nur eine äußerste Mattigkeit, eine Erschlaffung, wie sie dem Erwachen vorausgeht.

Einer seiner ausgestreckten Arme ruhte schlaff; auf dem andern spürte er in Höhe des Ellbogens den Druck einer zitternden Hand. Da ließ er seinen Nacken zurücksinken und merkte, daß er auf dem Rücken lag.

»Cénabre!« sagte er sanft, »Cénabre!«

Von der schwarzen Gestalt sah er nur noch einen unbestimmten, abnehmenden Schatten, der sich kaum von dem bleichen Schein unterschied, der sich allmählich an der Wand ausbreitete. Dann spaltete sich auch dieser Schatten. Einen Augenblick schloß er die Augen, um nicht sein seltsames Wandern durch das Zimmer zu verfolgen, in dem allmählich das Murmeln des Lebens erwachte.

»Das ist alles, was ich tun kann: fordern Sie nicht mehr von mir!« sprach eine ferne Stimme, die gleichsam im Leeren schwebte. »Ich denke, er wird jetzt sein klares Bewußtsein bis zum Ende behalten.«

Der Widerhall seiner letzten Worte pflanzte sich lange fort, schien zu verstummen, um noch einmal zu erwachen, und verschmolz schließlich mit einem andern, stärkeren Getöse, in dem bald nur noch eine einzige Note erklang, eine etwas eintönige, aber unaussprechlich reine Schwingung, die sich endlich im wirklichen Morgenlicht verlor … Das ganze Zimmer tauchte aus einem bläulichen Dunste auf, der einem unstofflichen, luftartigen Wasser glich. Der geschwächte Blick des Sterbenden sog seine ganze Frische ein, bevor er sich ungern auf die vertrauten Dinge legte. Dann wandte er ihn fast sofort mit herzzerreißender Klage dem Lichtabgrunde des weitgeöffneten Fensters zu. Erst jetzt, als er zum letzten Male seine Brust geweitet hatte, öffnete er vollends die Lider und starrte lange auf die bleiche Wand des Alkovens, ohne sie zu erkennen. Endlich gewahrte er das zerwühlte Bett, das auf dem Bettuch liegende Becken, einen hochroten Flecken und plötzlich seine knochige, schon leichenhafte Hand mit den blau umrandeten Fingernägeln. Kläglich wogte die Morgendämmerung an der Decke. Der scharfe Geruch des Frühregens drang stoßweise bis zu ihm.

All das sah er, aber in wirrer Schau: seine Augen schweiften von einem Gegenstand zum andern, als hätte er die Macht verloren, ihren feinen Muskeln zu gebieten. Dann glitten sie von neuem unmerklich nach der hellen Fensteröffnung, in der die bleiche Sonnenscheibe in flockigem Nebel emporstieg. Und doch: als er seinen Kopf mit unerhörter Anstrengung etwas abwandte, begegnete er jenem aufmerksamen, geduldigen, eigenwilligen Blick, den er vielleicht seit Stunden durch die dichten Hüllen seines Traumes hindurch auf sich ruhen fühlte, und er klammerte sich mit aller Kraft an ihn fest wie an den einzigen festen Punkt inmitten des allgemeinen Zerfließens. Noch bevor er in ihm irgend etwas Begreifbares las, unterlag er seinem sanften Zwange, hörte er seinen stummen Ruf. Der Ring des Lebens verengte sich allmählich, und inmitten des engsten Kreises blieb ohne Zweifel nur noch dieser nachdenkliche Widerschein, der zwischen Tag und Nacht schwebte, der wachsame Beobachter an der Oberfläche der Finsternis … Einen Augenblick schien dies Schweigen sich noch zu vertiefen, dann zerriß es jäh. Eine Stimme – nicht mehr ein unbestimmtes Murmeln – nein, eine sichere, unbezweifelbare Stimme, deren Klang und Tonfall er blitzartig erkannte, hatte soeben an seine Ohren geschlagen. Die Überraschung des greisen Priesters war so groß, das brutale Wiedererwachen seines Bewußtseins so schmerzlich, daß er versuchte, aus dem Bett zu springen, ohne daß es ihm gelang, die Decke mit seinem schwachen, schon eiskalten Arm zu heben.

