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In die Sterne möchte ich seinen Namen versetzen, seinen lächerlichen Namen! – So sehr liebe ich sein Angedenken, so sehr liebte ich ihn.

Er hatte eine rührende, aus Erhabenheit und Lächerlichkeit gemischte Haltung, wie sie uns etwa von Schiller berichtet wurde; aber damals, als ich ihn zum ersten Male sah, da war seine schlanke Gestalt gar nicht so reck hinaus und hochgemut nach oben gebogen, wie ich ihn später kannte. Gebeugt saß er am Kamin meines lieben, alten Gastfreundes, eines Herrn von Welser: des Letzten aus dem letzten Seitenzweige jenes, früher berühmten Augsburger Geschlechtes, das ein Stück Erde beherrschte und mit den Habsburgern (ungern sogar) verschwägert war.

Alarich Tusch hieß mein Freund, und das war kein ganz glücklicher Name, wirklich: sogar ein wenig lächerlich. Der alte Herr von Welser wollte ihm einen schönern geben, seinen eigenen, den alten und versterbenden; denn Alarich war sein Neffe und mehr; er war der Sohn einer Jugendliebe des Grandseigneurs, die einem Schwestersohn Welsers gegeben worden war, denn von Herrn Eberhard Welsern erwartete man sich damals noch ahnenbürtige Nachkommenschaft und ließ ihn das kleine Mädchen nicht nehmen.

Herr von Welser hatte dann gar nicht mehr geheiratet; aber den kleinen Alarich sah er wie seinen eigenen Sohn an. Und so war es geblieben bis zu der Stunde, da ich, ein Freund des alten Herrn, in ein Stück Familiengeschichte hineinsehen mußte und ihn dabei liebgewann, Alarich Tuschen, dieses unverbesserliche Stück Österreich.

Ja, das war also am Kamin des alten, großen Herrn.

Herr von Welser saß damals, nicht unbehaglich zurückgelehnt, an jenem offenen Feuer, das in unserer praktischen Zeit immer seltener wird, obwohl es mehr Seele hat als die meisten Menschen selber. Hausgottheit, alte liebe Hestia nannte es Alarich Tusch. Ihm zuliebe hatte Herr Eberhard Welser die Holzscheite aufflammen lassen; auf gußeiserner Platte erzitterte, bald rußig dunkel, bald goldhell aufflammend, das alte Welserwappen an der Hinterwand des Kamins; es war im sechzehnten Jahrhundert gegossen und in den Kamin eingesetzt worden, der aus ebenso alten, blauweißen Delfterkacheln aufgebaut war.

In die Flammen dieses schönen Kamines starrten damals wir alle und gehörten damit vorübergehend einer beseelten Zeit an, die nicht mehr (– nein, keineswegs! –), die nicht mehr die unsere war.

Denn damals waren die ersten Tage, als jener lange, bange Krieg anging, der, durch ewige Lügen hindurch, nie zur Wahrheit führen sollte.

Das Schloßstöckchen des Herrn von Welser lag außerhalb von München auf dem großen Teller des Hochmoores, aus dessen Mitte die liebvertrauten Frauentürme mit ihren zwei Fingern den katholischen Schwur des Südlandes abgaben. Damals war ein kalter und stürmischer Sommernachmittag; unablässig ergoß sich der regenschwere Alpenwind mit lautem Erschauern an die Fenster, fauchte über die reifen Saaten hin und gefährdete die letzte Friedensernte. Es war frostig. Das Feuer im Kamin duckte sich wie gepeitscht und rebellierte dann wieder; Alarich Tusch starrte hinein, der alte Freiherr und ich. Jeder dachte sich etwas wie alte Heldensagen dazu. Denn damals war alles heroisch gestimmt, blinkneu flammte das Eisen des Krieges; es war noch kaum der Scheide entlüftet.

Platt auf seinen Bauch hingedrückt lag der Bully des Welserherrn auf dem Teppich vor dem Feuer; schwarzbraun, wie aus Japanbronze gegossen, und rührte sich nicht. Nur im Kamin der Wind und das widerborstige Knacken des Holzes hatten das Wort. Hinter den Fenstern war das weite Hochmoor entrollt; Birken und Fichten stöhnten im Anstoß des Windes, und ganz ferne lag die liebe Stadt, damals die einzige, fast gänzlich freie deutsche Stadt mit ihrer Tüchtigkeit und mit ihren vielen Sünden. Die Frauentürme sagten, wo sie lag.

