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Die Geschichte von den Früchten der Aufklärung

»Wir drei Schwestern haben immer ein ruhiges, stilles Leben geführt, und niemand konnte wohl ahnen, daß uns das passieren würde, was uns passierte. Unser kleines Geschäft haben wir von unserem Vater geerbt, wir haben es so gut geführt, als wir es verstanden, und es hat uns unser Auskommen gegeben. Andere haben Reichtümer und viele Freunde und Vergnügungen und große Interessen von verschiedener Art; aber wir haben unser Heim, wo alles uns an unsere Eltern erinnert und namentlich an unseren lieben Vater, der ein strenger, ernster und gottesfürchtiger Mann war. Wir liebten ihn sehr, und wir haben es immer als unsere Pflicht und unsere Lebensaufgabe erachtet, sein Heim schmuck und rein zu erhalten, und gleichsam seinem Andenken geweiht. Wir haben eigentlich nie gerne unsere wenigen männlichen Bekannten in unserem Heim empfangen; das erschien uns beinahe wie eine Untreue gegen das Andenken unseres Vaters. Aber wenn es auch sein mag, daß wir da vielleicht in der Pietät zu weit gingen, so kann man es uns doch wenigstens nicht verdenken, wenn wir unser Heim von Besuchen einer gewissen Art verschont sehen wollten – Besuchen, die natürlich nicht uns galten.

Dies war der Grund, weshalb wir es uns jedesmal sehr genau überlegten, bevor wir ein neues Mädchen aufnahmen. Denn wahrlich, kann nicht ein solches, wenn es von der richtigen Sorte ist, ein ganzes Haus verpesten und entweihen? Warum muß zu den Vergnügungen der Mädchen immer ein männliches Individuum gehören? So ist es einmal, sagt man, und so muß es sein. Aber das ist ein Irrtum. Denn man sehe nur uns drei an! Wenn ich unseren lieben Vater ausnehme, den wir nie aufhören werden, zu vermissen und zu beweinen, so haben wir uns wahrhaftig nie nach männlichem Umgang gesehnt. Und obgleich wir so erzogen wurden, daß wir mit jedem, wer es auch sei, verkehren können, und obwohl wir ebenso gerne einen männlichen wie einen weiblichen Kunden bedienen – ja, sogar lieber, denn sie sind reeller und handeln weniger –, so haben wir uns doch immer am wohlsten unter unseren Freundinnen gefühlt.

Nun begab es sich eines Sommers, daß ich und meine jüngste Schwester eine Anverwandte besuchten, die mit einem einfachen Landmann in Småland verheiratet ist. Die Schönheit der Gegend entzückte uns, und noch mehr das sittige, arbeitsame Leben der Bevölkerung. Die Fröhlichkeit war darum nicht geringer, aber es war eine Fröhlichkeit in Keuschheit. Und wenn auch dort wie anderswo Ehen geschlossen und Kinder geboren wurden, geschah es doch nie ohne Einwilligung der Eltern oder Vormünder – wenigstens soviel mir bekannt ist. Diese reine Atmosphäre wirkte belebend auf uns, und meiner jüngsten Schwester kam eine Idee. Unsere Verwandte hatte viele Kinder, sie vertraute uns an, daß die Hütte ihnen zu eng zu werden beginne; das älteste Mädchen, das Lisbeth hieß, müsse sich einen Platz suchen. War das nicht ein Wink von oben? Lange gingen wir herum und beobachteten verstohlen die Kleine; ein lieblicheres, frömmeres und reinlicheres Mädchen konnte man nicht sehen. Wir faßten einen raschen Entschluß und nahmen das überglückliche Mädchen mit in die Stadt.

