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Notizen zu verschiedenen Themen

Zur Moral

Bayerisches Gebet:... Und laß dich Gott auch um das bitten, worum du gebeten werden willst. – Hier liegt nicht nur die gewöhnliche Intention des Beters vor (die sich adäquat im vorhergehenden Teil des Gebets ausdrückt), sondern noch eine zweite Intention, auf dessen Form, deren Verhältnis zur ersten dies ist: Gott solle das Gebet nicht sowohl nach seiner betenden Intention verstehen, als nach der Intention, jene erste betende Intention absolut zu machen, d.h. ihren Ausdruck derart zu steigern, daß das intentionierte Correlat (das ehrfürchtig Erbetene) wegfällt, und dennoch das Gebet auf Grund der ersten absoluten, correlatlosen Intention vor Gott besteht.

So beim Zwangsneurotiker: die Handlung (beispielsweise das Ordnen von Gegenständen auf einem Tisch) soll seinen sic Sinn noch beibehalten, wenn von jedem vernünftigen intentionierten Correlat solchen Ordnens abgesehen wird, die Ordnungshandlung absolut erscheint. So beim Dogma: nicht auf das Correlat der ersten Intention, nicht auf das im Bekenntnis Gemeinte kommt es an, sondern auf die zweite Intention: selbst beim Fortfallen des intentionalen Correlats des in der ersten Intention Gemeinten (etwa Fortfall wegen subjektiver Ungläubigkeit) dennoch die volle virtus des Dogmas, die also nicht im subjektiven Überzeugtsein gesehn wird, aufrechtzuerhalten. Hier wird also die zweite eigentliche Intention auf ein solches intentionales Correlat der ersten gerichtet, welches, wie auch immer die erste Intention sich schwäche und verringere, kraft des bloßen Ausdrucks derselben erobert, innegehabt wird.

Jene zweite Intention ist nun stets im eminenten Sinne auf ein absolut handlungsmäßiges d.h. ein moralisches Moment in den sonst moralisch im strengen Sinne indifferenten Zonen der jeweiligen ersten Intention gerichtet und daher für die Einsicht in das Wesen der Moral von höchstem Wert. Auch von höchstem Wert für die Bestimmung des Verhältnisses von Handlung zu Tat und Wort, die allein in den genannten ersten Intentionen vorkommen.

Alle Unbedingtheit des Willens führt ins Böse hinab: Ehrgeiz, Wollust sind unbedingte Willensrichtungen. Die natürliche Totalität des Willens muß, wie die Theologen stets einsahen, zerschlagen werden. Der Wille muß in tausend Stücke zerspringen. Die so vielfältig gewordnen Willensmomente bedingen sich gegenseitig: der irdische, bedingte Wille entsteht. Alles was über ihnen die (höchste) Einheit der Intention verlangt, ist nicht Gegenstand des Willens: verlangt nicht die Willensintention. Andacht aber darf unbedingt sein.

Zur Kantischen Ethik

Man kann die Unabschließbarkeit der unteilbaren Einheit, des Individuums, welches das Subjekt der Ethik ist, in gewissem Sinne in der Kantischen Ethik wiederfinden. Die Lehre von den »vernünftigen Wesen« als Subjekte(n) der Ethik hat mit ihr wenigstens das Eine gemeinsam, daß sie die Anzahl der ethischen Subjekte von der der menschlichen Leiber unabhängig macht, ohne freilich zu erkennen, daß diese Anzahl die komparative, konkurrente Einheit ist. Deren Konstituentien sind nur die Menschen – und ihre Brüder, (z. B. auf andern Sternen).

Der Begriff der »Neigung«, den Kant für einen ethisch indifferenten oder wider-ethischen hält, ist durch einen Bedeutungswandel zu einem der höchsten Begriffe der Moral zu machen, in der er vielleicht berufen ist, an die Stelle zu treten, welche die »Liebe« inne hatte.

Die Spontaneität des Ich ist durchaus zu unterscheiden von der Freiheit des Individuums. Die Frage nach der Willensfreiheit wird häufig und fälschlich auch auf die Spontaneität bezogen, so daß es also auch eine Frage nach der Freiheit der Denkakte oder der bloßen leiblichen Aktionen gebe. Eine solche gibt es aber nicht. Frei kann das Individuum nur in Beziehung auf seine Handlungen gedacht werden. Die Frage nach der Spontaneität des Ich gehört in einen ganz andern (biologischen??) Zusammenhang.

Der Cynismus

Im Cyniker lebt keine Moral weil sein Verhältnis zu dem Mitmenschen wesentlich und einzig auf Opposition beruht. Der Cyniker verletzt nicht den Moralismus seiner Mitmenschen, sondern die Moral in ihnen. Der Beweggrund seines Verhaltens ist nicht Moral sondern Machtwille. Der Schein seines moralischen Interesses beruht darauf, daß er eine bestimmte Art der Verletzung der Moral in dem Mitmenschen für den sichersten Weg erkennt eine Macht über ihn zu gewinnen, die ihm auf andere Weise wegen seiner Minderwertigkeit unerreichbar bleibt.

Der Cyniker bestimmt nämlich seine Lebensweise in Wahrheit nicht von sich aus sondern aus dem Bestreben den Mitmenschen durch seine Person unheilbar zu verletzen. Seine Macht findet er in der Ohnmacht der Scham des Mitmenschen ausgeprägt und befriedigt. Diese verletzt er durch seine Lebensweise und diese Lebensweise ist allein dazu bestimmt. Er weiß daß die Scham ein Affekt ist der sich nie gegen das richtet was ihn wachruft sondern gegen den der ihn hat. Der Cyniker begehrt durch die Ohnmacht andrer stark zu sein, die Ohnmacht der andern ist aber nicht ihre Ohnmacht vor dem Cyniker, sondern ihre Ohnmacht vor sich selbst. Da sie die Wunde ihres Gefühls, die Scham nicht heilen können. Der Cyniker gibt nur das Ärgernis und läßt am Selbstvorwurf, an der Scham dessen, der es nimmt, ich genügen.

Der Cyniker lebt innerlich davon, daß er am Edelsten schmarotzt und dieses Schmarotzen befriedigt ihn nur, daß sic der Edle leidet.

Soviel heidnische Religionen, soviel natürliche Schuldbegriffe. Schuldig ist stets irgendwie das Leben, die Strafe an ihm der Tod.

Eine Form der natürlichen Schuld die der Sexualität, an Genuß und an der Erzeugung des Lebens

Eine andere die des Geldes, an der bloßen Möglichkeit zu existieren

Andere Arten der natürlichen Schuld?

Jüdisch: nicht das Leben, sondern allein der handelnde Mensch kann schuldig werden. (Sittliche Schuld. – Ist dieser Ausdruck gestattet?)

Über den »Kreter«

Der Kreter-Schluß ist in seiner klassischen griechischen Form bekanntlich leicht aufzulösen. Wenn Epimenides sagt, alle Kreter seien Lügner und selbst Kreter ist, so folgt daraus keineswegs, daß mit seiner ersten Behauptung Epimenides eine Unwahrheit gesagt habe. Denn weder liegt es im Begriffe des Lügners, daß ein solcher jedesmal wenn er den Mund auftut, sich von der Wahrheit entferne, noch auch, daß er, gesetzt er täte dies, gerade das konträre Gegenteil der Wahrheit aussage, vielmehr kann es beim contradiktorischen bleiben. Es darf also aus den beiden Prämissen nicht der Schluß gezogen werden, daß alle Kreter die Wahrheit sagen, aus dem dann die Folgerung, daß auch Epimenides mit seiner ersten Behauptung sie gesagt habe, die ursprüngliche erste Prämisse wieder herstellen würde und so in infinitum fortgefahren werden könnte.

Dagegen läßt sich in Anlehnung an den alten Trugschluß ein wahrhaft fruchtbares Problem exponieren. Um dieses zu entwickeln, sind die Erwägungen, die im vorigen Fall die Lösung bedingen, zu vereiteln und zu diesem Ende muß es heißen: Epimenides sagt, daß alle Kreter jedesmal wenn sie den Mund auftun, das konträre Gegenteil von dem sagen, was wahr ist. Epimenides ist ein Kreter. Aus diesen Prämissen wäre nun in der Tat jene oben glücklich abgewendete Widerspruchskette in Schlüssen und Folgerungen zu entfalten. Zugleich aber erhellt, daß die syllogistische Form nicht die diesem Problem ursprünglich angepaßte ist. Vielmehr ist das ganze Dilemma in Form einer einfachen Folgerung aus einem Urteil aufzurollen. Und jenes Urteil, in seiner formelhaftesten reduziertesten Form hätte zu lauten: »Ausnahmslos jedes meiner Urteile prädiziert das konträre Gegenteil von der Wahrheit.« Hieraus wäre dann in der Tat zu folgern: »Also auch dieses« »Also prädiziert ausnahmslos jedes meiner Urteile wahrheitsgemäß.« »Also auch das obige erste.« Wobei mit der Rückkehr zum Ausgangspunkt der Zirkel stets von neuem angetreten werden müßte.

Dieser »Trugschluß« ist intralogisch unauflösbar.

Hierzu ist zunächst dreierlei zu bemerken, 1) Dürfte dieses Urteil aus Quelle unauflöslich ihm widersprechender Folgerungen das einzige seiner Art sein. 2) Konstituiert es jene unlösliche Kette von Widerspruch im logischen Gebiet, ohne an sich – d. h. im ontologischen Gebiet – irgendwie unsinnig oder widersinnig zu sein. Vielmehr hätte man sich die Wirksamkeit jenes cartesianischen Geistes der Täuschung nur aus der Sphäre der Wahrnehmung in die der Logik versetzt zu denken, und er könnte seinen Trug garnicht besser, ja garnicht anders entfalten, als indem er das fragliche Urteil sich zu eigen machte. Also ist dieses Urteil nicht schlechthin widersinnig. 3) Ist es ohne weiteres klar, daß jenes Urteil nur im Geiste eben dessen, von dem es gilt, zu seinen widersprüchlichen Folgerungen führt, während es von jedem andern über den, von dem es gilt, daß jedes seiner Urteile das konträre Gegenteil von der Wahrheit prädiziere, geurteilt werden kann, ohne zu widersprüchlichen Folgerungen zu führen.

Zusammenfassend ist zu sagen: jenes Urteil scheint logisch unanfechtbar zu sein, sofern es keine logische Instanz gibt, welche die Rechtmäßigkeit seiner selbst und der aus ihm fließenden Folgerungen aufheben könnte. Denn damit der Satz des Widerspruchs diese Kraft ausüben könnte, würde erfordert, daß jenes Urteil ein Widerspruch in jedem Sinne ist. Dies ist jedoch, wie oben unter 2) gezeigt worden, nicht der Fall. Andererseits besteht dennoch die Forderung, die Gültigkeit jenes Urteils zu entkräften. Und zwar sowohl im ontologischen wie auch im logischen Bereich. Während es aber ontologisch Gegenstand der Discussion nur werden kann, wo seinem Subjekt eine ontologisch ausgezeichnete Stellung zugebilligt werden sollte, wie etwa im Falle des Cartesischen Geistes der Täuschung, muß die logische Widerlegung unter allen Umständen, wegen der Widersprüche, zu welchen dieser Satz in seinen Folgerungen führt, gefordert werden.

Die logische Unanfechtbarkeit dieses Satzes – denn ist er einmal zugegeben, so stehen die Folgerungen fest – muß sich also als Schein erweisen lassen, widrigenfalls die ganze Logik zusammen fällt. Und zwar ist hier, wenn überhaupt Schein, so echter d. h. objektiver Schein gegeben. Ein solcher der nicht, wie die moderne Auffassung vom Schein einzig es gelten lassen will, aus zufälliger oder notwendiger Unangemessenheit der Erkenntnis an die Wahrheit entsteht, vielmehr einer, der nicht in der Wahrheit aufgelöst, sondern nur durch diese vernichtet werden kann. Mit einem Wort: Schein aus einem selbstständigen Prinzip des Scheins, in der Tat aus einem Prinzip der Täuschung oder besser: der Lüge. Dieser Schein ist, wie jenes Kreter-Problem erweist, von so gewaltiger metaphysischer Intensität, daß er bis in die Tiefen der formalen Logik hinein seine Wurzeln zu erstrecken vermag. Er ist also objektiv nicht allein als Gegenbild der Wirklichkeit, sondern, da er in einer Sphäre ganz jenseits derselben noch angetroffen wird, nämlich in der formalen Logik, objektiv als Gegenbild der Wahrheit. – –

Und wie vermochte er vernichtet zu werden? Innerhalb der Logik wie gesagt ist dies nicht, vielmehr nur in der Metaphysik möglich. Und hier hätte die Lösung allerdings an die »Ich-Form« des Urteils anzuschließen, die, wie oben gezeigt wurde, konstitutiv für dasselbe ist. Sein logischer Schein konstituiert sich in seiner Subjektivität. Hier zeigt sich die Notwendigkeit, Subjektivität nicht lediglich als alogische Instanz in kontradiktorischen Gegensatz zur Objektivität und Allgemeingültigkeit zu setzen, sondern genauer als den konträren Gegensatz der Objektivität der Geltung die »Zer-Geltungstendenz« der Subjektivität entgegen zu setzen. Subjektivität, so hätte die metaphysische Thesis zur Auflösung jenes logischen Scheines zu lauten, ist nicht alogisch, sondern antilogisch. Diesen Satz muß die Metaphysik begründen.

