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Im Frühsommer – es war am dreizehnten Juni – hatten drei jüngere Leute im »Basar« im Tivoli zu Mittag gegessen. Sie hatten zwei Flaschen Bordeaux getrunken, waren also weder ganz nüchtern noch geradezu angeheitert, aber, wie der eine von ihnen, Niels Hessel, gemütlich sagte, als sie die Zigarren angezündet hatten: »Des Herzens Saiten sind gestimmt – wenn nun nur das Leben selber darauf spielen wollte, ehe die Stimmung wieder verfliegt!«

»Du bist lyrisch angehaucht, Niels!« sagte der zweite, Ingenieur Parbo. »Das, was du Stimmung nennst, ist ja nur eine gewisse angeregte Energie, nichts weiter!«

»Ach, die Lyrik wird bei ihm schon verfliegen, wenn er nun zum Herbst sein jütisches Majorat übernehmen muß«, bemerkte der dritte, Magister Erik Blom, bedächtig.

»So, also das glaubst du«, entgegnete Hessel. »Ich sollte meinen, ihr könntet dankbar sein, daß ich kein produzierender Lyriker bin, sondern mich damit begnüge, die Poesie im Leben, rings um mich her zu suchen.«

»Wo hast du denn gedacht, sie heute abend zu suchen?« fragte Blom.

»Laßt uns auf die Lange Linie hinausgehen und ein wenig frische Luft schöpfen«, beeilte sich Parbo zu erwidern, und damit war die Sache abgemacht.

Vor dem Tivoli fing Blom an: »Du bist wohl sehr stolz auf das Majorat, das dein Onkel dir hinterlassen hat?«

»Stolz? Nein, aber ich bin natürlich glücklich darüber. Ihr beide könnt euch doch nicht über das Leben beklagen, denn ihr habt ja bisher sowohl als wir zur Schule gingen wie auch später als Studenten, mehr gehabt als ich und habt tun und lassen können, was ihr wolltet.«

»Du mußt nicht glauben, daß ich im Ernst dächte, daß du irgend etwas vor uns voraus hättest«, sagte Parbo.

»Ja, wißt ihr, was ich vor euch voraus habe?«

»Nein, das weiß ich wirklich nicht.«

»Ich habe das vor euch voraus, daß ich noch daran glaube, daß ich eines schönen Tages das erleben werde – oder doch auf alle Fälle erleben kann, was man im täglichen Leben ›das Wunderbare‹ nennt.«

»Und was ist das, wenn ich fragen darf?«

»Ja, was ist das – das ist zum Beispiel, wenn man auf seinem Wege einem Weibe begegnet, das einem alles wird.«

»Ich möchte es mir doch sehr verbitten, so einem Weibe zu begegnen!« erklärte Parbo.

»Dann wirst du ihm auch gar nicht begegnen!« sagte Sessel. »Nein, nicht durch die belebten Straßen, laßt uns durch die Christiansburg gehen!«

Als sie durch das Schloß gekommen waren und unterhalb der Börsenrampe standen, machten sie einen Augenblick halt, während Parbo eine Zigarette anzündete, und Blom machte indes Hessel darauf aufmerksam, wie charakteristisch der historische sowohl wie der malerische Anblick war, der sich ihnen hier bot: die Holmenskirche mit dem ernsten, festungsartigen Unterbau der Kapelle, in der die Seehelden ruhen, der Kanal davor und die hübsche, üppige Baumgruppe auf dem Kirchhof zur Rechten.

»Ja, aber seht dort!« rief Hessel und packte Blom beim Arm. »Das Ganze ist ja doch nur ein Hintergrund für sie!«

Den Rücken ihnen zugewandt, stand auf der einen der Plattenreihen unten am Kanal eine junge Dame in heller Kleidung und mit einem großen, weißen Hut, der an der einen Seite mit Flieder und Goldregen aufgenommen war.

»Das ist vielleicht dein Weiberschicksal!« meinte Parbo.

»Ja, vielleicht.«

»So, jetzt geht sie!«

»Geht! Kannst du nicht sehen, daß sie schreitet, schwebt wie Sakuntala?«

»Ja, nun schwebt Sakuntala in eine elektrische Straßenbahn – schade, daß du nicht einmal ihr Gesicht gesehen hast! Hallo, Niels, wo willst du hin?«

Hessel ging zum Kanal hinunter, zeigte auf eine der Platten und sagte: »Hier hat sie gestanden!«

»Ja, das ist nun wohl ein historischer Stein für dich?« bemerkte Blom.

»Natürlich! Aber das ist es ja auch! Seht nur: da ist ein Kreuz in dem Steine – sie konnte selbstverständlich gar nicht auf einem gewöhnlichen Stein stehen.«

Parbo sah hinunter, und Blom beugte sich nieder – ja, es verhielt sich wirklich so: da war ein nicht tiefes, aber doch deutliches, einfaches Kreuz in die blaugraue Platte gehauen.

»Und da habt ihr noch die Stirn, zu behaupten, daß es keine Romantik oder Mystik mehr in der Welt gebe!« rief Hessel. »Ja, die Romantik sproßt sogar zwischen den Kopenhagener Pflastersteinen, es handelt sich nur darum, daß man ein Auge dafür hat – aber ihr habt ja auch nicht eine Spur von Phantasie!«

»Ich habe doch jedenfalls historische Phantasie?« wandte Blom ein.

»Ja, aber die reicht nicht immer aus! Denkt doch nur: hier, mitten in Kopenhagen, zu unsern Füßen, liegt eine offene Frage, von der bisher niemand gewußt hat, daß sie existiere, und die niemand von uns jemals beantworten kann!«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß, wenn ihr, du und Blom, euch noch so lange die Köpfe zerbrechen wolltet, doch keiner von euch jemals würde sagen können, woher der Stein gekommen ist, und was das Kreuz bedeutet!«

»Das könnten wir nicht sagen! – Das wäre doch stark!« riefen Parbo und Blom wie aus einem Munde.

Man redete weiter darüber, hin und her, langte am Königsneumarkt an und beschloß dann, die Lange Linie aufzugeben und sich dagegen vor dem Hotel d'Angleterre niederzulassen, wo man, an den Seiten durch Lorbeerbäume und Efeugitter verdeckt, Hessel in der Mitte, an einem der kleinen Tische Platz nahm.

Man bestellte Wermut und Apollinaris und setzte, immer eifriger werdend, die Diskussion über den Stein und das Kreuz fort.

Parbo war der Ansicht, daß es nur ein Steinhauerzeichen sei, Blom jedoch war überzeugt, daß die Platte ein Bruchstück von einem uralten Leichenstein sei. Allerdings pflegte die Kreuzesform auf den älteren romanischen Grabsteinen anders zu sein, während diese hier infolge ihrer großen Einfachheit eher an die Kreuze erinnern konnte, wie man sie auf den Runensteinen aus der christlichen Zeit fand; aber es könne ja auch schließlich ein Teil eines solchen sein, meinte er, oder wenn das Kreuz dennoch aus dem Mittelalter stammte, war es vielleicht von einer ungeübten Hand ausgehauen worden.

»Wie es mich amüsiert, euch zuzuhören!« sagte Hessel. »Vor allem, weil ich weiß, daß ihr doch nicht dahinterkommen könnt!«

Nun wurde Parbo aus lauter Eigensinn nur noch eifriger – es durfte nichts geben, was er nicht kannte –, Blom fühlte seine archäologische Ehre gekränkt, und beide waren sich darin einig, daß es – wenn man nur wollte – die leichteste Sache von der Welt sein müsse, zu ergründen, woher der Stein und das Kreuz stammten.

»Gut«, sagte Hessel. »Zu Ehren dessen von euch, der innerhalb eines Monats, von heute an gerechnet, die Frage in bezug des Steines gelöst hat, werde ich ein ausgesuchtes Diner veranstalten – echte Schildkröte und was sein Herz nur begehren mag –, und zur Verschönerung des Festes lade ich den andern von euch natürlich mit ein!«

»Es soll keinen Monat währen, bis du das Diner gibst!« sagte Parbo.

»Nein, das soll es nicht«, erklärte auch Blom.

