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Zweites Buch
Wien

Von Varennes soll nicht mehr viel die Rede sein. Der kleine Dauphin kam nicht dorthin.

Niemand außer dem Königspaar wußte vorderhand die Gründe, warum dieser letzte Versuch zur Rettung eines Ludwig des Siebzehnten unterblieb. Aber eben dies Ausbleiben des mitangekündigten Kindes machte den mißtrauischen Posthalter jener Stadt (deren Name dem Königspaar später so fürchterlich werden sollte) den »Ausgewiesenen« so günstig gesinnt, daß jede Leibesvisitation unterblieb, und also der Brief an Kaiser Josef wohlbehalten weiter und über die Grenze kam.

»Sie sehen ja der Königin ähnlich, Madame,« sagte aber der blutrünstige Mensch, wiewohl aufs höflichste, zur kleinen Marion. »Was aber, wenn Ihr Kindchen infolge dieses Umstandes, das Unglück haben sollte, ihrem Dauphin zu ähneln? Dann, Madame, warten Sie dessen Ankunft nicht mehr hier ab; dies rate ich Ihnen! Ich verspreche Ihnen, als Mann der Republik mit dem Ehrenwort eines Bürgers, daß ich Ihnen Ihr Kind nachsenden würde, soweit es meine Mittel und Kräfte erlauben; falls es zu Ihnen stoßen sollte. Aber, aufrichtig, Madame: – die Königin ist eine Frau, die stets zwei oder drei Dauphins zur Verfügung hat, falls ihr einer durch einen Unglücksfall abhanden kommen sollte. Ist der Kleine vielleicht so glücklich, daß ihm der Lettre de cachet nichts tut, der Sie beide als unliebsame Ausländer zwingt, unserm schönen und unglücklichen Frankreich den Rücken kehren zu müssen? Reisen Sie in Frieden, Madame. Und Ihnen viel Glück für Ihr weiteres Leben mit dieser reizenden Frau, deren fatale Ähnlichkeit ihr anderswo kein Unglück bringen wird, Monsieur Auberger!«

Das war Frankreichs letztes Wort und sein letzter Wunsch an beide gewesen, und beide dachten erst später daran, wie unheimlich ihnen der Posthalter erschienen war, so liebenswürdig er sie auch hinauskomplimentiert hatte.

Das junge Paar war bisher, als gälte es immer noch Flucht, bei ununterbrochenem Pferdewechsel und stets enge aneinandergedrängten Körpern, den ganzen Tag gefahren. Nur im Wagen hatten sie ihr Mahl zu teilen vermocht, das Auberger, liebevoll und aufmerksam, stets schnell aus dem jeweiligen Posthaus herbeiholte und Marion zuschob, die sich, dankbar und zutraulich geworden, seiner nahen Berührung bald gar nicht mehr entzog, so scheu sie die ersten Tage neben ihm verbracht hatte. Das schöne Mädchen blieb indessen nachdenklich, und, wie es schien, ein wenig verzagt. Erst die unendliche Sorgfalt und das Zartgefühl, mit welcher der junge Künstler sie behandelte, vermochten es manchmal, sie in Abendstunden zutraulich erscheinen zu lassen.

Damals in Varennes half ihnen jener Lettre de cachet des Königs, worin ihnen befohlen wurde, auf niemand zu warten, sondern am nächsten Morgen schon, als lästige Ausländer, das Gebiet Frankreichs zu verlassen.

Dann aber waren beide öfters allein in einem Zimmer und sahen, sehr verlegen, jedes in eine andre Ecke.

»Wenn Sie sich erquicken und waschen wollen, Marion,« begann Jacques, »ich gehe hier hinter die spanische Wand, wo ich ebenfalls ein Waschbecken habe. Und ich werde Sie nicht eher stören, als bis Sie mir gesagt haben, daß Sie fertig seien.«

Beide hörten dann nichts als das frische Plätschern des Wassers, das die jungen, einander fremden und doch so herzbeklemmend in die Nähe gezwungenen Körper kühlte und sie sauber machte. Kein Wort fiel; kein Blick wagte etwas zu deuten, bis Marion, hinter ihrem Vorhang heraus, sagte: »Jacques, ich bin fertig. Wollen Sie nun das Nachtmahl mit mir teilen?«

Aber selbst bei der köstlichen, im Reisehunger freudig eingenommenen Mahlzeit sahen sie sich nur blitzartig an. Sie hatten voreinander – wenn schon nicht mehr Angst, so doch Scham.

Es war ziemlich spät, als Marion, ehe sie zu Bette gehen wollte, einmal eine Frage stellte:

»Jacques? …«

»Ja, Marion …«

»Ist es wahr und finden auch Sie dies, daß ich der Königin ähnlich sehen soll?«

»Bis zur Täuschung, Marion … Nur, daß die arme Königin graue Haare zu bekommen anfängt und ihr Teint nicht mehr die Apfel- und Rosenblüte des Ihren hat.«

»Sie haben sie wohl sehr geliebt? …«

»Sehr, Marion.«

»Und die Königin?«

»Hat mit mir gespielt, Marion; hat mich insgeheim verlacht.«

»Hat das weh getan?«

»Bis – bis ich Sie gesehen habe, Marion, ja.«

Marion schwieg eine Weile. Jacques, dem es im Halse zu eng ward, um viel Worte zu finden, unterbrach die Pause, indem er vorschlug:

»Ich werde jetzt auf den Gang hinausgehen, Marion, bis Sie rufen, daß Sie zu Bette seien. Und ich werde Sie in diesem Bette wirklich nicht stören oder berühren. Marion, Sie schweigen?«

Es war soviel aufjubelnde Hoffnung in seiner Stimme, daß Marion es wagte und ihm diese Worte halblaut hingab:

»Es ist ja ein Ding. Man denkt ohnedies von uns, als ob … Was täte es auch? Was hülfe es auch? Denn, wenn Sie mich wirklich so lieb haben – wie früher die Königin …«

»Dann darf ich Ihnen bei der Abendtoilette helfen?« jauchzte er und vergrub Mund und Antlitz im Schoße ihres Kleides, das, nach der glühenden Einbildungskraft des jungen Künstlers, jenes erste Reisekleid der ganz, ganz jungen Dauphine Antoinette war.

Sie ließ ihn, mit leisem und immer innigerem Seufzen gewähren.

Am andern Morgen erwachte sie glücklich. Sie rief ihn: »Du!« Küßte ihn selber zuerst wach und war sein, als wäre das immer so gewesen.


Endlich waren sie nun in Wien. Sie waren augenblicklich, nach kurzer Ruhe und ein wenig Erfrischung in kaltem Wasser, in den Kontrollgang der kaiserlichen Burg geeilt, wo der damals schon schwerkranke Josef der Zweite ihren Brief wie jedes andre Gesuch müde entgegennahm und schleppend weiter gehen wollte, als Marion schnell noch zu flüstern wagte: »Majestät, es ist ein dringender Brief aus Paris von Ihrer Majestät Schwester … Ma …«

»Still,« sagte der Kaiser. Er riß das Siegel entzwei, las nur eine Sekunde lang und sagte:

»Ah, meine Kinder! Morgen habe ich eine freie Stunde in Schönbrunn. Kommt morgen hinaus. Erwartet mich; im Parterre links bei der großen Allee. Ich werde allein sein. Auf Wiedersehen, mes émigrants!« Auf dieses laut gesprochene Wort drängte sich nun allerdings der ganze anwesende Adel teilnahmsvoll um die beiden jungen Leute, und sofort fiel jetzt die Ähnlichkeit Marions mit der dort unvergessenen Schwester des Kaisers auf. Ah, welche Komplimente! Ah, welche Vermehrung der Galanterie, als Marion unvorsichtig eingestand, daß sie nicht die Gattin Aubergers wäre! Und welche geheime Hoffnungen, als man schnell genug herausgebracht hatte, daß auch sie so wenig von Adel wäre, wie der arme, hübsche, kleine Geiger.

Ob er ihr Liebhaber wäre, darum fragte in jener Zeit der lächelnd leichten Behandlung der Liebe erst recht niemand. Alles, wes man sich zu versehen hatte, war eine anregende Wartefrist bei der kleinen Marion. Denn – irgendeinmal ging man ja doch auseinander. Zumal mit einem Geiger; auch wenn er vom Hofe Maria Antoinettens gekommen war.

So keilte sich denn schon beim ersten Schritt in Wien und im Kontrollgang der Hofburg ein banges Gefühl in Jakobs Herz, daß er hier einen zweiten Verlust zu fürchten haben würde. Denn auf der Reise hatte er nur dies zu tun gehabt, sich in Marion bewußt zu verlieben, wie dies in Paris seit dem ersten Anblick schon unbewußt geschehen war.

Marion erwiderte diese Liebe mit der ganzen Unbefangenheit eines Mädchens aus volksnahen Künstlerkreisen, das sich schon aus Neugierde sobald als möglich verschenkt. Wie hätte sie sich nun gar versagen sollen bei der wochenlangen, persönlichen Nähe eines reizenden und von geheimnisvoller Romantik umleuchteten Jungen, mit dem sie, offiziell, schon längst die Nächte geteilt hatte? Sie war seine Geliebte geworden ohne lange Ausrede; ohne zu fragen, was werden sollte. Er gefiel ihr. In Wien würde sich ja dann alles klären. Und – wie lange diese hübsche Sache, von der sie in Paris stets nur erzählen gehört hatte, vor der sie aber behütet worden war, dauern würde, um einer neuen Platz zu machen? Das verursachte ihr geringe Sorge. Wollten sie beide die Treue: » Eh bien, tant mieux.«

Zog es aber auch nur eines von beiden vom andern hinweg, wozu hatte man in Paris Lebensart gelernt? Wozu wußte man, daß dort der Adelige, der seine Gattin in »jener, durch seine unfehlbare Sittlichkeitspolizei so sehr berühmten Stadt Flagranti erwischte« (ein Bonmot der Künstler von Paris) ihr bloß zu sagen pflegte: »Aber Madame! Welche Unvorsichtigkeit! Wenn Sie nun ein andrer gesehen hätte als ich!?«

Marion war nicht nur so mutig, um sich für die Schwester Josefs, ihres angebeteten Kaisers, opfern zu wollen. Marion war auch eine Natur, die gern schenkte; – glücklich, geben zu können, was sie eben als armes Mädchen dem Reichtum und dem Glanze zu geben hatte. Sinnlich war sie nicht sehr. Aber neugierig und phantasievoll war sie. Darum hing es nicht von Jakob ab, sich der entzückenden, verjüngten Kopie seiner angebeteten Marie Antoinette zu versichern: »Ob als Königin oder als armes Mädchen aus der Vorstadt,« wie es in jenem Nachtlied zu Pfingsten geheißen hatte.

Marion war influenzierbar … Antoinette nicht.

Jetzt waren sie noch ein Herz, ein Körper. Eine süße Septemberlichtversonnenheit. Eine einzige Traulichkeit waren sie noch, wie sie da, umschlungen und die eigenen, klopfenden Adern fühlend, an der Baumreihe des Blumenparterres von Schönbrunn auf und nieder schritten, im seligen Gefühl, Friede und Wien, – und stille Natur um sich zu wissen. Gerettet zu sein. Einander anzugehören. Und dennoch, voll Bangigkeit davor, was der Kaiser sagen würde. Der Kaiser, dessen ehedem frischer Schritt, den sie kannten (er zog das eine Bein stets ein ganz wenig später als das andre hinter sich), jetzt so müde, jeden Augenblick aus einer der Seitenalleen daherkommen konnte.

Und da war er auch schon.

Er wehrte der tiefen Verbeugung Jakobs; er hob augenblicklich das in die Knie sinkende, reizende Mädchen in seinen Armen empor: »Wirklich, Mamsell! Sie sieht meiner Schwester ähnlich.«

Dieses Wort und jene Müdigkeit erlösten Auberger schnell von einer eifersüchtigen Angst, die ihn schon beschlichen hatte. Nein; schon eine solche Ähnlichkeit konnte den kranken und für Mädchen immer weniger empfänglichen Kaiser nicht verlocken!

Es war nur ein erstes Aufzittern seiner Eifersucht auf seine beseligende Geliebte, die er seit diesen Tagen immer mehr mit der Glut der Einbildung umfing: die Königin selber, verjüngt, befreit und fessellos geworden, gäbe sich ihm in vermehrter Schönheit und Zärtlichkeit hin.

Der Kaiser schien Jakobs Verwirrung nicht zu bemerken. Er sagte:

»Sie beide haben sich als treue Landeskinder erwiesen. Sie wollten meiner Schwester, der Königin, einen Dienst leisten, der ebenso opfervoll als gefährlich werden konnte. Ihr Glück und meiner Schwester Unglück ist es, daß nichts daraus wurde. Immerhin, ich bin Ihnen dankbar. Sie: Marion? Such' sie sich eine Gnade aus; eine kleine Hofstelle bei der Erzherzogin, meiner hiesigen Schwester etwa? Und er, mein lieber Jacques Auberger. Er bleibt selbstverständlich Primgeiger in meiner Hofkapelle. Meld' er sich beim alten Haydn. Verständige er sich besonders mit Salieri und befreunde er sich dennoch auch mit dem Mozart, der ein Kindskopf, aber ein lieber Kerl ist … hm … und ganz ungewöhnlich viel kann. Sein Gehalt, Auberger, wird, gegen Frankreich gestellt, allerdings kaum die Hälfte des dortigen betragen dürfen. Schon um keinen Kollegenneid zu erzeugen. Man wird manchmal kleine Extra-Emoluments für ihn zu finden wissen. Aber Wien ist ja auch genau um die Hälfte weniger teuer, als Paris. Übrigens: Habt Ihr beide vor, Euch zu verehelichen?«

»Oh, Majestät, wie glücklich wären wir,« rief Auberger.

Aber sowohl der Kaiser als auch Jacques wunderten sich ein wenig, als Marion leise sagte: »Majestät geben uns gnädigst Wartefrist?«

»Soll das heißen Bedenkzeit, Mamsell?« fragte der Kaiser ein wenig scharf.

»Oh, dies ist es nicht, Majestät. Da wir aber erst berechnen müssen, ob, wie Majestät andeutet, fortab unsre bescheidenen Mittel zu einem Haushalt reichen werden, so mögen Majestät allergnädigst gestatten, zu zweit den Rechenstift in die Hand zu nehmen und aufrichtig unsre Chancen für ein bürgerliches und kleines Glück auszurechnen.«

»Ah! Das gefällt mir. Sie wird eine kluge und wirtschaftliche Frau werden. Ich kann ihm Glück zu einer solchen wünschen, lieber Jacques Auberger. Nüchtern soll man sein und bleiben in so schwerer und von Grund aus sich umwälzender Zeit, wie diese verhängnisreichen Tage sind! Gut, meine Kinder. Behaltet Zeit –, falls nicht Ehrbarkeit euch zu verfrühtem Entschluß drängen sollte. Nun; was ich, als euer wohlaffektionierter, wiewohl zur Sparsamkeit genötigter Kaiser alsdann zu tun vermag, wird geschehen. Benachrichtige er mich. Adieu, Kinder! Die Königin läßt euch übrigens in ihrem Brief herzlich grüßen. Nochmals: Adieu!«

Als beide allein waren, fragte Marion ihren Geliebten: »Nun, Jacques?«

»Marion …, ich bin tödlich erschrocken, als du vom Kaiser Bedenkzeit erbatest! Kann der Gedanke möglich sein, daß ich dich verlieren müßte? – Marion!«

»Ach, Liebster! Ich wollte lediglich dem als sparsam bekannten Kaiser eine nicht allzu knappe Morgengabe möglich machen. Du, er hätte uns eine solche gegeben wie sein Vorbild, der König von Preußen, unsereins beglückt hätte. Wenn ich tue, was er gern sieht, berechnen und nüchtern sein, glaubt er nicht an Leichtsinn, an den man nichts wenden darf. Gerade daran magst du ersehen, daß ich an nichts andres als eine schöne, beruhigte und glückliche Ehe denke. Eine Ehe, die aber sorgenfrei sein soll von vornherein. Du selber hast mir gesagt, wie knapp er sogar den Mozart bezahlt. Und daß Haydn sein Vermögen nur fern von ihm, in England, zu sammeln vermocht hat durch größte Sparsamkeit. Wenn er nun schon für uns ein Übriges tun will, so soll er wissen, daß wir etwas Ganzes erwarten. Und du hast ja gesehen: Meine Aufrichtigkeit und Rechenkunst hat ihm gefallen. Noch einmal: Bei dir hätte er am End gedacht: ›Der Geiger wirft, wie der Mozart, ohnedies alles zum Fenster hinaus. Man darf ihm wenig Gelegenheit dazu geben, kaiserliche Münze gering zu schätzen.‹ Bei mir weiß er sie geehrt, und also hoffe ich auf ein gutes Ende.«

»Ach, Marion, wenn es wirklich nur dieses ist!? Ich weiß es ja, trotz meinem bürgerlichen Einschlag in Geldsachen, ich hätte stets eine allzu offene Hand. Und ich weiß, die Frau stützt drei Ecken der Wirtschaft, der Mann nur eine. Also, Marion, wenn es nur dieses wäre – ich wäre so glücklich, so glücklich!«

»Was heißt das: ›nur dieses?‹ Was sollte es andres sein?«

»Marion, hast du die Blicke der vornehmen Herren im Kontrollgang des Kaisers und eben jetzt wieder vor dem Schloß gesehen? Denen bist du dasselbe, was du mir warst, ehe ich die Wonne des Besitzes der ganzen Marion zu erkennen vermochte: Die wiedergekehrte Dauphine von Frankreich, umwittert vom ganzen Reiz ihrer Pikanterie und des Klatsches. Ich selber habe dich ja zuerst in meiner Phantasie so umarmt, als wärest du sie selber!«

»Du? Jacques? Jacques! So bist du mir also in meinen Armen gleich von Anbeginn untreu gewesen?« Maria lachte.