Vgl. Rüstow: Der Lügner, 1910

Psychologie

Ein Grunddogma der heutigen Wissenschaft ist, daß Wahrheit über jedes beliebig eingeschränkte Gebiet zu ermitteln sei (Spezialistentum). Daß endlich durch maximale Einschränkung des Gebietes Wahrheit sich gleichsam von selbst mechanisch ergäbe, gleichsam als ob in lebendigen Zentren durch Kontraktion von außen Bewegung ausgelöst werde. Gewisse Einschränkungen sind jedoch der Wahrheit feindlich und eine solche unwahre Einschränkung und Gebietsdefinition liegt z. B. der Psychologie zugrunde. Eine ihrer Hypothesen in jeder ihrer Gestalten lautet: der Mensch ist unter Abstraktion von seiner moralischen Bestimmung erkennbar. Dieser Satz ist, so scheinbar er sich macht, falsch.

Jede bisherige Psychologie und jede Forschungsweise, welche sich versucht fühlen kann, ihren Namen anzunehmen, führt in ihren erkenntnistheoretischen oder allgemeinern philosophischen Voraussetzungen ins Bodenlose. Sie erhebt nämlich zuletzt die Frage: wie kommen im Menschen seelische Verhaltungsweisen zu Stande? Diese Frage ist in zweifacher Hinsicht falsch. Erstens gibt es keine seelische Verhaltungsweise im Sinne irgend einer von Grund aus von leiblicher wesensverschiednen, oder auch nur in ihrer Erscheinung wesensverschiednen. Die angebliche Differenz, daß fremdes Seelenleben uns im Gegensatz zum eignen nur mittelbar durch Deutung fremder Leiblichkeit gegeben sei, besteht nicht. Fremdes wie eignes Seelenleben ist uns unmittelbar und zwar immer in einer bestimmten Verbindung oder mindestens auf einem bestimmten Grunde von Leiblichkeit gegeben. Fremdes Seelenleben wird nicht prinzipiell anders als eignes wahrgenommen, es wird nicht erschlossen, sondern im Leiblichen, das ihm als Seelenleben zugehört, gesehen. Nur die Grade des In-Erscheinung-Tretens von Leiblichem sind verschieden. Folglich ist der Gegenstand der Psychologie nicht die Welt der Selbstwahrnehmung. Aber eine Wahrnehmungswelt freilich. Und nur das. Die Psychologie ist sozusagen (wenn nämlich dies eine endgültige erkenntnistheoretische Kategorie ist) eine beschreibende Wissenschaft, keine erklärende. Die Wahrnehmung, die in ihr beschrieben ist, ist eine reine, und zwar die reine (apokalyptische) Wahrnehmung vom Menschen. Desjenigen am Menschen, was nach der moralischen Katastrophe, nach der Umkehr und Reinigung in ihm übrig bleibt. Dies ist nichts »Innerliches« – innerlich ist nur das Moralische (und auch dieser Satz ist natürlich eine Metapher) –, sondern etwas Äußerliches: seine Wahrnehmung, die er den Mitmenschen gibt. Diese aber ist erst rein, erst äußerlich, erst ganz wahrnehmbar und also erst ganz Wahrnehmung nach der moralischen Restitution des Menschen. Also ist die Voraussetzung der Psychologie die Moral, die Konstruktion des reinen Menschen setzt die Lehre von gereinigten unbedingt voraus.

Die Beziehung der Menschengestalt zur Sprache d. h. wie Gott sprachlich ihn gestaltend in ihm wirkt ist der Gegenstand der Psychologie. Hierher gehört auch das Leibliche, indem Gott unmittelbar – und vielleicht unverständlich – sprachlich in ihm wirkt.

»Was die wache Seele irr durchlief
Ward schon reiner Schein aus meinen Landen.«

Weil die Sprache der Kanon der Wahrnehmung ist und der wahrnehmbare Mensch der Gegenstand der Psychologie, ist die Beziehung der Menschengestalt zur Sprache der Gegenstand der Psychologie. Diese ist, solange das Moralische problematisch bleibt, verborgen. (Wenn ich mit einem Menschen spreche, und es steigt ein Zweifel an ihm in mir auf, trübt sich sein Bild, ich sehe ihn noch, aber ich kann ihn nicht mehr wahrnehmen).

Zum Wahrnehmungsproblem

In Berlin sagt man in familiärer Ausdrucksweise von jemandem, den man für unzurechnungsfähig hält: der gehört nach Dalldorf, in Wien:... nach Steinhof, in Paris spricht man im gleichen Sinne von Charenton. Überall ist also die Anschauung noch lebendig geblieben, daß die Ausstoßung aus der Gemeinschaft, der völlige Zerfall zwischen Gemeinschaft und Einzelnem Menschen wesentlich an der Geisteskrankheit sei. Auch befinden sich die Anstalten für die Kranken vielleicht auch mit aus diesem Grunde nicht, wie andere Krankenhäuser, innerhalb der Städte.

 

Sonntagskinder im Märchen sehen Zaubergärten wo andern Leuten nichts auffällt, sie stoßen auf Schätze wo andere achtlos vorübergehen. Dies kann nicht so verstanden werden, daß die Zaubergärten oder Schätze sich selbst für andere Menschen unsichtbar, für Sonntagskinder aber sichtbar machen, oder daß plötzlich vor solchen Dingen die Wahrnehmung anderer Wesen ermattet, die der Sonntagskinder aber sich steigert. Sondern die einzig mögliche Meinung solcher Stellen ist, daß Sonntagskinder überhaupt eine andere, glücklichere, Wahrnehmung hätten als Alltagsmenschen, ohne daß eine von beiden falsch, daher auch ohne daß eine von beiden wahr sei. Die Wahrnehmung wird nicht von dieser Alternative betroffen.

Wahrnehmung und Leib

Wir sind durch unsere Leiblichkeit, letzten Endes am unmittelbarsten durch unsern eignen Leib, in die Wahrnehmungswelt, also in eine der höchsten Sprachschichten hineingestellt. Jedoch blind, unvermögend zumeist, hier wie da Naturleib, Schein von Sein nach Maßen der messianischen Gestalt zu scheiden. Sehr bedeutsam ist es, daß uns der eigne Leib in so vieler Beziehung unzugänglich: wir können unser Gesicht, unsern Rücken nicht sehen, unsern ganzen Kopf nicht, also den vornehmsten Teil des Leibes, wir können uns nicht mit den eignen Händen aufheben, können uns nicht umschlingen u.a.m. Wir ragen in die Wahrnehmungswelt gleichsam mit den Füßen hinein, nicht mit dem Haupt. / Daher die Notwendigkeit, daß im Augenblick der reinen Wahrnehmung unser Leib sich uns verwandle; daher die erhabne Qual des Exzentrischen an seinem Leibe.

Es gibt eine Geschichte der Wahrnehmung, welche zuletzt die Geschichte des Mythos ist. Nicht immer war der Leib des Wahrnehmenden nur die Vertikalkoordinate zur horizontalen der Erde. Schon der nur allmählich errungene aufrechte Gang des Menschen läßt frühere andersartige Wahrnehmungsarten absehen. Aber auch im übrigen ist dies möglich und notwendig. Nicht immer wird das Wissen um gemessene Distanzen die Gesichtswahrnehmung beherrscht haben (Fall eines Kindes, das ohne Greiforgane an einem Ort unbeweglich, sich seine Gesichtswelt bilden würde: andere Hierarchie der Entfernungen). Die Geschichte der Wahrnehmung kommt aus den Elementen der Naturveränderung und der Veränderung des Leibes zustande, aber erst sie gibt diesen die geistige Bedeutung und Krönung (Bewältigung, Synthese) im Mythos. In ihm erbauen und wandeln sich langsam die großen Dispositionen der Wahrnehmung, welche die Art bestimmen, wie zu einander Leib und Natur stehen: rechts, links – oben, unten vorn, hinten.

Zwei Gatten sind Elemente, zwei Freunde die Führer der Gemeinschaft.

Die Freundschaft gehört in die Ordnung geniushafter Einsamkeit. In die anarchische. – Nur dort hat sie die ihrem Wesen gemäße herrschende Stellung.

Freundschaft und Liebe sind in sich nicht verschieden, nur in ihrer Stellung zur Gemeinschaft. Und außerdem freilich darin daß es kein Sakrament gibt das Freundschaft in die göttliche Ordnung überführt. Dies ist das Beispiellose, das was die Freundschaft gefährlich macht: ein sakramentloses Wahlverhältnis.

Die moderne Gesellschaft kennt Freundschaft überhaupt nicht, sie ist dem Griechentum eigen, in dem der Genius zur reinsten historischen Gestalt kam. Auch in seiner Mythologie spielt sie eine Rolle. Spielt sie im Judentum eine Rolle?

Was heute Freundschaft heißt verdient diesen Namen nicht. Es mußte an der heutigen pseudoreligiosen (ja aber auch an der religiösen?) Ordnung zu Grunde gehen.

Wie stehen Freundschaft und Liebe in der Ordnung des Genius zu einander?

Über die Ehe

Der Eros, die Liebe hat die einzige Richtung auf den gemeinsamen Tod der Liebenden. Sie spult sich ab, wie der Faden in einem Labyrinth, das sein Zentrum hat in »des Todes Kammer«. Nur dort tritt in die Liebe die Wirklichkeit des Geschlechtes ein, wo der Todeskampf selbst zum Liebeskampfe wird. Das Geschlechtliche an sich selbst dagegen flieht den eignen Tod wie das eigene Leben und blindlings ruft es fremden Tod wie fremdes Leben auf dieser Flucht hervor. Sie geht ins Nichts, in jenes Elend, wo das Leben nur ein Nicht-Tod und der Tod nur ein Nicht-Leben ist. So muß das Boot der Liebe hindurch zwischen der Scylla des Todes und der Charybdis des Elends und vermöchte dies nimmermehr wenn nicht Gott an dieser Stelle seiner Fahrt es verwandelnd unzerstörbar machte. Denn wie die Sexualität der werdenden Liebe ganz fremd, so muß sie der währenden ganz eigen sein. Niemals ist sie die Bedingung ihres Seins und stets die ihrer irdischen Dauer. Gott aber macht in dem Sakramente der Ehe die Liebe gegen die Gefahr der Sexualität wie gegen die des Todes gefeit. Der Gefahr der Geschlechtlichkeit nämlich überhebt er die Gatten, weil er sie zu bejahen, genauer sie zu verantworten sie überhebt. Denn der Mensch vermag nicht seine Triebe zu verantworten, und auch niemals ganz dasjenige was sie ihn tun heißen. Aber für die Sexualität spricht nur in der Ehe die Gatten Gott der Verantwortung ganz ledig, und so bleibt überall außer derselben die ungeheure Gefahr der Sexualität, die doch zum Leben gehört und durch die selbst der Pfad der Askese nur den Frommen sicher hindurchführt.

(Was in jener geheimnisvollen Verwandlung der Liebe durchs Sakrament das Bleibende ausmacht, ist das Weibliche.)

Über die Scham

Auf die geheimste Bedeutung der Röte, welche mit der Scham über den Menschen kommt, führt die folgende Bemerkung von Goethe: »Wenn bei Affen gewisse nackte Teile bunt, mit Elementarfarben, erscheinen, so zeigt dies die weite Entfernung eines solchen Geschöpfs von der Vollkommenheit an: denn man kann sagen, je edler ein Geschöpf ist, je mehr ist alles Stoffartige in ihm verarbeitet; je wesentlicher seine Oberfläche mit dem Innern zusammenhängt, desto weniger können auf derselben Elementarfarben erscheinen. Denn da, wo alles ein vollkommenes Ganzes zusammen ausmachen soll, kann sich nicht hier und da etwas Spezifisches absondern.« (Farbenlehre Didaktischer Teil 666.) Die erhabne Unbestimmbarkeit, ja Unscheinbarkeit mit der unter allen übrigen Wesen, was die Farbe angeht, der Mensch auftritt, von dem sich in diesem fast entfärbten Tone seines Körpers die Natur fast zurückzuziehn und in dem wiederum ihre Anmut mehr zu triumphieren scheint als in der Pracht, wird in der Röte der Scham vernichtet. Aber nicht durch niedere Gewalt. Denn jene Röte der Scham befleckt die Haut nicht, in ihr erscheint nicht innerer Zwiespalt, innere Zersetzung auf der Oberfläche. Sie kündet garnichts Innerliches an. Täte sie's so wäre sie wahrlich wiederum Anlaß genug zu neuer Scham, des so in seiner hinfälligen Seele entdeckten Menschen, anstatt – wie sie's in Wahrheit doch ist – mit ihrer Röte allen Grund der Scham, alles Innere verlöschen zu machen. Die Schamröte steigt nicht aus dem Innern hoch (und jene aufsteigende Röte der Scham von der man zuweilen spricht ist nicht in dem, der sich schämt), sondern von außen von oben her übergießt sie den Beschämten und löscht in ihm die Schande und entzieht ihn zugleich den Schändern. Denn in jener dunklen Röte, mit der die Scham ihn übergießt, entzieht sie ihn wie unter einem Schleier den Blicken der Menschen. Wer sich schämt der sieht nichts, allein auch er wird nicht gesehen.