»Seid nur nicht zu sicher! Ihr ahnt ja in diesem Augenblick gar nicht, wohin euch die Untersuchung führen kann, und ob ihr nicht dahin kommt, etwas ganz anderes zu entdecken als das, weswegen ihr auszogt!«

»Wieso?«

»Ja, der Faden, den ihr heute abend aufgenommen habt, kann euch doch ebensogut nach Bornholm wie nach Jütland führen, und gleich wie Kolumbus wohl von Spanien aussegelte, um im Dienste König Ferdinands des Katholischen den Seeweg nach Indien zu finden, statt dessen aber das Unglück hatte, Amerika zu entdecken, ebenso –«

»Na, ich danke, Niels! Aber du selbst – willst du nicht dein Glück versuchen?«

»Das ist nichts für mich! Nein, da wollte ich lieber sie suchen, meine Unbekannte, die Schöne, die vielleicht, ohne es zu wissen, dasitzt und auf mich wartet, wie ich auf sie warte, und die ich heute abend vielleicht zum erstenmal gesehen habe – ihr Wohl! – Ja, man soll seine Geliebte im Frühsommer suchen, wenn die Sonne im Zeichen des Flieders und des Goldregens steht – ich liebe den Flieder!«

»Wollen wir jetzt nicht nach Hause gehen?« fragte Parbo.

Es konnte wohl auch an der Zeit sein, und der Kellner sehnte sich offenbar danach, daß sie gingen, denn die einzigen, die sich außer ihnen an diesem schönen Sommerabend hier niedergelassen hatten – ein Herr und eine Dame, die neben ihnen, jenseits des Efeugitters, gesessen –, waren eben aufgebrochen.

So trennten sich denn die drei, nachdem sie noch verabredet hatten, sich am nächsten Abend auf der Langen Linie zu treffen, wohin man ja heute nicht mehr gekommen war.


Als Blom am nächsten Morgen aufwachte, dauerte es eine Weile, bis er sich entsinnen konnte, was sich eigentlich am gestrigen Abend vor dem Hotel d'Angleterre zugetragen hatte, und was verabredet worden war. Nach und nach wurde es ihm aber alles wieder klar, und obgleich er sehr wohl einsah, daß ein Teil seiner augenblicklichen Interessen ohne Zweifel der »Stimmung« zuzuschreiben sei, so war doch der Stein Wirklichkeit, und die Wette, oder wie man es nun nennen wollte, war ebenso Wirklichkeit. Deshalb ging er zuerst nach der Holmenskirche hinunter, um den Stein und die Kreuzform genauer zu untersuchen. Er fand auch die richtige Platte; aber was war das? Das Kreuz war ja weiß! Das war es am vorhergehenden Abend nicht gewesen, wenigstens meinte er bestimmt, daß es nicht der Fall gewesen sei!

Dann ging er ins Rathaus und in das Bureau für Pflasterarbeiten, um sich genauere Auskunft darüber zu erbitten, wann die betreffende Plattenreihe gelegt worden war. Vorläufig könne man nur sagen, daß die Plattenreihe wahrscheinlich in den fünfziger Jahren gelegt und bei dem letzten Bollwerkbau nicht umgelegt worden sei.

Am Abend fanden sich die drei auf der Langen Linie zusammen.

»Ja, ich bin im Bureau für Pflasterarbeiten gewesen«, begann Parbo.

»Da bist du gewesen?« rief Blom.

»Selbstverständlich! Und man sagte mir, was ich übrigens schon wußte, daß Kopenhagen seine Steinplatten in der Regel fertig behauen aus Schweden beziehe, daß man aber doch zuweilen auch inländische Steine gekauft und sie hier am Orte habe behauen lassen; deswegen kann also die Platte ein alter Grabstein sein. Was hast du denn getan, Blom?«

»Ja, ich bin natürlich auch im Bureau für Pflasterarbeiten gewesen, aber offenbar nach dir. Ich bin übrigens auch hingewesen, den Stein selbst zu untersuchen – sag mir doch: hast du gestern bemerkt, daß das Kreuz weiß war, Parbo?«

»Nein – gestern war es nicht weiß.«

»Ja, aber heute ist es wirklich weiß.«

Parbo lachte.

»Das wird vermutlich daher kommen, daß ich heute morgen in der Frühe an Ort und Stelle einen Gipsabguß von dem Kreuz gemacht habe.«

»Einen Gipsabguß?«

»Ja, um zu konstatieren, ob auch das Ausgehauene abgenutzt sei; wäre das nicht der Fall gewesen, so wäre ja das Kreuz wohl ganz neuen Datums. Ich kann dich aber beruhigen: es war abgenutzt! Aber du, Niels, was hast du denn unternommen?«

»Ich habe die Ergebnisse eurer interessanten Untersuchungen abgewartet.«

»Du hast ›sie‹, die auf dem Steine gestanden hat, nicht gefunden?«

»Nein!«

»Hast vielleicht gar nicht einmal nach ihr gesucht?«

»Nicht nach ihr selbst.«

»Etwa nach ihrem Schatten?«

»Nein, nach ihrem Hut! Hast du den beachtet?«

»Nein, das habe ich, weiß Gott, nicht getan.«

»Aber das habe ich getan, es war ein ziemlich auffallender weißer Hut mit Goldregen und Flieder garniert – und als ich heute mittag durch die Osterstraße gehe, sehe ich in einem Fenster einen ganz ähnlichen Hut.«

»Und dann kauftest du ihn, um eine Erinnerung und einen Anhaltspunkt zu haben?«

»Nein, das tat ich nicht, aber ich ging allerdings in den Laden und fragte, ob sie nicht ganz kürzlich einen ähnlichen Hut, wie diesen, verkauft hätten, und an wen. Ja, er sei an eine Dame von auswärts, die in einem Hotel wohnte, verkauft worden, und dahin sei er geschickt worden, sagte das Fräulein, aber was für ein Hotel es gewesen wäre, das mußte sie nicht, denn die Verkäuferin, die den Hut verkauft hätte, sei auf Besuch zu ihren Angehörigen nach Jütland gereist, wohin, wisse sie auch nicht.«

»Und dann?«

»Ja, weiter ist da nichts – wenigstens vorläufig nicht!«


»Du bist übrigens ein größerer Prophet, als du vermutlich selber ahnst«, sagte Parbo am folgenden Abend zu Hessel. »Du sprachst vorgestern davon, daß, wenn man irgend etwas begönne, man niemals wissen könne, wo man schließlich hinkomme – nun reist Blom morgen!«

»Wohin?«

»Vorläufig wohl nach Kjerteminde – aber das soll ein sehr tiefes Geheimnis sein.«

»Ist das des Steines wegen?«

»Ja, natürlich – lies selber!«

Parbo reichte Sessel eine Zeitung, und er las:

»Vandalismus.«

Im Gegensatz zu der Pietät, die heutzutage allen Altertumsdenkmälern erwiesen wird, mag als betrübendes Kuriosum angeführt werden, daß in den fünfziger Jahren aus der bekannten Stubberupper Kirche auf Hindsholm, die damals restauriert wurde, mehrere alte Grabsteine aus dem frühen Mittelalter verkauft wurden, und daß diese, wie sich jetzt herausgestellt hat, nach Kopenhagen geschafft worden sind, wo sie Verwendung als – Pflastersteine und Steinplatten gefunden haben!«

»Das ist doch ein sonderbares Zusammentreffen!« rief Hessel.