»Freilich wohl. Aber Hauptsache ist: Ich bin treu geworden. Und ich zittere bis jetzt, von diesem frevelhaften Augenblick unbeschreiblicher Erfüllung an, davor, bestraft zu werden. Für jenen schrecklich süßen Gedanken! Wie vergäße ich je die sich schließenden, langen, dunkeln Vorhänge deiner Augenwimpern unter der so ähnlichen Stirn! Damals – in Varennes. Wenn die Rachegöttinnen mir dies nicht verzeihen, Marion? Wenn dieser, einmal gelebte Gedanke nun auch bei andern zum Leben erwacht und zum glühenden Begehren wird? Maria Antoinette in den Armen gehalten zu haben in dir, du Süßeste!«

»Wenn nur ich es dir verzeihe, was sollen dann die Rachegöttinnen uns beiden anhaben?«

»Ach ja! Freilich! Aber wirst du es mir verzeihen?«

»Ich? Ich bin ja so stolz, deine Königin zu sein. Denke immer, sooft ich in deinen Armen zum Weib werde, du hättest jenes Lied der Königin zur Wirklichkeit gemacht, von dem du mir erzähltest.«

»Ach, ich bin so glücklich,« sagte Jacques erst jetzt.

Dann gingen sie enge aneinander an den Baumwänden des großen Parterres vorüber, das sehr still war, weil die Septembersonne an der großen Sonnenuhr über der Hochfront des Schlosses die zwölfte, die Mittagsstunde zeigte, um die in Wien alles unsäglich daheim ist. Sogar die Tauben. Sogar die in sich zurückgegebenen Springbrunnen. Nur die eine Nixe daran erhob immer noch, sehr göttlich, ihren sehr schönen Marmorarm gegen die Sonne, und sah von ihnen weg in den Himmel, der ihnen jetzt allein im Park leuchtete.

Marion ging andachtsvoll an der berühmten Plastik der nackten Najade vorbei.

»Mariontoinett', du bist viel, viel schöner als die Göttin,« stammelte Jacques heiß. »Schlanker bist du.«

»Sei still,« flüsterte Marion.

Jacques schämte sich, unvorsichtig gewesen zu sein.

Ein Kavalier zog sich lächelnd in den Schatten zurück, aus dem er, nachprüfend, die eben erlauschten Worte Jacques an der zärtlichen Gestalt des Mädchens mit den Augen abmaß, lange. So lange, bis beide ins große Parterre zurückwandelten.

Ein märchensanfter Südwestwind begleitete die Melodie ihrer Liebe auf der Harfe der Septemberbäume mit der größten Zärtlichkeit. Er war, im Hindurchsausen, auf den Laut gestimmt, der stets ein bißchen wehmütig klingt, aber auch schmeichelnd … Als wollte er zugleich die Worte »Westen«, »Wein« und »Wien« hauchen. Er kam aus Frankreich, dem Lande, das ihnen so hübsch Abschied gesagt und sie noch zeitig genug entlassen hatte, ehe es anfing, furchtbar zu werden. Er erinnerte sie an die Flucht aus einer großen, gefährlichen Liebe heraus, in eine neue, junge Liebe hinein. In ein jüngeres Volk hinein, das ganz bestimmt keine entsetzlichen Revolutionen in sich zu entzünden vermochte, solange es nur in ungestörtem Besitze einer Landschaft und einer Natur blieb, die jeden, einzeln oder paarweise, an sich lockt und ganz und gar nicht zu gefährlich geballten Massenansammlungen reizt. Eine Natur, die jedem Geliebte wird, also von jedem geheim und allein genossen wird; kaum im Freundeskreis.

Dies ist ja Österreich.

Schnee und Wein; Edelweiß und Edelkastanie. Deutsches Gemüt und romanische Leichtigkeit, herbe Winter und frühe, oft schon mit Maria Lichtmeß zu Februarbeginn einsetzende, wärmere Luft, und dennoch sonnige November. Die Donau führt die leichtsinnig machende Westluft ungehemmt herbei. Erst hinter dem östlichsten Vorort von Wien beginnt der Orient, dort aber beinahe unvermittelt, so daß damals das malerische magyarische oder gar das türkische Kostüm in den Straßen Alltagserscheinung war; nicht gar soviel seltener neben den Damen, als der »Chapeau« mit dem ponceauroten Frack oder der tiefsmaragdgrüne Chasseur à cheval, dessen Uniform dem armen, jetzt so kranken Kaiser Josef so gut zu Gesicht gestanden, daß das Volk ihn förmlich zwang, sie so oft als möglich zu seinen berühmten blauen Augen zu tragen, die naturstrahlend wie Vergißmeinnicht aus seinem lebhaft gefärbten Gesicht brannten.

September. Wien …

Auf den wunderbaren, ebenso wie zu Versailles glatt rasierten Baumwänden des schönen Baumparterres spielte dieser leichtfertige Amorettenwind jetzt dahin, wie etwa die schönen Finger Mozarts über das Klavier liefen. Hier war die Luft selber voll perlender Musik und voller Glissandos.

Die jungen Liebesleute, gelöst und vom wehmütig mahnenden Abschiedseros des Herbstes angefaßt, erlebten diese verführerische, letzte Schönheit mit der ganzen süßen Seelenangst ihrer neuen, viel zu schönen und also insgeheim bedroht gefühlten Zärtlichkeit. Sie machten einander aufmerksam auf die Ähnlichkeit der herbstlich gefärbten Baumwände mit dem Marmorgetäfel in den königlichen Schlössern, mit Malachitschliffen, mit verde-antico und giallo und rosso-antico. So, wie dort der Marmor zusammengesetzt erschien aus Rot, Orange, Chrysoberyllgrün, so waren diese Wände aus Smaragdflecken und hochfarbigem Gelb, aus tombakfarbigem Dukatengold, neben dem Rubin der Waldkirsche, neben dem Violettpurpur des Hornbaumes zusammengesetzt. Unersättlich in ihrer Abwechslung. Alles nebeneinander auf die eine, glattgeschorene Tafel gesetzt, so wie die Bäume sich durcheinander gedrängt hatten, die hier durchschnitten und zu einem glatten Steinschliff vereint worden waren.

Einem unsagbar bunten Marmorschliff, der spielerisch lebte. Der vom Wind so überrieselt war wie das halbdurchsichtige, lauchgrüne Wasserbecken, in dem die Silber- und Goldfische dem Herbst und seinen Farben Rivalenschaft zu machen versuchten.

Alles dies erlebten die beiden heimgelangten Seelen. Und immer murmelte Jakob ergriffen:

»Wien …, Wien …«

Es war eine unausmeßbare, große und reine Stunde, diese Stunde solcher Gelöstheit in einem schönen, kleinen All. Und nur selten riß der zarte Wind ein mahnendes Blatt aus den Baumwänden und trug es in die Wasserbecken, wo es dann dahinsegelte, als reise es weiß Gott wie weit weg in Märchenlande. Oder er flitterte mit ihm hochauf ins Traumblau des Mittagshimmels, einen Zitronenfalter nachahmend, als ob Vorfrühling wäre.


Der Fagottist Le Care war aber nun leider ebenfalls aus Paris eingerückt. Er bestellte, ehrbarkeitshalber, weil ja in Wien so ganz anders geliebt zu werden pflegte als in Paris, noch am selben Abend seine Nichte zu sich in ein Quartier, das ihr Kämmerchen in einem andern Stockwerk enthielt als sein Musikantenzimmer. Dort mußte sie ihre Brautzeit verleben.

Ach; die Sittlichkeits- und Keuschheitskommissionen der eifersüchtigen Theresia waren zwar aufgelöst, aber immer noch durfte ein Liebespaar weder nebeneinander dahinleben, noch wurde die junge Heidenfrau am Ende gar mit »Madame« angesprochen, wie im heiter-lässigen und galanten Frankreich, wo man so entzückend freigebig mit diesem Titel ist, daß jedes Malermodell ihn augenblicklich erhält, sobald es, durch eine Treue von sechs Monaten Dauer, dazu genügend sakrosankt geworden war.

Was ja sogar bei Ehen nicht immer der Fall ist.

In Wien war Marion damals eben nur »Mamsell«.

Fatal. In Paris hatte man ihr in den letzten Tagen, sobald sie ihren Ruf mit Jacques verdorben hatte, fast augenblicklich »Madame« gesagt. Ach, das war schön gewesen! Jetzt, hier – trug man irgendeinen Makel umher, trug ihn sogar bei den auffälligen Einkäufen für die Ausstattung immer noch; wie denn Bosheit und Taktlosigkeit an dem reizenden Geschöpf mit diesem Titel bis an den Ehespruch des Priesters freigebig waren, wie mit Fanfarenstößen:

»Mamsell Marion!«

Auch das Märchen ihrer großen Ähnlichkeit mit der Königin von Frankreich sprach sich sehr schnell im damaligen kleinen Wien herum. Und weil Jacques einmal so unvorsichtig gewesen war, sie mit ihrem, insgeheim gegebenen Namen »Mariontoinett« anzureden, so hieß es sehr schnell »die hübsche Marionett aus Paris«.

Es ist wahr. Interessant und umworben wurde sie durch den sehr simplen Spitznamen nur um so schneller und mehr. Aber das stille Glück der beiden wuchs nicht mehr so hochschwebend dahin, wie es die kleinen Wirtsstuben ihrer Reise bis an die Decke mit dem Rankenwerk bacchischer Efeuromantik überkleidet hatte. Im Stübchen über dem Fagottisten Le Care (so nannte er sich seither immer auch in Wien und unterschrieb seinen böhmischen Namen nur Feinden und Gläubigern gegenüber in deutscher Aussprache und lateinischer Fraktur), im Mamsellstübchen also gab es viele Festtage. Und viel Träume aus freieren Gegenden und freierer Luft. Lange sollte es dauern, bis jene Westluft völlig nach Wien vorgestoßen und auch dort siegreich geworden war.

In diesen ein wenig engen und bangen Tagen nun, die sehr kurz geworden waren und ein frühzeitiges Lichtmachen mit trübseliger Talgkerze geboten (während man in Paris doch immer Wachsstümpfchen aus herrschaftlichen Häusern in Fülle hatte), an diesen vesperlich frühen, frommen Abenden hatte nur der Fagottist und Hautboist Glück. Denn eine merkwürdige Vorliebe für seine Instrumente und deren Erlernung schien sich der jungen Adels-, ja der feinsten Bürgerswelt bemächtigt zu haben. Alle Eleganz erlernte, lachend über die eigene, angeerbte Talentlosigkeit eines oder beide der bei Le Care zu schulenden Instrumente, und zahlte manchmal die Stunde mit einem Dukaten, so daß er jetzt lebte wie der liebe Augustin, und Mozart sogar, halb neidisch, halb freundschaftlich zum ewig silenhaft gestimmten Musikus sagte: »Du, Lekarsch! Wenn das so weiter geht, so saufst dich zu Tod. Du bist ja für'n Wiener Wein ein wahres Kanalgitter geworden!«

So war es bald dahingekommen, daß »Le Care«, der anfangs seine Nichte als Braut bewahrte und bewachte, es nicht mehr merkte, daß die jungen und reizend liebenswürdigen Herren öfter kleine, wiewohl harmlos heitere Besuche im meist einsamen und für Jacques nur auf Stunden erlaubten Stübchen Marions machten, wo sie an den öden, langen, trüben und düstern Abenden nun doch eigentlich gern gesehen wurden. Man spielte drei- oder viermal sogar bei ihr Karten und ließ sie so hoch gewinnen, daß Jacques dies verbot.

Damals, und weil wirklich alles in Unschuld und Heiterkeit zugegangen war, wurde Marion ein wenig verdrießlich. Sie maß den Bräutigam mit ihren Antoinette-Augen und fragte ihn, ob er sie gern stets so, in Düsternis und Trauer alleingelassen wüßte auf ihrem Stübchen?

Aber er müßte doch für beide Geld verdienen!

Während sie allein und bange war?

Ach, bei Kaiser Josef würde niemand reich!

Da sah sie ihn lange, sah ihn fast mit Jener mitleidigen Liebe an, wie ehedem die Königin ihren sanftblauen Blick unter dunkeln Augenbrauen und blondem Haar manchmal auf ihn geheftet hatte, und sagte (es durchzuckte ihn) zufällig mit genau demselben, hoffnungslos zärtlichen und traurigen Timbre der Stimme:

» Mon pauvre Jacques!«

Sie legte wohl sogleich ihre hübschen Arme um ihn, er aber behielt ihn in seinem feinen Musikantengehör und in seinem Künstlerherzen, jenen wohlbekannten Ton der Entsagung, des Entlassens aus aufseufzendem Frauendienst.

Er drängte nicht. Er zürnte nicht. »Armer Jakob«; – es war ja richtig. Marion konnte in Glanz leben, und er hatte bisher, so bürgerlich ein Musikant nur immer zu sparen vermag, kaum erst genug beisammen, daß er allein in einer Kammer, ohne Frost und ohne Hunger und Durst zu leben vermocht hätte. Konnte er dies, was für einen Diogenes reichte, einer reizenden, jungen Frau noch zur Halbteilung anzutragen wagen?

»Armer Jakob.« Nur allzuwahr. Wien war so paradiesisch. Wien war sanftmütig und nicht rachsüchtig wie Paris. Wien war weitaus billiger. Wien hatte Weingärten und Urwälder nebeneinander. Wien hatte ein gutmütiges Volk, das aber ebenso gern lachte wie das von Paris.

Aber hatte es ein » Lapin agile«, wohin er seine Marion auf ein billiges Ragout führen gekonnt hätte? In Wien lebt wohl der einsame Hagestolz auf seiner Kammer oder mit der mitgebrachten Wurst beim Heurigen billig.

Die Geliebte aber führt man »auf Backhendl«.

So stand es ehern geschrieben im Gesetz der Stadt – vielleicht seit den Römern her.

Und eine Frau durfte hier kein Kopftuch tragen wie im demokratischen und ebendarauf stolzen Paris. Hier war man »coiffürt«. Hier trug man sich als Dame von Stand, weil man so dem unerträglichen »Mamsell« statt »Madame« zumindest ein wenig Seide, Spitzen und gewebte Bänder entgegenzusetzen hatte.

Er überlegte: »Soll ich all mein erspartes Vermögen ausgeben und drei Jahre als Kavalier Marions junge Schönheit allein und voll auskosten, um sie dann doch abzugeben und von neuem zu sparen beginnen? – als Philosoph, der das beste von der Welt kennengelernt und ausgenossen hat, ehe er entsagt?«

Fast hätte er es getan.

Die jungen Herren waren es, die ihm sein kleines Vermögen verachten halfen. Die großen, älteren Herren waren es, die es ihm ersparten. Ihm, der es so gern, ach, so gern, leichtsinnig und im Größenwahn der Jugend für »Mariontoinette« hinausgeschleudert hätte. In die Faschingsluft, die jetzt in Wien wehte. In die Wiener Waldluft der Leberblümchen und Primeln. In die Pfirsichbowlennächte um Mittsommer. Und in das Rebengrillgezirpe des Septembers von Grinzing, um dann, den letzten Rest, königlich unter die Weihnachtspyramide hinzulegen: zum Abschiedsgruß an die kostbare und bis an alle Grenzen zu Ende genossene Geliebte.

Nicht er selber sagte sich das. Aber:

»Die jungen Kavaliers bewahren Sie vielleicht vor einem traurigen Alter!« So wußte der leidende Kaiser Josef ihn einmal zu trösten.

Wenn ein solcher Trost bei ihm verfangen hätte!

Genug. Damals also fing Fasching an, nachdem »Marionett« einen September, Weinmond, Nebelmond und Christmond lang seine hingebende und treue Geliebte gewesen war.

Da er nicht zu ihr kommen durfte oder nur auf wohlbewachte Stunden, so war sie bisher zu ihm gekommen. Bei ihm war's ja auch wärmer, heller und geräumiger.

Niemals aber war sie damals in seiner dennoch bescheidenen Stube, ohne daß sie fühlte, wie leichte und unsichtbare Fäden sie rückwärts, ja anderwärts hin ins noch Wärmere, Hellere, Geräumigere zogen. Stets, wenn sie zu ihm ging, war ein reizender, junger Kavalier hinter ihr her gewesen und manchmal geschah es, daß ihrer mehrere Arm in Arm und in heiterster Harmlosigkeit hinter ihr hergingen, obwohl sie von ihr selber nur diskret sprachen. (»Mein Gott, sie ist wirklich die junge Dauphine, für die wir alle als Knaben geschwärmt haben, um die wir alle weinten!«) Dann schienen sie die Kaufläden zu besichtigen, an denen Marion in ihrer Armut und aus Mangel an Zeit ohnedies immer rasch vorüber mußte.