Alarich Tusch saß, lang und etwas gebeugt, auf seinem Stuhl, dessen große Behaglichkeit er gar nicht ausnützte. Sein knabenhaftes und doch wildes und großzügiges Profil gefiel mir schon längst, so im Widerschein der Flammen. Die große Nase, das große, ehrliche Kinn und die denkende Stirne! Darüber bäumten sich mühsam gebändigte Schopfhaare, dunkelblond.

Der Freiherr sagte lange Zeit gar nichts, ließ sich aus dem alten, getriebenen Kessel aus Augsburger Silber seinen Tee einlaufen und sah an die Decke oder ins Feuer, nur nicht nach Alarich.

Endlich aber, nach einem besonders lauten Aufbrausen des Sturmes, dem ein Erschauern der Fenster gefolgt war, sagte er.

»Du, Alo.«

»Ja, Onkel.«

»Ich rede jetzt, was ich dir sagen möchte, geflissentlich vor unserm Freunde da, weil er Österreicher ist, wie du. Nun: Willst du bei den Leuten dort drüben einrücken, oder bei uns? In diesem Falle möchte ich dir meinen Namen geben. Du; – es ist mir etwas bange. Die Welser sterben aus.«

»Und wenn ich falle?«

»Dann fällt der letzte Welser. Es wäre auch schön, Alo.«

»Danke, Onkel; es ist mir gleich, wie lang der Kometenschweif ausfällt, den ich, als erlöschendes Meteor, hinterlasse.«

»Es gibt keinen Mann, der nicht wünscht, daß ein Leuchten zurückbliebe von ihm, wenn er sterben muß.«

»Ja; aber mein Leuchten; nicht das der Welser.«

Lange Zeit sah der alte Herr wieder in die Flammen; er überlegte, daß er selber nicht das Richtige gesagt hatte. Dann begann er wieder. Etwas mühsam und wortkarg, wie er war, und altblütig, hätte er lieber weiter geschwiegen; aber man sah ihm an, er redete aus Pflicht.

»Du, Alo.«

– – – –

»Nun; – nun. Warum willst du nicht für unser Volk kämpfen und dann mit ihm arbeiten und reich werden, da du uns ja doch angehörst? Glaubst du nicht, daß jeder denkende Deutschösterreicher dort bei euch viel froher und stolzer, besonders jetzt, hinausginge, wenn er für sein Volk, für sein einziges und eigenes Volk sein Leben hinlegen dürfte, als für ein vielfaches, zusammengeheiratetes, für ein –«

»Für ein Familienfideikommiß, – ja,« summte Alarich Tusch.

»Das sage ich nicht so hart,« widerredete der alte Freiherr etwas erschrocken. »Ich sage nicht, daß Österreich eine bloß auf die Interessen einer einzigen Familie aufgebaute Gewalttat sei! Bismarck schon hat gesagt: wenn Österreich nicht bestände, es müßte geschaffen werden.«

»Ja, für Preußen,« murrte Tusch; er sagte es nicht trotzig; er summte nur so.

Herr von Welser ließ etwas hilflos seine gepflegten Hände heruntersinken: »Und für etwas, über das man solcher Worte fähig ist, geht man kämpfen und sterben; geht es lieber als Herr Tusch, als daß man das Wappen der Welser mit sich ins Grab nähme!«

»In Österreich kämpfen wir aus Privatstolz, leider, ja. Ihr kämpft um eine große, aus langer Hand her, von hunderttausend Schulmeistern vorgedrillte Sache. Ihr seid die über sich selber Klaren, seid die längst Bereiten und werdet die Erfolgreichen sein. Ihr seid ein Volk. Wir bleiben bloß Menschen … Das ist alles.«

»Das verstehe ich nicht. Ist der deutsche Mensch nicht der tiefste? Was fehlt dir an ihm?«

»Das österreichische Lächeln. Das Leben und Lebenlassen. Die Maße, ohne Eile und ohne Gier.«