»Meinst du? Nun, so ganz wunderbar, wie sie erscheint, ist die Sache doch nicht. Siehst du, nachdem ich durch den Gipsabdruck die Möglichkeit des mittelalterlichen Ursprungs des Kreuzes festgestellt hatte, war ich mir ja sofort klar darüber, daß ich vor allen Dingen den Stein umwenden müsse.«

»Umwenden?«

»Ja, natürlich. Ist die Platte ein Stück von einem alten Grabstein, so ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach unten flach; zeigt es sich dagegen – was ich anzunehmen geneigt bin –, daß sie auf der Unterseite nur roh behauen ist, so ist das Kreuz nur ein Steinhauerzeichen, und dann müssen wir uns an die Steinmetzen und Pflasterarbeiter halten.«

»Das ist gewiß sehr sinnreich,« sagte Hessel, »aber was hat das im Grunde mit Blom und mit der Zeitungsnotiz zu schaffen?«

»Gar nicht so ganz wenig! Um den Stein wenden zu können, muß ich die Erlaubnis der Obrigkeit haben, und Leute brauche ich auch dazu. Zu alledem ist Zeit nötig, und ich will doch nicht, daß Blom darüber kommt und sich meine Untersuchungen zunutze macht. Deshalb muß ich ihn aus der Stadt hinausexpedieren.«

»Ja, aber wie –«

»Mein Gott, die schöne Notiz über den Vandalismus stammt doch natürlich von mir: ich habe sie in die Zeitung gebracht, die, wie ich weiß, unser beiderseitiger Freund bei seinem Morgenkaffee liest – ich wußte ja, daß sie wirken würde.«

»Das ist aber nicht fair play, Parbo!«

»Ach, Unsinn! Es ist nur ein Scherz, und wir spielen ja nicht um Geld! Übrigens kann ich dich damit trösten, daß das Gewissen des guten Blom durchaus nicht zarter besaitet ist als das meine: dies erhielt ich heute nachmittag von ihm – bitte schön!«

Parbo reichte Hessel einen Brief, und darin stand nur:

»Ich muß morgen infolge eines Auftrags vom Nationalmuseum nach Vordingborg fahren, um einen kürzlich dort in der Gegend gefundenen Burgwall zu untersuchen. Grüße Hessel!«

»Aber so reist er doch nicht nach –«

»Freilich tut er das! Aber ich soll natürlich nicht wissen, daß er nach Kjerteminde fährt!«

Hessel lachte.

»Ihr verdient beide nicht, auf die Spur zu kommen – keiner von euch beiden –, und ihr werdet's auch nicht!«

»Nicht?«

»Nein! Ob ihr freilich nicht etwas ganz anderes entdecken werdet, das kann ich nicht sagen, aber ich habe ein bestimmtes Gefühl, daß, während ich hier ganz ruhig in meiner Residenz sitzen bleibe, wie der hochselige König Ferdinand der Katholische, ihr in meinem Namen von der Neuen Welt Besitz ergreifen werdet – falls ihr sie überhaupt findet!«

»Und die Neue Welt – ist das deine Unbekannte?«

»Ja, möglicherweise! Du hast auf alle Falle Vollmacht, als mein Stellvertreter um sie zu werben!«

»Vielen Dank! Vorläufig glaube ich nun aber doch, daß ich mich darauf beschränken werde, den Stein wenden zu lassen. Stellt es sich dann heraus, was wahrscheinlich ist, daß er unterwärts unbehauen ist, so will ich Blom gern zurückberufen – falls er nicht schon vorher von selbst gekommen sein sollte. Adieu, Niels!«


Parbo behielt recht: Blom reiste am nächsten Morgen nicht nach Vordingborg, sondern benutzte den durchgehenden Vormittagszug nach Fünen und Jütland. Der Sicherheit halber hatte sich Parbo auf dem Bahnhof eingestellt und sich, selbst ungesehen, überzeugt, daß Blom in einem Abteil zweiter Klasse Platz nahm und glücklich abdampfte, worauf sich Parbo beruhigt nach Hause begab.

Auf der Fähre über den Großen Belt ging Blom sofort in die Kajüte hinunter und setzte sich an den Frühstückstisch – er hatte immer einen ausgezeichneten Appetit.

Da waren nicht viele Reisende: an der einen Seite hatte er ein jungvermähltes Paar, an der anderen einige Geschäftsreisende, und ihm gegenüber saß ein etwas älterer Herr und ein junges Mädchen, das war die ganze Gesellschaft. Man fing damit an, sich gegenseitig um Verzeihung zu bitten, wenn man den Nachbarn oder das vis-à-vis bat, einem eine Schüssel zu reichen, und gelangte schließlich dahin, daß man einige gleichgültige Bemerkungen austauschte; als aber der gegenübersitzende Herr in seiner Unterhaltung mit der jungen Dame zufällig Kjerteminde nannte, konnte sich Blom nicht länger halten, sondern fragte ihn, wie man wohl am besten von Kjerteminde nach Stubberup komme. Der Fremde erteilte ihm zuvorkommend Bescheid und fragte ihn dann, ob er dort in der Gegend eine Sommerwohnung suche, denn in dem Falle könne er ihm möglicherweise behilflich sein.

Nun, eine Sommerwohnung suchte Blom ja nicht, er sei auf einer wissenschaftlichen Reise, sagte er, indem er Aufklärung über einige offenbar aus der Stubberuper Kirche verkaufte Grabsteine suchen wolle, von denen man annehme, daß sie als Straßenpflaster in Kopenhagen gestrandet seien.

Das junge Mädchen hatte sofort, als Blom zu sprechen begann, zu ihm hinübergesehen, als wenn ihr seine Stimme bekannt vorkomme, und nun richtete sie, in hohem Maße interessiert, ihre braunen Augen auf ihn, und ein ganz leises Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie sagte: »Aber dann wäre es doch sehr möglich, daß die Platte vor der Holmenskirche mit dem Kreuz darauf daher stammte!«

Blom legte Messer und Gabel hin und sah erstaunt auf.

»Welcher Stein, mein Kind?« fragte der Herr, indem er sich zu ihr hinüberbeugte – er war offenbar etwas schwerhörig. »Bist du bei der Holmenskirche gewesen?«

»Ja, ich kam eines Vormittags dort vorüber, als ich draußen in Christianshafen bei der Tante gewesen war«, antwortete das junge Mädchen und gab einen kurzen Bericht über den Stein. Der fremde Herr glaubte Blom jetzt übrigens versichern zu können, daß das mit dem Stein aus der Stubberuper Kirche ganz bestimmt auf einem Irrtum beruhen müsse.

»Die Kirche ist zu jener Zeit überhaupt nicht repariert worden,« sagte er, »und es fehlte auch gerade noch, daß man Marsk Stigs Marschall Stig Andersen Hvide, allgemein unter dem Namen Marsk Stig bekannt, tötete 1286 den dänischen König Erik Glipping und lebte dann als Geächteter, bis er 1293 auf der kleinen Insel Hjelm im Kattegatt starb. Wo er begraben liegt, weiß man nicht, die Volkssage aber verlegt sein Grab bald in die Stubberuper Kirche auf Fünen, bald in die Rörviger Kirche auf Nordseeland. Grabstein zu Steinplatten verkauft haben sollte.«

»Marsk Stigs?« wiederholte Blom.

»Ja, Sie wissen doch, daß man erzählt, der Marschall liege in der Stubberuper Kirche, begraben.«

Ja, das wußte Blom, und obwohl er eigentlich der Sage bisher keine weitere Bedeutung beigelegt hatte, lief es ihm doch den Rücken kalt hinab bei dem Gedanken an die bloße Möglichkeit.

»Nein, auf Fünen,« fuhr der Herr mit einem Lächeln fort, »da haben wir auch immer viel zu viel Pietätsgefühl gehabt, als daß wir so etwas hätten fertig bringen können, aber leider ist es ja nicht ausgeschlossen, daß man anderswo –«

»Ja, weißt du wohl noch, daß der alte Fischer, mit dem wir in Rörvig fuhren – der, der im vorigen Jahre gestorben ist –, uns erzählte, daß vor vielen Jahren eine Anzahl von Grabsteinen aus der Kirche dort verkauft worden wären?« fragte das junge Mädchen.

Nein, dessen konnte sich der Herr nicht entsinnen, aber es war ja sehr wohl möglich, daß er es überhört hatte.

»Rörvig,« sagte Blom, »darf ich mir die Frage erlauben, ob das gnädige Fräulein in Rörvig genauer bekannt ist?«

»Ja, wir haben seit einer Reihe von Jahren immer im Frühsommer einen Monat dort gewohnt.«

»Rörvig, Rörvig«, wiederholte Blom.

»Ja, dort soll ja Marsk Stig nach einer anderen Sage begraben liegen,« fuhr das junge Mädchen fort, »und ich habe nun immer gefunden, daß das wahrscheinlicher sei, denn einesteils muß es doch beträchtlich näher von Hjelm nach Rörvig sein als von Hjelm nach Stubberup, und andererseits ist doch Rörvig ein viel einsamerer Ort.