Nur manchmal, ein ansaugender Blick nach einem hübschen Kopfputz; einem Stück geblumten Seidentaffet. Nach ein paar Spitzenblonden. Und dann weiter; ein wenig angeregt, ein wenig seufzend, ein wenig das kleine Ohr rückwärts lauschend, um noch etwa solche Worte zu erhaschen: »Könnt ich das reizende Kind da nur über meine Börse so gebieten lassen, wie sie über mein Herz gebietet.«

»Da wirst du vergeblich seufzen,« sagte ein andrer. »Sie ist ebenso treu, wie sie schön ist; sie ist ebenso mutig, wie sie treu ist. Denn sie hat mit ihrem Leben die Königin retten gewollt. Sie weiß, daß sie die Königin dieses netten, glücklichen Jungen ist, der mehr hat, als du hast. Bloß nicht deine Börse und deinen Adel.«

»Ja; dergleichen gilt nichts mehr,« sagte ein dritter. »Man wird demokratisch. Man wird philosophisch, man entbehrt diese beiden Dinge gern. Daß gerade wir in diese neue Welt hineingeboren werden mußten.«

Solche Reden schmeichelten der kleinen Marion. Sie fühlte sich wichtig, sie fühlte sich geschätzt. Und sie fühlte zum erstenmal, welch ungeheures Geschenk sie mit ihrer reizenden, königlichen Kopie dem armen Jacques machte.

Beinahe begann sie Gedanken zu hegen, wie jenen: »Bin ich nicht zu gut für ihn?«

Und die kleinen Fäden der neckenden Wiener Galanterie zogen hinter ihr, am stubenmädchenhaft einfachen Überkleid. Sie zupften es hinweg und schienen statt dessen Brokat und schwere Seide über ihre leise fröstelnden Schultern zu legen. Ja, und sogar einen Hermelinpelz darüber.

»Abbild einer Königin!« … So hatte einer der Liebesbriefe begonnen, die sie erhielt. Einer der Briefe, die ihr Onkel Le Care oft, bedeutungsvoll räuspernd, selber in die kleinen, bebenden Hände legte.

Als sie es aber dann in der erwärmten Mansarde bei Jacques erlebte und fühlte, welche nicht zu beschreibende Erfüllung sie ihm brachte, als sie hörte, mit welch feiner Bildung er an ihr alle Statuen und Bilder des Louvre demonstrierte, und ihr erklärte, warum sie so schön wäre, und wie dies der Baronesse Lärchenau fehlte, und jenes der Sonneck, und das wieder der entzückenden Abensberg – »Nackenlinie, Brustansatz, schmale Gelenke und Fesseln, zugespitzte Finger«, da blieb sie dennoch gern.

Es war ein königliches Vergnügen, so königlich empfunden zu werden und sich so königlich zu verschenken.

Und das war beinahe das rührendste: Der durchaus nicht glänzend honorierte, junge Musikant ließ es niemals an ihren beiden liebsten Leckerbissen aus Paris fehlen: an italienischem Fruchteis nach aufseufzend heißer Erfüllung, und an Champagner …, um aufs neue toll zu werden.

»Du ruinierst dich für mich; ich werde dich aus reiner Liebe und Sorge verlassen müssen,« rief sie halb im Scherze.

»Nicht eher, als bis ich dir sage, daß ich mich wirklich ruiniert habe,« bat er zärtlich und zog seine kleine Königin immer wieder an sich.

Den ganzen Winter über bewiesen sich seine kräftigen Arme stärker als jene kleinen, sanft ziehenden und sie dirigierenden Fäden der Eleganz, die sie stets hinter ihrem Rücken fühlte – Marionett. Erst recht dann fühlte, als die wunderbar leichtsinnige Beschützerin der Musik, der Künstler und der Liebe, die selbst immer noch reizvolle Baronin Waldstätten, Marion als völlig ebenbürtigen Gast zu sich in eine frohe Gesellschaft geladen hatte, der sogar Jacques in unbekümmerter Großmut und Freiheit beigezogen wurde.

Dorthin kam Salieri, kam (taktvoll von dem getrennt, an andern Abenden) Mozart mit seiner Braut, seinem Schwager und seiner Schwägerin; kamen alle Kavaliere bis zum erlauchten und glänzenden Fürsten Ligne hinauf.

Ligne: der damals genau in jenem Alter stand, in welchem der französische Edelmann am entzückendsten ist! In jenem Anflug von wehmütig septemberlich klarer Entsagung und Dankbarkeit, daß man die Schönheit seiner Jahreszeit für beachtenswerter und feiner hält als jene des Mai, des allzu grünen, verblühenden.

Nun hielt Ligne seinerseits wieder jenes rosenrote Haus auf der Bastei, das er auch dann, nachdem die Revolution ihm seinen ungeheuren Reichtum genommen hatte, offenließ für ganz Wien.

Demokratisch aus lauter Geberfreude und Liebenswürdigkeit hielt er es offen, offen wie die Thermen des Caracalla, und dennoch fein abgetönt in der Art, wie er besonders seltene Stücke seiner bunten Gesellschaft näher an sich, in besondere Zimmer zu bitten gewöhnt war. Manchmal bat er sogar Jacques hinein. Dann wußte Jacques, daß er eine Einladung zu einer, mit einem, zwei Dutzend Dukaten honorierten, kleinen Hausmusik erhalten würde, die ihn reichlich mit Fruchteis und Champagnerwein für seine kleine Marion versorgte. Manchmal rief er das Liebespaar zusammen. Dann wurden beide in fröhliche Gesellschaften Wiens eingeladen. Manchmal aber – bat er Marion allein zu sich.

Dann wusste sie, daß er, angeblich, mit ihr ein paar Minuten ein reines, geistvolles und reizendes Französisch sprechen wollte … Aber sein Händedruck mit einem eigentümlichen »Nicht-gleich-Auslassen«, das ihr dennoch so flüchtig vorkam, als hätte sie sich nur geirrt, das die Hand losließ und mit dem Daumen noch ein Sekundenteilchen über ihr Handgelenk streichelte, das war so, daß man stets ein wenig darüber nachdachte. Später, als sie ihm länger und offener in die geistvoll schönen Freundesaugen sah, legte sich ihr ein sachter und nicht zu kurzer Kuß aufs Handgelenk. Das erschien ihr, ganz langsam und stets erst nach wiederholtem Nachdenken, ja nach erneutem Versuch, es bestätigt zu wissen, wie eine geheime und unendlich vorsichtige Werbung.

Nur einmal, als sie von der Baronin Waldstätten und dem Herrn Kapellmeister Mozart einen kleinen Champagnerwirbel ins Blut erhalten hatte, da küßte der scharmante Fürst sie – zwischen die, von ihm zusammengefaßten, beiden Handgelenke. Er bewegte unmerklich die Lippen hin und her, als wollte er die von ihm selber so enge zusammengepreßten Mädchengelenke wieder auseinanderbringen. Ihre Kühnheit war damals so groß, daß sie sagte:

»Fürst! Ich glaube, daß ich Sie verstehe.«

Er aber sagte: »Dies ist unmöglich bei einem reinen und unbelehrten Mädchen, Marion!«

»Sie wollen mir sagen, man wird mich mit dem armen Jacques auseinanderbringen! Nicht?«

»Auch das, Marion; auch das, meine angebetete, kleine Dauphine von Frankreich,« sagte er, ein wenig schwermütig scheinend, weil sie von ihm nichts Frecheres, mehr den Gassen von Paris entnommenes, erwartet hatte.

Als sie aber von ihm forteilte, um reuig zu Jacques zurückzukehren, dem sie schon um seiner Herzensruhe willen solch kleine Anknüpfungen von Spinnenfäden, die man ja leicht zerriß, niemals verriet, als sie vor sich selbst und ihrem erregten Herzen, vor einer sich grandseigneural neigenden Prinzenkrone und vor beklemmend geistvollen Augen Schutz bei ihrem allerliebsten, kleinen Geiger suchte, da sagte der Fürst von Ligne zu sich selbst:

»Sie ist, trotz dem armen Jacques, eine vollkommene Unschuld. Die alten Römer hatten recht, daß sie das jus primae noctis Sklaven überließen und sich selber die höheren Weihen der Liebe vorbehielten.

»Ah, pauvre Jacques: Du ahnst nicht, daß du mir entzückende Stunden nur vorbereitest, von deren Wildheit und Süßigkeit, von deren Frevel und Andacht, von deren Künstlertum und Schönheit du keine Ahnung hast – noch vielleicht jemals eine haben wirst.«


Auch dies fesselte Marion ganz unmerklich an den wundervollen Mann, daß er die Geschliffenheit der französischen Sprache und seinen Geist niemals mißbrauchte, um ihr gegenüber eine Zote zu wagen.

Einmal (man sprach nur Französisch) spaßte er, wiewohl liebevoll, über die rührende Treue Marions für ihren » pauvre Jacques«.

» Pauvre Jacques?« antwortete sie. » Ah, mon prince, hat er das Glück gehabt, einmal ›einer Königin, schön, keusch und klug‹, wie Shakespeare sagt (soweit war sie schon herangebildet) zu gefallen bis an die Grenze eines Kompromisses …, wie sollte nicht ich ihn liebenswert finden? Und zudem: Sie, Sie sind der erste Edelmann von Wien, wie er dessen erster Geiger ist. Und Sie sagen: › pauvre Jacques‹?«

» Madame,« sagte, eben hinzugetreten, statt des Fürsten ein derber Baron, »über Manneswert sind wir verschiedener Meinung. Ich neige zu der Ansicht, daß Sie hier zwei Fiedelbogen verwechseln.«

Im allgemeinen Gelächter auf diese, wohl der Zeit entsprechende, aber rohe Anspielung kehrte der Fürst von Ligne der Gesellschaft sofort den Rücken. Er sah nur einmal, wie um Vergebung für den Sünder bittend, nach Marion zurück. Er kam aber an diesem Abend in dasselbe Zimmer und in denselben Zirkel nicht wieder.

So fein war sein Taktgefühl.

Das besonders rechnete ihm die kleine Marion, die man damals zum Erröten gezwungen hatte, hoch an.

Bald merkte sie die Zugkraft der Fäden, die sie, unwiderstehlich, zu Hofe und in die sogenannte »beste Gesellschaft« einzauberten. Nur jenes einen Blickes des Fürsten von Ligne hatte es bedurft, daß sie ihn wie an sich befestigt fühlte. Warf sie ihre schöne Abendtoilette ab, die aus kleinen Geschenken ihrer Anbeter zusammengesetzt war, welche Le Care, stets wichtig schmunzelnd, aber schweigsam übergab, warf sie ihren Staat ab, dann wuchsen jene Fäden sogar, einem Spinnennetz vergleichbar, über ihre zarte Mädchenbrust. Sie erschwerten ihr mit einer Art von tropischem Parfüm das Ringen nach Atem in freier Luft.

Wohin sie in die Öffentlichkeit ging, immer waren diese unmerklichen Seidenspinnfäden von Blicken: – die an ihr sogen, an ihr zogen, sie zu lenken schienen, die sie immer schwerer zerriß, um zuletzt, oftmals schluchzend und einem Bekenntnis nahe, an die Brust ihres immer angstvoller und ahnungsvoller liebenden Jacques zu stürzen.

»Jacques! Schütze mich!«

Er aber wußte, daß er mit einem Fürsten von Ligne niemals in Vergleich käme. Er wußte sogar, daß Adel, Gold, leichte Konversation in glänzenden Zimmern und kerzenumstrahlter Sieg unter den ermunternden Augen der galanten Baronin Waldstätten dem Mädchen bis in sein bescheidenes Zimmer verführerisch nachgingen.

Er sah, wie oft sie in Träumerei versank, dann den Kopf schüttelte. Er ahnte das Sterben einer Liebe. Er empfand das seltsamste Grauen, das es auf dieser Erde gibt, außer Tod und Häßlichkeit.

Dies Grauen, daß Liebe sterben, ja daß sie lebend weggehen kann. Zu »jenem«, dem Fürchterlichen, wie durch einen Fluch beinahe stets Unbekannten, Andern. Von dem man nie weiß.

Denn vielleicht war's gar nicht der Fürst.

Beim Fürsten von Ligne wäre seiner Philosophie dieses Entsagen, dies wortlose, schwer verbissene Wegtreten vom Kampfplatze noch gelungen. Zu ihm war soviel ehrliches Emporsehen möglich, soviel Entzücken über den unwiderstehlichen Kavalier, daß er Marion verstanden, ihr also zu verzeihen vermocht hätte.

Aber nicht nur der Fürst zog sachte an den Drähten der neuen Königin-Puppe, die sich die Wiener Aristokratie zu geheimem Vergnügen und wie auf Abmachung zurechtrichtete. Nach und nach, und insolange Marion der jungen Dauphine ähnelte, an die jeder sich noch schmerzlich erinnerte, wollte jeder von den Herrn darankommen, welche ehedem, siebzehnjährig, alle in die entzückende Dauphine verliebt gewesen waren.

Wenn damals der arme Jacques sein schmerzliches Genügen oder Ungenügen an ihr in einer Liebesstunde gefunden hatte und an seinem Fenster dann vergeblich darauf wartete, sie noch einmal auf der Gasse zu sehen, um ein verliebtes Zunicken von unten herauf zu empfangen, dann kam sie oft nicht heraus. Dann saß sie erst bei der fröhlichen Hausmeisterin, die Jacques im Bewußtsein ihrer Gewalt ohnedies mit Liebenswürdigkeit verwöhnte. Aber auch Frau Maresi schätzte ihn: denn solange er so ahnungslos im Hause war, gab es für sie reiche Trinkgelder.

Von andern als von Jakob.

Frau Maresi hatte Briefchen abzugeben; zu kuppeln und das Herz der kleinen Marion zu umstricken. Luxus der großen Welt. Geltungssucht: »Die Aussicht, zuletzt vielleicht selber einen Adelsnamen tragen zu dürfen. Dann, wenn man schon mehr interessant als mädchenhaft geworden ist.«

Davon sprach Maresi.

»Höchste Zeit wird's werden, eh' Sie 's ahnen, Mamsell Marion!« warnte Frau Maresi Stolarz. »Nehmen wir an, Sie g'fallen dem Fürsten von Ligne (wie alle herzigen Mädeln), ein Jahr lang. Dann kriegen's einen Brillantring, sechs Roben und fünfhundert Gulden Abfindung. Mein Gott, er hat's ja net mehr so, wie eh'nder, fünftausend zu geben. Sonst hätten's Ihnere Aussteuer für den armen Herrn Jakob ganz herzig und amüsant verdient! Na; aber was nachher? Da sein ma neunzehn Jahrln. Leugnen's net was ab! Bleibt a Jahr, und a Kav'lier, – fürs zwanzigste. Dann werden die schönsten Brüsterln mollert, wann's bei die Soupers zu gut geschmeckt hat.

»Na, fahr'n S' nur net auf! I mein's Ihnen gut. Ich weiß Ihnen dann immer noch die andre Hälfte Kav'liers. Die, was aufs Mollerte fliegen.