Natürlich waren wir uns klar darüber, daß wir damit eine Verantwortung von mehr als gewöhnlichem Maß übernommen hatten. Ihre Kleidung wurde einfach, aber nicht ländlich gewählt, denn ein Instinkt sagte uns, daß die Landmädchen den Attacken der Mädchenjäger ganz besonders ausgesetzt sind. Wir gaben ihr das Zimmer unseres eigenen Vaters, das zwischen dem meiner jüngsten und dem meiner zweitjüngsten Schwester gelegen ist; an der dritten Seite liegt das Kontor, wo ich zu schlafen pflege, das Fenster geht auf den Hof und wurde außerdem mit ziemlich dichten Gardinen versehen. Wir verschafften ihr geeignete Lektüre für ihre Freistunden; wir richteten es so ein, daß das Bildnis unseres Vaters mit den gütigen, aber strengen Zügen auf sie herniederschaute, wenn sie in seinem Bette lag. Natürlich mußte sie uns in die Kirche begleiten, und an den Sonntagen ließen wir sie überhaupt nicht aus den Augen. Nachdem wir ihr eine Reihe von klugen Verhaltungsmaßregeln gegeben hatten, meinte ich meinesteils, daß wir alles übrige der Vorsehung und der natürlichen Unschuld des Mädchens überlassen könnten.

Aber meine jüngste Schwester, die viel gelesen hat und ein scharfer Kopf ist, teilte meine Meinung nicht. ›Es ist‹, sagte sie, ›eine moderne Ansicht, daß die Jugend in gewisser Hinsicht aufgeklärt werden muß, vorsichtig, aber gründlich.‹ Da wir nun einmal die Verantwortung für dieses Naturkind übernommen hatten, wäre es unrecht von uns, den Worten der Denker und Pädagogen kein Gehör zu schenken. Meine jüngste Schwester las noch ein paar Bücher über den Gegenstand, und nachdem sie sich so vorbereitet hatte, gingen wir alle drei zu dem Mädchen hinein. ›Liebe Lisbeth‹, sagte sie, ›die moderne Zeit hat einen freieren Verkehr zwischen den Geschlechtern herbeigeführt, was wiederum einen segensreichen Gedankenaustausch fördert und andere Vorteile mit sich bringt. Wer diese Freiheit ist eine Freiheit unter Verantwortung.‹

Ich glaube nicht, daß das Mädchen sie so recht verstand, denn auch bei mir war das nicht der Fall, weshalb ich meine Schwester bat, sich einer leichterfaßlichen Sprache zu bedienen. Sie gab also dem Mädchen zu verstehen, daß die männliche Jugend in unserer Stadt keineswegs den besten Ruf genieße, und sie sagte: ›Wenn nun einer von diesen jungen Leuten dich anspricht, so mußt du nicht gleich Reißaus nehmen. Das tat man allerdings früher einmal, aber das hatte schon damals seine Unzukömmlichkeiten und paßt nicht für unsere geordnete Zeit. Sondern du sollst ihn höflich, aber bestimmt zurechtweisen, einmal, zweimal, dreimal. Hilft das nicht, mußt du dich an den nächsten Schutzmann wenden oder, wenn kein solcher in der Nähe ist, um Hilfe rufen.‹