Das leuchtete Blom ein.

»Und wenn die Leute des Marschalls in aller Heimlichkeit einen Stein über das Grab ihres geächteten Herrn gelegt haben, so haben sie natürlich keinen Namen und keine Inschrift da hineingehauen, wodurch seine Ruhestätte hätte erraten werden können, sondern sie haben sich wahrscheinlich darauf beschränkt, nur ein Kreuz in den Stein zu meißeln.«

»Das ist ganz richtig«, sagte Blom.

»Ja, ich verstehe natürlich nichts davon,« fuhr das junge Mädchen fort, »aber es will mir auch scheinen, als ob die Form des Kreuzes auf der Platte vor der Holmenskirche etwas abwiche von der, die man auf allen romanischen Leichensteinen zu treffen pflegt – sie erinnert wohl eigentlich mehr an die Kreuze auf den Runensteinen aus der christlichen Zeit; stammt es indessen aus dem Mittelalter, so kann es wohl nur von einer ganz ungeübten Hand ausgehauen worden sein, und will man sich nun die Möglichkeit denken, daß die Platte aus der Rörviger Kirche stammt – es ist ja doch nicht absolut ausgeschlossen –, spricht dann nicht etwas dafür, daß es wenigstens der Stein des Marschalls sein könnte?«

Blom war ganz starr vor Staunen und Verwunderung. Es erschlossen sich ihm ganz neue und ungeahnte Möglichkeiten, und die Schlußfolgerungen der jungen Dame stimmten ja obendrein aufs genaueste mit dem überein, was er selbst an jenem Abend vor dem Hotel d'Angleterre gemutmaßt hatte.

Man war jetzt kurz vor Nyborg, der Kellner machte die Runde um den Tisch und nahm die Zahlung entgegen, und Blom erkundigte sich, wann die nächste Fähre nach Korsör zurückgehe.


Am Morgen nach Bloms Abreise erhielt Parbo eine Postkarte, auf der geschrieben stand:

»Nachdem Ihr archäologischer Freund falschen Stand vor Stubberup genommen hatte, ist er jetzt im Begriff, auf Rörvig anzuziehen, wo er – nach zuvor eingezogener Erkundigung – nachweisen zu können hofft, daß die Platte mit dem Kreuz ein Bruchstück von Marsk Stigs Grabstein ist.«

Parbo wollte seinen Augen nicht trauen. Von einer bloßen Mystifikation könne ja nicht gut die Rede sein – am allerwenigsten von Bloms Seite, da ja Blom von der Annahme ausgehen mußte, daß Parbo ihn in der Vordingborger Gegend glaubte –, was aber hatte Blom bewogen, Stubberup aufzugeben und sich für Rörvig zu entscheiden, wer schickte ihm Nachricht hierüber, und woher wußte der Unbekannte überhaupt von seiner Existenz?

Parbo sah nach dem Poststempel: Nyborg. Er betrachtete die Schrift: eine feste und klare Hand, offenbar eine Damenhand, aber welcher Dame?

Plötzlich stand eine Erinnerung, der er bisher keinen weiteren Gedanken geschenkt hatte, vor ihm auf – ja, das war die einzige Erklärung!

Er ging spornstreichs zu Hessel und begann damit, ihn zu fragen, ob er etwas von Blom gehört habe.

Nein, er hatte nichts gehört.

»Was ist falschen Stand haben?« fragte er weiter.

»Wie kommst du darauf? – Ein Hund hat falschen Stand, wenn er an solchen Orten sucht, wo kein Wild ist.«

»Gut! Und daß er anzieht – was bedeutet das?« »Das heißt, daß er im Begriff ist, Fährte von etwas zu haben. Aber willst du denn auf die Jagd, Mensch?«

»Nein, aber mich hat jemand nach den beiden Ausdrücken gefragt, übrigens verreise ich morgen.«

»Du! Willst du auch nach Stubberup?«

»Nein, das gerade nicht, aber vorläufig kann ich dir nicht sagen, wohin ich gehe.«

»Weißt du, was ich glaube, Parbo? Ich glaube, du triffst schließlich doch irgendwo mit Blom zusammen!«

»Ja, das will ich nicht verschwören!«

»Und dabei habe ich die ganze Zeit ein Gefühl, als reistet ihr beide in einer heimlichen Mission für mich!«

»Das ist ja Unsinn!«

»Ja, das ist es gewissermaßen auch. Wann kommst du wieder?«

»In ein paar Tagen, denke ich. Auf Wiedersehen, Niels!«

Was Parbo eingeleuchtet, und was ihm gewissermaßen als Ausgangspunkt gedient hatte, war der Umstand, daß er sich ganz deutlich entsann, daß an jenem Abend vor dem Hotel d'Angleterre neben ihnen ein einzelnes Paar gesessen hatte: er hatte die Leute eigentlich gar nicht angesehen, aber als sie sich erhoben, hatte er – der am weitesten vorn saß – doch bemerkt, daß es ein Herr und eine Dame war, und daß sie in das Hotel hineingingen: folglich hatten sie damals aller Wahrscheinlichkeit nach dort gewohnt.

Die einzig mögliche Erklärung der Postkarte war also, daß das unbekannte Paar ihre Unterhaltung über den Stein mit dem Kreuz angehört hatte, später mußte das Paar unterwegs mit Blom zusammengetroffen sein, der vermutlich über den Zweck seiner Reise geredet hatte, und dann hatte sich eins von ihnen – die Frau oder die Tochter, denn eine Damenhand war es – einen Jux daraus gemacht, ihm – als einem der drei Verschworenen – mitzuteilen, daß Blom aus irgendeinem Grunde seinen ursprünglichen Plan aufgegeben habe und nach Rörvig gefahren sei. Warum sie gerade an ihn geschrieben hatte und nicht an Hessel, und woher sie ihn überhaupt kannte, war ihm anfänglich nicht klar, als er aber die Postkarte genauer betrachtete, gelang es ihm doch, eine Erklärung zu finden. »Herrn Parbo« stand da als Adresse, nicht mehr und nicht weniger: sie hatte natürlich im Laufe der Unterhaltung nur seinen Nachnamen und nur Hessels Vornamen gehört, so daß sie zur Genüge entschuldigt war, wenn sie nicht auch an Niels geschrieben hatte!

Es ist also, folgerte er, eine Dame, die sich gerade, um für einen Herrn gehalten zu werden, dieser ganz maskulinen Jagdausdrücke bedient; aber Jagdausdrücke korrekt und fließend anwenden kann nur eine Dame, die mit einem Forstmann oder einem Gutsbesitzer verheiratet oder auch die Tochter eines solchen ist. Ja, dann muß man wohl einmal ins Angleterre!

Einer von den Kellnern bekam ein Zweikronenstück, und dann bekam Parbo die Erlaubnis, in der Fremdenliste nachzusehen, wer am dreizehnten im Hotel gewohnt hatte. Es waren fast nur Ausländer oder einheimische Direktoren und Etatsräte; Forstleute waren gar nicht dabei, und das einzige, was nach einem Grundbesitzer schmeckte, war ein Jägermeister mit Frau Gemahlin; da dieser aber aus Langeland war, konnte man nicht gut annehmen, daß er am sechzehnten mit Blom in der Richtung nach Nyborg gereist sei. Dann war da ferner ein Rittmeister Kragskjold – Offiziere sind oft eifrige Jäger –, der Nummer achtundvierzig und neunundvierzig bewohnt hatte; zwei Zimmer, das konnte darauf hindeuten, daß er mit Frau oder Tochter gereist war, aber bei seinem Namen stand merkwürdigerweise und gegen alles Recht und Gesetz kein Heimatsort, und der Portier wußte nichts über ihn, wußte nur, daß er abgereist sei.