»Dafür haben wir die Disziplin.«

»Ja. Die macht den Staat groß und vernichtet den Menschen. Das Lächeln unserer Seele ist wie das Lächeln südlichen Meeres. Es ist göttlich, heidnisch, und, wenn du es beschimpfen willst, oft trügerisch, schädlich und zum mindesten unnütz. Aber es ist das Menschentum und es ist das Leben. So wie ihr, immer nur ad interim leben, wollen wir nicht. Hm: um eines hochansehnlichen Ameisenhaufens willen leben, der bestehen bleibt, – über ewig Entselbsteten?«

»Da höre ich deinen Meister Lukas Rabesam!«

»Ich bin längst nicht mehr Lukas Rabesams Schüler; ich bin Lukas Rabesams scharfer Gegner,« sagte Alarich Tusch lebhaft und stand auf; endlich stand er da, wie ich ihn später immer kannte. Hochauf und gestreckt, den Kopf zurück.

»Ich bin Rabesams Gegner; denn ich rede für die Lebenden und er redet für die Abgewendeten, für die Toten. Die Lebenden aber will ich vollkommen haben und nicht gestutzt und gedrillt und verschüchtert zu jeglicher Freiheit!«

»Der deutsche Soldat, gestutzt und verschüchtert?« lachte Welser mit seiner tiefen Stimme.

Alarich Tusch setzte sich wieder und seine Stimme wurde mild wie früher, fast müde.

»Die Wahrheit macht schüchtern; die Lüge macht kühn,« sagte er leise, als spräche er ein altes Zitat. »Verschüchtert bleiben auch bei euch alle, welche die Wahrheit in sich tragen. Aber es beruht nichts, was auf Gewalt beruht. Wehe dem Lande, in dem der Soldat alles gilt und gar zu herrlich obenan strahlt. Das Land Christi ist das nicht und noch weniger das Land der alten Götter.«

»Das sind vergangene Zeiten,« lächelte der alte Herr.

»Ich wehre mich für sie, denn sie waren schön! Damals waren die Menschen göttlich und faßten sich selber als göttlich auf; heute sind sie allerdings diszipliniert, aber im geheimen verachtet jeder den andern; der Bauer den Juden und die Wissenschaft, die Wissenschaft die Religion, der Breite und Laute den Feinen und Stillen, die freche, nichtskönnende Intelligenz den Erfolg, alle verachten alle und recht haben alle, – die Ameisen! – – Jetzt finden sie dieses Allesein zur Abwechslung herrlich. Auf wie lange wohl?«

Ein Windruf heulte empor. »Schweigen wir, lieber Onkel, und hören wir den Jugenderinnerungen der Erde zu. So buhlte es zu Homers Zeiten »um des Gestades windhallende Häupter« und so knisterte damals schon die Flamme und knallten die Funken. Urerinnerungen sind das und das Feuer ist ein redender, ein lieber Gott. Wenn ihr wüßtet, wie ich belohnt bin, der ich alles als göttlich empfinde und auffasse, was euch kaum noch als Kinder ergriff! Wie liebe ich dieses Feuer! Eine kleine Flamme, nur am Teekessel, und ich versinke schon in ein Beschenktsein, in ein dahinträumendes Beschenktsein. Hört doch zu: wer weiß, ob uns das Lagerfeuer so traute Dinge sagen wird. – Das Lagerfeuer …, welches immer spricht: »Du! – Wir zwei lodern vielleicht heute zum letzten Male zusammen, so hoch und rot und heiß.«

Und Alarich Tusch redete an diesem Abende fast nichts mehr, bis ich mich empfahl. Mein Korps war schon aufgerufen; das Tuschens noch nicht. Mein Schnellzug ging noch heute, abends, nach Wien, wo ich die Ausrüstung kaufen mußte, um dann weiter nach Süden zu fahren und mich zu stellen.


Es kam die Zeit der Fanfaren, der Lust am Bluten und Opfern und Hingeben, ohne zu fragen, wofür. Wir unterlagen ihr alle; wir ließen uns unsere Ideale von den nichtigsten Papierverderbern, die niemals selber an Ideale geglaubt und sie nun massenweise hatten, wie heißersehnte Eintrittskarten ausgeben und sahen kaum nach der Sitzreihe.