»Regen Sie sich nicht«, sagte Fräulein Chantal. »Gleich werden Sie sprechen können. Ich bin dessen sicher. Verstehn Sie mich?«

Er nickte bejahend. Doch zuerst schweiften seine Augen über die gemeine Unordnung des Stübchens: ein Überzieher, über den Tisch geworfen, ein paar blutbefleckte Manschetten, verstreute Handtücher, seine armseligen Kleider, die zusammengerollt auf dem Fußboden lagen, ein langer schwarzer Wollstrumpf, der am Fensterrahmen hing; selbst in der Ofenecke die Überreste der letzten Mahlzeit, die leere Kanne, ein Stück Brot. Das schlichte Unglück seines armseligen Lebens stand hier überall geschrieben.

 

»Ich sterbe, meine Tochter«, sagte er. Bei diesen Worten sank sie sanft auf die Knie, stützte ihr Kinn auf seine gefalteten Hände und hielt den irrenden Blick immerfort mit der ganzen Kraft ihrer ruhigen, stolzen Augen fest.

»Ich glaube es«, sagte sie. »Wenigstens haben es die andern gesagt. Ich bin sehr glücklich. Heute Morgen waren Sie so schwach, daß wir glaubten, Ihr Herz schlüge nicht mehr. Ich hatte so oft gewünscht, vor Ihnen zu sterben und von Ihnen den letzten Segen zu erhalten. Erinnern Sie sich? Aber es ist eine große Ehre, die Sie Ihrer geringen Tochter erweisen, sie bis zuletzt in Ihrer Nähe zu behalten.«

»Ich sterbe«, wiederholte er mit einer gewissen Härte. Dann drehte er langsam den Kopf zur Wand und schwieg.

Durch die halbgeöffnete Tür des engen Zimmers, das der Abbé Chevance sein Sprechzimmer nannte, drang ein gedämpftes Lachen bis zu ihnen, alsbald von Stimmengemurmel übertönt. Bei jedem Windstoß pfiff und spritzte der Wasserkessel auf dem Ofen.

»Soll ich das Fenster schließen? Frieren Sie?« fragte Chantal.

Sie sah, wie er mühsam die Zunge bewegte und stoßweise dicken Speichel ausschied. Fast zugleich begann die Luft in seiner Brust zu rasseln. Doch er machte eine überraschte Bewegung, preßte die Kinnladen heftig zusammen, und das Röcheln erstarb.

»Was habe ich?« fragte er nach einem neuen Schweigen. »Ist mir nicht zu helfen?«

Eine lange Minute blickte Fräulein Chantal ihn starr und sprachlos an, mit einem Ausdruck unsagbaren Erstaunens.

»Ich werde den Arzt rufen«, sagte sie. »Er ist mit Vater in Ihrem Sprechzimmer.«

Aber der Sterbende gebot ihr mit einem gebietenden Blick Halt, setzte sein seltsames Brüten fort und brachte endlich ein paar Worte hervor, von denen sie nur die letzten verstand:

»Niemand … Sie allein … Ich will wissen.«

Sie zauderte. Ihre Brauen runzelten sich, ihr schmales Gesicht war gespannt und gleichsam gealtert durch eine innere Offenbarung, das Bevorstehn einer Entdeckung, die so herzzerreißend und so pathetisch war, daß jede Unschuld sofort aus ihren dunkeln Augen zu entschwinden schien.

»Das ist ein Anfall von Harnleiden«, sagte sie endlich langsam, ihren Mund ganz nahe an das Ohr des Abbé Chevance haltend. »Sie haben heute nacht phantasiert. Sie haben unaufhörlich nach mir verlangt, vielleicht auch nach dem Abbé Cénabre. Um sechs Uhr hat man Vater benachrichtigt. Wir haben unsern Arzt mitgebracht, den Doktor Glorieux.«

Sie nahm ihre Kräfte zusammen und fuhr nicht weniger deutlich fort:

»Wie er sagt, ist nur noch wenig Hoffnung. Sie werden bald vor Gott sein.«

Er schien nicht zu hören; doch das Kopfkissen höhlte sich etwas tiefer unter seinem Nacken, und die Luft rasselte abermals in seiner Brust. Dann hörte das Röcheln plötzlich auf, wie das erstemal. Der Abbé Chevance wandte die Augen nach der Tür seines Sprechzimmers, dann wieder auf Fräulein de Clergerie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Schrecken und Willenskraft.

»Ich verstehe Sie«, sagte sie sehr leise. »Ich gehe hin.«

Sie schritt durch das Zimmer, steckte den Kopf durch die halbgeöffnete Türe, schloß sie, kam wieder und kniete an der gleichen Stelle lautlos nieder.