Diese wunderbare Macht der Scham zeigt in der Farbe sich sichtbar. Was unterscheidet ihre Röte von jenen bunten denunzierenden Farben der Natur, die Goethe beim Affen erkannte und denen der menschliche Körper so sehr entzogen ist, daß es einer tiefen geheimen Beziehung fähig ist, wenn in Hogarths pedantischer »Analyse der Schönheit« zu lesen ist: »Um Verwirrungen zu vermeiden und weil ich schon genug über den zurückgehenden Schatten gesagt habe, will ich jetzt nur die Natur und Wirkung der ersten Tönung der Fleischfarbe beschreiben. Denn die Zusammensetzung dieser Farbe, wenn sie recht verstanden wird, umschließt alles, was von der Farbe eines jeden Gegenstandes überhaupt gesagt werden kann.« (ed. Leitner p 181) Was unterscheidet die Schamröte von der bunten Scham eines Affen und was den Ton der menschlichen Haut von dem einer tierischen? Goethe bemerkt, daß die Farben an den organischen Wesen Ausdruck ihres Inneren sind. Das bedingt eine sehr merkwürdige, eigentümliche und in gewisser Hinsicht trübende Veränderung des Grundwesens der Farbe in der organischen Welt. Trübend: weil es dem reinen Wesen der Farbe nicht entspricht Ausdruck eines Farbigen, Ausdruck vom Innern eines Farbigen zu sein. Denn der reine Ausdruck, die reine Bedeutung, die reine »sinnlich-sittliche Wirkung« wie Goethe sagt, haftet an der Farbe, nicht an der Färbung. Und noch genauer: nicht an der Färbung, nicht auch durchaus an der Farbe, im tiefsten Grunde vielmehr an dem Färbenden. Nicht am blauen Ding, nicht am toten Blau, sondern am blauen Schein, am blauen Glanz, am blauen Strahl. Diese drei halten und enthalten von der Farbe das einfache Geistige. Sie aber erscheinen als Glanz und Schein in der organisch tieferstehenden Welt der Pflanzen viel reiner, als in der höhern der Tiere. Der Strahl aber schießt nur aus der anorganischen auf und aus der höchsten organischen: aus der Sonne und aus dem Antlitz. Als Strahl aber ist die Farbe niemals Ausdruck eines Innern, sondern stets seine Wirkung. Und mag sie als Schein und Glanz Ausdruck sein, so verrät sie, je reiner sie es ist, desto weniger vom Innern, wie eben in der Welt der Pflanzen sichtbar wird. Je mehr hingegen die Farbe dennoch Ausdruck des Innern wird und je weniger sie das Licht der Oberfläche bleibt, desto trüber erscheint sie desto ungeistiger. So an den meisten Tieren. Nirgends aber, weder an Tieren noch Pflanzen, weder auf getrübten noch glänzenden Farben kann das färbende Licht erscheinen, allein auf dem Menschenantlitz, wenn es zu strahlen ganz aufhört, versammelt es sich mit der dunklen Röte. Die Farbe der Scham ist rein: ihr Rot ist nicht Farbiges noch Farbe sondern Färbendes. Es ist das Rote der Vergängnis von der Palette der Phantasie. Denn jenes eigentliche reinste Färbende Licht ist kein anderes als das farbige, vielfarbige der Phantasie. Ihr eignen die Farben, in denen ein Wesen erscheint, ohne Ausdruck eines Innern zu sein. Und erst diese farbige Erscheinung ist rein und wirkt um dessentwillen unvergleichlich mächtig: nicht aufs Verstehen, dem sie nichts verrät, sondern auf die Seele, der sie alles sagt. Ausdruckslos bedeutende Erscheinung ist die Farbe der Phantasie. Ausdruckslos bedeutende Erscheinung des Vergehens die Röte der Scham.

Tod

Das Individuum stirbt, d. h. es geschieht eine Streuung; das Individuum ist eine unteilbare aber unabgeschlossene Einheit, Tod ist im Bereich der Individualität nur eine Bewegung (Wellenbewegung). Das historische Leben vergeht immer an irgend einem Ort; es ist aber das unsterbliche im ganzen. Auf das scheinbar ganze (geschlossne) Individuum kommt es nicht an. Dieses ist die eigentliche wahre Meinung der Seelenwanderung.

Die Person wird Petrefakt. Greisentum.

Treue wahrt nur die Person.

Der Mensch wird frei.

Der Leib vergeht, zerspringt als Manometer, das im Augenblick der höchsten Spannung gesprengt wird und mit dem Auseinanderfall der Bindung hinfällig, überflüssig wird.

Zu Ignatius von Loyola

Die jesuitische Askese scheint, nach den Exercitien des Loyola zu schließen, ihr Eigentümliches weder in der Pein des Fleisches noch des Gewissens zu haben, sondern in der des Bewußtseins. Dieses kann nämlich, und zwar nur in Stellvertretung moralischer Auseinandersetzung, Reinigung und Klärung, eine eigentümliche Qual, als Bußqual aus sich entwickeln. So verfährt es im Zwangsgrübeln, Zwangsdenken, Zählzwang des Neurotikers. Und genau wie bei diesem liegt die asketische Qual der Exercitien nicht in dem ernsten oder brennenden Gehalt dessen, was da bedacht wird, sondern in der bis zum Maßlosen gesteigerten Qual der intentio selbst. Diese Qual des intellectualen Bewußtseins ist durch ihre völlige Substanzlosigkeit zur autoritären Reglung prädestiniert. Sie hat kein Verhältnis mehr zum Wesen des Menschen und sie entsühnt, je nachdem wie man es ansehen will, mystisch oder mechanisch wie ein Sakrament. Die in jene rein intentionale Zone verlegte Spannung der Bußqual läßt zugleich das moralische Leben in einer gewissen Stumpfheit beruhen, in welcher es nicht mehr auf eigne Impulse sondern auf sorgfältig ausgewogene Reizungen der geistlichen Autorität reagiert.

Über Liebe und Verwandtes. (Ein europäisches Problem)

(Über die Ehe s. im andern Heft) Diese Zeit nimmt teil am Vollzuge einer der gewaltigsten Revolutionen, welche es im Verhältnis der Geschlechter gegeben hat. Nur aus dem Wissen um dieses Geschehen kann einer befugt sein, heute über Erotik und Sexualität zu handeln; denn dabei ist die Einsicht unerläßlich, daß jahrhundertealte Formen und damit gleich alte Erkenntnis der Beziehung der Geschlechter gültig zu sein aufhören. Nichts steht dieser Einsicht mächtiger im Wege als die Meinung von der Unveränderlichkeit jener Beziehung in ihren tiefern Schichten, der Irrtum daß von Wandlungen, von Geschichte nur die ephemeren Formen, die erotischen Moden betroffen wären, weil der tiefere und vermeintlich unveränderliche Grund darunter die Domäne ewiger Naturgesetze sei. Aber wie auch nur den Umkreis dieser Fragen ahnen und nicht wissen, daß die Revolutionen in der Natur die gewaltigste Bezeugung der Geschichte sind? Mag in aller vor-apokalyptischen Welt ein Bodensatz und Urgrund unveränderlichen Lebens wohnen, so liegt doch dieser unendlich viel tiefer, als die banale Phraseologie derer ahnen läßt, die über den ewigen Kampf der Geschlechter zu schreiben pflegen. Mag selbst dieser Kampf zu dem ewigen Bestand gehören, so sicherlich nicht darum seine Formen. Woran aber er vielleicht immer sich entzündet und entzünden wird, das ist die im Weib gegebne Einheit von Erotik und von Sexualität, welche da auf Grund der traurigsten Verschleierung natürlich scheint, wo der Mann sie nicht, in einer schöpferischen Liebe ohnegleichen, als übernatürlich zu erkennen vermag. Und immer wieder entbrennt aus diesem seinen Unvermögen der Kampf, wenn die historischen Formen solcher Schöpfung, wie auch heute wieder, abgestorben sind. Denn unfähig wie nur je scheint der europäische Mann jener Einheit des weiblichen Wesens gegenüberzustehen, welche allen Wachen und Bessern seines Geschlechtes fast ein Grauen abzwingt, da auch sie der Einsicht in den höhern Ursprung jenes Wesens verschlossen bleiben, wo sie es als übernatürlich nicht sehen, als natürlich blindlings fühlen und fliehen müssen. Und eben unter dieser Blindheit des Mannes verkümmert das übernatürliche Leben des Weibes zum natürlichen und als solches zugleich unnatürlichen. Denn dieses allein entspricht der seltsamen Zersetzung, die heute von den Urtrieben des Mannes her das Weibliche nur unter den simultanen Bildern der Dirne und der unberührbaren Geliebten zu erfassen vermag. Diese Unberührbarkeit aber ist ihm ebensowenig unmittelbar seelisch gesetzt wie das niedrige Begehren, auch sie ist im tiefsten triebhaft und genötigt, so daß – wenn heute wie einst das große gültige Symbol für die irdische Dauer der Liebe die eine, die einzige Liebesnacht ist vor dem Tode – dies, wie früher die Nacht des Besitzes, so heute die Nacht der Ohnmacht und Entsagung geworden ist, das klassische Liebeserlebnis der jüngren Generation und gültig – wer weiß auf wieviele Generationen hinaus? Beides aber, Ohnmacht wie Begier, ein neuer, unerhörter Weg des Mannes, dem der alte Weg, durch den Besitz des Weibes zur Erkenntnis führend verstellt ist und der den neuen sucht, durch dessen Erkenntnis zu seinem Besitze zu kommen. Aber: similia a similibus cognoscentes. So sucht er sich dem Weibe ähnlich, ja ihm gleich zu machen. Und hier setzt die ungeheure und im tiefern Sinne fast planmäßige Metamorphose des Männlichen ein, als eine der größten, welche je gewesen sein mögen: die Verwandlung der männlichen Sexualität in die weibliche durch den Durchgang durch das Medium des Geistes. Nun ist es Adam der den Apfel bricht, aber er ist der Eva gleich. Die alte Schlange kann verschwinden und im wieder gereingten Garten Eden bleibt nichts zurück als die Frage ob er das Paradies ist oder die Hölle.

Der Blick verliert sich im Dunkel jenes großen verwandelnden Stromes der menschlichen Physis, in eine Zukunft, der es vielleicht gesetzt ist, von keinem Propheten durchdrungen, von dem Geduldigsten aber errungen zu werden. Hier fließt der dunkle Strom, der heute für die Edelsten das vorbestimmte Grab sein kann. Darüber aber führt der Geist als die einzige Brücke, die ihn überspannt und auf der das Leben in seinem Triumphwagen ihn überschreiten wird, zu dessen Vorspann vielleicht nur Sklaven aufgespart bleiben.

In dem sexuellen Schuldgefühl, das wenigstens bei Männern im Umgang mit Frauen wohl die Regel ist (ob auch bei Frauen, und ob im gleichgeschlechtlichen Umgang bei einem oder beiden Geschlechtern weiß ich nicht), ist ein sehr wichtiges Indizium für frühere Weltzustände gegeben – für die Weltzustände selbst, nicht nur für das Bild, das sich Gleichzeitige von ihnen machten. Auf Grund historischer Verhältnisse ist dieses Schuldgefühl nicht zu erklären, wenn man den Irrtum daß Schuldgefühl durch Angst entstehen könne, von vornherein abweist; (nur das Umgekehrte ist möglich). Das sexuelle Schuldgefühl ist ähnlich dem bei einer Beschwörung: das Gefühl der Schuld beim Eintritt in einen Bezirk, der eine überwältigende, böse Macht auf den Eintretenden ausübt. Dies Gefühl ist nicht aus der einfachen psychischen Natur des sexuellen Rauschzustands zu begreifen, da dieser durchaus unter Umständen keine schrankenlose Macht über den Menschen ausübt. Es muß sich also auf ein in Vorzeiten ausgebildetes Gefühl beim Betreten dieser oder verwandter Regionen gründen. Das elementare Gefühl beim Betreten solcher übermächtiger Regionen in der Verschwörung, wenn man vom Schuldgefühl absieht, ist das Grauen. Dies ist denn auch als wichtige Komponente im sexuellen Schuldgefühl bewahrt geblieben und es bleiben nur die Fragen, ob diejenigen Mächte auf die das Grauen sich bezog in diesem Akt noch heute bestehen, und ob das Schuldgefühl in dieser Art des Grauens in der sexuellen Beschwörung von Ursprung an mitwaltete. Die Gegenwart jener Mächte ist, wenn auch eine höchst abgeschwächte, noch zu vermuten. Die Antwort auf die zweite Frage muß dahingestellt bleiben.

Die Dirne

In der Dirne sind zwei entgegengesetzte Prinzipien ausgeprägt. Das anarchische Lustprinzip und das hierarchische Prinzip des Gottesdienstes, heiße dieser Gott nun im eigentlichen Sinne so, wie für die Hierodulen, oder heiße er Geld. Beide Prinzipien haben in dieser Gestalt ein auf und ab, eine Geschichte ihrer Ausprägung. Dahin gehört, daß die moderne Kokotte dem hieratischen Typus zuzuzählen ist, die Dirne eine besonders reine Ausprägung beider Prinzipien in sich vereinigt: Zügellosigkeit und Gehorsam (aus Not). – Zu bedenken, daß diese Antinomie zweier welthistorischer Prinzipien (kurz: des revolutionären und des theokratischen) in dem Weib erscheint.

Über das Grauen I

Am leichtesten stellt sich Grauen beim Erwachen aus einem Zustand tiefer Kontemplation und Konzentration, wie tiefes Sinnen, Versunkenheit in Musik oder Schlaf, ein. Unvergleichlich viel stärker und leichter als von allen andern Wahrnehmungen kann es von solchen des Gesichts ausgelöst werden. Hier wiederum am mächtigsten durch die Wahrnehmung sehr nahestehender weiblicher Personen (und zwar vermutlich gleicherweise so für Männer wie für Frauen). So daß sich also als eidetischer Idealfall des Grauens die Erscheinung der Mutter für den in tiefem Sinnen abwesenden und durch sie erweckten Menschen ergeben würde. Wieweit in dieser Beschreibung die »Versuchsbedingungen« noch unexakt angegeben und daher Grauen unter solchen Bedingungen noch nicht ohne weiteres evident erscheint, kann die folgende Analyse aufklären.