Lisbeth lauschte aufmerksam, und in ihren klaren Kinderaugen lasen wir mit Rührung den festen Entschluß, unsere Ratschläge zu beherzigen. Aber wir, die wir in der ungesunden Atmosphäre einer Stadt erzogen wurden, konnten ihre Unschuld nicht recht ermessen und sollten sie leider erst verstehen lernen, als es zu spät war. Recht bald wurden wir doch ihrer ewigen Hilferufe überdrüssig und all der Schutzleute, die Aufschlüsse über den Geisteszustand des armen Mädchens verlangten. Und als uns schließlich ein geschätzter Stammkunde fragte, warum wir uns ein so unhöfliches Mädchen genommen hätten, das ihn anschnauzte und ihm mit der Polizei drohte, waren wir ganz betroffen. Wir beratschlagten, und auf den Vorschlag meiner jüngsten Schwester beschlossen wir, noch einen Schritt in aufklärender Richtung zu unternehmen. Wir gingen also zu dem Mädchen hinein und sagten ihr, sie hätte uns mißverstanden, und unsere Vorschriften bezögen sich nur auf Männer mit schlechten Absichten. ›Und wie soll ich ihre Absichten kennenlernen?‹ fragte das Mädchen in ihrem klaren, aber unerfahrenen Sinn. Wir überlegten lange; endlich sagte meine jüngste Schwester: ›Wenn ein Mann Neigung zeigt, dich küssen zu wollen, dann kannst du wissen, daß er zu der schlechten Sorte gehört.‹ – ›Ach‹, seufzte Lisbeth, ›daheim bei uns küßten wir uns immer, und als wir eingesegnet wurden, küßten sich Buben und Mädeln, ohne daß es irgend etwas machte.‹ – Meine Schwester sagte: ›Du weilst nicht mehr in diesen paradiesischen Gefilden. Wenn dich hier in der Stadt ein Mann küßt, so hat er schon dein Verderben beschlossen.‹ – ›Dann soll es auch nie geschehen!‹ rief Lisbeth. Und sie hielt Wort.

Nun konnten wir uns lange Zeit an unserem Schützling freuen. Wir fragten die männlichen Kunden, die sich beklagt hatten, wie sie sie jetzt fänden, und sie antworteten wie aus einem Munde: ›Das Mädchen ist wirklich sehr nett geworden.‹ Wir lebten also in Ruhe und Frieden, bis ich eines Tages zufällig einen Blick in den Hof hinaus warf. Da standen Lisbeth und der Herr Generalagent; mit der einen Hand griff er ihr unter das Kinn, und mit der anderen streichelte er ihr die Wange. Ich kann nicht sagen, daß ich besonders erregt war, denn der Herr Generalagent ist ja ein sehr alter Mann und außerdem unser Nachbar und pflegt uns bei der Numerierung unserer Waren zu helfen. Ich hielt jedoch eine Warnung für angezeigt und rief das Mädchen herein. Sie begegnete meinem sanften Vorwurf mit dem Ausruf: ›Er hat mich nicht geküßt!‹ – ›Nein, das hätte gerade noch gefehlt‹, sagte ich, ›und das kannst du auch von einem Mann in seinem Alter nicht erwarten. Meine Warnung gilt vielmehr den jungen Laffen, denn wenn ein solcher dir unter das Kinn greift, dann geschieht es in der bestimmten Absicht, dich zu küssen.‹

Lisbeth versprach, auf ihrer Hut zu sein, und ich hielt es nicht einmal für nötig, den Vorfall meinen Schwestern gegenüber zu erwähnen. Wir lebten, wie gesagt, eine Zeitlang ruhig und glücklich. Allerdings machten wir die Beobachtung, daß unser männlicher Kundenkreis sich erheblich vergrößerte, aber wir nahmen das mit Ruhe hin; und nicht einmal, als ein gewisser junger Mann ein immer häufigerer Gast in unserem Laden zu werden begann, ahnten wir Böses, denn wir kannten seine Mutter als eine achtungswerte Frau, und er machte große und kostspielige Einkäufe. Unsere Gutgläubigkeit sollte sich jedoch rächen. Eines Tages, als ich unvermutet in den Laden hinauskam, wo Lisbeth für einige Augenblicke allein geblieben war, fand ich sie, gerade herausgesagt, in den Armen des jungen Mannes. Er ergriff sofort die Flucht, und ich rief meine Schwestern. Ich brauche wohl nicht unsere Bestürzung zu erwähnen, wohl aber die des jungen Mädchens, denn sie war wirklich und trotz alledem unschuldig. Sie sagte: ›Was hätte ich tun sollen? Er sprach so freundlich zu mir und schlang die Arme um mich, aber er küßte mich nicht und griff mir auch nicht unter das Kinn.‹ – ›Siehst du denn nicht ein‹, fragten wir, ›daß du, in die Umarmung eines Mannes eingeschlossen, schon so gut wie verloren bist?‹ Da brach sie in bittere Tränen aus und bat uns, sie heimfahren zu lassen. ›Denn‹, sagte sie, ›daheim kann so etwas ruhig geschehen, aber ich sehe ein, daß es hier in der Stadt etwas Schreckliches ist.‹ Trotz unserer erregten Gemütsstimmung beherrschten wir uns und suchten das verzweifelte Mädchen zu trösten. Und wir sagten: ›Wenn der junge Mann dich je wieder anspricht, so darfst du ihm keine Antwort geben, es sei denn, daß er dich nach dem Preis einer Ware oder nach sonst etwas auf das Geschäft Bezügliche fragt.‹ Sie versprach es, und wir suchten uns wieder in Ruhe einzuwiegen.