»Zuletzt hab' ich mir noch dö notiert, denen sogar das Wabblerte pikant is. Mein Gott, Mamsell. Ich kenn' sie ja alle. Ich war zuerst g'rad so verliebt wie Sö! Alle Tag' hätt' ich so verliebt sein mögen. Zuletzt wird's einem aber wie's tägliche Brot. Und dann – Mamsell Marion, dann is auch die Zeit da, an nix weiter zu denken, als an a gutes tägliches Brot. Ja; schon auch mit Butter; a' Glaserl Wein und zur Jausen an Kaffee mit Gugelhupf. Na: wieviel mehr bleibt denn auch der reichsten Kavaliersfrau? A guter Magen, wann er g'halten hat, gute Füß', wenn ma sonst in seiner Goldkutschen zu fett werden tät, also gern auf Straßen und Wegen, in Wald und Feld umananderstrampeln möcht wie an armer Handwerksbursch. Es bleibt also nix als a schön's Papperl, a sparsam getrunkenes Weinderl, a schöner Frühlingstag zum Träumen, a schöner Herbsttag zum Erinnern. Die Natur bleibt uns. Dieselbe, die jeder arme Bub als Kind g'habt hat. Essen, trinken dazu, und sonst nix, – als gescheiter worden sein. Weiter bringt's ka Mann und ka Frau. Und wegen dem Glänzen und Beneid'sein? Da fragen S' nur unsern armen Kaiser Josef. Oder gar den sechzehnten Ludwig dort in Paris, wo er jetzt eing'sperrt is! Na. Und was Ihnere schönen blonden Haar' angeht, die alleweil von der Baronin Waldstätten schneeweiß überpudert werden müssen, so g'freuns Ihnen, daß das Weiße net Natur is, wie jetzt bei der Königin Maria Antoinette, vor Angst und Gram und Demütigung. Und sich pudern, Mamsell Marionett, pudern braucht die sich dort drüben net mehr!«

»Mein Gott, das muß ich dem Jackerl erzählen!«

»Sagen Sie 's ihm ja net! Überhaupt: Vorderhand denken S' net alleweil an Ihnern Schackerl! Denken S' an Ihnere Jugend – und wie schnell die vergeht! Glänzen S' die paar Jahrln recht! Legen S' Ihnen aber ja was z'ruck! Sö – Sowie's der Schackerl tut! Trotzdem er für Ihnen das Geld 'nausschmeißt. Aber Tag und Nacht arbeitet er's wieder z'ruck …«

»Der Arme! Wirklich!?«

»Denken S' jetzt und vorderhand no net an den Geigerschackerl, sag' i no amal. Denken S' vielleicht, daß Sie einmal wieder zu ihm z'ruckfinden werden müssen: Ja! – Falls ka besserer sich bis dahin abfangen lassen hat. Legen S' 'n auf's Eis. Verhelfen S' ihm zum Sparen für Ihnere alten Tag. Und – wann 's geht – schicken Sie ihm alleweil Ihr Erspartes, damit er's aufhebt. Marionetterl? Das greift ins Herz, sag' i Ihna! Das rührt! Und das macht auch nachdenklich. Solang' Ihna Geld bei ihm liegt, glaubt er, Ihna Herz is bei ihm blieben. Und dann erkennt er immerhin einen gewissen Wert an Ihnen in Barschaft und der hat Anziehungskraft zur Heirat, für den dümmsten Idealisten – das sag' i Ihnen, empören S' Ihna net so, Marionetterl. I kenn die Welt! Und i sag' Ihna glei no amol was Angenehmes: Solang Sie ihm Ihna Geld schicken zum Anlegen, solang denkt er, in aller seiner Wut und in sein'm Schmerz: ›Sie will amal doch z'ruckkommen!‹ Sie; Marionetterl? Das is a Linderung auf ein verliebtes Herz! Sie, das sänftigt alle Verzweiflung behufs Untreue! Folgens S' mir. Sein S' zuerst, solang S' jung sein, recht dumm und leichtsinnig; – denn es gibt auf da Welt ka ärgere Reu', als die über eine nicht begangene Dummheit. Aber nur so weit sei'n S' dumm, wie ich's Ihnen anrat'. Und dann sei'n S' so g'scheidt, wie ich's leider net g'wesen bin. Sonst wär' ich Frau Kapellmeister Mozart. Ja? Da? S' es nur wissen. Aber ich war das sauberste Stubenmädl in Wien und hab' glaubt, es geht ohne ihn höcher auffi. Da hat er mi nur mehr besucht, sobald er a paar Dukaten g'habt hat. Und damit war er zufrieden. Und mehr als a lieb's Andenken bin i ihm nie mehr g'worden. Zur Untreu' g'hören zwei Sachen: Talent und Treue. Mamsell Marionette, das sagt Ihnen die Hausmeisterin vom Sieb'nerhaus.«


Hin und her gezogen wurde so die reizende und halb geglaubte Kopie der immer mehr ins Tragische weggerückten, sagenhaft gewordenen Königin des Glanzes und des Unglücks.

Was ging es die jungen Herren an, wenn Marionett dereinst vor Kummer, Enttäuschung und Armut auch graue Haare bekam? Marionett? das war Marion von heute. Ein liebenswürdiges Spielzeug, das zur Königin aller Salons ernannt worden war: heute – eben und gerade nur für heute. Morgen? Übermorgen? Da sah vielleicht ein Mädchen aus der Leopoldstadt der neuvermählten, reizenden, kleinen Oppenheim ähnlich. Oder eine Josefstädterin der Herzogin von Sachsen-Teschen, die keine Kinder wollte, damit sie immer schön bliebe! Es war zwar durch Marionett Mode geworden, eine Modedame » insimili zu genießen«. Man suchte und wählte aber stets die begehrtere Type des Tages. Man benannte sie ähnlich klingend, aber mit einem Witzwörtchen darin; so, wie eine neue, große, heimliche, eine niemals zu erringende Liebe – »als ungefähr auch so eine« –. Und man war selig damit. Marion wußte wohl, daß man toll auf sie war wegen jener Ähnlichkeit. Sie wußte aber nicht, daß jene hübsche Mode inzwischen schon von einer neuen Generation mitübernommen worden war, die ihrerseits schon von einem neuen, unerreichbaren Ideal schwärmte und es, sozusagen in Gips wiederbelebt, in ihre Zimmer herunterzubringen fröhlich bestrebt war.

Das war damals die Wonne der jungen Leute des absterbenden Wiener Rokoko.

Es gab Sitzungen mit strengster Prüfung; es gab Abstimmungen wegen zulässiger Ähnlichkeit mit der soeben anerkannten Schönheitskönigin von Wien oder London. Nur die Dreiviertelmehrheit entschied. Und eine neue Jugend wußte bald nichts mehr von der einst so faszinierenden, jetzt in Jammer, Verleumdung und Todesangst langsam zu Ende gequälten einstigen Beherrscherin Amerikas und Europas – über Herzen und Mode –, über Prinzen, Kardinäle und pauvres Jacques …

»Die Dauphine.« In seinen alten Tagen noch sogar von jenem ehernen Marschall Vicomte de Frontenac angebetet, der in Kanada mit den huronischen Indianern (zur namenlosen Verachtung, aber zur Niederlage der Engländer) den Skalptanz, in Allongeperücke und Tressenhut, mitgetanzt hatte, »die Dauphine« war vergessen.

»Denken Sie, Frontenac soll noch unter ihren Anbetern gewesen sein!« Das war für die jungen Leute genau so, als hätten sie nichts Schleunigeres zu tun, als die Geliebte jenes Königs Cheops zu verlassen, der die Pyramiden baute.

»Wer ist jetzt obenan? Wer gibt die Karten von Wien? Was? Die kleine Marionett? Die hängt doch schon an mürbe gewordenen Fäden. Wen kann das noch reizen?«

Marionett erfuhr alles aber noch rechtzeitig. Durch Frau Maresi, die Hausmeisterin vom Siebenerhaus.

»So flüchtig war der Tag von Paris; und ebenso flüchtig ist der Tag von Wien.«

Damals schon war es, daß Marionett nach einem schicklichen Vorwand suchte, für ein Jahr wieder einmal in Paris »neu zu sein«. Das hieß für das unselige Mädchen allein: »jung sein«. Sie ahnte nie, daß dies »ewig neu«, also jung sein, niemals in den bewundernden Augen andrer läge. Nur in ihr selber. Sie fror in Wien …

Zu diesem ersten Frösteln, das in ihre Jugend einzog, kam auch der bis in die Markknochen fressende ungarische Wind, der alle Winter beinahe, auf wenigstens vierzehn Tage, von Nordosten über die asiatischen Steppen dahergefegt kommt, der von den polnischen und ungarischen Ebenen nicht aufgehalten wird, da keine Berge das fröhliche Wien gegen Osten schützen, so wie das Donautal und der nicht hohe Wiener Wald dem Westwind offene Tür lassen, wenn der aufzubrausen beliebt.

In solchen Zeiten half kein Heizen. Jacques und die kleine Marion schmiegten sich bald von neuem, aber fröstelnd aneinander. Sie dachten kaum an Liebkosung. Beide dachten sehnsüchtig an die großen, warmen Kachelöfen der stets südseitig gerichteten und darum nicht bis in Mark und Bein durchfrornen Zimmer der Königin.

Und noch etwas andres dachte Jacques. Wenn die Ostwindsonne am Abend fahlgelb wurde und, deutlich frierend, unterging – dann sah er ihr, auch wenn er Marion im Arme neben sich hielt, mit einer Trostlosigkeit nach, die ihm kündete, daß der Arme gar nichts mehr hätte, wenn sich ihm die Natur versage. Kein Geld, um ein von Kälte durchfressenes Ostzimmer warm zu bekommen. Keine Lichter, um den trostlos verscheidenden kurzen Tag durch Wachsflamme und Kristallspiegel zu erneuern. Keinen Sekt, da gerade jetzt für sein Metier jene Zeit war, da sie nur Tanzmusiker brauchten, wozu er sich nie recht entschließen gekonnt hatte und als des Kaisers erster Geiger auch nicht gut konnte. Und keine goldenen Stundenhonorare; – weil in diesen Tagen des Faschings alles tanzen und niemand Musik lernen wollte.

Marionett aber? Sie wollte »dort drüben« wieder jung und neu sein. Im Westen.

Marion dachte daran, wen sie sich dort bei den neuen Männern wohl aussuchen könnte, um nur nicht mehr dieses nackte Zimmer mit dem betrübten, armen Jakob teilen zu müssen, der ihr nichts vorzusetzen hatte als einen Punsch, der statt des in Paris gebräuchlichen edlen Arrak oder der Rataffia mit südsteirischem Zwetschkengeist gestärkt war.

Hinter ihnen klapperte fröstelnd der Tod einer jungen Liebe …


Der schaurige Ostwind war nun allerdings vorüber, nachdem er das offene Wien vierzehn Tage lang mit tatarischer Härte bestürmt hatte. Dafür hatte jetzt der aus Paris kommende, unbeschreiblich holdselige und erweckende Fastnachtswind das Wort, der Fenster winken und aufleuchten, lustig emporgerissene Papiere in der durchsichtigen Himmelsbläue zu Schmetterlingen und Vögeln werden ließ, und also an allem Mummschanz freudig mithalf. Westhauch? – Lebenshauch. Er, der in solchen, südnäheren Städten, den Februar zum ersten Frühlingsmonat zu krönen vermag!

Da saß Jakob einmal im Orchester, das sich die Waldstätten zusammengebeten hatte, und das von Wolfgang Amadé Mozart dirigiert wurde. Die Waldstätten schätzte Mozart so sehr, daß sie als erste der kleinen Opern, welche sie für ihre Gäste aufführen ließ, »Bastien und Bastienne« beliebte. Eine Ehre, die den Meister ärgerlich machte, weil es ein Jugendwerk von ihm war, das er nicht genug verachten zu können glaubte. Aber es war der arme, müde Kaiser mit eingeladen. Und der Kaiser liebte es, daß nur recht wenige Noten in der Partitur standen. Es war da eine kleine Szene vorausgegangen wegen der wundervollen Musik zu dem von Josef dem Zweiten bestellten » Così fan tutte«.

Mozart hatte das Orchester verstärkt. Er hatte die klappenreichen Oboen und Fagotte des Le Care eingeführt; drei Celli und zwei Kontrabässe gewagt! Das war damals erschreckend.

Der Kaiser, der das große Orchester sah, ließ sich damals von Mozart die Partitur hinreichen, die er, der selber stets dilettierende Komponist, ernsthaft durchblätterte:

»Gewaltig viel Noten, lieber Mozart!«

»Nicht eine mehr, als unbedingt nötig ist,« hatte der kleine Musikant, allerdings in liebenswürdigstem Tone und mit der hübschesten Verneigung, erwidert. Die Hofgesellschaft war starr. Der Kaiser lächelte.

»Na. Er muß das ja besser verstehen als ich. Also: Hören wir erst einmal,« hatte er entschieden.

Tags darauf aber war Salieri wieder bei Hofe obenan. Mozart, der damals schon kränkelte, wurde, durch sein freimütiges Wort und dessen Folgen, so sehr in seinen Nerven gestört, daß er schon befürchtete, die eifersüchtigen italienischen Maestri würden ihn vergiften, sobald er doch noch einmal obenauf käme.

Die Waldstätten hatte von dieser Angst Mozarts dem Kaiser erzählt, der heute aufmerksamen Blickes einen der Italiener fragte: »Sie, Toselli: Mozart hat Sorge, daß Ihre Landsleute ihn aus Eifersucht vergiften könnten. Was sagen Sie?«

»Wüßte nicht, wieso der einer solchen Ehre würdig wäre,« war die Antwort gewesen.

Und beruhigt lächelte der Kaiser.

»Alsdann, Mozarterl,« sagte damals die Waldstätten zu ihrem Liebling. »Der arme Kaiser vertragt nur mehr Kleinekindermusik, die ihn net aufregt. Na ja, er is ja krank! So nehmen wir halt ›Bastien‹, und zwar mit lebendigen Drahtpuppen; – das wird was ganz Apartes werden! Lebendige, am Draht gezogen? Sie, das wirkt!«

»Wissen S' übrigens noch a zweites Marionettenoperl?«

Mozart selbst war es damals gewesen, der als zweite Puppenoper die reizende » Serva padrona« von Pergolesi vorgeschlagen hatte. Da er selbst ungemein kindisch war, freute sogar er sich wie ein Knabe über den reizenden Einfall der Waldstätten. Lebendige Menschen als Spielpuppen am Schnürchen sich marionettenhaft bewegen und so singen zu lassen? »Oh, das wird a Hetz'!« Und er wählte sogleich die zierlichsten der jungen Sänger und Sängerinnen aus. Für die Dienerin, die ihren alten Herrn zum Ehemann zwingt, die Serva padrona (die Magd als Herrin), wählte er das entzückende Puppengestaltchen der kleinen Marion, deren Spitzname ihn nur noch mehr dazu anreizte.

Marionett war in jenen leichtsinnig erblühenden Westwetterzeiten schon einigemal mit schmalrasierten Augenbrauen und gemalten Lippen zu Jakob gekommen. Sie hatte nur gelacht, wenn er sie dann ungern oder gar nicht küssen wollte. Sie drang auch gar nicht darauf, daß er sie noch küßte … An diesem Puppenabend aber sah er sie, völlig als Werkzeug der feinen Kreise, zum erstenmal so, daß er erschrak.

Die kleine singende, mit derselben reizenden, aber schwachen und zukunftslosen Mädchenstimme singende Drahtpuppe! Mit diktierten und gezogenen Bewegungen: nicht mehr sie selber. Alles anerzogen. Alles gemalt; bemalt, vorherbestimmt, einstudiert, befolgt.

Nichts mehr Instinkt. Nicht mehr das freie Urtier Natur.

Zum erstenmal durchzuckte ihn ein Wort Wolfgang Amadé Mozarts, den der Fürst von Ligne einmal gefragt hatte: »Ich verstehe kaum Deutsch, mein lieber Mozart. Sagen Sie mir also, mit drei Worten, aus Ihrer Erfahrung in der Musik heraus: Was ist ein Genie?«

»Ein Genie ist der, den kein Lehrer zugrunderichten kann,« hatte Mozart damals schlagfertig geantwortet.

(Ligne schenkte ihm dafür eine goldene Dose, während er für eine wunderbare Serenata nur zwei Louisdor übrig hatte.)

Nun; Marion hatte offenbar nichts als Lehrer gehabt! Sie war völlig deren Kunstprodukt geworden. Sie sang dünn, fein und korrekt, wie eine künstliche Nachtigall. Sie bewegte sich an jenen Zugdrähten mit so vollkommen hilfloser Natürlichkeit, als sollte ihr ganzes Leben von jetzt ab nur mehr so an Drähten, unter Puder, im engen Miederchen mit entblößten Brüstchen, mit gespitzten Fingerchen und geziertem Gange dahinzirpen.

Die adelige Gesellschaft, Herren wie Damen, war freilich beinahe toll vor Freude über ihr Produkt. Sogar der sonst sehr natürliche Kaiser lachte herzlich über das bis zur Unnatur gezüchtete Mädel. Er beschenkte Marion am Schlusse der Vorstellung wirklich mit ungewohnter Freigebigkeit. Er ließ sie (sonst gegen das Hofzeremoniell) durch Beifallklatschen hervorrufen, soviel es der stürmisch gewordenen Jugend nur immer beliebte. Und er wäre der letzte gewesen, der bemerkt hätte, daß in der ganzen höchlich amüsierten Gesellschaft es bloß einen gab, der leise den Kopf schüttelte.

Dieser eine war der Fürst von Ligne gewesen, dem es doch gegen den Spaß ging, ein solches Menschenkind zur Puppe dressiert zu sehen.

Und Ligne, der den Kopf schüttelte, sah seinerseits nicht, daß in der Gesellschaft einer war, der – weinte.

Dieser eine saß freilich unbeachtet am Musikerpult. »Dieser Abend?« Wie ein erschreckender Traum, der sich wiederholte, als hätte man ihn schon einmal gelebt? …

Ach ja! Damals, in Frankreich? Im Trianon? Die kleine Nichte des Fagottisten, Marion, damals fünfzehn Jahre! Damals wurde sie von der puppenhaften Königin geküßt, wie ihr jetzt der schwermütige, für einen Augenblick amüsierte Kaiser die Stirn berührte.

Als Puppe entzückend für alle, welche Puppen um sich brauchen, so blieb sie auch jetzt. Richtig: Zweimal war das geschehen. Wie man es manchmal im Traum zweimal zu erleben glaubt. Mit Marion, als er sie zum erstenmal sah – und jetzt zum …

Er wagte nicht, das Wort: »zum letztenmal« zu denken.

Jene eine bittere Träne gab ihm genug zu tun, um sie zu verbergen. Schauerlich, dieses Wachsfigurenkabinett des Lebens, in dem sie soviel Erfolg hatte.