Vor allem bedarf der vorausgesetzte Zustand der Versunkenheit näherer Bestimmung. Es gibt Zustände der Versunkenheit, gerade in ihrer Tiefe, welche dennoch den Menschen nicht geistesabwesend, sondern höchst geistesgegenwärtig machen. Der Mensch in der Gegenwart des Geistes aber ist dem Grauen nicht unterworfen. Die einzige Art von Geistesgegenwart, welche Bestand hat und nicht untergraben zu werden vermag, ist die in der heiligen Versunkenheit, etwa der des Gebetes. In dieser Versunkenheit erscheint dem Menschen so leicht nichts gespenstisch – und wenn ihm überhaupt dann Gespenster erscheinen können, was sehr fraglich ist, so würden sie jedenfalls kein Grauen auslösen. Diese Art der Versunkenheit also ist, weit entfernt Grauen zu begünstigen, der sicherste Schutz gegen dieses.

Welche Art der Versunkenheit aber steht der heiligen gegenüber, welche prädisponiert zum Grauen? Diejenige in der der Mensch nicht in Gott und damit auch nicht in sich selbst völlig versunken ist, sondern in Fremdes und daher nur unvollständig versunken ist. Um dieses unvollständige, wenngleich tiefe, aber immer geistesabwesende Versunkensein in einem bildlichen Schema auszusprechen: die Seele bildet einen Strudel in welchen aus allen Gliedmaßen und Bezirken des Leibes die geistigen Momente hineingezogen werden und nun den Leib depotenziert unter Abwesenheit des Geistes, also eigentlich entleibt und vielmehr nur den Körper zurücklassen. Mit dieser Abwesenheit des Geistes verflüchtigt sich aber (was nur ein anderes Wort für diese ist) der Leib, und der Körper bleibt ohne die scheidende, unterscheidende Distanz des leiblichen und des geistigen zurück, was sich darin ausspricht daß der menschliche Körper im Zustande der Geistesabwesenheit keine bestimmte Grenze hat. Das Wahrgenommene, vor allem das im Gesicht Wahrgenommene bricht nun in ihn hinein, auch aus dem fremden Körper fällt der Geist-Leib in den Strudel und es bleibt in der Gesichtswahrnehmung des Grauens neben dem Gefühl: das bist du beim Anblick des andern (»du« weil keine Grenze da ist) andererseits das Gefühl: das ist dein Doppel, auf den »andern« nun aber entgrenzten und entleiblichten Körper bezogen. Dabei zeigt sich deutlich, daß das Urphänomen des Doppels, um dazusein nicht einer Gleichheit oder Ähnlichkeit der doppelten Gegenstände bedarf, sondern daß vielmehr umgekehrt Gleichheit etwas ist, was eben unter der Herrschaft des doppelt sich leicht einstellt. Ein Mensch kann im höchsten Schrecken dazu kommen, den nachzumachen, vor dem er erschrickt.

Grauen ist eine Erscheinung, die nur unter vier Augen gleichsam, d. h. nur für ein Subjekt und nur vor einem andern (im letzten Fall nicht numerisch, aber wesentlich einem) sich einstellen kann. Dies wieder die Funktion des Doppels, deren Zusammenhang mit dieser Sphäre des Gespenstischen, des depotenzierten Leibes allerdings noch unklar ist.

Ein bildliches Schema, eine Darstellung der Existenzmodalität des Leibes im Falle des Gebetes wäre noch zu finden. Sehr wichtig: mit der Depotenzierung des Leibes im Grauen fällt auch der Gegenpol der Sprache weg, und zwar nicht nur die akustische, sondern Sprache im weitesten Sinn, als Ausdruck, dessen Möglichkeit von hier aus als unbegreifliche Gnade, dessen Gewohnheit als nachtwandlerisches Gehen auf einem Seile erscheint.

Über das Grauen II

Die Sprachlosigkeit im Grauen ein Urerlebnis. Plötzlich im Vollbesitz aller übrigen Kräfte, inmitten von Menschen, am hellen Tag von Sprache, von jeder Ausdrucksmöglichkeit verlassen zu sein. Und das Bewußtsein: daß diese Sprachlosigkeit, Ausdrucksohnmacht so tief im Menschen wohnen, wie andererseits das Vermögen der Sprache ihn durchdrungen hat, daß auch diese Ohnmacht von Ahnen her als Atavismus ihm überkommen sei.

Schemata zum psychophysischen Problem

I. Geist und Leib

Sie sind identisch, lediglich als Betrachtungsweisen, nicht als Gegenstände verschieden. Die Zone ihrer Identität bezeichnet der Terminus »Gestalt«. Geistleiblich ist in jedem Stadium ihres Daseins die Gestalt des Geschichtlichen, Geistleiblichkeit also irgendwie die Kategorie ihres »Nu«, ihrer augenblicklichen Erscheinung als vergänglich-unvergänglicher. Leib und Geist in dem mit Leib identischen Sinne sind also die höchsten Formkategorien des Weltgeschehens, nicht aber die Kategorie seiner ewigen Inhalte, zu der die Betrachtungsweise der georgischen Schule sie macht. Unser Leib ist also nicht ein in den geschichtlichen Prozeß an sich selbst Einbezogenes, sondern nur das jeweilige In-ihm-stehen, seine Modification von Gestalt zu Gestalt ist nicht die Funktion des geschichtlichen Geschehens selbst, sondern der jeweiligen, abgezognen Bezogenheit eines Lebens auf dieses. Ein Leib mag somit allem Realen zukommen, nicht aber als Substrat oder Substanz seines eigensten Seins, wie es der Körper ist, sondern als eine Erscheinung in der Belichtung des historischen »Nu«. Der leibhafte Geist wäre vielleicht am schicklichsten das »ingenium« zu nennen.

Allgemein läßt sich sagen: Alles Reale ist Gestalt sofern es im historischen Prozeß in der Weise betrachtet wird, daß es sich sinnhaft auf das Ganze desselben in seinem »Nu«, im Innersten seiner zeitlichen Gegenwart bezieht. Alle Gestalt derart vermag sich in zwei identischen Arten, die vielleicht in einem polaren Verhältnis stehen, zu manifestieren: als ingenium und als Leib.

II. Geist und Körper

Während Leib und ingenium allem Realen aus seiner Gegenwartsbeziehung zum geschichtlichen Prozeß zukommen kann (nur nicht Gott) ist Körper und der ihm zugehörende Geist nicht auf Beziehung, sondern auf Dasein schlechthin gegründet. Körper ist eine unter den Realitäten, die im historischen Prozeß selbst stehen. Wie er vom Leib sich unterscheidet, wird am Beispiel des Menschen zunächst verdeutlicht werden können. Alles wovon der Mensch an sich selbst irgend wie Gestaltwahrnehmung hat, das ganze seiner Gestalt sowohl wie die Glieder und Organe sofern sie ihm gestaltet erscheinen, gehört zu seinem Leibe. Alle Begrenzung, die er an sich selbst sinnlich wahrnimmt gehört als Gestalt ebenfalls zu diesem. Daraus folgt, daß die sinnlich wahrgenommene Einzelexistenz des Menschen Wahrnehmung von einer Beziehung ist, in der er sich findet, nicht aber Wahrnehmung von einem Substrat, einer Substanz seiner selbst, wie der Körper sinnlich eine solche darstellt. Dieser manifestiert sich dagegen in eigentümlicher Polarität zwiefach: als Lust und als Schmerz. In diesen beiden wird keinerlei Gestalt, keinerlei Begrenzung wahrgenommen. Wenn wir also um unsern Körper nur oder vornehmlich durch Lust und Schmerz wissen, so wissen wir von keiner Begrenzung desselben. Hierbei ist es nun geboten, unter den Modificationen des Bewußtseins Umschau nach solchen zu halten, denen jene Begrenzung ebenso fremd ist, wie den Lust- und Schmerz-Zuständen, welche in ihrer höchsten Steigerung den Rausch ausmachen. Solche Zustände sind zunächst die der Wahrnehmung. Allerdings mit Unterschied nach Graden. Am grenzenlosesten angelegt ist vielleicht die Gesichtswahrnehmung, die man, etwa im Gegensatz zur mehr zentripetal gerichteten Geschmacks- und besonders Tastwahrnehmung förmlich zentrifugal nennen könnte. Die Gesichtswahrnehmung zeigt den Körper wenn nicht unbegrenzt, so doch von schwankender gestaltloser Begrenzung.

Allgemein ist also zu sagen: Soweit wir von Wahrnehmung wissen, wissen wir von unserm Körper, der im Gegensatz zu unserm Leibe ohne bestimmte gestaltete Begrenzung sich erstreckt. Dieser Körper nun ist zwar nicht das letzte Substrat unsres Seins, aber dennoch. Substanz zum Unterschied vom Leibe welcher nur Funktion ist. Der Körper ist in höherm Sinne objektiv und daher muß noch mehr als an der Klärung des mit dem Leibe identischen ingenium an der Klarstellung der an den Körper gebundenen, ihm verhafteten geistigen »Natur« des lebenden Wesens gelegen sein. Hier liegt das schwere Problem nun darin, daß die »Natur«, deren Zugehörigkeit zum Körper behauptet wird, doch wieder im stärksten Maße auf Einschränkung und Einzelheit des lebenden Wesens hinweist. Jene, eingeschränkte Realität, welche durch die Fundierung einer geistigen Natur in einem Körper konstituiert wird, heißt die Person. Die Person ist nun in der Tat eingeschränkt, aber nicht gestaltet. Sie hat daher ihre Einzigkeit, welche man ihr freilich in einem gewissen Sinne beilegen darf, gleichsam nicht von sich selbst, vielmehr aus dem Umkreis ihrer maximalen Ausdehnung her. So steht es zugleich mit ihrer Natur und ihrem Körper: sie sind nicht auf gestaltete Weise begrenzt, aber begrenzt dennoch durch ein Maximum von Ausdeutung, das Volk.

III. Leib und Körper

Der Mensch gehört mit Leib und Körper universellen Zusammenhängen an. Mit beiden jedoch ganz verschiednen: mit dem Leib der Menschheit, mit dem Körper Gott. Beider Grenzen gegen die Natur sind schwankend, beider Umsichgreifen bestimmt das Weltgeschehen aus den tiefsten Gründen her. Der Leib, die Funktion der geschichtlichen Gegenwart im Menschen, wächst zum Leibe der Menschheit. Die »Individualität« als Prinzip des Leibes steht höher als die einzelner leiblicher Individualitäten. Die Menschheit als Individualität ist die Vollendung und zugleich der Untergang des leiblichen Lebens. Untergang: denn mit ihr erreicht dasjenige geschichtliche Leben, dessen Funktion der Leib ist, sein Ende. In dieses Leben des Leibes der Menschheit, und somit in diesen Untergang und in diese Erfüllung vermag die Menschheit, außer der Allheit der Lebenden, noch partiell die Natur: Unbelebtes, Pflanze und Tier durch die Technik einzubeziehen, in der sich die Einheit ihres Lebens bildet. Zuletzt gehört zu ihrem Leben, ihren Gliedern alles was ihrem Glück dient.

Die leibliche Natur geht ihrer Auflösung entgegen, die körperliche dagegen ihrer Auferstehung. Auch über diese liegt die Entscheidung beim Menschen. Der Körper ist für den Menschen das Siegel seiner Einsamkeit und es wird – auch im Tode – nicht zerbrechen, weil diese Einsamkeit nichts als das Bewußtsein seiner unmittelbaren Abhängigkeit von Gott ist. Was nun jeder Mensch im Bereich seiner Wahrnehmung, seiner Schmerzen und seiner höchsten Lust umspannt, ist in der Auferstehung mit ihm gerettet. (Diese höchste Lust hat natürlich mit dem Glück nichts zu tun) Schmerz ist das regierende, Lust das wertende Prinzip des Körpers. Es gibt also in der Naturgeschichte die beiden großen Verläufe: Auflösung und Auferstehung.

IV. Geist und Sexualität / Natur und Körper

Geist und Sexualität sind die polaren Grundkräfte der »Natur« des Menschen. Die Natur ist nichts, was jedem einzelnen Körper besonders zugehört. Sie ist vielmehr in ihrem Verhältnis zur Singularität des Körpers vergleichbar dem Verhältnis der Strömungen im Meere zum einzelnen Wassertropfen. Zahllose solcher Tropfen sind von der gleichen Strömung ergriffen. So ist auch die Natur zwar keineswegs in allen, aber jeweilen in sehr vielen Menschen dieselbe. Und zwar im eigentlichen Sinne dieselbe und identische, nicht nur die gleiche. Sie ist nicht konstant sondern ihre Strömung wechselt mit den Jahrhunderten und stets wird eine mehr oder weniger große Zahl solcher Strömungen sich gleichzeitig finden. Sexualität und Geist sind die beiden vitalen Pole dieses natürlichen Lebens, welches in den Körper mündet und in ihm sich differenziert. Also ist auch der Geist, ganz wie die Sexualität im Ursprung etwas Natürliches und erscheint im Verlaufe als ein Körperliches. Der Gehalt eines Lebens ist davon abhängig, wieweit es dem Lebenden gelingt, seine Natur körperlich auszuprägen. Im vollkommnen Verfall der Körperlichkeit, wie die gegenwärtige abendländische Welt ihn erfährt, bleibt als letztes Werkzeug ihrer Erneuerung die Pein der Natur, die im Leben sich nicht mehr fassen läßt und in wilden Strömen über den Körper dahinbraust. Die Natur selbst ist Totalität und die Bewegung in das Unergründliche der totalen Vitalität hinab ist Schicksal. Die Bewegung aus diesem Unergründlichen hinauf ist Kunst. Weil aber die totale Vitalität in der Kunst ihre einzige versöhnliche Wirkung hat, muß jede andere Äußerungsform zur Vernichtung führen. Die Darstellung der totalen Vitalität im Leben läßt das Schicksal im Wahnsinn münden. Denn alle lebendige Reaktivität ist an Differenzierung gebunden, deren vornehmstes Instrument der Körper ist. Diese seine Bestimmung ist als wesentlich zu erkennen. Der Körper als Differenzierungsinstrument der vitalen Reaktionen und nur er ist zugleich seiner psychischen Belebtheit nach erfaßbar. Alle psychische Regsamkeit ist in ihm differenziert zu lokalisieren, wie die alte Anthroposophie, etwa in der Analogie des Körpers zum Makrokosmos dies unternahm. Eine der wichtigsten Determinationen der Differenziertheit hat der Körper in der Wahrnehmung; die Zone der Wahrnehmungen zeigt zudem am deutlichsten die Variabilität, der er als Funktion der Natur unterworfen ist. Ändert die Natur sich, so ändern sich die Wahrnehmungen des Körpers.