Mit Hilfe des nützlichen Buches, des Staatskalenders, erfuhr Parbo jedoch, daß der Rittmeister a. D. Kragskjold ein Gut in der Gegend von Kjerteminde hatte – der war es also! Aber war die Briefschreiberin nun seine Frau oder seine Tochter? Der Name Kragskjold hatte ja einen aristokratischen Klang, und Parbo begab sich deshalb in den Lesesaal der königlichen Bibliothek und sah im Adelskalender nach, und aus diesem ging hervor, daß der Rittmeister 1848 geboren, daß er Witwer war und eine einzige Tochter, Inge, hatte.

Wäre Parbo nun seiner Neigung gefolgt, so hätte er sich sofort nach Fünen hinüberbegeben und hätte sich Fräulein Inge ungefähr mit folgenden Worten vorgestellt: Gnädiges Fräulein! Ich bin ganz überrascht, ein junges Mädchen zu finden, das im Besitz von fast ebensoviel Scharfsinn und Kombinationsgabe ist, wie ich selber, und deswegen interessiert es mich in hohem Maße, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen – aber er sah doch ein, daß das in einem zivilisierten Lande nicht anginge, und deswegen begnügte er sich damit, noch an demselben Abend einen Brief – natürlich keine Postkarte – folgenden Inhalts zu schreiben:

»Hochgeehrtes Fräulein Inge Kragskjold!

Haben Sie vielen Dank für die Mitteilung bezüglich meines Freundes Erik Blom. Ich reise jetzt zu ihm nach Rörvig.

Ihr sehr ergebener
Otto Parbo.«

Und zwei Tage darauf – eher war es ihm nicht möglich – reiste er wirklich nach Rörvig, teils, weil es ihm natürlich Spaß machte, Blom zu überraschen, teils aber auch, weil er eine unbestimmte Ahnung hatte, daß der Weg zu dem klugen Mädchen – trotz allem – vielleicht doch über Rörvig und Blom führen könnte, der ja jedenfalls das vor ihm voraus hatte, daß er Fräulein Inge gesehen hatte.


Zur Mittagszeit langte Parbo in Rörvig an, kehrte im Kruge ein und fragte nach Blom. Ja, der Herr war gestern gekommen, war gleich umhergegangen und hatte alle Welt ausgefragt, ob nicht seinerzeit alte Grabsteine aus der Kirche verkauft worden seien, aber niemand hätte etwas davon gewußt, und nun hätte er sich vorhin vom Schulmeister den Schlüssel zur Kirche geben lassen und sei gewiß dort oben.

Parbo ging auch da hinauf, hinauf zu der einsamen Kirche, die dort liegt, wo einstmals das Dorf gelegen hatte, ehe der Flugsand kam und Felder und Höfe bedeckte. Die Tür zu dem Waffenhause stand offen und er ging hinein.

Blom stand oben auf dem Chor und starrte vor sich nieder, offenbar ganz ins Mittelalter versunken, aber wenn er in diesem Augenblick die Knappen Marskens mit dem Sarg ihres Herrn auf der Schulter durch die Kirche hätte kommen sehen, so würde er kaum erstaunter gewesen sein als in dem Augenblick, wo Parbo mit irritierender Ruhe sagte: »Guten Tag, Blom! Du bist also nicht in Vordingborg?«

Es dauerte eine ganze Weile, bis Blom erwidern konnte: »Nein, ich bin statt dessen hierher gegangen.«

»Es war aber doch eigentlich ein Umweg, über Nyborg hierher zu fahren!«

»Ja, das war es im Grunde auch.«

»Hast du irgendwelche Aufklärungen über den Stein des Marschalls erhalten?«

»Das weißt du also auch!« rief Blom ganz vernichtet.

»Ja, natürlich – ich weiß alles! Und du hattest angenehme Reisegesellschaft: Fräulein Inge und ihren Vater!«

»Wen?«

»Rittmeister Kragskjold und Tochter.«

»Waren das die?«

»Ah, du kennst nicht einmal ihren Namen!«

»Ja, ich habe ihn im Kruge gehört – sie kommen ja morgen!«

»Kommen sie hierher – morgen?«

»Ja, sie kommen hierher. Und es ist mir sehr angenehm, zu hören, daß es die Herrschaften sind, die ich getroffen habe, denn das junge Fräulein hat mich im Grunde veranlaßt, hierherzugehen. Sie muß sehr intelligent sein: denk dir, sie hatte dieselbe Auffassung von der Kreuzform in dem Stein, die ich neulich Abend gleich äußerte!«

»Nein, wirklich?«

»Ja, und es ist doch schon an und für sich merkwürdig, daß ein junges Mädchen vom Lande, die nur in Kopenhagen zu Besuch ist, sofort die Platte bemerkt hat!«

»Hat sie sie denn selbst gesehen?« rief Parbo verwundert.

»Ja. natürlich!«

»Das ist doch sonderbar!«

Nach einer Weile verließen sie zusammen die Kirche und aßen im Krug zu Mittag.


Rittmeister Kragskjold und seine Tochter kamen am nächsten Tage und fuhren direkt nach dem Hochsande, wo sie schon eine Reihe von Jahren zu wohnen pflegten, ursprünglich, weil die verstorbene Frau des Rittmeisters der Luftveränderung bedurft hatte, später, weil die Gegend für ihn so viele, liebe Erinnerungen hatte und infolge ihrer milden Wehmut und großen Eigentümlichkeit in so innigem Einklang mit seiner Natur stand.

Der Rittmeister hatte vor ungefähr zehn Jahren seinen Abschied genommen und sich auf sein väterliches Gut zurückgezogen, teils wegen seiner wenn auch nicht starken Schwerhörigkeit, teils weil er seit dem Tode seiner Frau den Gedanken nicht ertragen konnte, beständig in den gewohnten Umgebungen in seiner Garnisonstadt zu leben. Er gehörte nämlich zu den wenigen Auserwählten, die ihr Leben in einer großen Liebe gelebt haben, die ihn ganz ausgefüllt hatte, und als er allein geblieben war, hatten viele gemeint, er würde jetzt zusammenbrechen. Aber gerade Kraft der Summe von Glück, die ihm zuerteilt worden war und die, wie er selber fühlte, unverdient gewesen war, brach er nicht zusammen, sondern zehrte von der Vergangenheit und lebte von ihren Zinsen, ohne das Kapital angreifen zu müssen. Er war dankbar für das Zusammenleben, das ihm beschieden gewesen war und dankbar dafür, daß er und nicht sie zurückgeblieben war, und wenn das Gefühl des Verlustes zuweilen über ihn dahin zu brausen drohte wie die Sturzsee über den Meeresstrand, so fand er doch immer wieder Ruhe in dem Gedanken, eine wie unendlich geringe Spanne Zeit auch eine lange Reihe von Jahren der Trennung gegen ein Zusammenleben in der Ewigkeit ist. Er trug das Gepräge eines Mannes, der ein seltenes Glück genossen und einen großen Schmerz erlitten hat, aber Fremde sahen eigentlich nur eine gewisse stille Freude, die über ihm lag, und wenn er von seiner Frau sprach, hatten sie unwillkürlich das Gefühl, daß er sie wie eine Lebende, fast wie eine Anwesende betrachte.

Die Tochter Inge war ihm ursprünglich, als er Witwer wurde, eine Pflicht gewesen, später wurde sie ihm eine Aufgabe, schließlich war sie der Gegenstand all der Liebe geworden, die er noch übrig hatte.

Inge wuchs indes als frisches, kerngesundes Mädchen heran, das aber sein verschlossenes Jungfrauenkämmerlein voll geheimer Gedanken und dunklen Sehnens hatte, zu dem nur sie selber den Schlüssel hatte. Sie war glücklich, wenn sie zu Hause war, ritt mit dem Vater und ging mit ihm auf die Jagd, sie war mit Rörvig verwachsen und amüsierte sich königlich bei den alljährlichen Besuchen in Kopenhagen.