Aber nie vergaß ich die Stimmung jener Stunde auf windstöhnender Heide, auf der Hochebene im alten Schloßstöckel, wo Alarich Tusch am Feuer gesessen hatte und wenig vom großheiligen Deutschland wissen und nicht in seine Schlachtenherrlichkeit eingehen wollte, obwohl er den Österreicher geringer einschätzte. Es waren nicht die paar Worte Politik, welche damals geredet worden waren; obwohl sie kühn genug schienen, in jenen Tagen der absoluten Übermacht allgemeiner Kriegstrommelei. Es waren Laut und Ton, Schwermut und milde Güte, womit sie gesagt worden waren; es war das Zucken und Ducken und Krachen des Feuers, das fromme, fromme Wort »Heidentum«, wie es aus des schwermütigen Neffen Munde erging, es waren die ewigen Stimmen des Windes, der wehen wird, wenn all jene Ideale von damals nur mehr ein trübes Lächeln bei fremden, späten Zeiten hervorrufen werden; – das war es, was mich so ergriff.

Denn Alarich Tusch redete gar nicht fanfarenhaft, wie damals alle. Er sprach sanft und traurig; schicksalsbewußt, anheimgegeben und überstimmt. Und dieses, daß man fühlte, wie wehe es ihm tat, so allein zu stehen mit seiner verachteten Meinung, und dieses Einsbleiben mit Flammen und Wind und Menschentum, während alles andere auf Erden, was Mensch zu heißen vorgab, sich wie in einer schreckhaften, chemischen Zersetzung auseinander schied, dies alles blieb mir unvergeßlich. Nein, das war kein politisch Gespräch aus den oder jenen Zeitläuften; das war bleibend, wie der Gesang des Windes, wie die Erinnerungen des altgewordenen und gezähmten Feuers; Erinnerungen, an jene Tage, da noch alles Feuer war und sonst kein anderes Leben.

»Das österreichische Lächeln.« – »Die Maße.« – »Die Wahrheit macht schüchtern, die Lüge macht kühn.« Wie sanft war die Musik dieser Worte neben dem Sturmsausen dahingegangen. Nein, ich konnte jenen Menschen nicht vergessen.

Dann sah ich ihn wieder, als ich die flandrische Front bereiste.

Unsere schweren Mörserbatterien standen dort oben; sie sollten eine feindliche Stellung beschießen, und da keinerlei Hilfsziel in der Nähe war, so mußte ein Fesselballon aufsteigen, der, Hals über Kopf herbeibeordert, von ungeschulter Mannschaft bedient worden war. Ein der Artillerie zugeteilter Offizier des Generalstabs saß droben, ein sehr schöner Herr, den man vielleicht mehr seiner dekorativen Wirkung und seines Grafentitels wegen, als infolge großer Begabung zu den deutschen Brüdern hinausgesendet hatte. Im Westen, wohin die Unsern schossen, war klares Gesichtsfeld; im Osten lag eine Wolkenbank. Eben, als ich zur Ballonabteilung trat, um Alarich zu begrüßen, der dorten die Leute zu instruieren und die telephonischen Meldungen, die von oben kamen, weiterzuleiten hatte, kam hinter jenem Stratus ein Geschwader von englischen Fliegern hervor; so unerwartet, daß wir den armen Hauptmann dort oben, der noch keinen Fallschirm hatte, für verloren hielten. Wohl kurbelten die Kaschuben, denen die Heimholung unseres Grafen anvertraut war, verzweifelt am Tau herunter, aber ehe sie ein paar Meter eingeholt hatten, da waren die Britischvögel auch schon heran und krapps, platzten eine, zwei, drei Bomben dicht bei uns. Die Kaschuben stoben nach allen Seiten auseinander und ließen unsern wunderschönen Hauptmann, so leuchtend und so allein wie den Abendstern, dort droben, wo er sich unter seinem phallischen Symbol ruhig drehte. Ich hatte mich zu Boden geworfen. Aber Alarich stand an der Kurbel, an der er verzweifelt weiterzudrehen suchte, und hatte auch jetzt jene hochaufrechte Haltung, die mir immer so sehr an ihm gefiel.