Der Körper ist ein moralisches Instrument. Er ist geschaffen zur Erfüllung der Gebote. Danach wurde er bei der Schöpfung eingerichtet. Selbst seine Wahrnehmungen bezeichnet es, wieweit sie ihn seiner Pflicht entziehen oder überführen.

V. Lust und Schmerz

In den physischen Unterschieden zwischen Lust und Schmerz ist ihr metaphysischer ablesbar enthalten. Unter diesen physischen Unterschieden bleiben zuletzt zwei als elementare und irreduktible übrig. Es sind, von der Lust aus gesehen, ihr blitzartiger und ihr gleichförmiger Charakter, die sie vom Schmerz, und von ihm aus gesehen sein chronischer und vielfältiger Charakter, der ihn von der Lust unterscheidet. Nur der Schmerz, niemals jedoch die Lust, kann chronisches Begleitgefühl konstanter organischer Prozesse werden. Nur er, niemals die Lust, ist äußerster Differenzierung je nach der Natur des Organs, von welchem er ausgeht, fähig. Dies liegt in der Sprache angedeutet, welche im Deutschen für das Maximum der Lust nur die Superlative des Süßen oder der Wonne kennt, von denen sogar nur der erste ganz eigentlich und unzweideutig sinnlich ist. Der niedrigste Sinn also, der Geschmackssinn, leiht die Bezeichnung seiner positiven Organempfindung zum Ausdruck jeglichen sinnlichen Genusses. Ganz anders die Bezeichnungen des Schmerzes. In den Wörtern: Schmerz, Weh, Qual, Leiden ist überall aufs deutlichste ausgeprägt – was im Bereich der sprachlichen Bezeichnung für die Lust nur etwa im Wort »Wonne« angedeutet liegt – daß im Schmerz ohne alle Metaphorik unmittelbar mit dem Sinnlichen das Seelische betroffen ist. Möglicherweise hängt es eben hiermit zusammen, daß die Schmerzgefühle in so ungleich höherm Maße als die Lustgefühle echter, also nicht nur gradmäßiger Variabilität fähig sind. Ganz sicher aber besteht ein Zusammenhang zwischen dieser ungebrochneren Geltung des Schmerzgefühls für das gesamte Wesen des Menschen und seiner Fähigkeit der Permanenz. Und diese Permanenz wiederum führt unmittelbar ins Bereich der jenen physischen genau entsprechenden und sie erklärenden metaphysischen Differenzen dieser beiden Gefühle. Nur das Schmerzgefühl nämlich ist, wie im Physischen so im Metaphysischen, der ununterbrochnen Durchführung, einer gleichsam thematischen Behandlung fähig. Das Wesen des Menschen ist das vollkommenste Instrument des Schmerzes; nur im menschlichen Leiden kommt der Schmerz zu seiner reinsten adäquaten Erscheinung, nur im menschlichen Leben mündet er. Der Schmerz allein unter allen Körpergefühlen ist für den Menschen gleichsam ein schiffbarer Strom mit nie versiegendem Wasser, der ihn ins Meer führt. Die Lust erweist sich überall da, wo der Mensch ihr Folge zu geben trachtet, als eine Sackgasse. Sie ist in Wahrheit eben ein Vorzeichen aus einer andern Welt, nicht wie der Schmerz eine Verbindung zwischen den Welten. Daher ist die organische Lust intermittierend, während der Schmerz permanent werden kann.

Mit diesem Verhältnis von Lust und Schmerz hängt es zusammen, daß für die Wesenserkenntnis eines Menschen der Anlaß seines höchsten Schmerzes gleichgültig, der Anlaß seiner höchsten Lust jedoch sehr wichtig ist. Denn jeder, auch der nichtigste Schmerz läßt sich bis zum äußersten religiösen hinaufführen, die Lust aber ist keiner Veredlung fähig und hat ihren ganzen Adel allein von Gnaden ihrer Geburt, will sagen ihres Anlasses.

VI. Nähe und Ferne

Dieses sind zwei Verhältnisse, die in Bau und Leben des Körpers ähnlich bestimmend sein mögen wie andere räumliche (oben und unten, rechts und links u.s.w.). Besonders aber treten sie im Leben des Eros und der Sexualität hervor. Das Leben des Eros entzündet sich an der Ferne. Andererseits findet eine Verwandtschaft zwischen Nähe und Sexualität statt. – Über die Ferne wären die Untersuchungen über den Traum von Klages zu vergleichen. Noch unbekannter als das Wirken der Ferne in körperlichen Verbindungen ist das der Nähe. Die Erscheinungen, die mit diesem zusammenhängen sind vielleicht schon vor Jahrtausenden verworfen und deklassiert worden. – Ferner z. B. besteht eine genaue Beziehung zwischen Dummheit und Nähe: Dummheit rührt letzten Endes von zu naher Betrachtung der Ideen her [Die Kuh vorm neuen Tor]. Aber eben diese allzu nahe (geistlose) Betrachtung der Ideen ist ein Ursprung der dauernden (nicht intermittierenden) Schönheit. So verläuft die Beziehung zwischen Dummheit und Schönheit.

Literatur

Klages: Vom Traumbewußtsein Ztschr. für Pathopsychologie III Bd 4 Heft 1919 (s. dort weiteres)

Geist und Seele Deutsche Psychologie Bd I Heft 5 u Bd II Heft 6

Vom Wesen des Bewußtseins (J.A. Barth)

Mensch und Erde (Georg Müller)

Vom kosmogonischen Eros (Georg Müller)

VI. Nähe und Ferne (Fortsetzung)

Je weniger in den Banden des Schicksals ein Mann befangen ist, desto weniger bestimmt ihn das Nächste, sei es durch Umstände sei es durch Menschen. Vielmehr hat ein dergestalt freier Mensch seine Nähe ganz zu eigen; er ist es, der sie bestimmt. Die eigne Bestimmtheit seines schicksalsmäßigen Lebens dagegen kommt ihm vom Fernen. Er handelt nicht mit »Rücksicht« auf das Kommende, als ob es ihn einhole; sondern mit »Umsicht« nach dem Entfernten, dem er sich fügt. Daher ist das Befragen der Sterne – selbst allegorisch verstanden – tiefer gegründet, als das Grübeln ums Folgende. Denn das Entfernte, das den Menschen bestimmt, soll die Natur selber sein und sie tut es desto ungeteilter je reiner er ist. Mag sie also mit ihrem kleinsten Vorzeichen den Neurotiker schrecken, mit den Sternen die Dämonischen lenken, so bestimmt sie mit ihren tiefsten Harmonien – und nur durch diese – allein den Frommen. Sie alle aber nicht in ihrem Handeln sondern in ihrem Leben, welches allein ja schicksalhaft sein kann. Und hier, nicht aber im Bereiche der Handlung, ist an ihrem Orte die Freiheit. Eben deren Macht entbindet den Lebendigen von der Bestimmung durch das einzelne Naturgeschehen und erlaubt ihm, vom Dasein der Natur das seinige leiten zu lassen. Geleitet aber wird er als ein Schlafender. Und der vollkommne Mensch allein in solchen Träumen, aus denen er im Leben nicht erwacht. Denn je vollkommener der Mensch ist, desto tiefer ist dieser Schlaf- desto fester und desto mehr beschränkt auf einen Urgrund seines Wesens. Mithin ein Schlaf, dem nicht durch die Geräusche aus der Nähe und durch die Stimmen seiner Mitwelt Träume kommen, in dem die Brandung und die Sphären und der Wind vernommen werden. Dieses Meer von Schlaf im tiefen Grunde aller menschlichen Natur hat nachts die Flutzeit: jeder Schlummer besagt nur, daß es einen Strand bespült, von dem es sich bei wacher Zeit zurückzieht. Was zurückbleibt: die Träume, sind – wie wunderbar geformt – doch nur das Tote aus dem Schöße dieser Tiefen. Das Lebendige bleibt in ihm und auf ihm geborgen: das Schiff des wachen Lebens und die Fische als stumme Beute in den Netzen der Künstler.

So ist das Meer Symbol der menschlichen Natur. Als Schlaf – im tiefern, übertragnen Sinne – trägt sie das Lebensschiff mit ihrer Strömung, die von Wind und Sternen, aus der Ferne her, geleitet wird, als Schlummer, im eigentlichen Sinne, steigt sie nachts wie die Flut gegen den Strand des Lebens auf, an dem sie die Träume zurückläßt.

Nähe [und Ferne?] sind übrigens für den Traum nicht weniger bestimmend als für die Erotik. Dennoch aber in abgeschwächter, deteriorierter Weise. Das Wesen dieser Differenz wäre noch ausfindig zu machen. An sich findet im Traum die äußerste Nähe gewiß statt; – und – vielleicht! – doch auch die äußerste Ferne?

Was das Problem der Traumwirklichkeit betrifft, so ist festzustellen: die Bestimmung des Verhältnisses der Traumwelt zur Welt des Wachens d. h. der wirklichen Welt, ist streng von der Untersuchung seines Verhältnisses zur wahren Welt zu unterscheiden. In Wahrheit oder in der »wahren Welt« gibt es Traum und Wachen als solche überhaupt nicht mehr; sie mögen höchstens Symbole ihrer Darstellung sein. Denn in der Welt der Wahrheit hat die Welt der Wahrnehmung ihre Wirklichkeit verloren. Ja, vielleicht ist die Welt der Wahrheit überhaupt nicht Welt irgend eines Bewußtseins. Damit soll gesagt sein: das Problem des Verhältnisses von Traum zum Wachen ist kein »erkenntnistheoretisches« sondern ein »wahrnehmungstheoretisches«. Wahrnehmungen aber können nicht wahr oder falsch sein, sondern sind problematisch nur hinsichtlich der Zuständigkeit ihres Bedeutungsgehalts. Das System solcher möglichen Zuständigkeiten überhaupt ist die Natur des Menschen. Problem ist hier also was in der Natur des Menschen den Bedeutungsgehalt der Traumwahrnehmung, was in ihr den der wachen Wahrnehmung betreffe. Für die »Erkenntnis« sind beide auf genau die gleiche Weise, nämlich lediglich als Objekte, belangvoll. – Insbesondere ist der Wahrnehmung gegenüber die übliche Fragestellung nach der Überlegenheit einer dieser Wahrnehmungsarten gemäß dem größern Reichtum der Kriterien, denen gegenüber sie Stich halte, sinnlos, weil erst aufgezeigt werden müßte 1) daß es Bewußtsein von Wahrheit überhaupt gibt 2) daß es durch ein solches Stichhalten einer relativen Mehrzahl von Kriterien gegenüber gekennzeichnet sei. In Wirklichkeit ist 1) die Komparation in wahrheitstheoretischen Untersuchungen sinnlos 2) für das Bewußtsein überhaupt zunächst einzig die Beziehung zum Leben zuständig, nicht aber zur Wahrheit. Und dem Leben gegenüber ist keine der beiden Bewußtseinsarten »wahrer« sondern es besteht nur ein Unterschied ihrer Bedeutung für dasselbe.

Vollkommnes Gleichgewicht zwischen Nähe und Ferne in der vollendeten Liebe »Kommst geflogen und gebannt«. – Dante versetzt Beatrice unter die Sterne. Doch es konnten ihm die Sterne in Beatrice nahe sein. Denn in der Geliebten erscheinen dem Manne die Kräfte der Ferne nah. Dergestalt sind Nähe und Ferne die Pole im Leben des Eros: daher ist Gegenwart und Trennung in der Liebe entscheidend. – Der Bann ist der Zauber der Nähe.

Der Eros ist das Bindende in der Natur, deren Kräfte ungebunden überall sind, wo er nicht waltet. »Ein großer Dämon, Sokrates, [ist der Eros] denn alles Dämonische ist mitten zwischen Gott und Sterblichem. – Welche Kraft hat es? fragte ich. – Zu verkünden und zu überbringen Göttern was von Menschen und Menschen was von Göttern kommt. Von den Einen Gebete und Opfer, von den andern Aufträge und Antworten auf die Opfer. In der Mitte von beiden ist es erfüllend, so daß das All selbst in sich selbst gebunden ist. Durch dies Dämonische geht auch Weissagung und die Kunst der Priester in den Opfern und den Weihen und den Gesängen und in aller Wahrsagung und Bezauberung. Gott verkehrt nicht mit Menschen, sondern durch dies ist der ganze Umgang und das Gespräch Göttern mit Menschen im Wachen und im Schlafe.« Symposion 202/ 203. Der Typus und das Urphänomen der Bindung aber, welches in jeder Besondern Bindung sich vorfindet, ist die von Nähe und Ferne. Sie ist daher vor allen andern das ursprüngliche Werk des Eros.