Was geschah? Kaum eine Woche darauf, als ich Lisbeths Kommodenladen durchsah, fand ich einige Papiere, die sich als wahre Liebesbriefe entpuppten, strotzend von den rückhaltlosesten und glühendsten Ausdrücken und teilweise in Versen geschrieben. Mit diesen Papieren in der Hand, eilte ich in den Laden, wo sowohl Lisbeth wie meine Schwestern sich aufhielten. Das Mädchen zeigte keinerlei Bestürzung, sondern sagte ganz ruhig, daß der junge Mann die Briefe geschrieben hätte. Sie gestand auch, daß sie sie beantwortet hatte. ›Und wie hast du sie beantwortet?‹ fragte ich. Sie erwiderte: ›So gut ich konnte, liebe Tante; und ich habe auch versucht, in Versen zu schreiben, aber das ging nicht.‹

Ich beschränkte mich darauf, zu sagen: ›Du warst nun wieder nahe daran, dein Leben und dein Glück zu verscherzen.‹

Aber nun begann ich zu ahnen, daß ein wirkliches großes Unglück uns drohte. Und als ich mit meinen Schwestern allein war, sagte ich zu der Jüngsten: ›Dein Aufklärungssystem hat schlechte Früchte getragen. Ich glaube, du hast sie entweder zuviel oder zuwenig aufgeklärt.‹ – ›Das kann sein‹, gab meine Schwester zu, ›aber du mußt auch bedenken, daß das eine sehr verwickelte Sache ist. Wie soll ich alle Gefahren, die einem jungen Mädchen in dieser Hinsicht drohen, im Gedächtnis behalten und aufzählen können? Ebensogut könnte ich hinuntergehen und mich unter die Erlen am Fluß setzen und Mücken fangen.‹

Wir berieten lange und fanden schließlich den Ausweg, das Mädchen unter steter Bewachung zu halten. Folglich nahmen wir ein anderes Mädchen für das Geschäft auf, und ich zog in Lisbeths Zimmer und schlief neben ihr im Bett meines Vaters, und wir ließen sie überhaupt nicht aus den Augen. Aber der Johannistag kam heran, und eine von uns sagte: ›Ich möchte doch gerne in die Kirche gehen und das große Konzert hören!‹ Da waren wir alle mit dabei, nicht zuletzt Lisbeth, die Musik sehr liebte. Sie erkrankte jedoch gerade an diesem Tage, und daß dies kein Vorwand war, wissen wir mit Bestimmtheit, denn sie war stockheiser, im Halse hatte sie einen dicken weißen Belag, der glücklicherweise bald verschwand; der Puls machte allerdings nur siebzig Schläge, aber die Temperatur war gegen neununddreißig, und der Magen revoltierte merklich. Wir glaubten sie also mit Ruhe verlassen zu können, nachdem wir ihre Türe verriegelt und dem Laufmädchen im Kontor aufgetragen hatten, auf sie achtzugeben.