Jetzt wußte er, daß er sie verloren hätte.

An wen? Das war nun nur mehr stumpfe Schicksalsfügung.

Nichts blieb ihm, als dies Nordische: In grauer Zeit schwer in sein schweres Ich versinken. Unbefriedigten Geistes deshalb, weil er sich selber nicht zu erlösen vermochte.

Denn keine andre Erlösung war ihm gegeben als jene durch die Größe oder auch wohl die Süßigkeit, die Bangigkeit und den Leichtsinn seiner Kunst.

Es war ihm nicht gegeben, selber zu warnen, zu donnern, zu grübeln in ihren Lauten. Er durfte bloß Mozart, etwa in dessen »Don Juan«, helfen.

Damals wäre eine große Zeit gewesen.

Marionett? Damals wurde sie klein.


Kaiser Josef lag im Sterben.

Marie Antoinette hing im Netze der ungeheuern, grausamen Vogelspinne Frankreich.

Der Wiener Wald aber und seine Weingärten lagen im Westwinde und in der ersten, wirklichen, spielerisch in allen Fenstern blitzenden Karwochensonne. Es war geradezu heidnisch, wie die Natur gegen das schwere heilige, katholische Büßen, Zuwarten und Denken ans Heilige Grab revoltierte! Die wartete nie! Die resignierte niemals mit jenen Worten:

Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen,
Nur darum noch ein Weilchen überleben …

Nun hatte Jakob wohl all dies erlebt und überlebt.

Bald sogar den armen, herrlichen Kaiser Josef. Und gesehen hatte er, wie der von ihm vergötterte Mozart darbte.

Alles war eitel. Nur nicht solche Tage am Wiener-Wald-Rand, die ins Blut, die in Mark und Bein fuhren. Tage, die Alte jung und Junge sterbenssehnsüchtig machten, wie jetzt ihn. Nur von neuem anfangen dürfen! … Aber weise!

Wie hatte die Hausmeisterin seines Siebenerhauses gesagt? … »Marionett.«

Die Nacht, welche jenem entscheidenden Festabend folgte, war für Jakob tödlich schwer, wie es eben der Todeskampf einer Liebe ist. Nichts war mehr zu tun. Das kummerlose Wien! – Aus Marion, die im tragischeren Frankreich von damals ein großer Charakter werden konnte, hatte es wahrhaftig eine seiner allerliebsten Puppen gemacht. Es war nur mehr die Frage, wann und in welchem Zustand es die Spielpuppe wieder wegwarf.

Aber diese schicksalsschwere Zeit:

»Ach, was wird sein, mein armer Jakob!? Ach, was wird gehn!?«

Irgendeine schwere Einsamkeit – wie jene, in welcher Gott selber wohnt, trotzdem er in alle Dinge übergreift –, sie lag wie gegossen um ihn.

Er gehörte nicht zur Welt und war dennoch zu sehr mitten in ihr.

Dies waren, mit kurzen Worten angedeutet, jene Karwochentage im alten Österreich, die er durchlebte.

Aber dann wurde ihm in jenem Lande eines der großen Gralswunder, die sich selten ereignen.

Wolfgang Amadé ließ, bei ihm zu Besuche, verzagend und sich verarmt fühlend, wie Jacques und jeder, den Kopf sinken. Sogar der!

Je Besseres er ersann, desto mehr verließ ihn der fürs Dasein so nötige Beifall der Menschen. Sogar der war müde!

Aber bei einer, ihm und den Seinen Rettung oder ärgste Not bedeutenden Erstaufführung seiner tiefsten Opern rührte sich im ganzen Saale, nach dem Verbrausen der übermenschlich schönen Ouvertüre keine Hand zu jenem grausamen Beifall, der nachahmungslustige Schurken reich werden, aber beinahe immer, in der Geburtszeit des unsterblichen Werkes, das Genie verarmen läßt.

Le Care, im Orchester und inmitten dieses stupiden Schweigens, saß unumwerfbar fest und saugte an seinem Fagott. Er, der bei Gluck und dessen Niederlagen in die Schule gegangen war, brummte bloß in sich hinein:

»Kanaille.«

Aber dieses Wort war dem kleinen Musiker Jakob zu viel für sein übervolles Herz.

Es war einer der für die Seelengeschichte der Menschheit peinlichsten Augenblicke da. Auf einen Ruf, den ein Göttersohn, leidend und herrlich, ausgestoßen hatte, rührte sich – nichts.

Da sah das göttliche, arme Kind Mozart um sich, und seine angstvollen Augen sprachen das unzählige Mal wiederholte Wort aller Erlöser hilflos, stumm aus:

»Mich dürstet.«

Es war jene Sekunde, da der Fagottist brummte: »Kanaille.«

Jakob aber kroch, gedeckt von der Estrade des Orchesters, an Wolfgang Amadé Mozart heran. Er ergriff die hilflos herabhängende, verzagende, schöne Kinderhand und küßte sie.

Mozart streichelte Jakobs Haar. Aber in ihn war Leben eingegangen. Jene Kraft, deren sogar Gott bedarf: die Kraft des Glaubens an ihn.

Und so siegte er zuletzt dennoch gegen die Stumpfheit und müde Leere in beinahe tausend Menschenherzen. Beifall, zuletzt dennoch Beifall!

Das war in jenem Winter gewesen, als der arme Jakob um eine Marion litt. Jetzt durchzuckte ihn der Gedanke, der nötig ist zur vollendeten Erlösung: Sich selber und seine Liebe aufgeben in Demut und Liebe.

Aufgeben fürs immer Größere.


Damals hatte Wolfgang Amadé, verwirrt, blaß und hilflos, um sich gesehen in solenner Verlassenheit.

Und nur ein Augenpaar hatte er für sich leiden und Klage erheben gesehen.

Das war ein arg Stück Einsamkeit gewesen. Sogar auf Golgatha gab's mehr Gesellschaft. Aber in Österreich geht nicht leicht etwas tragisch und hochtrabend aus.

In Österreich bittet man so liebe Menschen, die leiden, zum Frühstück.

»Oder zur Jausen.«

Jakob Auberger wurde heute von Mozart eingeladen.

Der Tag war so recht ein Wiener Vorfrühlingstag, deren es, warm und übermütig, schon im Februar oder zu Anfang des Märzen gibt, so daß der Straßenstaub und das dürre Laub und die Wurstpapiere der Wiener eine tolle Sozietät bilden, die in einer herrlich übermütigen Windhose senkrecht in die hohe Unerreichbarkeit der Sonnenluft hinaufwirbelt, sich dreht und dann – chassez, croisez! – auseinandertaumelt und den ganzen blauen, leichtsinnigen und verliebten Himmel mit lustigen Windglossen kennzeichnet.

Genau auf diesen Ton war Mozart sonst zumeist abgestimmt.

»Man lebt! man lebt!« war dieser Ton.

»Kinder – wißt ihr das Neueste? Wir leben ja!« rief Mozart, als er ankam.

Es gibt kein Rufzeichen, das rosenrot, himmelblau und primelgelb genug gemalt werden könnte, um den kapitalen Ausbruch dieses einzigen Wortes zu unterstreichen.

So kam Mozart, Wolfgangerl Amadé daher.

So trat er ins Leben; so kam er zum Heurigen, zu dem er sich die drei Allergetreuesten des Orchesters zusammenbestellt hatte. Denn er hatte Dukaten in der Tasche, die ebenso wie ihr Urbild, die Sonne, danach brannten, hochgelb auf- und weinrot unterzugehen.

Hier eine winzige Kneipe. Ihre Tische, alle drei, aus der Stube vors Häuschen gequollen, vor Überschwang des Tages. Dort, gleich zum Schießen nahe, die reiche und vornehme Welt auf dem Cobenzl.

Man sah Stadtfracke und Stadtweiber. Man sah bis in die grüne Steiermark, je nachdem man wollte.

Und die ganze Gegend hieß: »Am Himmel.«

Für alle und jeden, der sich danach zu benehmen wußte.

Lekar, mit eingeladen, benahm sich auf seine Weise. Er saß da, als schleudere er wuchtig seinen Namen aller Miserabilität der Erde ins Gesicht.

Wolfgang Amadé trällerte mit Seele und Fingern eine Idee, die sich zum Himmel erhob wie eine Feldlerche am Morgen und heruntersank, wehmütig und zärtlich ersterbend, wie die letzte Heidelerche der Nacht.

Jakob Auberger war es zumute wie einem Zitronenfalter, dem der Februar wohl die Flügel langsam wärmend gelöst hatte, aber sie waren noch naß und schwer, und gefältelt wie furchtsame Sorgen, die ihm unter Aug und Mund gezeichnet standen.

Er regte wohl in seiner Seele, ebenso wie jener, entfaltungsfähige, schöne und goldleichte Segel, scheute aber noch den tragenden, unberechenbaren Vorfrühlingsflug.

Wirkliche Weite war bloß in Wolfgang Amadés Leichtsinn.

»Sagt's mir, Herzerln, was sind gegen so a Tagerl die Schmerzen der Welt? Aufg'löst in E-Dur: die größte Dummheit von allen Tonarten? Ja. Aber die Schönheit selber …, wie halt zumeist die Schönheiten dumm sein. Was, Lekar?«

»Du, Jakobitschek, merkst dir das?« sagte der Graslitzer Lekar. »Ich hab' dich net unterstützt bei deiner Marion, und i weiß, daß du mir jetzt noch deswegen gram bist. Marion hätt' dich unterstützen sollen, hab' ich mir denkt.«

»Ja, Aubergerl,« sagte Mozart. »Du hast gut seufzen! Du seufzt, weil d' net verheiratet bist. Ich seufz', weil i 's bin. Die Eh' is a belagerte Festung. Dö draußen sein, dö möchten gern hinein. Und dö drin sein, möchten gern außi!«

»Und so red't der Meister Mozart am Himmel,« seufzte Jakob.

»Der Himmel? Jakoberl! Der is in dir selber: überall einsam oder nirgends. Nimmst'n zweiten Himmel dazu, der blast dir fortwährend sein' einzigen, also meistens falschen Ton dazwischen,« sagte Mozart.

»Sie, Maestro, sind aber doch glücklich?« sagte Jakob leise.

»Jawohl; sobald ich allein bin.«

»Weil Sie 'n Himmel auf Erden haben, suchen S' auf Erden den Himmel nicht,« sagte Jakob.

»Und wo wär denn mein Himmel?« fragte Mozart.

»Der braucht keine Achatknöpf und ponceauroten Frack. Der steht entweder als Kunst in Ihnen drin … Oder da draußen: Wiener Wald. Sonne. Wind. Weite, grüne Welt. Weingärten. Maler sein muß man mit den Augen, net mit 'm Pinsel. Unverkäuflich muß jedes Bild sein, das die Seel' sich malt. Unbezahlbar muß es sein. Wir leben alle mitten in der Ewigkeit; ganz genau immer im Mittelpunkt. Den baut nur der liebe Gott, und wer da einizogen is, der mag nie wieder heraus.«

»So, so.«

»Ja, Meister; divino maëstro! Alles haben S', alles wissen S'. Bloß dazu hab'n S' net Zeit g'habt, das zu merken, daß die Natur der Herrgott selber is, der alleweil um uns und mit uns sitzt.«

»Mein Herr Vater hat für so was kein'n Sinn net g'habt,« sagte Mozart nachdenklich. »Das ist wahr; da steht die ganze, ewige Natur, und wir machen einen Spaziergang durchs Paradies und plauschen uns zu einem Türl hinein und zum andern hinaus und waren gar net drin. Ja, ja …«

»Vortrefflich g'sagt, Meister! Fangen S' bloß noch mittendrin an!«

»Ja … Wer nur so reich wär', in dem Paradies immer spazierengehn zu dürfen …«

»Kann jeder Pensionist!«

»Ich net,« sagte Mozart. »I muß noch viel Noten malen …«

Als bei diesem wehmütigen Bekenntnis des großen Meisters ein kurzes Schweigen entstand, setzte Mozart sogleich hinzu: »Kinder, wann's so stad seid's, gibt's nur mehr das eine Mittel: eine Flasche aufmachen, die dabei knallt.« Und er trank den ganzen Weinvorrat überraschend schnell aus.

Alle aber wehrten ihm den Champagner und lachten nur über den unverwüstlichen Leichtsinn des großen Kindes, das nun freilich vom starken Lekar nach Hause geführt und zu Bett gebracht werden mußte.


Es war Mozarts letzter vergnüglicher Ausflug gewesen.

Sehr betrübt über den verkürzten Abend, saß Jakob noch allein. Wie hatte er sich gefreut, beim Genie sitzen und göttliche Offenbarungen erlauschen zu dürfen; und jetzt war ihm nichts geworden, als daß er Zeuge sein durfte einer allzu menschlichen Niederlage durch eine der menschlichen Schwächen. Schön war nur, daß der Meister bloß aus Großmut und Geberfreude so rasch getrunken hatte.

»Ich habe trotz allem viel gelernt heute,« sagte Jakob trübe und ließ sich noch ein Seidel geben, um seine Gedanken froher zu stimmen. »Ich hab' vom Lekar gelernt, daß man niemals ein Mädel ernst nehmen soll, das sich selber nicht ernst zu nehmen weiß. Ich hab' vom Mozart gelernt, daß die allerbeste österreichische Gabe kummerloser Leichtsinn ist, ein Ding, das unbedingt zu eigentlich glücklichem Leben gehört. Sogar moralischer Leichtsinn gehört dazu, lieber Freund! In Zeiten wie diese, wo die ganze Menschenwelt fiebert … und wir mit ihr …«

Als er wieder ein andermal nach Wien zurückkam, noch voll von Waldrauschen, Donaufernenweg, Wolkentraum und Allgefühl, da erfuhr er, daß sich Meister Mozart mit einem hitzigen Fieber hatte legen müssen. Und er ahnte, daß diese Krankheit dorthin führen würde, wo Wolfgang Amadé das letztemal nahe vorbeigegangen war. Zum All zurück.

Zu Hause schlug er voll Gepreßtheit ein Buch auf. Es war der Werther, das schnell bekanntgewordene Buch eines Rheinischdeutschen. Und wie er ihn abermals las, las er ihn völlig anders als ehedem. Völlig ohne das Liebesleid zu Lotte. Völlig als des Erdgeistes Buch. Des, der sagte: »Von jetzt ab Erdkulin für immer.«

Sein Fenster schlug leise im Nachtwind den Takt zur Urmelodie, die ihn umwehte. Ihn schauderte, weil er ein Geheimnis besäße, das offen dalag und niemand sah.

Dies war die große Wandelstunde des Geigers einer Königin und eines Kaisers, welche selbst wie im Dunkeln dahinzogen.

In ihm war Maria Antoinette jetzt nur mehr eine ferne, unendliche Erfüllung durch Tulpenglut, durch Tulpenduft, damals (lange war es her), damals bei den Pfingsten der angstvoll vereinsamten, ahnungsvoll beim kleinen Lehrer der Musik nach Hilfe suchenden Königin. Damals bei der Legende vom Hirten, der Minister geworden war …

Ahnungslos, mit der Milde des Lyrikers entschläft der Mensch, während ein Wirbelwind, der ihn morgen torkeln macht, schon unterwegs ist.


Am andern Morgen weckte ihn die Hausmeisterin. Es wäre ein Hofbeamter drunten! Mit einer kaiserlichen Kalesche! Und er möchte sich nur gleich in Staat werfen! Seine Majestät, der neue Kaiser, erwarte ihn! »Jessas, Herr Auberger! Wann am End' dem Kaiser Ihnere Marion g'fällt und er kauft s' Ihnen ab? Na, er fliegt ja stark auf die blonden Maderln, weil er sich in Toskana von die Italienerinnen abg'gessen hat! Verlangen S' ja a recht hohes Abstandsgeld für Ihna Fräul'n Braut. Merken S' Ihnen das!«

Mit unbehaglichem Gefühl kleidete sich der Geiger an. Marion gehörte, soviel er wider Willen vernommen hatte, jetzt einem Herrn v. Abensperg, dem sie der Fürst von Ligne nach kurzem Glück grandseigneural abgetreten hatte. Der dritte, der schon auf sie wartete, war ein pechschwarzer Bulgare; einer von jener Menschenrasse, die an Gorillas erinnern, in ihrer kurzgebauten, stämmigen Gestalt mit enorm starken, langen Armen, gewaltigen Händen und noch gewaltigerem Gebiß. Und es ist merkwürdig, daß solche Menschen stets ein häßliches Lächeln haben, trotz den weißen Zähnen. Es ist, als fehlte ihnen zum Negerlachen die breite Kindlichkeit, zum Aufblitzen westlicher Heiterkeit aber jede Sonne, jeder Geist, jede Güte.

»Marion? Marionett?«

Der Kaiser galt als Mensch von feinster Kultur. In kaum zwei Jahren hat er das empörte und kurz nach Josefs Tod in offene Rebellion getretene Ungarn beruhigt, indem er gerade diesen Revolutionären freie Luft ließ; ja sie, wenn sie fähige Köpfe waren (wie Abbé Martinovic, der Publizist Hajnoczi, der Dichter Kazinczi), in öffentliche Stellen beförderte. »Die,« pflegte er zu sagen, »diese größten Revolutionäre gleichen Dampfkesseln, deren Ventile man mit kundiger Hand rechtzeitig öffnen muß – um später nach Belieben wieder drosseln zu können.«

Und dieser Mann sollte Marionett begehren?