Besondere Beziehung von Nähe und Ferne auf die Geschlechter. Für den Mann sollen die Kräfte der Ferne die bestimmenden sein, während es die Kräfte der Nähe sind aus denen er bestimmt. Sehnsucht ist ein Bestimmt-Werden. Welches ist die Kraft, aus der heraus der Mann seine Nähe bestimmt? Sie ist verloren gegangen. Flug ist die Bewegung aus Sehnsucht. Welches ist die bannende Bewegung, die die Nähe bestimmt? Bann und Flug vereinigt in dem Traumtypus vom niedrigen Fliegen über der Erde. (Nietzsches Leben ist typisch für die bloße Fernenbestimmtheit, die das Verhängnis der höchsten unter den fertigen Menschen ist.) Infolge dieses Versagens der bannenden Kraft vermögen sie nichts sich »fern zu halten«. Und alles was in ihre Nähe dringt ist ungebunden. Daher ist die Nähe der Bereich des Ungebundnen geworden, wie es in der nächsten Nähe der Gatten in der Sexualität furchtbar genug zum Vorschein kommt und von Strindberg erfahren worden ist. Aber der unverletzte Eros hat bindende, bannende Gewalt auch im Nächsten.

»Die Verlassenen« von Karl Kraus, ein Gegenstück zu Goethes »Seliger Sehnsucht«. Hier die Bewegung des Flügelschlags und des Fluges, dort der gebannte Stillstand des Gefühls. Goethes Gedicht mächtige unaussetzende Bewegung, Kraus Gedicht ungeheuer aussetzend und einhaltend in der mittleren Strophe, die als der Abgrund des Geheimnisses die erste und letzte von einander trennt. So ist der Abgrund die Urtatsache, die in jeder innigsten erotischen Nähe erfahren wird.

Kapitalismus als Religion

Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d. h. der Kapitalismus dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben. Der Nachweis dieser religiösen Struktur des Kapitalismus, nicht nur, wie Weber meint, als eines religiös bedingten Gebildes, sondern als einer essentiell religiösen Erscheinung, würde heute noch auf den Abweg einer maßlosen Universalpolemik führen. Wir können das Netz in dem wir stehen nicht zuziehn. Später wird dies jedoch überblickt werden.

Drei Züge jedoch sind schon der Gegenwart an dieser religiösen Struktur des Kapitalismus erkennbar. Erstens ist der Kapitalismus eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. Es hat in ihm alles nur unmittelbar mit Beziehung auf den Kultus Bedeutung, er kennt keine spezielle Dogmatik, keine Theologie. Der Utilitarismus gewinnt unter diesem Gesichtspunkt seine religiöse Färbung. Mit dieser Konkretion des Kultus hängt ein zweiter Zug des Kapitalismus zusammen: die permanente Dauer des Kultus. Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans rêve et sans merci. Es gibt da keinen »Wochentag«, keinen Tag der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre. Dieser Kultus ist zum dritten verschuldend. Der Kapitalismus ist vermutlich der erste Fall eines nicht entsühnenden, sondern verschuldenden Kultus. Hierin steht dieses Religionssystem im Sturz einer ungeheuren Bewegung. Ein ungeheures Schuldbewußtsein das sich nicht zu entsühnen weiß, greift zum Kultus, um in ihm diese Schuld nicht zu sühnen, sondern universal zu machen, dem Bewußtsein sie einzuhämmern und endlich und vor allem den Gott selbst in diese Schuld einzubegreifen, um endlich ihn selbst an der Entsühnung zu interessieren. Diese ist hier also nicht im Kultus selbst zu erwarten, noch auch in der Reformation dieser Religion, die an etwas Sicheres in ihr sich müßte halten können, noch in der Absage an sie. Es liegt im Wesen dieser religiösen Bewegung, welche der Kapitalismus ist, das Aushalten bis ans Ende, bis an die endliche völlige Verschuldung Gottes, den erreichten Weltzustand der Verzweiflung auf die gerade noch gehofft wird. Darin liegt das historisch Unerhörte des Kapitalismus, daß Religion nicht mehr Reform des Seins sondern dessen Zertrümmerung ist. Die Ausweitung der Verzweiflung zum religiösen Weltzustand aus dem die Heilung zu erwarten sei. Gottes Transzendenz ist gefallen. Aber er ist nicht tot, er ist ins Menschenschicksal einbezogen. Dieser Durchgang des Planeten Mensch durch das Haus der Verzweiflung in der absoluten Einsamkeit seiner Bahn ist das Ethos das Nietzsche bestimmt. Dieser Mensch ist der Übermensch, der erste der die kapitalistische Religion erkennend zu erfüllen beginnt. Ihr vierter Zug ist, daß ihr Gott verheimlicht werden muß, erst im Zenith seiner Verschuldung angesprochen werden darf. Der Kultus wird vor einer ungereiften Gottheit zelebriert, jede Vorstellung, jeder Gedanke an sie verletzt das Geheimnis ihrer Reife.

Die Freudsche Theorie gehört auch zur Priesterherrschaft von diesem Kult. Sie ist ganz kapitalistisch gedacht. Das Verdrängte, die sündige Vorstellung, ist aus tiefster, noch zu durchleuchtender Analogie das Kapital, welches die Hölle des Unbewußten verzinst.

Der Typus des kapitalistischen religiösen Denkens findet sich großartig in der Philosophie Nietzsches ausgesprochen. Der Gedanke des Übermenschen verlegt den apokalyptischen »Sprung« nicht in die Umkehr, Sühne, Reinigung, Buße, sondern in die scheinbar stetige, in der letzten Spanne aber sprengende, diskontinuierliche Steigerung. Daher sind Steigerung und Entwicklung im Sinne des »non facit saltum« unvereinbar. Der Übermensch ist der ohne Umkehr angelangte, der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch. Diese Sprengung des Himmels durch gesteigerte Menschhaftigkeit, die religiös (auch für Nietzsche) Verschuldung ist und bleibt, hat Nietzsche präjudiziert. Und ähnlich Marx: der nicht umkehrende Kapitalismus wird mit Zins und Zinseszins, als welche Funktion der Schuld (siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses Begriffs) sind, Sozialismus.

Kapitalismus ist eine Religion aus bloßem Kult, ohne Dogma.

Der Kapitalismus hat sich – wie nicht allein am Calvinismus, sondern auch an den übrigen orthodoxen christlichen Richtungen zu erweisen sein muß – auf dem Christentum parasitär im Abendland entwickelt, dergestalt, daß zuletzt im wesentlichen seine Geschichte die seines Parasiten, des Kapitalismus ist.

Vergleich zwischen den Heiligenbildern verschiedner Religionen einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits. Der Geist, der aus der Ornamentik der Banknoten spricht.

Kapitalismus und Recht. Heidnischer Charakter des Rechts Sorel Réflexions sur la violence p 262

Überwindung des Kapitalismus durch Wanderung Unger Politik und Metaphysik S 44

Fuchs: Struktur der kapitalistischen Gesellschaft o.ä.

Max Weber: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie 2 Bd 1919/20

Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der chr. Kirchen und Gruppen (Ges. W. I 1912)

Siehe vor allem die Schönbergsche Literaturangabe unter II

Landauer: Aufruf zum Sozialismus p 144

Die Sorgen: eine Geisteskrankheit, die der kapitalistischen Epoche eignet. Geistige (nicht materielle) Ausweglosigkeit in Armut, Vaganten- Bettel- Mönchtum. Ein Zustand der so ausweglos ist, ist verschuldend. Die »Sorgen« sind der Index dieses Schuldbewußtseins von Ausweglosigkeit. »Sorgen« entstehen in der Angst gemeinschaftsmäßiger, nicht individuell-materieller Ausweglosigkeit.

Das Christentum zur Reformationszeit hat nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt, sondern es hat sich in den Kapitalismus umgewandelt.

Methodisch wäre zunächst zu untersuchen, welche Verbindungen mit dem Mythos je im Laufe der Geschichte das Geld eingegangen ist, bis es aus dem Christentum soviel mythische Elemente an sich ziehen konnte, um den eignen Mythos zu konstituieren.

Wergeld / Thesaurus der guten Werke / Gehalt der dem Priester geschuldet wird. Plutos als Gott des Reichtums

Adam Müller: Reden über die Beredsamkeit 1816 S 56ff

Zusammenhang des Dogmas von der auflösenden, uns in dieser Eigenschaft zugleich erlösenden und tötenden Natur des Wissens, mit dem Kapitalismus: die Bilanz als das erlösende und erledigende Wissen.

Es trägt zur Erkenntnis des Kapitalismus als einer Religion bei, sich zu vergegenwärtigen, daß das ursprüngliche Heidentum sicherlich zu allernächst die Religion nicht als ein »höheres« »moralisches« Interesse, sondern als das unmittelbarste praktische gefaßt hat, daß es sich mit andern Worten ebensowenig wie der heutige Kapitalismus über seine »ideale« oder »transzendente« Natur im klaren gewesen ist, vielmehr im irreligiösen oder andersgläubigen Individuum seiner Gemeinschaft genau in dem Sinne ein untrügliches Mitglied derselben sah, wie das heutige Bürgertum in seinen nicht erwerbenden Angehörigen.

Hitlers herabgeminderte Männlichkeit – zu vergleichen mit dem femininen Einschlag des Verelendeten wie ihn Chaplin darstellt soviel Glanz um so viel Schäbigkeit

Hitlers Gefolgschaft zu vergleichen mit Chaplins Publikum

Chaplin – die Pflugschar, die durch die Massen geht; das Gelächter lockert die Masse auf der Boden des dritten Reiches wird festgestampft und da wächst kein Gras mehr

Verbot der Marionetten in Italien, der Chaplinfilme im dritten Reich – jede Marionette kann Mussolinis Kinn und jeder Zoll von Chaplin den Führer machen

Der arme Teufel will ernst genommen werden und sogleich muß er die ganze Hölle aufbieten

Chaplins Gefügigkeit liegt vor aller Augen, Hitlers nur vor denen seiner Auftraggeber

Chaplin zeigt die Komik von Hitlers Ernst; wenn er den feinen Mann spielt, dann wissen wir, welche Bewandtnis es mit dem Führer hat

Chaplin ist der größte Komiker geworden, weil er das tiefste Grauen der Zeitgenossen sich einverleibte

Das modische Leitbild Hitlers ist nicht der Militär sondern der bessere Herr, die feudalen Herrschaftsembleme sind außer Kurs; es blieb nur die Herrenmode. Chaplin hält sich auch an die Herrenmode. Er tut es, um die Herrenkaste beim Wort zu nehmen. Sein Stöckchen ist der Stab, um den sich der Parasit rankt (der Vagabund ist so gut ein Schmarotzer wie der Gent) und seine Melone, die auf dem Kopf keinen festen Ort mehr hat, verrät, daß die Herrschaft der Bourgeoisie wackelt.

Man hätte unrecht, die Figur Chaplins nur psychologisch zu deuten. Es ist selten, daß so volkstümliche Gestalten nicht einige Requisiten oder Embleme mit sich führen, die von außen her ihnen den richtigen Akzent verleihen. Diese Rolle spielt für Chaplin die Ausstaffierung mit dem Stöckchen und der Melone.

»Das gibt's nur einmal, das kommt nicht wieder.« Hitler nahm den Reichspräsidententitel nicht an; er sah es darauf ab, die Einmaligkeit seiner Erscheinung den Leuten einzuprägen. Diese Einmaligkeit kommt seinem magisch versetzten Prestige zustatten.

Der Humor

Der Humor ist die Rechtsprechung ohne Urteil, d. h. ohne Wort. Während Witz essentiell auf dem Wort beruht – daher seine von Schlegel betonte Verwandtschaft mit der Mystik – beruht der Humor auf der Vollstreckung. Der humorvolle Akt ist der Akt einer urteilslosen Vollstreckung. Die Sprache hat Worte die ihren Wortcharakter gegen die Vollstreckung hin verlieren; etwa die in den Texten punktierten. Insofern ist das Schimpfwort, als wortförmiger Akt der Vollstreckung gegen den Humor vorgeschoben. – Man lacht im Humor nicht über einen Menschen: vielmehr gehört das Gelächter, und zwar das laute, in den Humor hinein. Es ist Teilnahme am Vollstreckungsakt. Unbelachter Humor ist keiner. Im Humor läßt man dem Objekt als solchem Gerechtigkeit widerfahren. Es ist der paradoxe Fall einer Rechtsprechung die das Recht ohne Beachtung des Wesens der Person überhaupt, gegen Personloses, wortlos vollzieht. Daher das »Ungeheure« jeden Humors. Man kann auf zweierlei Weise rechtsprechen: entweder unter Wahrung der Integrität der Person oder unter ausdrücklicher Ignorierung der Person. Beides verletzt nicht ihre Integrität was rechtswidrig wäre. Friedländers Frau beklagt sich bei ihm über das Schreien ihres Säuglings. Seine Antwort: Schmeiß es doch weg, ist ein klassisches Beispiel des Humors. Es geschieht dem Kinde unter Ignorierung der Person in ihm Gerechtigkeit, es darf schreien. Der Despot ist das ideale Subjekt des Humors weil bei ihm Urteil und Vollstrekkung vereint liegen. Wenn das Wort nicht mehr vermittelt ist der Humor da. / Das andere Subjekt ist das Volk, oder besser die Masse als ganze, bei der es ebenso liegen kann. // Es ist prinzipiell nichts Ungebildetes daran zu lachen über die wortlose Vollstreckung, wenn einem Mann der Wind den Hut fortbläst. Nur gegenwärtig macht die Distanz, die man von der Masse in der Sphäre des Wortes hat, es dem hochstehenden einzelnen unmöglich in der Sphäre des Humors in sie einzugehen.