An jenem Abend vor dem Hotel d'Angleterre, wo sie in der Tat mit ihrem Vater gesessen hatte, hatte sie so viel von der Unterhaltung über den Stein mit dem Kreuz aufgefangen, daß sie sich in hohem Grade dafür interessierte; sie würde aber trotzdem die kleine Episode vielleicht schnell vergessen haben, wenn sie nicht drei Tage später Blom auf der Fähre getroffen hätte und so zum zweitenmal in die Frage hineingerissen worden wäre. Sie widerstand alsdann der Versuchung nicht, Blom seine Gelehrsamkeit zurückzugeben, und als sie die Wirkung gesehen hatte, die der bloße Gedanke an Marsk Stigs Stein auf ihn machte, kam sie in ihrer lustigen Mädchenlaune auf den Einfall, den Versuch zu machen, diesen gelehrten Mann nach Rörvig zu schicken, wohin sie selber ja nach einem kurzen notwendigen Aufenthalt zu Hause kommen sollte. Und wie der eine Schritt immer den anderen nach sich zieht, so hatte sie, als sie hörte, daß sich Blom wirklich für Rörvig entschied, den ausgelassenen Einfall, zu versuchen, auch den anderen der beiden dahin zu dirigieren; daß es gerade Parbo wurde, hatte, wie sein Scharfsinn das ja auch schon herausgefunden hatte, seinen Grund allein in dem Umstande, daß sein Name der einzige war, den sie gehört hatte, und der Name war ja so selten, daß sie hoffen konnte, eine Postkarte mit »Herrn Parbo« und nichts weiter darauf werde den Richtigen schon erreichen. Wenn aber Parbo erstaunt gewesen war, als er ihre Karte erhalten hatte, so war sie es in noch höherem Maße bei dem Empfang seines Briefes, und vor allem war sie nun sehr gespannt, wie so ein moderner Zauberer wohl aussehen könne, und wie eine Begegnung zwischen ihnen wohl verlaufen würde.


Es ging aber alles ganz natürlich zu, sehr viel natürlicher, als sie und Parbo gedacht hatten.

Früh am Abend ging er mit Blom in der Richtung auf den Hochsand zu, und in dem Garten vor einem kleinen, strohgedeckten Hause stand der Rittmeister mit seiner Tochter.

Blom grüßte und sein Gruß wurde freundlich erwidert, man stellte sich gegenseitig vor, Blom stellte Parbo vor und dann machte man gemeinsam einen Spaziergang nach Norden zu. Der Rittmeister wollte gern den Führer hier in der Gegend machen, und er und Blom gingen voran, Parbo und Fräulein Inge hinterdrein. Als er und sie eine Weile nebeneinander hergegangen und sozusagen gegenseitig Maß voneinander genommen hatten, während sie einige gleichgültige Bemerkungen wechselten, sagte Fräulein Inge plötzlich, ruhig und ladylike, aber lächelnd: »Können Sie hexen, Herr Ingenieur Parbo? Wie in aller Welt haben Sie es fertig gebracht, mein Inkognito zu entschleiern?«

Er erklärte ihr, wie einfach das Ganze in Wirklichkeit zugegangen war, und sie folgte seiner Erzählung aufmerksam, sehr aufmerksam. Er machte ihr ein Kompliment über ihr resolutes Eingreifen in den Gang der Begebenheiten, und sie äußerte eine Art von Entschuldigung, daß sie ihrer Eingebung gefolgt sei.

»Aber daß Sie das Kreuz wirklich auch selbst entdeckt haben!« sagte Parbo.

Fräulein Inge lächelte. »Ich habe den Stein gar nicht gesehen,« entgegnete sie, »da aber Herr Blom sofort voraussetzte, daß ich es getan hätte, so wollte ich ihn nicht aus seinen Illusionen reißen!«

Parbo lachte laut auf. »Nein, natürlich – und er soll auch in dem Glauben erhalten bleiben!«

»Waren Sie übrigens an jenem Abend nicht zu dritt?« fragte Inge. »Soweit ich es den Stimmen nach beurteilen konnte – war es nicht so?«

»Ja, wir waren zu dritt«, sagte Parbo; und dann gingen sie nach dem Schanzenhag hinaus, einer kleinen Landzunge, die spärlich mit Gras und büschligem Strandhafer bewachsen, sich nach Osten zu in den Fjord hinausbiegt und ihren Namen von einer noch leicht erkennbaren Schanze aus dem Kriege gegen die Engländer zu Anfang des vorigen Jahrhunderts hat.

Blom machte die Bemerkung, daß es der ganzen Lage und den sämtlichen lokalen Verhältnissen nach wohl wahrscheinlicher wäre, die Stätte für das Isöremarked des Mittelalters hier als sonstwo zu suchen; der Rittmeister griff den Gedanken auf und das Isöremarked blieb der Gegenstand von seiner und Bloms Unterhaltung fast auf dem ganzen Wege bis zu der nördlichsten Spitze, Kreuzhag, wo die geheimen Fahrwasserzeichen der Marine – drei wunderlich geformte Holzkreuze – in dem weißen Sande stehen.

Parbo und Fräulein Inge gingen beständig nebeneinander. Es war eine stillschweigende Voraussetzung zwischen ihnen, daß weder der Rittmeister noch Blom etwas davon wissen dürften, was Parbo hierhergeführt hatte, und die Tatsache, daß sie auf diese Weise ein Geheimnis miteinander hatten, rief unwillkürlich eine Art Vertraulichkeit wach und bewirkte, daß ihre Unterhaltung so frei und ungezwungen war, als hätten sie sich lange gekannt.

Erst als es dunkelte, langte man wieder in Rörvig an und trennte sich vor dem Hause am Hochsande.

»Er ist ein ungewöhnlich angenehmer und interessanter junger Mann«, sagte der Rittmeister später zu seiner Tochter und meinte natürlich Blom.

»Ja, sehr interessant«, entgegnete sie – und dachte an Parbo.


Fast den ganzen folgenden Tag war Parbo mit Rittmeisters zusammen – Blom schloß sich ihnen erst gegen abend an –, und er war lebhaft und aufmerksam, unterhaltend und anregend. Er erzählte von seinen Reisen und seinen Arbeiten, von Erfindungen und Fortschritten, und immer wandte er sich an Fräulein Inge, auch wenn seine Worte eigentlich an den Rittmeister gerichtet waren.

Sie lauschte ganz hingerissen seinen Worten; er brachte ihr etwas Neues, einen Hauch von da draußen, aus der großen, rastlosen Welt, wo gearbeitet und gekämpft, gewonnen und verloren wurde, und so klar über ihre Hingerissenheit war sie sich, daß sie sich einen Augenblick fragen mußte, ob nicht das gleichsam gesteigerte Lebensgefühl, das sie jetzt durchdrang, mit dem verwandt sei, das einstmals ihren Vater und ihre Mutter aneinandergeknüpft hatte. Am Abend gingen sie alle vier nach dem Hochsand hinaus.

Ursprünglich eine Dünenreihe, die in weißen Sandwehen vom Kattegatt her an den Strand getrieben worden war, liegt der Hochsand jetzt in unregelmäßigen Biegungen wie eine gestrandete Riesenschlange, erstarrt und zusammengesunken da, im Laufe der Zeit vom Fuß bis zum Gipfel bewachsen. Kiefern, im Wachstum gehemmt und mit gekrümmten Stämmen wie in einem Zauberwalde, heben hier ihre flachen Pinienkronen über niedrigem Gestrüpp von Haselbüschen und Erlen, aber hier und da, wo in einer Einbuchtung Schutz ist, sind die Abhänge oft üppig überwuchert: Geißblatt, Farnkräuter und wilde Rosen wachsen da in seltener Fülle, man fühlt sich wie in einer Oase, aber nur bis man wieder auf dem Höhenrücken steht und von dort aus den vom Winde zerrissenen, durchlöcherten Heidekrautteppich zu seinen Füßen sieht, und im Westen die Rörviger Kirche, die einsame Rörviger Kirche, die wie eine Sphinx in der Wüste aufragt.

Ungefähr in der Mitte des Hochsandes öffnet sich, wenn man von Rörvig kommt, plötzlich eine Aussicht, die auf den, der zum erstenmal hier ist, ganz überraschend wirkt und wirken muß. Am Ende des Hochsandes im Norden ruht tief unten in der Ferne der fast kreisrunde, märchenhaft stille Tiefe See, von Binsen und Röhricht umrahmt, und nur durch einen ganz schmalen Streifen Landes von ihm getrennt, liegt das Kattegatt, das große Meer selbst, der Vater des Fjordes, das Meer, an dessen Horizont kein Land auftaucht.