Jakob war klug genug, um die große Weisheit obigen Wortes zu erfassen und die Überlegenheit dessen, der es nicht nur gesagt hatte, sondern überraschend fein nach ihm zu handeln wußte, so daß die französische Republik aufmerksam und verhandlungsbereit und das schon abtrünnig gewordene Flandern nebst Brabant wieder zu Österreich zurückzukommen bereit war.

Dieser Mann ließ ihn eines Mädchens halber nicht rufen.

Dieser Kaiser, zu dem, da er noch Großherzog von Toskana war, täglich jeder Florentiner, jeder umbrische Bauer und jeder Fremde freien Zutritt hatte?

Also auch jedes Mädel? Das hatte andre Gründe.

Schweigend stieg er zu dem überaus höflichen Herrn ein, der ihm vergebens auf den Zahn zu fühlen versuchte.

»Na, wissen Sie denn, warum Sie zu Seiner Majestät befohlen sind?« begann der Diplomat.

»Wenn ich es nicht wüßte, würde ich versuchen, Euer Exzellenz zu fragen,« sagte Jakob schadenfroh. Denn er fühlte die gut verhohlene, aber brennende Neugierde des Wiener Nachrichtenkolporteurs.

»Aber dann zeigen Sie mir, daß Sie es wissen,« lächelte der Beamte fein zurück.

»Exzellenz wollen mich auf die Probe stellen, ob ich verschwiegen sein könne. Exzellenz wissen selbst zu gut, daß Majestät nicht gestattet, über Dinge zu sprechen, denen er seine Billigung einstweilen noch vorenthält, und Exzellenz wissen ebenso, daß Majestät mich fragen werde, ob ich vom Grunde meiner Fahrt zu Majestät schon mit jemand gesprochen hätte. Wenn ich nun sage, Exzellenz hätten mir alles abgefragt?«

»Ach, Gott bewahre! Ich weiß, was ich weiß, Sie wissen, was Sie wissen, lassen Sie uns Freunde sein.«

»Exzellenz werden hoch emporsteigen, wenn Seine Majestät lange lebt; was Gott gebe,« sagte Jakob bescheiden, um den andern zu versöhnen.

»Ach, mein Freund Auberger, ich sehe, Sie wissen schon zu viel,« seufzte der Herr vom Hofe. »Das ist es ja eben. Der Erzherzog Franz denkt gänzlich anders als unsre Majestät, sein Vater – und Sie? Woher haben Sie den soeben zartfühlend ausgedrückten Gedanken?«

»Welchen?«

»Nun – die Furcht von einer kurzen Regierungszeit Seiner …«

»Wan kommt viel umher als Geiger,« sagte Jakob einsilbig.

»Wohl auch zum Leibarzt Seiner Majestät?« stürmte der um seine Position bei einem vielleicht Todesnahen besorgte Herr empor! »Sagen Sie! Sagen Sie nur dies, und ich will Ihr Freund fürs Leben sein!«

(Der arme Kaiser ist also doch krank, und die Ratten schicken sich an, das sinkende Schiff zu verlassen, dachte Jakob.) Laut sagte er: »Exzellenz wissen ohnedies mehr als gut ist.«

»Ah, ich dachte es,« schwätzte der Kavalier halblaut weiter. »Und wie denken Sie also über die Herren Politiker, die Seine so sehr bedrohte Majestät in seiner zarten Gesundheit zu Hilfe zu rufen gezwungen war?«

»Ich war zu viel in Frankreich,« lächelte Jakob trübe, »um nicht zu wissen, daß Druck Gegendruck erzeugt und daß unsre Jakobiner …«

»In derselben Gefahr stehen wie Marie Antoinette,« schloß der Hofherr stürmisch die Unterhaltung.

»Ah! Da sind wir schon im äußeren Burghof! War das ein Dahinfliegen der Zeit! War das eine anregende Unterhaltung! Herr Konzertmeister von Auberger? Ich wünsche Ihnen den Aufstieg, den Ihr ungemein feiner Geist verdient. Und was ich dazu tun kann, das werde ich besorgen. Noch einmal: wir wollen Freunde sein!« Und mit Vergnügen bemerkte der Kavalier, daß die Spitzen am Ärmel seiner eigenen, gnädig entgegengestreckten Hand ungefähr das Vierfache dessen gekostet hatten wie die immerhin noch geschmackvoll zu nennenden Blonden an der Manschette des Musikers.

Exzellenz halfen trotzdem Herrn Auberger, der genial, einflußreich, aber nicht goldreich sein mochte, für alle Fälle sogar aus dem Wagen und fragten nur noch so nebenhin: »Da Sie so sehr unterrichtet sind, wie heißen doch unsre lieben Freunde, die Kaiser Leopold zu solch überraschender Annäherung an Frankreich verhalfen?«

»Ach, gehen Exzellenz nur in die Kaffeehäuser und sehen Sie zu, wer den ›Moniteur‹ liest.«

»Sie Wunder an Weisheit! Ja, das habe ich bemerkt, ohne mir etwas andres darunter zu denken als Neugier. Gerade den ›Moniteur‹ gedenkt der junge Erzherzog Franz allererst zu konfiszieren und zu verbieten, wenn …«

Dann stand Jakob Auberger vor dem Kaiser, ebenso wie zu gleicher Zeit der Hofmann vor dem kühlen, aber gemütlich tuenden »Erzherzog Franzl«.

»Hab'n S' was herauskriegt aus dem Musikanten?« fragte der Erzherzog.

»Kaiserliche Hoheit, das ist der verschwiegenste Mensch, den ich jemals im gesprächigen Wien kennengelernt habe! Er weiß genau, was Majestät von ihm will; aber kein Wort brachte er heraus! Hingegen ist er leidenschaftlicher Feind der Jakobiner.«

»Das will i gern glauben. Er ist ja in meine Tant' verliebt gewesen. Aber weiß er was über das G'sindel?«

»Nichts einfacher, als sein Rat: Man muß den ›Moniteur‹ in allen Kaffeehäusern freigeben, sodann aber alle Leute notieren, die ihn regelmäßig und mit Freudenbezeugungen begehren.«

»Sehr gut. Ein paar solche Brüderln weiß ich schon. Also. Was man tun kann, daß der ›Moniteur‹ gelesen wird, ist Wille meines Herrn Vaters, dem ich mich gern beuge. Schauen S', ob der Auberger bald mit 'm Kaiser im reinen is, und dann lassen S' mich melden. Ich hätt' mit ihm auch noch ein paar Wörtl zu sprechen.«

»Dieser Auberger! Um den bewirbt sich sogar schon der künftige Kaiser,« dachte Exzellenz bei sich. »Man muß ihn fördern, solange er noch nicht merkt, daß er es nicht nötig hat.«

In derselben Zeit schloß der Kaiser seine Besprechung mit dem armen Jakob.

»Also, wie mir der Fürst von Ligne sagt, ist die kleine Marion Le Care von vollendeter Ähnlichkeit mit meiner Schwester Antoinette?«

»Zu jung, viel zu jung,« rief Jakob, »aber sonst: – ja, Majestät! …«

»Dann haben Sie die in letzterer Zeit net g'seh'n,« lächelte der Kaiser. »Merken Sie sich das: Wenn der Ligne einmal ein reizendes Mädel wem andern überläßt, dann ist das ein Zeichen, daß net viel überblieben ist.«

»Arme Puppe!« entfuhr es dem Geiger.

»Aber g'rad so kann sie helfen. Darum sein S' ja da. Hören S' also: Der Ligne? Ihre Marion? Vielleicht möcht' er s' Ihnen wieder zuschanzen … Na ja; ich seh's Ihnen an und begreif's, wenn S' ›danke‹ sagen. Jedoch will er sie vor dem Heruntersinken retten, ehe die letzten Fäden zerreißen, an denen unsre feine G'sellschaft sie herumzieht. Sie soll zurück ins Frankreich. Sie soll wieder die werden, die sie war, und in ihrem kleinen Köpferl wieder was Großes hegen. Es wird net lebensgefährlich werden, Auberger. Noch einmal: Schaut sie sehr meiner Schwester ähnlich?«

»Ähnlicher als die Oliva – damals bei der Halsbandgeschichte!«

»Hören S' auf mit die Erinnerungen, ja? Also: Die Oliva; hat denn die ihr ähnlich g'seh'n?«

»Majestät,« sagte Jakob mit einer Art von Grauen, »ich habe es nur immer so gehört. Denn gesehen hab' ich die Oliva nur einmal, ganz entkleidet – damals, als sie öffentlich ausgestäupt und gebrandmarkt wurde.«

»Schau, schau,« sagte der immer noch sinnliche Kaiser lächelnd und winkte ihm, zu schweigen.

»Also, die G'schicht steht so. Der Fürst von Ligne kann mit dem Mädel machen, was er will. Das haben's erlebt, Sie Armer und Glücklicher. Denn Sie waren ja doch der erste bei ihr. Oder auch net? Rotwerd'n? – Aha; also ja. Der Fürst von Ligne will das aparte Mädel –«

»Majestät? Grad das ist sie nicht.«

»Apart mein ich, durch ihr Schicksal und ihre Ähnlichkeit mit meiner damals sehr herzigen Schwester,« sagte der Kaiser, über Jakobs Enttäuschung lächelnd. »Er will das Mäderl, dem er durch den Verlust seiner Riesengüter keinen anständigen Ersatz für verlorene und stark verbrauchte Jugend geben kann, sozusagen hinauffallen lassen. Er hat ihren Heroismus von Anno damals wieder geweckt. Sie bringen sie nach Frankreich. Die Dortigen sind froh, wenn sie ohne Krieg und Verwicklungen meinen Schwager allein in der Zangen haben. Ich wieder möcht' meine Schwester wenigstens retten. Bei ihrer Flucht (wenn sie allein ist) drücken sie ein Aug' zu. Und beim Entdecken der Verwechslung weiß ich einen regierenden Herrn Advokaten dort, der gern die jüngere Kopie einer Frau annehmen wird, die er – genug: Sie wissen, daß meine Schwester wenigstens eines ist: Königlich.«

»Ob ich das weiß, Majestät. Darum geh' ich ja durch Dick und Dünn für sie, Majestät!«

»Ich hoffe, es wird nicht zu dick sein. Im Grund haben Sie nichts andres zu tun, als Marion als Austausch nach Frankreich abzuliefern.«

»Aber Louis seize,« rief Jakob schaudernd auf Französisch, weil ein Kammerdiener die Türspalte geöffnet hatte und hereinspähte, zum Zeichen, Leopold wünsche erinnert zu werden, daß die Audienz viel zu lang gedauert hätte.

» Louis seize,« antwortete der Kaiser, ebenso leise und französisch, »es ist mir versprochen, er wird Doge von Venedig mit alleinigem, freiem Jagdrecht; Frühjahr und Herbst, zur Vogelzugzeit im Tierparadies der Lagunen. Ist Ihr Herz jetzt leichter?«

»Ah, da schlägt Seine Majestät, der König, sicherlich ein!«

»Sie sehn, es steht also gut. Und jetzt, Schafaritschek,« wandte sich Leopold der Zweite an seinen Kammerdiener: »Wen bringen's denn so aufdringlich daher?«

»Bloß Seine Hochhaaitjt, den Gronnprinz,« sagte Schafarik begütigend.

»Bloß? Das ist gut. Also, er soll hereinkommen. Was willst denn, Franzl?«

»Geht der Auberger weg, Papa?«

»Freili – in diplomatischer Mission!«

»Kommt er bald z'rück?«

»Hoffen wir's. Warum?«

»Ich brauchet für mei' Hausquartettl einen ersten Geiger. Die Adeligen können alle nix, und die Bürgerlichen tun glei wichtig und schwätzen aus. Der da is ein Philosoph. Er halt's Maul, er sagt nix und spielt bloß Geigen. So wen find i im ganzen Wien net wieder.«

»Sag's ihm nur, damit er Größenwahn kriegt.«

»Ich sag's ihm ganz aus 'm Gegenteil: damit er ja genau weiß, wann er fliegt; und wann er net mehr seine sechs Dukaten Wochenzuschuß bekommt, die er nie verliert, wann ich einmal Kaiser bin!«

»Da können S' lang warten, Auberger,« lachte Leopold der Zweite. »Mei' Franzl verspricht nur, was er net zu halten gezwungen werden kann. Soweit kenn' i ihn. Fahren S' also nur vorderhand nach Paris; es wird einträglicher sein. Und glückliche Reis! Bis Straßburg haben S' an wunderschönen Wagen. Allein mit Ihrem treulosen Drahtpupperl; und fürs andre is vorderhand da a sauberes Rollerl Louisdor, noch mit mein'm unglücklichen Herrn Schwager drauf … In der Form wird er alleweil noch hoch verehrt!«


So war die Abschiedsaudienz Jakobs bei Leopold II. gewesen, und Jakob fuhr, zuerst unbehaglich, ja wirklich unphilosophisch fremd, angeekelt und beinahe rachsüchtig, neben der stark gepuderten und geschminkten, vornehm gewordenen Marionett; – grausam und abscheulich schweigend beide. Donauaufwärts ging's, den ganzen Tag schweigend.

Marion, am ersten Abend in Linz:

»Könnten wir nicht Reisegeld sparen, Jakob?«

»Wieso?«

»Jakob, wir sind ja sowieso ein einziges Zimmer gewöhnt.«

»Ja; das hat gestimmt bis zu der Zeit, wo ich mich noch net gegraust hab vor Ihnen!«

»Was wär' an mir zum Grausen? Schminke und Puder sind einem Philosophen zu Lieb' leicht weggewischt und abgeschabt.«

»War der Fürst von Ligne kein solcher Philosoph?«

»Wenigstens keiner, vor dem du dich heut' zu grausen brauchst. Er badet öfter als du. Er putzt sich die Zähn' öfter als du. Wechselt die Strümpf' öfter als du.«

»Du, hat dir der Fürst eingeblasen, wie du mit mir reden sollst?«

»Und wenn? Wenigstens siehst, daß ich in keine schlechter'n Händ' gekommen bin, nach den deinen. Wenigstens siehst, daß ich zu niemand andern kommen mag, als zurück zu dir. Wenn auch nur in die Reisekutschen.«

In Linz bestellte der empörte Liebhaber zwei Zimmer. Aber er hatte sich selber stark im Verdacht, es deshalb getan zu haben, damit ihm die Sensation bliebe, in der Zeit zwischen Aufhebung des Soupers, bei dem ihm Marion zärtlich wie nur jemals ehedem vorlegte, und zwischen elf Uhr des Nachts diebisch, verboten, zu ihr zu schleichen, die nun, wirklich ohne Puder und Schminke und im ungewissen Licht einer Kerze schöner erschien als je, die kleine weggestohlene Geliebte einer Durchlaucht.


Und abermals Paris! Das grauenhaft veränderte Paris: bin einziger Grèveplatz, wo ehedem allein sonst Hinrichtungen vollzogen worden waren.

Das heitere Paris, ein entsetzlicher Traum war es geworden. Und, wie jedem Traum, wohnte ihm der Albdruck der Todesangst mehr und gräßlicher inne, als die wirkliche Todesangst ängstet. Es gab allzuviel des Schreckens zu ahnen, allzuviel mitzufühlen mit dem Lose von Tausenden, die das neue, ungeahnt herrliche Glück der Freiheit selbst dann noch, wenn sie zuhöchst im strahlenden Lichte standen, zwang, beständig Gift bei sich zu führen.

Nun. Die Aufgabe, die sich Jacques gestellt wähnte, war nicht so leicht. Marion hatte er wohl mit der in Österreich zurückerrungenen Leichtigkeit und dem Leichtsinn des Philosophen-Musikanten, wieder als Reisefreundin an sich genommen.

Aber in Paris war Marion, die sich bisher in der Hofburg von Wien und schon vorher beim Fürsten von Ligne, heldenmütig entschlossen hatte, die Königin zu retten, nicht mehr dieselbe. Sie war doch sehr betreten von dem ein wenig starken Eindruck der Freiheit des Volkes, seiner Sitten, seiner Kraft, seiner Vertreter.

Umschrägt von der gewaltigen, neuen, dreifarbigen Binde des freien Volkes fuhr da ein Deputierter an ihnen vorbei, der sofort einen brennenden Blick auf Marion warf. Ein furchtbarer Blick – voll Urbrutalität.

Auberger grüßte, da er den Mann von ehedem kannte. Begeistert winkte der andre zurück. Von da ab grüßte, weitergegeben wie durch einen Wellenschlag, das ganze Straßenvolk Marion und Jakob – die beiden Fremden! Eine vornehm aussehende Dame reichte den beiden sogar unter dem Jubel des Volkes zwei Schleifen und Kokarden mit der Trikolore ins Wageninnere. Sie schmückten sich damit, ahnungsvoll begreifend.

»Wer war der Herr, dem wir diese Auszeichnung verdanken?« fragte Marion mit verdächtig starkem Interesse.