Zu untersuchen ist das Gelächter in seiner Relation zum richtenden Wort, in welcher Fragestellung die tiefste Problematik des Humors erreicht ist.

Bei der Betrachtung der Romantik ist nicht zu vergessen daß diese Menschen nicht sowohl in irgend einer Hinsicht vollkommne Einsichten gehabt haben, als daß sie nicht den lügnerischen Schein davon je zu erzeugen strebten. Wo sie ihren ursprünglichen Intentionen untreu werden, da suchen sie eine falsche Kontinuität, welche sie etwa aus dem Objekt konstruieren, niemals vorzutäuschen. Darum ist dieser Boden erfreulich, seine Quellen sind nicht vergiftet, hier besteht nirgends die objektive Verlogenheit die unser Geistesleben beherrscht. Aber wie sehr ihre Begriffe für uns neu zu denken, zu prägen und zum Teil unzulänglich sind zeigt nichts vielleicht so leicht wie ihr Verhältnis zur Publizistik. Das Problem der Publizität in dem Sinne in dem zuerst George, und noch nicht Nietzsche, es aufgestellt hat war ihnen ganz unbekannt. Geschriebnes war für sie im Grunde Gedrucktem gleich. Sonst hätte zum Beispiel Wilhelm Schlegel bei der Unzahl seiner gedruckten und daher vertagten Kritiken von nichtigen den Unrat endlich merken müssen. – Auch der verhältnismäßig geringe Fleiß, die geringe Intensität ihrer Arbeit und die Spannungsarmut ihres fraternisierenden Lebens machen den Unterschied von der Gegenwart deutlich. Ihre Lauterkeit ruft uns zu ihr zurück.

Über den Dilettantismus

Die Grundlage des Dilettantismus ist das sinnliche Moment in den Künsten. Dieses wirkt zerstörend, nämlich verführerisch, wo es schlechthin rezeptiv aufgenommen wird. Das schlechthin rezeptive Verhalten nämlich gilt der schlechthin geistigen Erscheinungsweise des Kunstwerks, welche in ihrer Losgelöstheit fiktiv und deren Beschwörung einzig und allein Sache des souveränen Meisters ist. In jedem andern Empfangenden aber wird die Phantasie aus der eigentlichen und echten Rezeptivität heraus (also ohne in ihr sich zu befriedigen) zu gewissen sinnlichen Spontaneitäten zu bestimmen wissen. Deren ursprüngliche ist der Tanz. Ursprünglich sind nur diejenigen Künste, deren reines Auffassen sich im Tanze bestätigt. Die fernere Ausbildung dieser Spontaneitäten auf Grundlage der Phantasie ist Sache des Dilettanten. Niemals wird diese Schule ihn zu Kollisionen mit der Kunst führen, da deren Lehrgang nicht Phantasie sondern Sprache zu Grunde legt. Der Schüler lernt produzierend, der Dilettant erfährt lernend seine Spontaneität. Für die grundsätzliche Erkenntnis seines Bereiches ist Beobachtung des Verhaltens von Schizophrenen wertvoll. Diese suchen die Spontaneität aus dem Bann der Phantasie zu befreien, um sie an Sprache zu binden, ein Versuch der mit dem gänzlichen Anheimfall der Sprache an die Physis endet, in seinem Ablauf jedoch Physis und Sprache, die er einander so beispiellos nahe bringt, auf das markanteste durch einander beleuchtet.

 

Gegen die Theorie des »verkannten Genies«. Man muß nachweisen, daß das eine moderne Erfindung ist. Daß es früheren Epochen bewußt war, wie das, was Schiller in den Worten aussprach: »Denn wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten« auch in der Umkehrung wahr bleibt, daß mithin auch von der Nachwelt nichts zu erhoffen hat, wer nicht den Besten der Mitwelt genug tat. – Die Rentnergesinnung in dieser modernen Konzeption ist nachzuweisen. Das »Genie« zahlt im Verborgenen das Kleingeld der Werke heimlich irgendwo ein, um mit dem Tode als Ruhm den Versicherungsbetrag im Jenseits ausbezahlt zu erhalten. Auch wie solche Auffassung zur Untüchtigkeit erzieht, wie sie lehrt, den wahren Berührungen aus dem Wege zu gehen, sollte entwickelt werden. Endlich ist die geschichtliche Probe auf diese Spießerlegende zu machen. Sie wird zeigen, daß mit verschwindenden Ausnahmen die »Großen« in irgendeiner ihrer Lebensepochen in einer Atmosphäre sich bewegten, die ihnen selber als ein Dasein in der Gemeinschaft der erlesensten Geister ihrer Zeit, als eine Bürgschaft des Wertes ihres Daseins erscheinen mußte. Freilich gibt es Geister, die alle Strahlen absorbieren und selbst in diesem Kreise nach außen nicht in Erscheinung treten. Aber nicht darauf sondern auf die innere Bürgschaft des Ruhmes kommt alles an. Ein Genius mag unbeachtet gelebt haben und gestorben sein; selten wird er von seinesgleichen unter den Zeitgenossen verkannt worden sein. Selbst ein Mann wie Hölderlin hat zeitweise in der Reihe seiner größten Zeitgenossen und so, daß der volle Strahl ihrer Aufmerksamkeit ihn traf, gelebt.

Zu diesem Gegenstand das Moskauer Tagebuch nachschlagen. Es ist zu entwickeln, wie dem bürgerlichen Mysterium vom verkannten Genie die neue russische Mentalität das Mysterium des Erfolges entgegensetzt. Freilich wird man sich dort im ganzen bei einer Praxis der Erfolgsverehrung beruhigen, ohne der großartigen Struktur dieses neuen Opportunismus – eines Opportunismus mit gutem Gewissen – auf den Grund zu gehen. Formuliert man aber theoretisch, so hätte das wichtigste Axiom dieser neuen Mystik zu lauten: ein Werk ist nicht berühmt, weil es groß ist – es ist groß, weil es berühmt ist. Gesetzt, dem sei so, haben die großen Werke innerlich, funktionell den lebendigsten Zusammenhang, den lebendigsten Anteil an den Veränderungen des Kollektivs, sie wandeln sich realiter mit ihm, denn sie leben in ihm. Man kann im entschiedensten Sinne von ihrem Nachleben sprechen und es ist z. B. durchaus richtig, wenn in der Vorrede zum »Jahrhundert Goethes« davon gesprochen wird, daß Byrons Gedichte von Jahr zu Jahr schlechter werden.

 

Einige der Bücher, von denen man spricht. Sie werden selbstverständlich längst nicht mehr von Schriftstellern geschrieben. Ford und Schleich, Wilhelm II und – so heißen heute die Leute der großen Auflagen. In Frankreich handelt es sich um Frauen. Ungefähr gleichzeitig lassen Yvette Guilbert und Josephine Baker ihre Memoiren erscheinen. Die eine am Ende ihrer Laufbahn, die andere am Anfang. Man muß, um so zu debütieren, schon sehr frei von Aberglauben sein. Frau Josephine Baker hat sich klug und sehr vorsichtig eingerichtet, tat nichts, als daß sie einen jungen, routinierten Journalisten vier fünf mal zum Tee bei sich sah, und ihm erzählte, wie es ihr bisher gegangen ist. Im ganzen recht gut. So gut, daß es den Reizen ihres Buches stellenweise fast abträglich wurde. Aber es hat einen unbezahlbaren Anfang, in dem die Tänzerin aus ihrem Tageseinlauf einige Musterstücke publiziert. Um alle die Verehrer zu befriedigen oder ihnen zu wehren, müßte Josephine die tausend Arme der buddhistischen Chamunda haben. Da sie aber davon nur zwei hat, so wird sie wohl mit einem mittleren Verfahren sich begnügen müssen. Natürlich gibt es nicht nur grelle oder schattierte Annäherungsbriefe von Verehrern und Verehrerinnen sondern auch Einladungen zu Börsencoups und Finanzgeschäften, Bitten um Photos, ja um ein Eintrittsbillet, von einem, der einst bessere Tage gesehen hat.

Falsche Kritik

Die ganze Darstellung dieses Teils ist unter den Begriff der objektiven Korruption zu stellen und an den gegenwärtigen Verhältnissen auszurichten.

Die Unterscheidung der persönlichen und sachlichen Kritik, mit deren Hilfe die Polemik diskreditiert wird, ist ein Hauptinstrument der objektiven Korruption. Der gesamte thetische Teil gipfelt in einer Rettung der Polemik. Damit ist schon gesagt, daß hier das Bild von Karl Kraus als des einzigen Bewahrers polemischer Kraft und polemischer Technik in dieser Zeit erscheint. Daß Kraus sich an den Personen, dem was sie sind mehr als dem was sie tun, dem was sie sagen mehr als dem was sie schreiben, und an ihren Büchern – die für die landläufige Kritik den einzigen Gegenstand bilden – am wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung seiner polemischen Meisterschaft. Der Polemiker setzt seine Person ein. Kraus ist weiter gegangen. Er bringt das Opfer seiner Person. Dessen Bedeutung ist zu entwickeln.

Der Expressionismus als Basis der objektiven Korruption. (Kraus ist immer intransigent gegen ihn gewesen.) Der Expressionismus ist die Mimikri der revolutionären Geste ohne revolutionäres Fundament. Er ist bei uns nur modisch, niemals kritisch überwunden worden. Daher haben sich seine sämtlichen Perversionen in der neuen Sachlichkeit, die ihn ablöste, in veränderter Gestalt durchsetzen können. Beide Strömungen geben ihre Solidarität als Versuche zu erkennen, das Erlebnis des Krieges vom Standpunkt der Bourgeoisie zu bewältigen. Der Expressionismus versucht es im Zeichen des Menschlichen; nachher unternahm man's im Zeichen des Sachliehen. Die Produktionen der neuen deutschen Autoren sind die Marksteine eines Weges, von dem aus an jedwedem Punkte die Schwenkung ebensowohl nach links wie nach rechts sich vollziehn läßt. Sie bedeuten die höchste Alarmbereitschaft einer Kaste zwischen den Klassen. Der tendancisme sans tendance, der seit dem Expressionismus unserer Literatur das Gepräge gibt, kennzeichnet sich am besten in der Tatsache, daß es überhaupt keine Kämpfe zwischen den Schulen mehr gibt. Jeder will ja nur das eine beweisen: daß er die jeweils neueste Manier beherrscht. Daher sind es unter den neuen Manifesten immer wieder die alten Namen und selten hat man eine Epoche gesehen, in der das Alter so unmanierlich der Jugend nachdrängt.

Es wird nicht behauptet, daß es der Kritik wesentlich oder auch nur dienlich sei, in jedem Falle unmittelbar an politischen Ideen sich auszurichten. Ganz unbedingt ist dies aber für die polemische Kritik erforderlich. Je detaillierter das Persönliche hier in den Vordergrund geschoben wird, desto genauer muß die Folie, das Bild der Zeit von der es sich abhebt, zwischen dem Kritiker und seinem Publikum vereinbart sein. Jedes echte Zeitbild ist aber politisch. Es ist die kritische Misere Deutschlands, daß die politische Strategie selbst im extremen Fall des Kommunismus sich nicht mit der literarischen deckt. Das Unglück des kritischen und, vielleicht, auch des politischen Denkens.

Wenn in der guten Polemik die persönliche Note vorherrscht, so ist das nur die extreme Ausprägung der allgemeinen Wahrheit, daß die bloße kritische Sachlichkeit, die – von Fall zu Fall und ohne Hintergedanken – nichts weiter als ihr jeweiliges Urteil zu sagen weiß, immer belanglos ist. Diese »Sachlichkeit« ist ja nichts als die Kehrseite der Planlosigkeit und Unmaßgeblichkeit des Rezensierbetriebs, mit dem der Journalismus die Kritik zu Grunde gerichtet hat.

Es entspricht dieser Sachlichkeit, die man die neue, jedoch auch die gewissenlose, nennen könnte, daß in ihren Produkten zuletzt die sogenannte bona fides immer auf die »temperamentvolle« Reaktion eines kritischen Originals herauskommt. Dies unbefangene, vorurteilslose Wesen, auf das die bürgerliche Kritik sich so viel zu guttut und dessen Gestikulation bei Alfred Kerr am aufdringlichsten herauskommt, ist ja in Wahrheit nur die servile Beflissenheit, mit der der Feuilletonist dem Bedarf nach Charakterköpfen, Temperamenten, Originalen, Persönlichkeiten entgegenkommt. Die Ehrlichkeit des Feuilletonrezensenten ist Effekthascherei; und je tiefer der Brustton der Überzeugung desto stinkender ist ihr Atem.

Im Grunde ist die Reaktion des Expressionismus weit eher pathologisch als kritisch gewesen: er suchte die Zeit, in der er entstanden ist, zu überwinden, indem er sich zu ihrem Ausdruck machte. Da war der Negativismus von Dada weit revolutionärer. Und bis zum Mouvement Dada setzt sich auch noch eine solidarische Grundhaltung der deutschen Intelligenz mit der französischen durch. Während es aber dort zur surrealistischen Entwicklung kam, wurde von der jüngsten deutschen Literaturgeneration das Denken gekappt und die Flagge der neuen Sachlichkeit aufgezogen. Die wahren Tendenzen dieser letzten Bewegung lassen sich nur bei einem Vergleich mit dem Surrealismus erkennen. Beides sind Erscheinungen eines Rückgangs auf 1885. Auf der einen Seite Rückgang auf Sudermann, auf der andern auf Ravachol. Immerhin ist da ein Unterschied.