Die Sonne war eben im Begriff, zur Rüste zu gehen, und die roten Kiefernstämme glühten, als sie an den Aussichtspunkt kamen – der Rittmeister hatte sich schon lange darauf gefreut, ihn den beiden Fremden zu zeigen – und unwillkürlich war man auch ganz bezaubert stehen geblieben und verstummt, ergriffen von der Hoheit des Sonnenuntergangs und dieser eigentümlichen Landschaft. Aber im nächsten Augenblick sprach Parbo weiter, interessant und selbst interessiert, als berühre ihn das Schauspiel wenig.

Für Fräulein Inge aber war in diesem Augenblick der Klang seiner Stimme – er sprach wie immer laut – fast eine Entweihung des Ortes und der Stimmung, eine Versündigung an den geheimnisvollen Mächten der Stille selber, und in demselben Augenblick klangen einzelne Sätze, in ihren Ohren wider, losgerissene Bruchstücke aus dem Gespräch, das sie an jenem Abend belauscht hatte, und mit besonders festlichem Klang ertönten ihr die Worte: »Wenn die Sonne im Zeichen des Goldregens und des Flieders steht.«

Aber das hatte nicht er, der jetzt redete, gesagt und auch nicht der andere – das fühlte sie –, es mußte der dritte gewesen sein, der jetzt nicht da war.

»Das gnädige Fräulein scheinen ganz weg zu sein, in einer anderen Welt«, sagte Parbo plötzlich. Er hatte ununterbrochen geredet und merkte jetzt erst, daß ihm Fräulein Inge offenbar gar nicht zuhörte.

»Wir leben wohl eigentlich alle unser Leben in zwei Welten«, sagte der Rittmeister; »in gewisser Weise wenigstens.«

»Ich lebe jedenfalls nur in dieser!« entgegnete Parbo und fügte in gedämpfterem Ton hinzu: »Das gegenwärtige Leben ist so schön, daß ich nichts weiter begehre!«

Als wollte er seinen Worten eine etwas leichtere Wendung geben, sagte der Rittmeister: »Herr Blom lebt jedenfalls ebensosehr im Mittelalter wie in der Gegenwart!«

»Ja, Blom!« rief Parbo. »Der hat ja historische Phantasie!«

»Aber ich bin doch nicht ganz so schlimm wie Niels«, sagte Blom gutmütig.

»Wer ist Niels?« fragte Fräulein Inge.

»Das ist ein guter Freund von uns, Niels Hessel«, erwiderte Blom. »Ja, der hat Phantasie, der ist Romantiker – die Phantasie geht manchmal geradezu mit ihm durch! Er war an dem Abend mit dabei, als wir den Stein fanden, aber er hatte nicht so viel Interesse dafür wie für eine junge Dame, die kurz vorher auf der Platte gestanden hatte, und von der er eigentlich nichts weiter gesehen hatte als einen Hut mit Flieder darauf! Um die zu finden, zöge er, glaube ich, gern durch das ganze Land.«

»Ja, Niels ist brillant!« rief Parbo und lachte, lachte so, daß es in die Stille hinausschallte und einen Vogel aufscheuchte, der sich schon in einem Busch unter ihnen zur Ruhe niedergelassen hatte.

»Es fängt an kühl zu werden«, sagte Fräulein Inge. »Wir sollten wohl nach Hause gehen.«

Und so stand man auf, kehrte gemeinsam um und trennte sich dann vor dem Hause des Rittmeisters.

»Wie sonderbar es klang, als Ingenieur Parbo lachte«, sagte Fräulein Inge nach einer Weile zu ihrem Vater.

»Ja, etwas stark«, entgegnete der Rittmeister. »Deine Mutter pflegte zu sagen, weinen, das kann jeder, aber zum Lachen gehört eine gewisse Kultur – vielleicht geht Ingenieur Parbo nach der Richtung hin ein klein wenig ab.«


Blom, der jetzt die Forschungen in der Kirche wie auch sein Fragen nach verkauften Grabsteinen aufgegeben hatte, verbrachte den ganzen nächsten Vormittag draußen auf dem Schanzenhag, wo er sich einen Jungen gedungen hatte, der für ihn an verschiedenen Stellen graben mußte, und Parbo war währenddessen beständig mit Fräulein Inge und dem Rittmeister zusammen. Aber ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, zu sagen, weshalb, wollte es mit der Unterhaltung nicht mehr so gehen wie bisher. Es war, als sei etwas Fremdes zwischen sie getreten, ja, hin und wieder hatte er fast das Gefühl, als ob ein anderer, der gar nicht zugegen war und doch da war, seinen Platz eingenommen hatte und sie trennte. Die Folge davon war, daß er sich ein wenig von ihr zurückzog und mehr mit dem Vater sprach.

Als Blom um die Mittagszeit vom Schanzenhag zurückkam, sprach er bei Rittmeisters vor und fragte nach Parbo. Er sei eben mit ihrem Vater ausgegangen, sagte Fräulein Inge, nach dem Hafen hinab, um ihm an Ort und Stelle zu erklären, wie der am besten zu erweitern wäre. Da wollte Blom gehen – er war nicht sonderlich gewandt im Umgang mit Damen –, aber Fräulein Inge bat ihn freundlich, zu bleiben, und da setzte er sich.

»Glauben Sie nicht, daß Ihr anderer Freund – der, von dem Sie gestern abend sprachen – auch hierher kommt, so wie Ingenieur Parbo?« fragte Fräulein Inge plötzlich.

»Nein.« Blom glaubte wirklich nicht, daß er das tun würde, schon aus dem Grunde nicht, weil er ja gar nicht wisse, daß die anderen hier seien.

»Aber wenn man es ihn nun wissen ließe?«

»Nein, Hessel käme doch nicht.«

»Ja, aber es würde doch sehr amüsant sein, wenn sie sich alle drei hier versammelten, nur für ein paar Tage. Gab es denn nicht irgend etwas, womit man ihn locken könnte – Marsk Stigs Stein?«

»Nein, der sei aufgegeben.«

»Oder die vermeintliche Stätte für das alte Isöremarked?«

»Nein, dafür interessiere sich Hessel gar nicht. Ja, wenn ich schriebe, daß die Dame, die auf dem Stein gestanden habe, hier sei, dann käme er wohl!« rief Blom plötzlich.

»Aber könnten Sie das denn nicht schreiben, nichts weiter, nur auf einer Postkarte.«

»Ja, das könnte ich wohl – aber sie ist ja nicht hier.«

»Nein, vermutlich ist sie nicht hier – aber sie könnte doch ebensogut hier sein wie anderswo!« »Ja, das könnte sie freilich!« erwiderte Blom und lachte. »Das ist brilliant!«

Er hatte die Feder schon eingetaucht, legte sie aber wieder hin. – »Hessel erkennt sofort meine Schrift«, sagte er. »Allerdings kann er sich ja denken, daß eine solche Postkarte nur von Parbo oder von mir stammen könnte, aber trotzdem – nein, dann wäre die Romantik hin.«

»Ja, was sollen wir dann tun?« fragte Fräulein Inge und machte ein sehr einfältiges Gesicht.

»Wir könnten ja – das heißt, könnten Sie nicht –«

»Was denn?«

»Die Karte für mich schreiben, meine ich!«

»Ja, aber geht denn das an?«

»Warum denn nicht?«

»Und dann schrieb Fräulein Inge auf eine Postkarte: »Sie, die auf dem Stein stand, ist in Rörvig.«

Blom lachte. »Das ist brillant! Aber wir sagen Parbo nichts davon, nicht wahr?«

»Nein, bewahre! Es soll ja auch für ihn eine Überraschung sein!« sagte Fräulein Inge.

Und eine Überraschung für Parbo war es allerdings, als er zwei Tage später – es war um die Mittagszeit und er stand vor dem Kruge und rauchte seine Zigarre – plötzlich Hessel von einem Wagen springen sah. Als Hessel in demselben Augenblick Parbo gewahrte, ging er schnell auf ihn zu und sagte:

»Ach so – du hast das geschrieben!«

»Was?«

»Dies!« antwortete Hessel und reichte ihm die Postkarte.