»Ein Herr Marat. Ich kannte ihn bloß als gehässigen Wühler, der einmal sogar an die Königin heranzutreten wagte, in der Meinung, sie brenne ebenso heiß, wie er selber. Da er sich irrte, haßte er sie fortab. Mich suchte er auf, da er mich von ihr verschmäht wußte und bot mir Freundschaft an.«

»Und du, du hast sie angenommen?«

»Ach, ich war damals beschämt, empört und dumm, wie er selber.«

»Vielleicht dein Glück, Jacques; vielleicht dein Glück,« rief sie hoffnungsvoll aus. »Mach' mich mit ihm bekannt!«

»Meinetwegen?« fragte Jacques, philosophisch lächelnd.

»Natürlich! Auch deinetwegen. Ach …, mein Freund! Wie schauerlich schön ist doch ein so offenkundig regierender Mann, der es gar nicht zu verstecken der Mühe wert findet, daß die Welt unter seinen Tritten liegt!«

»Eine aufrichtige Bestie, meinst du?«

»Ja, ja! Es ist ein herrliches Wort, das du da gefunden hast: › Bête‹!«

»Dergleichen wird an einem Zwangswechsel schnell bestätigt und niedergeschossen, pflegen die Jäger zu sagen.«

»Um so schöner! Um so schöner!«

»Denn dann kann man hurtiger wechseln? Meinst du?«

»Ach, du hast keine Ahnung von meinem Idealismus. Nicht den Wechsel meine ich; sondern dies: jemand Großem die Letzte gewesen sein.«


Marion teilte nur mehr eine einzige Nacht sein Zimmer.

In der zweiten war sie verschwunden. Aber am Morgen des dritten Tages wurde Jacques in aller Früh noch im Bette verhaftet. Als Mann der Vorsicht und Philosophie bat er bloß, die Kokarde der Republik und das Trikolorenband der Freiheit behalten zu dürfen.

»Es wird Ihnen nicht schaden, Bürger,« hieß es kurz und verdrossen.

»Zu wem werde ich geführt?«

»Zum Wohlfahrtsausschuß,« hieß es ebenso grämlich.

»Fühlt sich denn der durch mich irgendwie unwohl?«

»Das wird ›er‹ entscheiden.«

»Wer ›er‹!?«

»Natürlich Marat selber.«

»Oh? Ich bin gerettet.«

»Das dachte bisher bei dem jeder. Und jeder vergeblich. Bürger! Allons! Vorwärts mit Ihnen!«


Ahnungslos trat Jakob in die Conciergerie ein.

So ahnungslos, daß er, mit der philosophisch getragenen und ihn angeblich schützenden Trikolore, mit der übergroßen, blauweißroten Kokarde dazu, vor jemand zu treten hatte, mit dem er – »konfrontiert« werden sollte … Nicht mehr in die Blüteneinsamkeit der vom König unbeachteten Tulpengärten von Versailles, aber zur selben Person.

In einem Vorzimmer schon ahnte er Übles. Da saß und weinte – Marion. Sie aber wurde von Marat, beinahe zärtlich, am Arm gefaßt und gepreßt, ehe sie mit Jakob allein gelassen ward.

»Sag' ihm alles, Bürgerin. Ich warte derweil vor der Tür. Hoffentlich ist er vernünftig.«

»Oh, er ist da! Ach, er wird meine eigene Schwäche erklären! Er ist Philosoph,« sagte Marion. Sie trocknete sich die Tränen, sah sich nach der zugehenden Tür um und seufzte: »Ach, armer Jakob! Da wollten wir die Königin retten? Und nun zittere ich bloß mehr davor, dich retten zu können.«

»Mich?«

»Marat weiß alles. Unsre Köpfe sind verloren – wenn du nicht klug bist.«

»Der deine ist wohl nicht verloren. Das merke ich. Du, Marionett, du hast uns alle verraten. Mich, die arme Marie Antoinette, den Kaiser Leopold – alle. Widersprich nicht!«

Er sammelte sein wühlendes Hirn. Er fuhr fort: »Nun gut. Du meinst, ich sei Philosoph. Also müsse ich die Menschen kennen. Hör' zu. Du hast ihn nicht zufällig bekommen, deinen Spitznamen, du wirst, unwiderstehlich, gezogen von jedem, der Erfolg hat! › Chez Marion ne réussit, que le succès!‹ So hat schon der Fürst von Ligne gesagt. Du bist augenblicklich wie eine Fliege eingesponnen und verworren in jeden neuen Faden, der vom zufälligen Modegewebe ausgeht. Arme Marion! Ich habe es schon gewußt, daß Marat, eben wegen der Neuheit seiner Brutalität und offenkundigen Sinnengier, dich magnetisiert hat. Obwohl er bald weggeschwemmt sein dürfte, so wie du, arme Marion. Überlaß jetzt auch mich meinem Schicksal. Du hast mich verraten. Laß' mich nun wenigstens allein. Unsre Wege gehen auseinander. Gott behüte dich und mich.«

»Ach, Jacques, es gibt auch für dich keinen Gott; außer, augenblicklich, Marat.«

»Wird er mich auch bis über den Tod hinaus schützen?« fragte Jakob in einer ihm selber unerklärlichen Ruhe.

Er begann zu ahnen, daß jetzt seines Lebens Prüfungsstunde gekommen wäre.

»Ach, ich glaube nur mehr an diese paar Tage, da ich jung bin und andre reich und mächtig genug sind, um mich zu schützen.«

»Dann leg' Dukaten aufeinander, Marion. Nimm keine Assignaten. Dies ist das letzte, was ich dir zu raten vermag.«

»Bürger?« sagte der eintretende Marat. »Dieser Rat allein könnte Sie unters Fallbeil bringen. Versuchen Sie es jetzt, sich selber zu retten. Fassen Sie sich. Jetzt kommt die zweite Konfrontation, bei der ich jedoch – ohne Trennungstür – dabei sein werde.« Und er stieß eine Nebentür auf.

Jacques erstarrte vor Grauen.

Denn herein zu ihm trat eine alte Dame in ärmlichen Kleidern; wiewohl in vornehmer Haltung. Ungebeugt. Ein herrlich modelliertes, edles und fast verklärtes Haupt ihm hoch entgegenhaltend. Er glaubte Jahrhunderte vorbeigelebt zu haben, so sehr diese, ihm bekannt scheinenden Züge, von Gram und Kummer durchfurcht, ihn auch zurückschrecken machten.

Jakob forschte einen Augenblick. Dann entbrach ihm ein Aufschrei des Entsetzens. Die fremd scheinende Dame prüfte seine Augen; kurz und mit einem Blick sodann auf seine Trikolore, die Jakob sofort rüde herunterriß.

»Sie kompromittieren sich vor mir zum zweitenmal unnötig, Bürger Auberger,« sagte Marat. »Die Bürgerin Capet da weiß, daß nicht Sie sie verraten haben. Sie steht bloß hier, um die Wahrheit zu sagen, vor Ihnen und Ihrem Eid, zu dem wir Sie zu zwingen wissen werden. – Bürgerin Marie Antoinette Capet! Sie sind durch das Zeugnis der Marion Le Care belastet mit dem Vorwurf, daß Sie sich durch sie, sozusagen als eine zweite Oliva, zu retten versucht haben. Eh? Ferner daß Sie den ehemaligen Dauphin ihr, und diesem Bürger Jacques Auberger anvertrauen gewollt hatten, um ihn als beider Kind über die Grenze fortzuschmuggeln. – Ich frage Sie, Bürgerin: Ist das wahr?«

Bei der Erwähnung der Unschuld des armen Jacques war ein kaum merkbarer Strahl wehmütiger Befriedigung über das zuerst herbe Antlitz der greise gewordenen Königin gegangen.

Sie richtete sich empor. Der hohe Himmel allein hielt den Faden, an dem jetzt ihr Leben hing, als sie sagte: »Es ist wahr.«

»Warum gelang es Ihnen denn nicht, den kleinen Bürger Charles Louis Capet unter dieser Maske über die Grenze zu schmuggeln?«

»Nicht es mißlang, sondern ich wollte es in letzter Stunde nicht!«

»Ah? Und warum, Bürgerin?«

»Das kam so! Es war am Tage des ersten Aufruhrs damals: Herr Auberger sprach den scheußlichsten Argot von Paris mit einer Sicherheit, daß ich bis heute an eine geheime Gemeinheit seiner Gesinnung glaubte, die stets mit der Fertigkeit einer solchen Ausdrucksweise verbunden zu sein pflegt. Da Sie sagen, Herr Marat, daß Herr Auberger schuldlos in Ihre Falle gegangen ist, so bitte ich ihm jene Gedanken reuevoll und froh ab. Aber die Wahrheit ist, daß die Möglichkeit, einen pöbelhaften Dialekt der Vorstädte von Paris dem Dauphin einzuimpfen und ihm zudem auch auf der Reise nach Wien das ärgste Neulerchenfelderisch und den Argot der dortigen Musiker beizubringen, mich in einer einzigen Nacht veranlaßt hat, auf seine Hilfe gänzlich zu verzichten.«

»Das sieht Ihnen völlig ähnlich. Gut: Ich glaube es Ihnen, Bürgerin Capet. Bürger Roussillier, führen Sie den Jacques Auberger ab.«

Dieser Roussillier aber rief soeben die Garde drunten an, weil ein ungeheurer Tumult auf der Straße sich erhob, der sogar Marat bewog, neben Roussilier ans Fenster zu treten.

Mit einer an ihr, als Königin, ungewohnten zofenhaften Schnelle schlüpfte die Königin an Jakobs Seite. Sie preßte seine Hand wie die eines Geliebten, und sie drückte ihm dann etwas hinein, das er fallen lassen wollte wie eine Bestechungssumme, als die Königin ihm noch – schnell und bedeutsam genug – die Finger zusammendrückte.

»Es ist dreifaches Gift,« flüsterte sie. »Es ist die einzige Sicherheit – gegen das Glück des Volkes in diesen Tagen. Mögen Sie es nie gebrauchen müssen, mon pauvre Jacques! Und – wäre es dennoch notwendig, sich vor dem Gebrüll dieses Jargons um die Guillotine herum, retten zu müssen, so denken Sie an eine Frau, die Ihnen ihr Letztes gibt. An eine arme Frau, die Sie um Verzeihung bittet – und Sie sehr lieb hatte, ehe Sie in ihr durch Ihre allzu volkstümliche Aussprache die Ahnung dessen zum erstenmal erweckten, was Maria Antoinette dereinst erwartet.«

In diesem Augenblick prallte am Fenster Marat zurück. Und unter immensem Jubel der drunten heulenden Menge flog ein abgeschlagener Kopf durchs Fenster und rollte vor die Füße der Königin.

»Ich will Ihrem Physiognomiesinn nachhelfen, Bürgerin,« sagte Marat, der sich den Kopf besah, höhnisch. »Dieser leider ein wenig entstellte Kopf, er gehörte einstmals unter die stets in der Mode obenan stehende Coiffüre der Bürgerin Lamballe.«

»Oh, meine arme, meine süße Lamballe,« weinte die Königin auf.

Marat aber sagte: »Und jetzt fort mit dem Bürger da; ins Untersuchungsgefängnis.«

Dies Gefängnis war, damals eine Merkwürdigkeit, eine einsame Zelle.

Jacques teilte nicht einmal das »Glück« der andern Todesnahen jener Schreckensjahre, Leidensgefährten neben sich zu sehen.

Es war eine erst liebe, dann erstickende Einsamkeit um ihn. Und dies in den Tagen, an denen er stündlich den Schinderkarren mit Verurteilten, umjohlt vom Triumph derer vorbeiziehen hörte, deren Jargon er so gut verstand. Diesen Jargon, der ihn um die Zuneigung der Königin gebracht haben sollte. Nur manchmal kam ein Kerkermeister herein, und der erzählte dann, lachend wie nur je ein Franzose, dem Ausländer die neuesten Pariser Anekdoten vom Blutgerüst.

»Da haben wir soeben einen Marquis von Brissac geköpft. Menschliche Schwäche befiel ihn, Bürger … Sie werden es ja selbst erleben. Sie machte ihn auf der vorletzten Sprosse der Leiter straucheln. Er aber sah entschuldigend ins frohe Volk herunter und sagte – hören Sie nur:«

»Ah! Das ist ein schlimmes Vorzeichen! Ein alter Römer würde jetzt umgekehrt sein.«

»Wissen Sie, Bürger? Unser gutes Volk hat ein offenes Herz und offene Sinne, auch für diese Verfluchten. In seinem letzten Augenblick hatte der ehemalige Herr de Brissac immerhin die stürmische Auszeichnung, die Akklamation der Bürger und Bürgerinnen zu vernehmen. Es war reizend; wirklich! Er hatte seinen ersten und letzten Erfolg. Halten auch Sie sich so gut!«

Jakob Auberger preßte die Hand auf sein Herz, wie es schien.

Aber – er preßte sie nur an die Stelle, wo der erste und letzte Liebesbrief der Königin verborgen war: Jenes Gift, das, wie sie gesagt hatte, der letzte und einzige Schatz wäre, den stets bei sich zu tragen diese Hochzeitstage der Freiheit den einsam und anders gearteten Menschen nötigten.

Ihr Letztes hatte sie ihm gegeben.


Wer ahnt etwas von der furchtbarsten Arbeit, die von Menschenkraft zu verrichten ist (sogar wenn sie schon ein wenig vorgeschult ist durch Philosophie), sich in den langsam, aber sicher andrängenden, immer näher wehenden Eiseshauch des Todes einzugewöhnen? Der junge Wiener stritt um seine Mannheit, um seine letzte Weisheit. Um Haltung und letzte Schauspielerkraft wenigstens, wenn die zitternden Knie einmal versagen sollten und das Antlitz auch nicht einen Tropfen Blut mehr vom Herzen aus zugesandt erhalten sollte; Eis geworden dies Antlitz schon stundenlang vorher, ehe das gelbe Weiß jenes kalten Pergaments darüberlag, auf dem nichts, gar nichts mehr geschrieben steht! …

Und das Gift, die schlummertrunkene Erlösung der Königin, es wäre in so lieber Nähe!

Todesangst. Zusammen mit dem Grauen, nicht durch einen gewaltigen König getötet zu werden, sondern von den unsäglich häßlich Gewordenen, die er ehedem geliebt und verteidigt.

Und dennoch.

Er zitterte zwar, daß man ihm sein Gift nähme, aber er gebrauchte es noch nicht.

Er dachte an jenes erste Schloß, das die Freigelassenen gestürmt, geplündert und ausgebrannt hatten. Es war das eines Menschenfreundes gewesen …

Er war nicht mehr als ein Singvogel des Luxus gewesen – jener Menschenfreunde.

Und immer öfter befühlte er das merkwürdig scharf, aber tröstlich riechende Päckchen. Manchmal jammerte es ihn dennoch, daß die Königin ihm ihren allerletzten Schatz geschenkt hätte. Andre Nächte wiederum durchfuhr ihn der Zweifel: »Hat sie es nicht bloß hergegeben, weil sie selber an der Sicherheit der Wirkung zweifelte?«

Aber dann dachte er an die hohe, freie, leiderlöste Stirn. An ihren Stolz, der auch nicht dem eigenen Kinde irgend etwas nahegeraten lassen wollte, was gemein erschien. Wohin war das Modepuppenhafte von ehedem? Nein. Diese Königin, die sich sogar des Giftes entschlug, um das Los ihres Gatten bis ins bitterste hinein teilen zu dürfen, die irrte nicht. Die log nicht. Die schenkte wahrhaft königlich. Das Gift war königlich sicher, wie sie selber.

Und nur seine Jugend, und jene ihm erinnerliche kalte, fast verächtliche Uneile, die er vom Fagottisten aus Graslitz gelernt hatte, bewog ihn, sie immer wieder hinauszuschieben – diese allerletzte, kleine Mahlzeit zu Abend …


Und Monate vergehen.

Alle Monat ein kurzes, barsches Verhör. Immer dasselbe: wegen Flucht der Königin oder des Dauphins. Nur einmal frägt man ihn, ob er intime Beziehungen zur Bürgerin Capet gehabt hätte. Entrüstet schreit er seine Frager an – ob ihre Mütter oder Frauen ihnen Grund zur Phantasie solcher Möglichkeiten gegeben hätten? Sein Gift gibt ihm diese Kühnheit.

»Sie werden bald ausgeschrien haben,« ist die Antwort.

Dann kann er wieder wochenlang das Stück blauen, freien, schwalbendurchkreuzten Himmel sehen, an dem alles, alles ungehindert dahinziehen darf; straflos der Blitz und die Hagelwolke, unbelohnt Sonne, Regen, wundervoll aufsausender Wind.

Und erst die Wandervögel! Er ist so bescheiden geworden, daß er froh ist, ihnen aus dem Kerkerfenster zusehen zu dürfen.

Wann wird sogar dies zu Ende sein, daß er diese kleinen, zärtlichen, sich in Nichts verträumenden Vogelzüge oder die Wolkenengelchen nicht mehr sehen, dieses Aufbrausen der Bäume im nahen Park nicht mehr hören wird? Und nicht einmal mehr dies bange Herz schlagen fühlen wird, das ahnungsvoll und fröstelnd erbebt beim Weinen des Sturmes im ungeheizten Kamin?