Doch kaum hatte ich in der Kirche Platz genommen, als eine unerklärliche Unruhe sich meiner bemächtigte. Ich rückte hin und her, und schließlich sagte ich zu meinen Schwestern: ›Zu Hause geschieht ein Unglück, eilen wir uns!‹ Und obwohl es peinliches Aufsehen in der Kirche erregte, standen wir auf, drängten uns durch und eilten nach Hause. Das erste, was mir auffiel, war, daß das Laufmädchen auf der Straße spazierenging und Bonbons aß. Ich schlich mich rasch in das Kontor und riegelte lautlos die Türe auf. Was ich nun sah, möchte ich lieber verschweigen, aber man hat mich aufgefordert, keinerlei Rücksicht zu nehmen. In unseres Vaters eigenem Bett und unter seinem Bildnis lag Lisbeth, entkleidet, wenn auch die Decke bis an das Kinn hinaufgezogen. Auf dem Bettrand saß der junge Mann. Das Hoffenster stand offen und zeigte, auf welchem Weg er hereingekommen war, und denselben Weg nahm er auch hinaus. Lisbeth, die später als er meine Ankunft gewahrte, rief ihm nach: ›Wohin so schnell? Ich habe dir ja noch nicht gesagt, was es kostet!‹

Als ich sie später fragte, was sie mit diesen Worten gemeint hatte, sagte sie, sie hätte mitten in ihrer Verblendung meine Mahnungen im Sinn gehabt, und darum mit ihrem Verführer nur über die verschiedenen Artikel in unserem kleinen Laden und deren Preise gesprochen. Man wird es vielleicht nicht glauben wollen, aber dies tröstete mich ein wenig, denn es zeigte doch, daß das arme Mädchen im Grunde einen guten Charakter hatte und die Schuld weniger an ihr als an uns lag, die wir sie den unschuldigen Gefilden entrückt hatten, in denen sie aufgewachsen war. Aber daß gerade unser Heim, das von der Erinnerung an unseren lieben strengen Vater erfüllt war, daß gerade dies einen so unseligen Einfluß ausüben sollte, das hat uns mehr geschmerzt, als jemand von Ihnen begreifen kann.

Nun beschlossen wir, daß das Mädchen zu den Ihren zurückkehren sollte; aber sie bat flehentlich, bis zum Schluß des Dienstjahres bleiben zu dürfen, da es sonst heißen würde, man hätte sie hinausgeworfen. Wir gaben nach; und während der Zeit, die noch übrig war, bewies sie uns so viel wahre Anhänglichkeit und unschuldige Zuneigung, daß unsere Augen sich oft mit Tränen füllten. Aber das Bitterste sollte uns nicht erspart bleiben. Gegen Herbst zu machte sie uns eine Eröffnung. Sie sagte, ihre Lage sei eine solche, daß sie nicht heimkehren könne, bevor eine gewisse Zeit verflossen sei. ›Ich würde meinen Eltern das Herz brechen‹, sagte das arme Kind, ›und ich kann von ihnen nicht dieselbe Nachsicht erwarten, wie von Ihnen, die Sie sozusagen meinen stufenweisen Fall mit angesehen haben.‹

Ich glaube beinahe, daß wir das Unglück geahnt hatten; auf jeden Fall fand es uns gestählt. Wir richteten es so ein, daß die Unglückliche die bestmögliche Pflege hatte, und als die furchtbare Wartezeit vorüber war, vertrauten wir das Kind einer guten Pflegemutter an.