»Ich glaube, die da drinnen schlafen. Ihre Beschließerin hat zwei große Lehnstühle zur Verfügung gestellt. Sie haben uns nicht gehört. Was wünschen Sie noch?«

»Nichts«, sagte er.

Seine Schultern verschoben sich in kleinen, ungeschickten Stößen; dann wurde er starr, und die Lider schlossen sich. Die entsetzliche Entspannung aller seiner Muskeln wurde unter der Bettdecke sichtbar, und das Röcheln, das aus seiner Kehle kam, hatte nicht mehr den Klang einer menschlichen Klage: es war das hohle Stöhnen eines erschöpften Tiers. Fräulein de Clergerie verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Haben Sie mir wirklich nichts zu sagen?« fragte sie. »Nichts? Sind Sie unzufrieden mit mir? Werden Sie Ihre Tochter nicht Gott anempfehlen – jetzt – in einem Augenblick?«

Sie schwieg, lauschte und preßte ihre zehn geschlossenen Finger mit einer Gebärde kindlicher Angst auf die Augen. Sie hörte nur immer das gleiche eintönige Stöhnen, das bald heller, bald dumpfer klang. Aber plötzlich ward es rascher, und die Worte quollen eins nach dem andern hervor, untermischt mit dem Geräusch der Arterien in den ertrunkenen Lungen.

»Ich will nicht …«, sagte er. »Ich will nicht … Ich … will … nicht …«

»Was denn?« fragte sie.

»Ich möchte nicht sterben, meine Tochter«, versetzte er deutlich.

Sie ließ die Hände sinken, blickte ihm fest ins Gesicht, mit einer unschuldigen Neugier, die furchtbarer ist als Verachtung. Die Stimme war nur noch ein Hauch; sie erriet ihre außerordentliche Herbheit mehr, als daß sie sie wahrnahm. Auf seinem grauen Gesicht zeichnete sich einen Augenblick lang der Umriß der Wangen rot ab, dann erlosch die Farbe.

»Mein Gott!« sagte sie kindlich. »Ist es denn so schwer? Ich glaubte es nicht. Die andern versicherten mir, Sie litten nicht mehr, das Delirium sei vorüber, was weiß ich noch? Doch, doch, ich schwöre es Ihnen. Ein sehr ruhiger, sehr sanfter, sehr klarer Tod: so sagten sie. Bedenken Sie doch! Es ist nur ein wenig Geduld nötig. Sprechen Sie mit mir; das wird Ihnen helfen. Ich habe ein feines Gehör, erinnern Sie sich? Wenn Sie nur die Lippen bewegen, verstehe ich. Bedenken Sie, daß die andern jeden Augenblick eintreten können, und ich werde sie ja schließlich auch rufen müssen: Wir beiden haben in dieser Welt ja nur noch diese armseligen paar Minuten. Habe ich Unrecht, sie von Ihnen zu beanspruchen! Sind Sie böse?«

Sie hielt den Blick des greisen Priesters in dem ihren, suchte bis auf den Grund hinabzuschauen. Aber sie las darin immer nur einen unbeugsamen Eigensinn, der einer Betäubung glich. Dann nahm sie zart die schon starre Hand und legte sie sanft auf ihre Stirn. »Segnen Sie mich wenigstens«, sagte sie. »Das wird Ihnen wohltun. Segnen Sie mich noch einmal, wie Sie es oftmals getan haben; segnen Sie mich für immer.«

Sie fühlte die Finger von ihrem Kopf in den Nacken gleiten, ohne daß sie sich krümmten, wie fünf Holzstäbchen.

»Schweigen Sie«, hauchte der Sterbende. »Sie können mir nicht helfen, weder Sie noch die andern. Wozu auch? Sterben ist hart, meine Tochter.«

»Man stirbt nicht gerne«, fuhr er nach einer Pause fort.

Noch versuchte sie tapfer zu lächeln, die Augen voll Tränen.