Und Mozart wird er nie mehr die Hand küssen –, ein Tröster …

Jetzt versteht er, eingeschlossen in einer Kammer mit einem winzigen, blauen, grauen oder wechselvollen Himmelsviereck als einzige Zeitung von dem, was da draußen in herrlicher Freiheit ohne Menschenqual und Politik dahinzieht, daß man ein Leben daran zu wenden habe, um den Himmel zu betrachten, dem Winde nimmersatt zu lauschen, und am Erblühen der Bäume, am Glutfarbenreiche des Herbstes Genüge zu haben. »Das wahre Leben geht weit, weit dahin von allen diesen Halblebendigen, die ihre Tage verhocken hinter bedrucktem Papier.«

Und er sollte bald sterben. Er gerade, der jetzt endlich wußte, wozu dies Leben wäre! Dies flüchtige Geschenk eines Gottes, den der Mensch zurückerfinden mußte, um ihm, der ihn erschuf, sein Bewußtsein dazu zu geben.

»Ach, wozu mißbrauchen wir unsern Kopf, der, erst umlockt, dann kahl wie ein Totenschädel oder doch grau wird? …«

»Wenn man ihn uns nicht früher mit dem Beile abschlägt,« schloß er. Und der arme Jacques griff in Herzensangst abermals nach dem kleinen, unschätzbaren Geschenk seiner armen Königin.

Dann glaubte er: »Endlich! Das Ende!«

Eines Tages nämlich erkannte Jakob Auberger die rauhe Stimme Marats draußen auf dem Flur.

Eine neue Beschließersfrau, die ihm in den letzten Tagen ein wenig freundlicher begegnet war als der Kerkermeister, den sie geheiratet hatte, antwortete mit sanfter Stimme auf irgendeine Frage, die er gestellt hatte, während sein rauhes Idiom und das Rasseln eines Säbels den Sinn der Antwort übertäubte. Gutes gab es nicht mehr zu hoffen.

Jetzt stand aber Marat wohl stille. Denn Auberger konnte ihn verstehen:

»Ich frage Sie, in welcher Zelle der Bürger Auberger sitzt! Und nicht der alte Herr, von dem Sie immer reden!«

»Ach, Bürger Marat; dieser alte Herr ist ja eben Monsieur Auberger.«

»Aufmachen! Hat der sich ebenfalls einen zweiten Auberger zugelegt? Wie die Witwe Capet ihre Marions und Olivas? Wollen sehen!«

Die Tür öffnete sich unter dem Rasseln sehr vieler Schlüssel. Marat, in Uniform, trat ein. (»Gott sei Dank, er hat den erlösenden, unwillkürlichen Griff nach dem Geschenk der Königin übersehen.«) Denn Marat sogar prallte diesmal zurück.

»Donnerwetter! Bürger Auberger! Wenn Marion Sie jetzt so sähe! Na: Haben Sie sich aber zu Ihrem Vorteil verändert!«

»Wieso, Bürger Marat?«

»Ja, so? Sie haben keinen Spiegel. Eh bien, Bürgerin, bringen Sie ihm diesen kleinen Luxus.«

Wie in einem ebensolchen Traum kamen ihm, dem nun, langsam und erkennend, der Spiegel auf dem Tisch entglitt, Verse aus unvordenklicher, glücklicher, wenn schon niemals mit Erfüllung beschenkter Zeit in den Sinn:

»Ich möchte dieses Zagen, dieses Bangen
Nur darum noch ein Weilchen überleben …«

Nun war Marie Antoinette schneeweiß, wie ihre Seele. Nun war er selber – grau geworden.

Marat schwieg eine Weile und sah zufrieden, was Arbeit er da geleistet.

»Ich denke, Sie werden jetzt gern hören, daß ich Sie für Marion Le Care als Liebhaber ungeeignet halte. Nicht?«

»Um Gottes willen! Selbstverständlich,« gab Auberger zurück. Er griff nur kopfschüttelnd wieder nach dem Spiegel: »Davon war doch schon keine Rede mehr damals, als ich noch …«

»Als Sie noch jung waren, alter Herr, nicht wahr? Gut. Zeitungen sind Ihnen keine zugeschmuggelt worden in dieser Zeit da?«

»In welcher Zeit? Wochen? Monate? Jahre? Zeitungen auch noch? Ich bin froh, keine lesen zu müssen.«

»Na, gut. Denn Sie müssen nur wissen, daß Ihre Souveräns dort drüben, die zwei Brüder der Witwe Capet, ebensowenig Lebenskraft aufzubringen verstehen, als Sie selber. Ihr Kaiser Leopold ist gestorben. Sein Nachfolger François will uns Umstände und Anstände verursachen.«

»Ich verstehe. Ich werde mit eines der Opfer sein, das eine unglückliche politische Situation fordert?« sagte Auberger ruhig.

»Mein Freund, Sie halten sich noch für ebenso wichtig wie damals, als Sie sich mit Ihren ehedem braunen Haaren in Kreise gedrängt haben, für die wir Null waren. Diesen Greisenkopf da brauchen wir nicht mehr abzuschneiden. Marion hat um Ihr Leben gebeten. Was? Das war sehr hübsch von ihr, der Sie nicht nur den Spottnamen Marionett gegeben haben, sondern die Sie verächtlich behandelt haben wie eine Drahtpuppe. Sie werden diesen Kopf auf Ihren Schultern, fortgewiesen von Frankreich als lästiger Ausländer, zu Ihrem jungen Herrn François tragen und ihm ein wenig davon erzählen, wie es bei uns hier aussieht und was er selber für sich erlangen könnte, wenn er uns da nicht in Ruhe läßt. Den Text überlasse ich Ihnen selber.«

»Bürgerin Roussilier! Dieser Herr da ist begnadigt. Er ist sofort in einen Wagen zu setzen. Er ist beim Straßburger Tor aus der Stadt zu bringen, wo er einer Eskorte übergeben werden wird. Ihr Mann wartet unten im Hofe. Er begleitet ihn. Er haftet für ihn bis zur Übergabe an seine Begleitung. Leben Sie wohl, Bürger Auberger. Und wenn ich Ihnen, als altem Herrn, einen Rat geben darf – lassen Sie sich, als Philosoph, nie mehr mit Hof, Adel, Reichtum oder so was Privilegiertem ein. Sie werden unweigerlich die ausgepreßte und weggeworfene Zitrone sein und weiter verschimmeln wie jetzt, wo Sie allzu vorwitzig gewesen sind, und, wenn schon nicht Ihren Kopf, so doch Ihre Jugend und Ihren Schopf in Frankreich zurückgelassen haben. Leben Sie nochmals wohl.«

Marat drückte ihm sogar die Hand.

»Und Marion?« fragte Jakob, kaum mehr in wachem Zustande.

»Bleibt bei mir, alter Herr. Das hat sie mir versprochen. Als Gegenleistung für Ihre Freilassung. Marionett war doch nicht so leicht an Drähten zu ziehen, als Sie gedacht hatten. Na, diese Worte werden Ihnen wenigstens eine liebe Erinnerung an das reizende Mädchen sein. Marion wird freie Bürgerin der Republik werden an meiner Seite. Wünschen Sie mir nicht Glück?«

»Oh, alles, alles Glück, das Sie beide um mich verdienen!«

»Danke schön. Und jetzt: Allons, marchons!«


Nur einem jener von der Schöpfung ganz besonders geweihten und geadelten Gemüter, die man »naturselig« zu nennen pflegt, wird die unbeschreibliche Erfüllung dieser wehmütig schönen, letzten Septembertage so erschütternd verständlich werden und zu Herzen gehen, wie sie jetzt dem befreiten Geiger Jakob Auberger wurde.

Seine kerkerblassen Wangen, von der letzten, wiewohl zärtlich milden Sonne unter grauem, vollem Künstlerhaar gebräunt, begannen gesund zu werden.

Es war zwar nur jene wunderbare, halbe Gesundheit des Rekonvaleszenten, die selbst starke, junge Männer zu Tränen zwingt, weil das gerettete Leben so schön ist – in der Schwäche.

Weil die Natur so neu, tief, wechselvoll jung ist; selbst dann, wenn sie selber sich zum Altern und Sterben neigt.

Gelöst in dies alles, vermag er allein jetzt das All zu verstehen, das er vorher niemals erfaßte und, in wiedergekehrter Kraft, auch später nie mehr so zu erfassen verstehen wird.

Aber Jakob Auberger wußte, daß er fortab jeden freien Vogel ansehen würde, wie durchs Kerkerfenster hindurch. Daß er fortab jeder Pappel, die sich im Winde bog, verbunden war.

Ach, das Leben war bald wieder wie Wein aus der Champagne!

Alle Adern begannen zu brausen. Wie köstlich diese beiden schnauzigen Sergeants, die man ihm als Wache beigegeben. Offenbar mit dem Auftrag, ihn zugleich zu schrecken und zu verwöhnen wie ein Prinzenkind. Als er ihnen den Rücksitz seines Wagens anbot, um auf dem Bock zu bleiben, waren sie zuerst mißtrauisch.

»Bürger! Sie wollen uns Republikaner in Capua ersticken!? Oder wir sollen wohl in diesen Polstersitzen behaglich einnicken, während Sie den Kutscher da droben irgendwie unschädlich machen, um dasselbe dann mit uns zu beginnen? Und dann zu fahren, wohin es Ihnen beliebt! Eh?«

»Meine Herren, Sie haben nicht ein Jahr (oder so beiläufig, ich weiß nicht wie lange) im Kerker gesessen und aufs Geköpftwerden gewartet. Sonst würden Sie verstehen, daß ich gar nicht hoch und hart genug sitzen kann, um dem wiedergewonnenen Himmel näher zu sein und ja nicht einzuschlafen. Eine Stunde nur Freiheit, Luft, Leben, Straßenstaub im Winde, Regenguß – da, neben dem braven Kutscher versäumen? Neben diesem einzig freien Bürger, der das Glück genießt, sein ganzes Leben in dieser Weise hinzubringen?!«

»Jawohl, alter Mann,« sagte der Kutscher. »Jawohl, alter Mann. Sie haben recht. Es ist ein Glück! Und Sie, Sie waren ein Esel, daß Sie Künstler geworden sind und nicht Kutscher. Aber das bringt mich auf eine Idee: Werden Sie uns heute abend im Wirtshaus ein wenig aufspielen?«

»Gern, Bürger und Schwager! Oh, gern! Wenn Sie wollen, sogar Gluck!«

»Ah, gehen Sie: Das war der Günstling der Bürgerin Capet: also ein privilegiertes Schwein. Sie wissen ja selber, was dabei herausschaut. Nein. Aber in Straßburg höre ich immer die Elsässer Tänze so gern. Die Allemanden spielen Sie uns. Sie sollen dafür Assignaten nach Deutschland mit hinüberbringen, soviel Sie nur wollen. Ein Wunder, daß uns Bürger Marat nicht gleich die Matrizen zum Druck mitgegeben hat.«

Und Sergeants und Kutscher lachten aus vollem Halse.

Auberger konnte noch nicht mitlachen.

Bisher war alles an ihm und um ihn wie das Schwingen eines seekrank gewordenen Gehirns, das erst anfängt, sich wohl zu fühlen und zaghaft zu Gleichgewicht und klarem Denken ansetzt, wenn Festland da ist.

Nur auf dem Bocke droben saß er täglich gern, wie ein Kind. Der war sein Luftkurort, in dem er genas. Wie weit war die Welt, wie schön war sie so von hoch da droben!


Diese Geschichte begann im Lande der Anekdoten. Ebenso möge sie schließen.

Zwei ganz kurze, ebenso flüchtige und dennoch ewige Szenen seines Lebens: Anekdoten, wie die vom niemals ausgesungenen Lied der blütenreichen Pfingsten der Königin, über der unermeßlichen Tulpenfülle.

Die erste spielt auf der großen Rheinbrücke vor Kehl. Brandblutiger Abend war, als die Kutsche auf deutschem Hoheitsgebiet angehalten wurde.

Der ohnedies aus rotem Stein bestehende Straßburger Dom brannte dunkelrot gegen die Sonne, die seitlich hinter ihm niederging. Die Stadt zeichnete sich schon tiefer schwarz gegen den verblutenden, flammenden, brandgierigen Westen ab.

Jacques – wie im Traume.

Gotische Giebel hinter ihm; goldig fließender Rhein unter ihm.

Und vor ihm? Die drollige Menschenfrage aus dem Munde eines schwäbischen Sergeanten:

»Also: Jakob Auberger tun S' heiße! Habe S' net was zu verzolle?«

»Nichts, als das nackte Leben,« jubelte Auberger.

Aber er nahm drei Finger zusammen, als wollte er ein Schnippchen schlagen. Zwischen Zeigefinger und Mittelfinger jedoch hatte er ein winziges Ding. In dem saß jener Tod der armen Königin, den sie ihm vermacht hatte.

» Pauvre Jacques!«

»Nichts, als das nackte Leben!«

Aber der Sergeant war aufmerksam: »Du! Was hascht denn da in 'n Rhein eineg'worfe!?«

»Meine Verschreibung an den Teufel, Kamerad!«

»Was isch druff g'stande?«

»Euer Exzellenz und Negatifizenz! Ich teile Ihnen mit, daß ich nach weislichem Nachdenken beschlossen habe, meinen Tod bis an mein Lebensende hinauszuschieben. Jakob Auberger. Das ist d'rauf gestanden! Ehrenwort!«

»Ja? Das isch ja aber doch derselbe Auberger, der uns vom kaiserlichen Kommissarius so warm empfohle worde ist? Aber dort steht doch: dreißig Jahr, braune Haare!?«

»Ja, Brüderle. In Frankreich lebt man doppelt so schnell wie bei Euch, im herzallerliebsten Vaterländle.«

»Na, wenn Ihr derselbige seid? Ihr seid heut' abend hochnobel eingelade. Und jetzt legitimiert Euch nur selber dort beim Gewaltige. Ich will Euch hinführe.«

Der Rhein trug noch eine Weile ein kleines Döschen Menschenleben dahin, ehe er es wie zögernd hinnahm und ungefährdet hinunterschlang, was darauf geschrieben stand:

» Un sommeil, éternel et doux.« (Ein Schlaf, ewig und süß.)


Und die andere, kleine Anekdote, die letzte kleine Szene dieses kurzen Mahnspieles?

Abermals im Schloßparterre von Schönbrunn. Zwischen den senkrechten Marmorschliffen der Baumwände, rosso, verde und giallo antico, Serpentin, Realgar und Auripigment: Hochherrlich lodernd unter blauestem Tag, bei leisem Goldblätterfluge zwischen Göttern und Nymphen.

Hoch drüber, gegen den Herbsthimmel, die Gloriette des verewigten Kaisers Josef. Auberger? Unter den kühlen, wiewohl gutmütig aussehenden Augen des langgewachsenen, jungen Kaisers Franz, bescheiden verneigt.

»Schau'n S', schau'n S': Sö sein jetzt alleweil no der Auberger, in den mei' arme Tant …? Na ja. Sie is ja auch keine mehr von die Jüngsten. Alsdern. Restaurier'n Sie sich a bisserl. Geben S' Ihner Adress' glei dort oben in meiner Hofkanzlei ab. Es wird a Packerl Dukaten zu Ihnen 'bracht werden, damit Sie sich fortab reputierlicher ausnehmen. Ausschauen tun S' ja besser, als i von so an Schlankel von Geiger g'fürcht' hätt'. Na, wenn nur die Augen jung sein, und 's G'stell. Da fehlt bei Ihnen nix. Blöd, was? Daß g'rad jetzt'n die neue Mod' mit die unpuderten freien Haar' anfangt. Zu dumm für Ihna! Pechvogel. Tragen S' die puderten Haar' mit 'm Zopf a Weil' weiter, rat' i Ihna. Und lassen S' dö Revolutionsfrisur weg, weil Sie von jetzt an bei meinem Hausquartettl mitspielen.

»Ja. Und no was. Sö g'hören zu meinem Hausbestand, das is erstens. Das zweite is, daß S' mei' Tant' mit Lebensgefahr retten haben wollen. Es is mißlungen – geht uns also beide net weiter an. Alsdern, geh'n S' in die Hofkanzlei, danken S' für die tausend Dukaten. Und hol'n S' Ihnen, wann Ihnen in Frankreich der Gusto net dran vergangen is, Ihna Adelsdiplom; – Herr von Auberger


Freundlich winkte der Kaiser. Er entfernte sich und merkte nicht, daß unter dem, wie in Rührung und Überraschung geneigten, grauen Künstlerschopfe zwei Augen ebenso wehmütig jung leuchteten, wie ein Philosophenmund wehmütig alt lächelte:

»Herr von Auberger? Und das soll ich sein?

»Oh, Ihr: Meine goldgrünen, roten, oder Ihr entlaubten Baumwände: Mein einziger Gesellschaftsvertrag fürderhin! Von euch werd' ich höchstens das eine erlernen müssen – innerlich unberührbar dazustehen. Ich, als Herr von Adel …

»O meine Bäume. Und du mein alter, ewig junger Himmel von Wien.«

 

Ende

 


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