Aber noch eine schmerzliche Überraschung war uns vorbehalten. Als wir uns von Lisbeth trennten, bat sie uns unter strömenden Tränen um Verzeihung. Und sie sagte: ›Ich habe mir alles vorzuwerfen; aber Sie müssen eines bedenken, daß ich mich in meiner Jugend und Dummheit auf Ihre Vorschriften verlassen habe. Und ich kann beschwören, daß der Mann, der mein Unglück wurde, mich nie geküßt oder umarmt hat, auch haben wir nie über etwas anderes gesprochen, als über das Geschäft.‹

Dieser unabsichtliche Vorwurf gegen uns verletzte mich ein wenig, so daß ich sagte: ›Du kannst doch nicht leugnen, daß sowohl ich wie die Ereignisse dich gerade vor diesem jungen Mann gewarnt haben.‹

Da riß sie ihre großen schönen Augen auf und erwiderte:

›Was den jungen Mann betrifft, so hat er gar keinen Anteil an meinem Unglück. Es war ein anderer, und einer, vor dem Sie mich nicht gewarnt haben, und außerdem ein alter Mann, und übrigens kein anderer als Ihr Nachbar, der Herr Generalagent!‹«

Dieses letzte Wort schleuderte die älteste Dame Theander mit einer gewissen haßerfüllten und düsteren Kraft hinaus. Dann erhob sie sich hastig, und mit ihr die beiden anderen Schwestern. Aber jetzt waren sie plötzlich in sanfte, scheue, kleine, alte Jüngferchen zurückverwandelt, die knicksten und lächelten und der Herrin des Hauses für die bewiesene Gastfreundschaft dankten. Sie reichten jedem zum Abschied die Hand. Doch ging die Älteste und die Jüngste mit abgewandtem Antlitz an dem Generalagenten vorbei. Die Mittlere hingegen blieb vor ihm stehen, reichte ihm die Hand und sagte:

»Ich bin Ihnen nicht böse, Herr Generalagent! Ich weiß und verstehe, was Sie und die arme kleine Judith gelitten haben. Wie sollte ich Ihnen da böse sein können?«

Der Generalagent fuhr jedoch fort, höchst unziemlich zu grinsen, trotzdem die ganze Gesellschaft, mit der Hausfrau an der Spitze, ihm ihr deutliches Mißfallen bekundete. Die Damen Theander gingen unterdessen die Treppe hinunter, und nachdem sie sich nochmals wie auf ein gegebenes Zeichen umgedreht und vor den Versammelten geknickst hatten, wanderten sie zu dem festlich geschmückten Mietwagen, der in der Allee auf sie wartete. Unter gegenseitigem Winken, Kußhänden und fröhlichen Zurufen verließen die Damen Theander das Gut. Aber der Pastor wendete sich an den Generalagenten und sagte:

»Hören Sie, Verehrtester! Könnten Sie nicht wenigstens aufhören zu grinsen? Und warum haben Sie die Damen Theander genötigt, diese betrübliche Geschichte zu erzählen? Sie sollten sich doch schämen, die harmlosen Würmer zu quälen!«

»Aber, lieber Freund, Sie tun mir unrecht!« wendete der Generalagent ein. »Ich habe sie nicht mehr und nicht anders gequält, als sie es sich selber wünschten. Wenn Sie, Herr Pastor, in der Lage wären, daß der Sündenfall eines Mädchens das größte und bedeutungsvollste Ereignis in Ihrem Leben bildete, dann würden Sie sowohl mich wie die Damen Theander besser verstehen. Sie haben vielleicht nie jemand anderen geliebt als ihren strengen Vater, aber sie haben nicht weniger Bedürfnis gehabt als andere, zu lieben und geliebt zu werden. Die älteste Schwester hätte sich vielleicht zu der Sache verstehen können, wenn sie nur einen Ausweg gesehen hätte, sich von dem obligaten Küssen zu drücken, das sie in ihrer kindlichen Einfalt für ein väterliches Prärogativ hielt. Die Jüngste hinwiederum, die forscher ist, ist in ihren Liebesgedanken so weit wie bis zur Umarmung gekommen, wo sie resolut haltgemacht hat, während die mittlere und schüchternste schon vor einem Tätscheln der Wange zurückgeschreckt ist, auch dies ein väterliches Prärogativ. Aber was sie sich selbst zu erleben weigerten, das haben sie in der Person des schönen Mädchens erlebt. Charakteristisch ist, daß sie ihr verboten haben, sich küssen und umarmen zu lassen und Liebesbriefe zu schreiben, aber den wichtigsten Punkt unberührt ließen. Wahrscheinlich glauben sie, daß dies aus Gründen des Anstands geschah, aber im Grunde haben sie wohl das Gefühl, daß man diese Sache weder verbieten kann noch soll. Und gerade darum haben sie die Geschichte des Mädchens tief tragisch und zugleich höchst befriedigend gefunden. In der Phantasie sahen sie sie mit ihren eigenen keuschen Tugenden ausgerüstet, und sie ließen sie tapfer gegen die männliche Arglist kämpfen, um schließlich zu erliegen, wo sie selbst hätten erliegen sollen. Ich tue den Damen Theander keinen üblen Dienst, wenn ich sie hie und da reize, ihre Geschichte zu erzählen, denn sie ist der einzige Inhalt ihres Lebens und weit mehr ihr Erlebnis, als das des Mädchens. Und wer wollte es einem alten Seebären, der als Landratte verschmachtet, mißgönnen, seinen ärgsten Schiffbruch zu erzählen, selbst wenn er nur in seiner Phantasie stattgefunden hat? Nein, ich bin wahrhaftig der beste Freund der Damen Theander und will nur ihr Wohl. Ich habe ihren Vater gekannt und verstehe sie.«