Parbo warf einen Blick darauf und sagte kurz und abweisend: »Ich stehe der Sache völlig fern.«

»Ist denn Blom auch hier?«

»Ja, er ist auch hier.«

»Dann ist er es also – es sieht ihm übrigens so gar nicht ähnlich!« Einen Augenblick später kam Blom hinzu, und nun fuhr Hessel mit der Postkarte in der Hand und einem keineswegs freundlichen: »Hast du das geschrieben?« auf ihn ein.

»Nein«, versicherte Blom mit einer Miene, wie sie ein Schuljunge dem Lehrer gegenüber aufsetzt; das hatte er wirklich nicht geschrieben.

»Dann hast du es jemand anders für dich schreiben lassen?« Blom lachte verschmitzt.

»Das wäre ja nicht so ganz unmöglich! Ich fand nämlich, daß es ganz amüsant sein könnte, dich auch hier zu haben, und ich dachte mir, daß du wohl doch kommen würdest, wenn ich das schreiben ließe.«

Parbo biß sich auf die Lippe, und Hessel sagte bebend: »Das ist ein schlechter Witz, Erik!«

Der arme Blom sah sehr reumütig aus, aber allmählich legte sich Hessels Zorn doch so weit, daß er sich entschloß, die Nacht in Rörvig zu bleiben, statt, wie er in dem Augenblick seines aufwallenden Zorns beabsichtigt hatte, stehenden Fußes zurückzukehren.

Am Abend machten Blom und Hessel einen gemeinsamen Spaziergang – Parbo hatte nicht mit gewollt. Sie kamen bei Rittmeisters vorüber, Blom stellte seinen Freund vor und alle vier setzten die Wanderung zusammen fort.

Am nächsten Morgen sagte Hessel, er bleibe ein paar Tage hier; es sei eine so eigentümliche Natur, fände er, etwas ganz Apartes.


Hessel und Fräulein Inge besahen miteinander die Gegend unter des Rittmeisters kundiger Führung, aber Fräulein Inge sah sie eigentlich jetzt zum erstenmal, wie sie meinte, sah sie durch Hessels Worte und mit Hessels Augen.

Der Kreuzhag mit den Fahrwasserzeichen wurde ihr zu einem fernen, einsamen Friedhof mit eigentümlichen Grabeserinnerungen an fremde, unbekannte Schiffbrüchige, der Schanzenhag war ihr erst jetzt eine historische Stätte mit einem Hauch aus der Zeit des Kanonenbootkrieges und der Kaperer, und der Hochsand – nie zuvor hatten Geißblatt und wilde Rosen so geduftet wie jetzt, nie zuvor hatte das Auge des Tiefen Sees ein so blaues Wasser gehabt, hatte das Meer, das ewige Meer auf seinen langen Wellen ihre schwimmenden Gedanken so weit an ungesehene Küsten getragen.

Mit glühenden Wangen und strahlenden Augen kam sie am Abend heim, und der Rittmeister sah sie stolz und bewegt an, küßte sie auf die Stirn und sagte: »Nie hast du deiner Mutter so ähnlich gesehen wie heute abend!«

Aber Fräulein Inge brach in Tränen aus und ging in ihr Schlafzimmer.

Und Hessel? In dem Augenblick, als er sie zum erstenmal sah, war er betroffen von ihrer Schönheit, aber zugleich erfüllte ihn ein beruhigendes Gefühl der Sicherheit, das seinen Grund darin hatte, daß er sich eigentlich gefeit, gewissermaßen an sie, an die Unbekannte gebunden glaubte, die nicht hier war. Er konnte, meinte er, weit freier sein, als er sonst es hätte sein können, konnte sich so geben, wie er war, sich offen aussprechen, gerade weil dies ja zu nichts weiter führen konnte.

So vergingen zwei Tage, dann kam der Umschlag.

Plötzlich merkte er, daß er nicht mehr natürlich mit ihr sprechen konnte, denn wenn er jetzt reden sollte, konnte es doch zu allerlei führen, und sie war ja nun einmal nicht die Rechte, nicht die, um derentwillen er nach Rörvig gekommen war.

Das war nun die Form, unter der der große Zweifel, ob eine große Entscheidung auch die rechte sei, zu Hessel kam.

Und da beschloß er denn, abzureisen, war aber nicht imstande dazu; er wollte das Haus des Rittmeisters meiden und suchte es dennoch auf, er wurde sonderbar wortkarg und fast scheu – Parbo bemerkte das auch.


Um Sonnenuntergang war Hessel nach dem Hochsand hinausgegangen. Parbo ging zu Rittmeisters hinein. Fräulein Inge war allein zu Hause, sah aber etwas enttäuscht aus, als sie entdeckte, daß er es war.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein,« begann er, »ich habe einmal Ihr Inkognito verraten – ich werde es noch einmal tun müssen: Sie waren es, die an jenem Abend auf dem Stein standen!«

Fräulein Inge wandte den Kopf ab, antwortete aber nicht.

»Sagen Sie es Hessel, gnädiges Fräulein,« fuhr er fort, »gehen Sie nach dem Hochsande hinaus, dann werden Sie ihm begegnen, und dann sagen Sie es ihm!«

»Das kann ich nicht!«

»Mein Gott, ist das denn so schwer? Nun, wenn Sie es nicht können, dann lassen Sie es nur, dann gehen Sie ihm nur einfach entgegen! Aber die Sonne brennt jetzt sehr, sie sticht förmlich, deswegen, wenn Sie den Hut hier haben, den sie am dreizehnten Juni trugen, so setzen Sie den auf – er hat ja einen breiten Rand. Tun Sie nur, was ich Ihnen sage!«

Fünf Minuten später ging Fräulein Inge zu dem Hochsande hinauf, und sie hatte einen großen, weißen Hut mit dunklem Flieder und leuchtendem Goldregen auf – so einen hatte der Hochsand noch niemals gesehen!

Und ein so glückliches Paar, wie das, das eine halbe Stunde später zurückkehrte, hatte er auch nur selten gesehen.

»Und du, Parbo, hast zu Inge gesagt, daß sie mir entgegengehen und den – nein, das werde ich dir niemals vergessen!« sagte Hessel.

»Ja, das habe ich ihr gesagt. Du sagtest allerdings kürzlich einmal zu mir, meine Handlungsweise bei einer gewissen Gelegenheit sei nicht fair play gewesen, aber ich will dir etwas sagen: wenn ich weiß, daß um etwas gespielt wird – und wenn ich obendrein das Spiel nicht selber habe –, dann bekenne ich auch Farbe!« »Du kannst dich übrigens bei mir bedanken, daß du hier herausgekommen bist, Niels,« sagte Blom später, denn ich habe Fräulein Kragskjold überredet, die Postkarte zu schreiben!

Und währenddes strich der Rittmeister mit der Hand über das Haar seiner Tochter und sagte:

»Der würde deiner Mutter gefallen haben, Inge!«


Die Hochzeit fand im Oktober statt, aber der Stein vor der Holmenskirche ist weder umgewendet noch weiter untersucht worden, denn Parbo ist jetzt ganz überzeugt davon, daß das Kreuz nur ein ganz gewöhnliches Steinhauerzeichen ist, und Blom ist so in Anspruch genommen von seinen künftigen Untersuchungen in Sachen der Stätte, wo Isöremarked gelegen hat, daß auch er jetzt alles Interesse für den Stein verloren hat, den er gar nicht mehr mit Marsk Stig in Verbindung bringt – namentlich seitdem er von der jungen Frau Hessel erfahren hat, daß es wohl nur eine Verwechslung oder ein Irrtum ihrerseits gewesen ist, wenn sie sich damals zu erinnern gemeint hatte, daß der alte Fischer von Grabsteinen erzählt habe, die aus der Rörviger Kirche verkauft worden seien.

Wenn aber doch jemand Lust haben sollte, Hessels historischen Stein einer genauen Untersuchung zu unterziehen, ehe die Schritte der Fußgänger das schwache Kreuz ganz weggetreten haben, so ist er sehr leicht zu finden: wenn man von der Solmensbrücke auf die Börse zugeht, so ist es der fünfundzwanzigste Stein in der zweiten Plattenreihe vom Kanal aus.


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