»Sie haben mich nicht gesegnet«, sagte sie. »Werden Sie mir auch das verweigern?«

»Was liegt Ihnen daran?« antwortete er trocken mit plötzlich gekräftigter Stimme. »Was haben Sie denn von dem Segen eines Mannes, der morgen nur noch Staub sein wird? Warum lassen Sie mich nicht in Frieden sterben? Was könnten Sie mir geben, meine Tochter?«

»Ich möchte Ihnen geben, was ich habe,« sagte sie sanft, »was Sie sehr lieb hatten und was ich jetzt nicht mehr brauche – ich werde es niemals mehr brauchen, niemals – meine Freude, meine armselige Freude, die Ihnen so gefiel. Ich habe Ihnen stets ohne Mühe gehorcht, wie Sie es wünschten, mit Heiterkeit. Alles in allem ist es wohl möglich, daß diese Heiterkeit vergeblich war. Doch was sage ich? Waren Sie nicht eines Tages über die großen Dinge erstaunt, die Gott aus dem Lächeln eines Kindes für sich allein zu gewinnen weiß? … Vielleicht ist es auch gut, daß ich lerne, mit der wundersamen Hoffnung Haus zu halten, deren Quelle ich für unversiegbar hielt, die ich unbedacht, töricht vergeudete, wie ein Geschenk, das nichts kostet. Hoffnung, das ist alles in allem das Wort Gottes, und das Wort Gottes ist ebenso süß wie furchtbar. Ich habe dem Tode und allem übrigen zu viel zugelächelt. Es ist billig, daß ich heute sein wahres Antlitz sehe. Ich habe es gesehn. Ich nehme es so hin, wie Sie es mir gezeigt haben; ich empfange es wahrhaft aus Ihrer Hand … Und nun … Und nun … wie soll ich sagen? Nun bitte ich Sie, nur noch glücklich zu sein … glücklich, wie ich es war, als ich Sie an diesem Morgen so ruhig schlafen sah, schon abwesend von uns, halb im Schatten und halb im Lichte. Wenden Sie sich nicht so ewig von mir, mit einem letzten Worte der Trübsal. Verstehn Sie mich? Nächst Gott sind Sie es, dem ich meine Freude dankte, Sie, sage ich. Nehmen Sie sie wieder. Verzehren Sie sie völlig, auf einmal, nur um diesen kleinen Schritt zu tun. Wenn es Ihnen gefällt, mich im Zweifel zurückzulassen, so schonen Sie mich nicht. Ist es aber wahr, daß Sie … wider Erwarten … meiner bedürfen, so dünkt mich, ich werde das Mittel finden, Ihnen nützlich zu sein. Vielleicht … wenn Sie nur wollen … wollen Sie?«

Er machte ein Zeichen, daß er nicht sprechen könne. Langsam führte er die Hand bis an den Mund, nannte sie mit dem gleichen gebieterischen Blick seine Tochter. Dann wischte er mit einem Zipfel des Bettuchs die verklebten Lippen und drückte sanft die Finger auf die zusammengebissenen Kiefer.

»Es ist nicht gut für Sie, mich sterben zu sehn«, sagte er schließlich. »Das hat keinen Wert, durchaus keinen Wert. Entfernen Sie sich!«

»So werde ich gehn«, sagte sie. »Reden Sie nicht mehr. Sparen Sie Ihre Kräfte etwas. Wir haben heute Morgen um fünf Uhr zum Pfarrer von Saint-Paul geschickt. Sein wachthabender Vikar ist gekommen, um Ihnen die letzte Ölung zu geben. Aber er hat versprochen, selbst zu kommen, sobald Sie wieder bei Bewußtsein sind. Ich kann ihn benachrichtigen lassen: unser Wagen steht unten.«

»Nein!« sagte der Abbé Chevance.

»Ich lasse also holen, wen Sie wollen,« sagte sie, ohne daß sie die Stimme zu erheben wagte, »einerlei woher. Der Arzt wird meinen Platz einnehmen. Ich habe schon zu lange gezögert, ihn zu rufen.«

Er blickte sie an, und sein starres Gesicht nahm einen Augenblick seinen alten Ausdruck von Unschuld und Demut wieder an. Sie begriff, daß er ihr diesen letzten Blick schenkte und daß sie auf dieser Welt nichts mehr von ihm zu verlangen hatte.

»Sie sind ein Kind«, sagte er. »Das ist meine Schuld. Auch ich war es. Ich muß in den Tod eingehn wie ein wahrhaft nackter Mensch. Ich bin nicht mal mehr ein Sünder, ich bin nichts als ein Mensch, ein nackter Mensch. Versuchen Sie nicht, in alledem einen Sinn zu suchen. Es ist nicht gut, einem Sterbenden wie mir zu nahe zu kommen. Reißen Sie mich aus Ihrem Herzen, meine Tochter, werfen Sie mich weg, wie ER mich verworfen hat, ohne sich noch einmal nach seinem demütigen Diener umzudrehen.«

Sie sah ihn einen Augenblick zögern, als hätte er ungerne, gezwungen ein Wort ausgeliefert, das für jeden andern unverständlich war, mit den lebenden Menschen nicht geteilt werden konnte.