Die Flieger, welche von einer Bombenwurfpartie zu kommen schienen und uns wohl ihre allerletzten Platzbonbons gespendet hatten, verloren sich unter dem wütenden Feuer der Flakbatterien sehr schnell; ja einer ging sogar in rasenden Spiralen zu Boden. »Alarich, Alarich, schauen Sie hin,« rief ich und sprang fröhlich empor. Da wandte er mir sein etwas langes und erstauntes Gesicht zu, dann erst guckte er nach der Richtung, wo der Engländer niedergegangen, aber natürlich nicht mehr zu sehen war.

»Warum haben Sie sich denn nicht niedergeworfen?« fragte ich, erleichtert, indem ich ihm zum Gruße die Hand schüttelte.

Er lachte; nicht die geringste Spur eines überstandenen Schreckens duckte sich in seinen offenen Zügen.

»Meiner Trau, zuerst dachte ich gar nicht dran, so verdutzt war ich, und dann wollte ich doch den Herrn dort oben niederholen; und zuletzt: Soll ich vor so einem Kindesmörder, denen man (– allen! – in allen Ländern! –) im Frieden die Hand verweigern sollte, Kotau machen?«

Am Abend saßen wir in seinem Unterstand allein zusammen; nicht am Lagerfeuer, wie wir alle so romantisch geträumt hatten, aber an einem Öfchen mit schwelender Holzkohle. Das geisterhaft blaue Flämmchen war sonderbar trübselig und dennoch wieder behaglich.

Alarich Tusch sah hinein: »Es ist ein Bild unserer heruntergeschraubten Lebensführung,« sagte er. »Früher brannten wir lichterloh; jetzt sind wir froh, uns im Dunkeln verkriechen und die Hände wärmen zu können.«

Als Landsmann und weil ihn das Heimweh peinigte, eröffnete er mir an jenem Abende sein Herz. Dort draußen zwischen Leben und Tod geht das sehr schnell, oder nie. Und so habe ich damals gefragt, was ihn an jenem Abend, wo er vom Oheim Abschied nahm, so sehr darniederbeugte. Ob er ungern in diesen Krieg gegangen wäre? Ob er schon vorausgeahnt hätte? – – –

»Nein. Aber sehen Sie, – seit jenem alten Herrn Lukas Rabesam laufen eine ganze Menge ›Erlösender‹ in deutschen Landen umher; jeder ist anders. Und ich habe nach Möglichkeit jedem geglaubt. Da war besonders einer, ein kleiner Arbeiter aus der Heide bei Wiener Neustadt, der hatte vorher, was mich hätte warnen sollen, alles mögliche versucht, um sich geltend zu machen, bis er Philosoph und Erlöser wurde. Sogar Schmierenschauspieler war er gewesen. Nun, immerhin: bunte Irrtümer führen besser zur Erkenntnis, als das nie geprüfte Gleichgewicht.

Aber, erinnern Sie sich des heiligen Philipp Neri? Er hatte eine wundertätige Nonne zu approbieren, und statt sich um ihre erstaunlichen Hysteriekräfte zu kümmern, hielt er ihr seine zwei dreckigen Stiefel zum Ausziehen und Reinigen hin, so daß ihm die darob entrüstete Jungfrau gar eklig ins Gesichte fuhr.

Da ritt der Heilige spornstreichs zum Papste zurück, der nicht wenig verwundert war über die eilfertige Prüfung, und rief ihm entgegen:

›Sie tut keine Wunder! Denn es fehlt ihr das wichtigste: die Demut!‹

Nun, lieber Dichter, hören Sie. Alle meine Heilande, auch jener wunderbar begnadete, kleine Arbeiter von der Heide, sie waren eitel wie Affen! Das kleinste Wort der Kritik, das geringste, abwartende Zögern, ihrem Heil gegenüber, und sie waren gereizt, beleidigt. Es ist nichts mit all diesen Verkündern: das Erste und Letzte fehlt ihnen. Die Demut.