»Das ist alles ganz gut und schön«, sagte Ludwig, »wenn ich auch auf Grund meiner Jugend nicht ein Sterbenswort davon verstehe. Ob der Herr Generalagent der Freund der Damen Theander ist, das weiß ich nicht, aber zu dem armen Mädchen scheint er auffallend freundlich gewesen zu sein.«

»Was das Mädchen betrifft«, setzte der Generalagent seine Verteidigung fort, »so war sie ein außerordentlich liederliches kleines Mistvieh und schon von allem Anfang an mit allen Wassern gewaschen, obwohl die Damen Theander absolut das Gegenteil glauben wollen. Sie war ein Skandal für unser Haus und die ganze Straße. Und daß sie schließlich die Schuld auf mich armen Mann schob, kam daher, daß ich sie gewarnt und getadelt und schließlich denunziert hatte, was mich auch vor den Damen Theander in ein ungünstiges Licht stellte. In ihrem Glauben wollte ich sie jedoch nicht erschüttern, um ihnen ihre Geschichte nicht zu verderben. Aber als das unverschämte Ding die Frechheit hatte, mir einen Advokaten in gelderpresserischer Absicht zu schicken, konnte ich glücklicherweise den Versuch durch ein ärztliches Zeugnis abschlagen. Vor vielen Jahren wurde ich nämlich von einem Unglück betroffen, das mich der Fähigkeit beraubte, Unglück anzustellen.«

»Herrjegerle!« schrie Ludwig. »Und ich saß gerade da und bewunderte die körperliche Rüstigkeit des Herrn Generalagenten! Aber man soll sich auf nichts verlassen, und am allerwenigsten auf ärztliche Atteste. Denn es ist faktisch erwiesen, daß die Liebe Wunder tut. Ich habe eine wahrhafte und interessante Geschichte von einem Eunuchen gelesen, der irgend einmal, wann es nun war, der Stammvater eines großen Kaisergeschlechts wurde. Außerdem weiß man, daß die päpstlichen Kastraten seinerzeit die besten und berühmtesten Frauenjäger der Welt waren und durchaus keine Schlafmützen, sondern Zierden ihres Geschlechtes. Und daß sie nicht verurteilt wurden, Alimente zu zahlen, lag nur an einer Lücke in der päpstlichen Gesetzgebung.«

»Was der dumme Jüngling da äußert«, fiel der Pastor ein, »ruft mir einen Schulkameraden in Erinnerung, den ich eine Zeitlang für den unglücklichsten Menschen auf Gottes Erdboden hielt.

Und er erzählte:

 


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