»Maria,« sagte er, »Magd der Sterbenden«.

Dann schloß er wieder die Augen. Langsam, geduldig füllte er seine Brust mit Luft. Dann versetzte er, ohne die Lider zu öffnen, in einer Art von Verwirrung, die ein wenig Blut in seine Wangen trieb:

»Ich wollte Sie bitten, den Herrn … Herrn Abbé Cénabre herzubringen, denn aus seiner Hand wollte ich die letzte Lossprechung erhalten. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Es scheint mir nicht angängig, ihn unnütz zu bemühen. Wollen Sie mich auch bei dem Herrn Pfarrer von Saint-Paul entschuldigen. Damit bin ich zu Ende.«

Die Bettdecke, in die er seine zehn Finger hineinkrallte, begann unmerklich zu wogen, dann fiel sie wieder ein. Fräulein Chantal glaubte, er sei gestorben. Aber plötzlich erhob sich seine Stimme von neuem, außerordentlich laut und klar:

»Mein Töchterchen,« sagte er, »ich habe genommen, was Sie mir gaben.«

 

Erst jetzt merkte sie, daß sie zitterte, krampfhaft, unerträglich zitterte. Sobald sie dies Zittern unterdrücken wollte, verdoppelte es sich. Es war keine Furcht, ebensowenig Mitleid, es war beides zusammen und noch etwas mehr, was einer übernatürlichen Sattheit glich, dem Überdruß der Seele selbst. Seit dem Morgengrauen wachte sie liebevoll über dies Sterben, erwartete von ihm irgend etwas Himmlischeres, ein göttliches Zeichen, für das sie ihre klare Seele offen gehalten hatte. Und nun strömte eine unerwartete, unvoraussehbare Enttäuschung bitter und unaustilgbar in die unbekannte Quelle ihrer Freude. Sie konnte es nicht ertragen; immer noch zitternd, richtete sie sich auf, senkte ihr leuchtendes Haupt in feierlichem Schweigen zu Boden. Kein Wort kam von ihren Lippen, denn sie hatte sich wankend über jedes Wort gestellt: jedes menschliche Wort hätte fortan gelogen. Dieser Sterbende war ihre Hoffnung gewesen, ihre Ehre, ihr Stolz, die teuere Sicherheit ihres Lebens, und sie verlor alles auf einmal. Er stahl sich heimlich fort wie ein Dieb. Was lag daran! Der tückische Zweifel war über sie hingegangen, aber hätte er sie auch getötet, er hätte sie nicht befleckt. Sie stand vor Gott, so nackt wie irgend eine Kreatur, aber unerschütterlich in ihrem Willen, alles ohne Vorbehalt hinzunehmen, ohne Klage zu leiden. In diesem entscheidenden Augenblick ging ihre höchste Anstrengung nur dahin, sich demütig darzubieten, damit der göttliche Schlag bis auf den Grund ging, bequem bis ins Herz traf. Zaghaft tastete ihr helles Händchen auf der Brust ihres greisen Freundes nach dem immer langsameren Herzschlag, der jetzt kaum noch zu spüren war. Ohne ein Wort empfing sie in Unschuld die geheimnisvolle Demütigung eines solchen Sterbens, machte sie sich zu eigen, vermählte sich mit ihr für die Ewigkeit.

. . . . . . .

»Chantal,« sagte Herr de Clergerie am Abend, »nach einer solchen Prüfung, der schwersten, die du durchgemacht hast und die noch in deinem ganzen Leben nachhallen wird, drängt sich wohl die Notwendigkeit auf, daß du einen charaktervollen und scharfsichtigen Beichtvater wählst, einen richtigen Seelenarzt. Ich bekenne, daß mir der Wille des Abbé Chevance nunmehr klar erscheint. Nicht grundlos haben wir ihn in seinem Delirium so oft den gleichen Namen aussprechen hören! Für mich steht es fest, er wollte dich dem Abbé Cénabre anvertrauen. Schon morgen will ich mit diesem lieben Freunde reden. Möchtest du in diesem unvergleichlichen, so verschwiegenen, so verkannten Herzen den Platz einnehmen, der durch den albernen, unverständlichen Tod des armen kleinen Narren Pernichon frei geworden ist!«

 


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