Sehen Sie, ich selber sehe mich durchaus als Bestandteil der Gottheit, als ihren bewußten Lebensstrom an, und damit als göttlich. Aber ein wahres Kindesgefühl, jedem bloßärmeligen Arbeiter gegenüber, beugt mich darnieder. Und so, – und nur weil ich sehe, daß es gar niemand anders außer mir kann oder will, – so glaube ich immer mehr und stärker, daß ich es sein könnte, der das Heil in sich trägt für unsere verelendete Menschheit. Ich wundere mich nur ohne Maße, daß ich der einzige sein soll: denn meine jämmerlich simplen Wahrheiten müßten doch längst in aller Menschen Herzen sein!«

»Können Sie mir davon etwas Klares aussagen?« fragte ich.

»Freilich, es ist alles nur viel zu klar, fürchte ich. Also:«

Und Alarich Tusch begann:

»Eine neue, oder vielmehr die verlorene Welt, die Paradieseszeit, also eine Gartenzeit, will ich erschaffen. Denn ich glaube an eines fest: Wer göttlich sein will, der ist Gott selber.

Ja, es ist an dem, daß es für dieses unser Leben überhaupt gar keinen andern Gott gibt, als den Menschen, der göttlich sein will in sich selber. Natürlich: Nicht um Ruhm oder Eitelkeit darf er sich durchgöttlichen. Und das ist die fürchterlich strenge Scheidung.

Denn, hören Sie wohl zu, Dichter: Der wirkliche, der viel zu enorme Gott?

Der Ungeheuerliche, dessen Silben, oder dessen unbewußtes Stammeln wir bloß sind?

Ach, Herr! Jener Gott, er ist gegen diese Erde, gegen dieses kleinste seiner Gütchen im Weltall, nicht anders, als ein ewig verreister, großer Herr; ferne und gleichgültig. Und das wissen alle seine Verwalter – und stehlen wie die Raben.

Er kennt nicht einmal die Sprache, die auf diesem seinen Gütchen geredet wird. Wenn wir Demütige aber, die ihn empfinden, ehrlich seine Verwalter zu sein beginnen, so sind wir, für diese Erde und diese Vergänglichkeit, Er selber. Verstehen Sie?«

»Ja,« sagte ich, lächelnd und doch ernst.

»Er aber bedarf unser als seiner Verwalter,« fuhr Alarich Tusch fort. »Denn keineswegs ist Gott vernünftig oder denkend wie wir! Das wäre Schimpf gegen seine Größe! Es wäre Schmähung an seiner magnetnadelsichern Ausgerichtetheit! Welche Lästerung, ihm jenes Organ zuzuschreiben, welches uns armseligen Ameisen als Tastorgan gegeben ist, eine Vernunft! Gott, und mit einem Gehirn!

Fühlen Sie nicht, was in solchem Grobsinn für eine Herunterwürdigung des Schwingers aller Sterne liegt?

Gott? Er, – und mit einer, wenn auch unendlich verfeinerten Abart jenes Organes, das beim nervösesten Kaffeehausjüdel so exzellent arbeitet?«

Ich lachte. Tusch aber, in Wärme, fuhr fort:

»Und dennoch lebt er. Er kennt sich aber selber nicht, der große Schlafende: – außer in uns. Aber gerade, daß wir ihn fühlen, das macht, daß er uns fühlt. Darum ist es, daß wir zwar ein Kind als göttlich empfinden, ja einen Baum; aber gerade den allerklügsten Menschen empfinden wir als ungöttlich. Aus dem Auge des scharfblickenden Skeptikers ist alle Göttlichkeit getilgt, wenn er nicht irgendwo ein fühlend Kind geblieben ist, im geheimen.

Der alte Mythos schon sagt, daß der Träger des Lichtes, der Vernunft und der Aufklärung (Luzifer heißt er ja schon seit Jahrtausenden!) sich gegen jenen ungeheuren Träumer alles dessen auflehnte, was wir an Gestaltung empfinden. Und das ist wahr. Die Vernunft ist der Teufel, der sich zuletzt selber vernichten wird, und das Unbewußte ist Gott.

Gott ist Ahnen, Bewußtlosigkeit und Nach-Innensein.

Der Widersacher ist die hellwache Klugheit, die ihn bewußt lenken und beherrschen will.

Nun ist das eine wahr: Er hat uns uns selber geschenkt. Gebrauche sich doch nun ein jeder, wie es ihm ansteht. Also, wo ihr könnt, macht euch fein, macht euch womöglich göttlich!