»Quand on soutient un mouvement révolutionnaire ce serait en compromettre le développement que d'en dissocier les divers éléments au nom du goût« hat Apollinaire gesagt. Er hat damit zugleich der journalistischen Kritik, die fortfährt sich im Namen des Geschmacks zu äußern, das Urteil gesprochen. Denn es bezeichnet ja das übliche Rezensentenwesen: sich hemmungslos den eigenen Reaktionen zu überlassen (das Resultat ist die berühmte »eigne Meinung«) und dabei doch den längst vergangnen Zustand zu fingieren, als gäbe es noch eine Aesthetik. In Wahrheit hat aber jede Kritik heut mit der Einsicht einzusetzen, daß Maßstäbe samt und sonders ihren Kurs verloren haben. Sie können auch durch eine noch so virtuose Entwicklung der alten Aesthetik nicht hervorgebracht werden. Vielmehr muß die Kritik sich – jedenfalls zuvörderst, im ersten Stadium – ein Programm zu Grunde legen, das nun, wenn es den Aufgaben, die vor ihr stehen, gewachsen sein soll, nicht anders als politisch-revolutionär sein kann. (Apollinaires Sätze sind nichts weiter als die Forderung eines solchen Programms.) Waren doch auch in der alten Aesthetik, etwa Hegels, die höchsten zeitkritischen Einsichten eingeschlossen. Aber die heutige Kritik nimmt diese Begriffe und Schemata im gleichen Sinn absolut wie die Werke.

Charakteristik einer echten mittelbaren Wirksamkeit des revolutionären Schrifttums am Werk von Karl Kraus durchzuführen. Der konservative Schein in einem solchen Schrifttum. Indem es sich nämlich um das Beste, das die Bürgerklasse hervorgebracht hat, gruppiert, lehrt es exemplarisch, daß das Wertvollste, das diese Klasse in die Welt gesetzt hat, in deren Lebenskreise ersticken muß und nur in einer revolutionären Haltung konserviert wird. Es lehrt aber auch, wie die Methoden, mit denen das Bürgertum seine Wissenschaft aufbaute, heute eben diese Wissenschaft stürzen, wenn sie nur streng und ohne Opportunismus gehandhabt werden.

Daß mit der »Neuen Sachlichkeit« die Kritik endlich die Literatur bekommen hat, die sie verdient.

Nichts kennzeichnet unsern Literaturbetrieb mehr als der Versuch mit geringem Einsatz große Wirkung hervorzurufen. Der publizistische Hasard ist an die Stelle der literarischen Verantwortlichkeit getreten. Es ist absurd, wie die neusachlichen Literaten es tun, politische Wirkungen ohne den Einsatz der Person zu beanspruchen. Dieser Einsatz mag praktisch sein und in einer parteipolitisch disziplinierten Tätigkeit bestehen; er mag literarisch sein und in der grundsätzlichen Publizität des Privatlebens, der polemischen Allgegenwart bestehen, wie sie die Surrealisten in Frankreich, Karl Kraus in Deutschland durchführen. Die linken Literaten leisten keines von beiden. Dafür muß man dann darauf verzichten, um das Programm »politischer Dichtung« mit ihnen zu konkurrieren. Denn wer dem vermittelnden Charakter, zumal der vermittelnden Wirkung des ernsten bürgerlichen Schrifttums sich nähert, erkennt, die Unterschiede politischer und nichtpolitischer Dichtung verwischen sich hier. Desto deutlicher aber treten die opportunistischer und radikaler Schriftstellern hervor.

Für alle Kunstbetrachtung gilt die Maxime, daß eine Analyse, die nicht auf verborgene Beziehungen im Werke selbst stößt, mithin die nicht im Werke selbst genauer sehen lehrt und nicht nur an ihm – an ihrem eigentlichen Gegenstand vorbeigeht. Im Werke sehen lernen, das bedeutet genauer Rechenschaft sich abzulegen, wie sich im Werke Sachgehalt und Wahrheitsgehalt durchdringen. Es kann auf alle Fälle eine Kritik nicht anerkannt werden, die sich an keinem Punkte mit der Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, solidarisch macht, um sich nur an das Äußerliche zu halten. Das ist aber leider der Fall, in dem sich beinahe alles befindet, was bei uns von marxistischer Kritik bekannt wurde. Fast immer kommt es auf ein dickfelliges Nachziehen der Linien in den Werken hinaus, da sozialer Gehalt – wenn nicht soziale Tendenz – stellenweise zu Tage liegt. All das führt aber nicht in das Werk hinein, es führt einzig zu Feststellungen an ihm. Dagegen geht die Hoffnung des Marxisten, im Innern des Werkes sich mit dem Blick des Soziologen umzutun, leer aus, die deduktive Aesthetik, die niemand dringlicher als der Marxismus zu fordern hätte, ist noch nicht geschaffen. Erst im Innern des Werkes selbst, da wo Wahrheitsgehalt und Sachgehalt sich durchdringen, ist die Kunst-Sphäre definitiv verlassen und an seiner Schwelle verschwinden auch alle aesthetischen Aporien, der Streit um Form und Inhalt u.s.w.

Der Aufbau des Schluß teils gruppiert sich um diese Thesen: 1) Es gibt ein Fortleben der Werke 2) Das Gesetz dieses Fortlebens ist die Schrumpfung 3) Im Fortleben der Werke geht ihr Kunstcharakter zurück 4) Die vollendete Kritik durchbricht den Raum der Aesthetik. 5) Technik der magischen Kritik

Einiges zur Volkskunst

Volkskunst und Kitsch müssen einmal als eine einzige große Bewegung angesehen werden, die hinter dem Rücken von dem, was man große Kunst nennt, bestimmte Inhalte wie Stafetten von Hand zu Hand gehen lassen. Sie sind zwar im einzelnen von der großen Kunst abhängig, wenden aber doch auch das Übernommene auf ihre Weise und wenden es ihrem Ziel, ihrem »Kunstwollen« zu.

Worauf dieses »Kunstwollen« geht? Nun, garnicht auf Kunst sondern auf viel primitivere, zwingendere Anliegen. Fragt man sich, was Kunst im neueren Sinne auf der einen, Volkskunst und Kitsch auf der andern Seite bedeuten, so lautet die Antwort: alle Volkskunst bezieht den Menschen in sich hinein: sie spricht ihn nur so an daß er erwidern muß. Und zwar erwidert er mit Fragen: »Wo? und wann war es?« In ihm taucht die Vorstellung auf, es müsse in seinem Dasein diesen selben Raum und Ort und diesen Augenblick und Sonnenstand schon einmal gegeben haben. Die Situation, die hier vergegenwärtigt wird, wie einen altgewohnten Mantel sich umzuschlagen – das ist die tiefste Verführung, die der Refrain des Volksliedes weckt, in dem ein Grundzug aller Volkskunst als Niederschlag im Werk faßbar wird.

Es ist nämlich nicht nur das Bild unseres Charakters so diskontinuierlich, so sehr Improvisation, daß wir uns jeder Suggestion des Graphologen, der Chiromantin und ähnlicher Praktiker gerne fügen – sondern die gleiche intensive Phantasie, die das Dunkel des Ich, des Charakters blitzartig aufhellt und für die Interpolation der überraschendsten dunkelsten oder hellsten Züge den Raum schafft, waltet auch unserm Schicksale gegenüber. Wenn wir ernst machen, dann stoßen wir in und auf die Überzeugung, unendlich viel mehr erlebt zu haben als worum wir wissen. Da ist das Gelesene, das wachend oder schlafend Geträumte und wer weiß wie und wo wir noch sonst uns Bezirke des Schicksals erschlossen.

Das ungewußt Erlebte klingt auf seine Weise an, wo wir uns in die Welt der Primitiven: ihre Möbel, ihre Ornamentik, ihre Lieder und Bilder fügen. Auf seine Weise – das heißt ganz anders als große Kunst uns betrifft. Nie werden wir die Versuchung, unsere Uhr zu ziehen und nach dem Sonnenstande auf dem Bilde vor uns sie zu richten, vor einem Gemälde von Tizian oder Monet verspüren. Aber bei Bildern in Kinderbüchern, bei Malereien von Utrillo, die in diesem Sinn durchaus die Primitive wieder einholen, kann uns das leicht geschehen. Das hieße, wir finden uns in die Situation hinein wie in eine gewohnte, vergleichen auch eigentlich weniger den Sonnenstand mit der Uhr als mittels der Uhr diesen und einen früheren. Das déjà vu wird vom pathologischen Ausnahmefall, den es im zivilisierten Leben darstellt, zu einer magischen Fähigkeit, in deren Dienst sich die Volkskunst (und nicht minder der Kitsch) stellt. Sie kann es, weil das déjà vu im tiefsten ja durchaus etwas anderes ist als die intellektuelle Erkenntnis: es sei die neue Situation die gleiche wie die alte. Näher würde schon kommen: im Grunde die alte. Aber auch das ist irrig. Denn die Situation wird überhaupt nicht als von einem Außenstehenden erlebt: sie hat sich uns übergestülpt, wir haben uns in sie gehüllt: wie immer man es auch faßt: es kommt auf die Urtatsache der Maske hinaus. So öffnet denn die Primitive mit allen ihren Geräten und Bildern uns ein unendliches Arsenal von Masken – Masken unseres Schicksals – mit denen wir aus unbewußt durchlebten, hier aber endlich wieder eingebrachten Momenten und Situationen herausstehen.

Nur der verarmte verödete Mensch kennt keine Art sich zu verwandeln als die Verstellung. Verstellung sucht das Arsenal der Masken in uns selber. Wir aber sind zumeist sehr arm daran. In Wahrheit ist die Welt voller Masken, wir ahnen nicht, in welchem Grade einst die unscheinbarsten Möbel (z. B. ein romanischer Sessel) es waren. In der Maske sieht der Mensch aus der Situation heraus und bildet in ihrem Innern seine Figuren. Diese Maske uns darzureichen und den Raum, die Figur unseres Schicksals in ihrem Innern zu bilden, das ist es, womit die Volkskunst uns entgegenkommt. Und nur von hier aus läßt sich deutlich und grundlegend sagen, was sie von der eigentlichen »Kunst« im engeren Sinn unterscheidet:

Die Kunst lehrt uns in die Dinge hineinsehen. Volkskunst und Kitsch erlauben uns, aus den Dingen heraus zu sehen.

Zu einer Beschreibung von Danzig

Das Merkwürdigste sind nicht die Giebel, sondern die Straßen selber(,) da wo sie noch alt sind. Nicht nur, daß sie den Unterschied von Bürgersteig und Fahrdamm natürlich nicht kennen. Was den ganz besonderen Zug in diese Straßen bringt und den Bürgerstolz ihrer alten Anwohner unvergleichlich zur Schau trägt, das sind die Gebilde aus Brücken und Treppen – winzige nordische Rialtos – die von der Straßenmitte die kleinen Gräben für Abwässer und Regenbäche überquerend – an die Schwelle der Haustüren führen. Ehemals schoben die Häuser mit kleinen Vorbauten sich diesen Brücken entgegen und was davon in Gestalt untersetzter schmaler Mauern stehen blieb, gibt durch seine (x) dem Betrachter heute noch Rätsel auf. Sie sind wie schöne steinerne Möbelteile, Füllungen aus steinernen Schränken, haben nicht(s) von der repräsentativen Fassade sondern kommen mit ihren zarten ornamentalen Rokokoreliefs wie aus dem Innersten der Danziger Stube heraus. Die Langgasse, der Langgarten: hier sind die alten Häuser zugut in Stand gehalten. Sie sind etwas zu lebhaft getüncht, man glaubt ihnen ihr Dasein im Raum um so weniger als sie ganz wie moderne Bauten fugenlos eins ans andere gesetzt sind, so daß die Straße pure Fassade bleibt. Durch die vielfach durchbrochenen Giebel sieht man wie durch Schlüssellöcher in den Himmel hinein. Ja diese alten und doch unzuverlässig wirkenden Häuser verhängen hier wie Vexierschlösser den Himmel.

Spezialitäten: Likörflaschen, gläserne und irdene in Form von Brücken. Auch sonst altertümliche Flaschen, zumal für Machandel. Nahe beim Hafen sah ich sogar ein lustiges buntes Blechmännchen als Aushängeschild einer Kneipe.

 

»Tausende, die hier liegen, sie wußten von keinem Homerus;/Selig sind sie gleichwohl, aber nicht eben wie du« – das hat Mörike einmal als Inschrift über das Grab eines Kaufmanns gesetzt. Ähnlich mag man sagen, daß Tausende und Hunderttausende die Traurigkeit des ausgehenden Jahres im Silvesterabend kennen, aber nicht so wie die, denen in der winterlichen Öde jener Stunden eine Erinnerung an Wärme lebt. Im übrigen gibt es wohl nichts auf der Welt, was gerade weil es den Menschen und seine wache Gefühlswelt selber kaum deutlich betrifft unmittelbar über die Natur selber eine so unnennbare Traurigkeit ausgießt, wie der Silvesterabend (nicht mehr die Nacht). Es ist, als wenn der Mensch von seinem gesegneten Tische die Neige der Zeit, um seinen Becher auszuschwenken, in Natur vergießt, die nun mit Zeit besprenkelt verraten und hilflos dasteht. Mit der Trauer der Schergen steht in diesen Stunden ihr der Mensch gegenüber, weist ihr das Fenster, in dem Weltabend sich spiegelt. Silvester ist dieses Fenster des Jahres, dieser entfernte Wiederschein und um seine unnennbare Trauer deutlich zu fassen ist es genug, in den Kalendern der kommenden Jahre das Auge auf dem letzten Datum ruhen zu lassen.


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