Was aber haben die Menschen aus sich gemacht und zuletzt selber wissenschaftlich bewiesen, daß sie es seien?

Sie haben das, den ganzen Planeten entsetzlich überwuchernde, erfolgreiche Raubaffengeschlecht aus sich gemacht.

Ein Raubaffengeschlecht, gieriger als entfesseltes Feuer und zahlloser als irgendeine Tierart, das kleinste Ungeziefer vielleicht und die Bakterien allein ausgenommen.

Ihre Gier und ihre Überzahl sind das Unglück und die Schande dieser Erde.

Und nun kommt meine Wahrheit: Man muß das Raubaffengeschlecht vermindern und man muß dessen besonnene Reste göttlich machen.

Das ist es, was ich anbahnen will.

Vermindern kann ich es durch Anrufung seiner eigenen Vernunft und seiner Selbstsucht. Die stupide, die gegen alle Mitlebenden und Neugebornen erbarmungslose, die Zeugung ohne tiefste Opferliebe, muß aufhören.«

Ich lenkte ab: »Und wie wollen Sie die Menschen göttlich machen?«

»Durch Anbetung dessen, was allein anbetungswürdig ist. Also der unbewußten, vornehmlich der friedvollen Natur. Durch Anbetung der geheimen Kräfte in ihr. Durch Anbetung der Liebe. In den Begriffen ›anbeten‹ und ›Natur‹ liegt alles Göttliche.

Diese beiden Begriffe aber werden in dieser Zeit durch die Geldleute erstickt und am fernsten ist ihnen ein kleines Volk von frühreifen, beherrschenden und verdammt gescheiten Menschen, deren heilige Schriften immer noch keine Naturseligkeit und immer noch das besinnungslose Propagieren und Generieren lehrt! Dieses Volk hat, – es ist fürchterlich, zu alledem die Wurzeln zur Natur und damit zu aller Anbetung, verloren! Hallo, hören Sie nur zu: Verloren durch unsere, durch arische Schuld!

Eher nun sind wir nicht zu erlösen, ehe wir nicht, ohne Haß gegen jenes arme, enterbte, bodenlose Volk, ihm alles vergüten, was wir an ihm gesündigt: es muß zurück an die Erde, von der wir es durch Kirchengesetze losgerissen haben.

Denn, das merken Sie sich, Herr: keine Erlösung der Christen ohne Erlösung der Juden!

Unser Gebet muß das entgegengesetzte von heute werden. Nicht: ›Mehr gib uns, als dem Bruder!‹ Nein: ›Gib uns bloß unser Brot!‹ Fort mit dem Gelde: aber geheiligt sei, was wächst und sprießt! Und nicht nur wünschen; verstehen und lieben sollen wir, was wächst und sprießt. Dann sind wir erlöst.

Außer diesem, Anbetung alles dessen, was unsere unbewußten Brüder sind, bleibt nur mehr anbetungswert die Liebe auf Erden. Alles andere verfalle der Verachtung. – Das ist mein Bekenntnis.«

»O! Wie wollen Sie einen solchen Umsturz erreichen!« rief ich zweifelnd.

»Durch mein Beispiel,« sagte er.

»Man wird es weder sehen, noch hinhören.«

»Dann werde ich, statt der Millionen, eben nur einen erlöst haben, mich selber nämlich.«

Ich wärmte gedankenvoll die Hände am Öfchen. Vielleicht hatte er recht. Keine Erlösung, die sich nicht selber erlöst. Strömt ihre Kraft auch in andere über, so ist es vielleicht nur ein Glücksfall; der steht außerhalb unserer Macht. Tusch hatte recht. Sich selber erlösen. Mehr kann niemand.

Damals wurde ich abgerufen und sah ihn nunmehr jahrelang nicht. Der Krieg hatte uns auseinander gerissen, und was mit ihm fernerhin geschah, das mögen, bis auf meine eigenen Schlußworte, fortan diese, von ihm selber aufgeschriebenen Zeilen erzählen, die ich hiermit, sowenig Spannendes sie berichten, um ihrer beglückenden Tiefe willen, an Tag gebe.


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