Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölf aus der Steiermark


In Graz, am Ende des März:

Von vier Weltgegenden schritten junge Freunde, jeder einsam, zum gemeinsamen Abendmahl nach einem kleinbürgerlichen Gasthaus in der alten Stadt: »Zur Herzogsburg«.

Cyrus Wigram kam von Norden. Er war in den Ruinen des Schloßberges gewesen, vor denen ein wolkenumdrohter, glühender Sonnenuntergang sein stummes Drama ausgespielt hatte; denn als Tragödie empfand Wigram den großen Wolkenbrand am Ende eines Lebenstages. Er hatte hineingestaunt, bis alles um ihn Asche war. Dann schritt er schwerblütig in die Stadt hinunter, aus einer anderen Welt. Denn der ernste, junge Mensch hatte sich dort oben das jüngste Gericht vorgestellt und war schwer erschrocken über die Unmöglichkeit, zu sagen: Hier ist Recht, hier Unrecht. Da er eine zürnende Natur war, fühlte er sich beraubt und kämpfte jetzt bergab um sein Besitztum, den großen Unfrieden und Groll über eine Welt, mit der er stritt.

Von Süden kam Othmar Kantilener aus den halbaufgewachten Auen an der Mur. Er ging durch den Münzgraben, wo die schlichten Leute wohnen und die kleinen Häuser oft giebelseitig stehen. Da hielt die Armut Abendfriede, und Kantilener ging hindurch als einer, der hier Gutes stiften könnte; daran dachte er und nickte den bis ins Malerische verfallenden Häuschen zu, die ihm schon als Hörer der Kunstgeschichte gefallen hätten. Ob man auch die Beladenen, welche hier wohnten, ohne zu sehen, von welcher Schönheit sie umgeben waren, durch ästhetische Weltanschauung zu heiterem Frieden führen könnte? Wohl kaum, wohl kaum. Aber er wird Rat finden.

Auf einem Dachgiebel sang die Amsel, da blieb der junge Kantilener stehen.

Und obwohl die Amsel ganz gewiß nur ihr eigenstes Liebeslied sang, so hörte er in harmonischem Unterton die Liebe der großen belebenden Wesenheit mitklingen, welche kindliche Menschen Gott und Vater nennen.

Denn Kantilener war von jenen, deren Liebe in einem viel zu großen Wärmegrad entstand und gleich einem flüchtigen Körper nicht von der Art war, in ein einzelnes Menschengefäß gegossen zu werden, wie andere mit ihrem Maß von Liebe tun. Die seine verflog sich über das Allgemeine, über alles Geschöpf. Darum hörte er im Jubel des kleinen Vogels nicht das jauchzende: Ich liebe! Ich liebe! sondern er staunte in kindlichem Einbildungsschreck, wie ähnlich diese kurzen Flötenrufe, welche stets gleich begannen, dem Rhythmus der Bergpredigt von den sieben Seligpreisungen waren …

Da blieb er stehen in der schwindelnden Umkreisung einer Erkenntnis, als hörte er von dem milden Vaterkind aus Galiläa selbst die wunderbaren Ausrufe:

Selig die Sanftmütigen!

Selig, die nach Vollkommenheit dürsten!

Selig die Reinen!

Selig die kunstlosen Herzen!

Und hatte er nicht ganz ein kunstloses Herz, so empfand er doch Sehnsucht danach.

So hörte sich Othmar Kantilener vom Meister der Liebe durch die Stimme der Amsel als selig angerufen und ging im unbeschreiblichen Gewebe glücklich liebender Gedanken seinen Weg im milden Abend weiter.

Von Osten, von der Ries, wo die klare Landschaft von Graz am weichsten und lyrischsten ist, kam Amadé Helbig. Er kam von einem Besuch bei Doktor Urban, der dort mit seiner Tochter im Grünen lebte und gänzlich der Natur gehörte, so weit er sie verstand. Denn Doktor Urban war Naturarzt und hatte sich daher seine Aussicht in die große Schöpfungsweite mit Gesundheitstheorien umgeben; da blieb sie nicht mehr grenzenlos.

Amadé Helbig kam von ihm mit einem Herzen voll Unruhe, ja beinahe voll Angst. Er hatte Angst davor bekommen, nicht ewig jung zu bleiben, und war nur erst sechs Jahre über zwanzig alt. In dieser Sorge stieg er gegen Sonnenuntergang hernieder und sah kaum, wie lieblich die Erde hinter ihm und um ihn liegen blieb, oder er empfand diese Schönheit nur als ein Zurückbleibendes, von dem er wehmütig Abschied nahm. Er war auch von den vieren der erste in der Stadt.

Gegenüber dem Gasthause zur Herzogsburg liegt ein behagliches Häuschen mit kleinem Garten, das einem Malermeister gehört; es wäre selber zu malen, so glücklich gebaut und gartengeschmückt ist es. Das schaute er sich noch mit schönheitverständigen Augen an, bevor er in das Gasthaus trat.

Ein Mädchen im Gärtlein, das er sich betrachtete, verteilte blaßrote und blaue Glaskugeln auf die Rosenstecken; die Gärtnerschere klappte frühlingmahnend in der Hecke, und auch auf diesem Giebelhäuschen sang eine Amsel.

Amadé Helbig aber summte nur halbgesegnet von so viel Freundlichem nach der Melodie des alten Volksliedes:

Jugend ich muß dich lassen,
Ich fahr' dahin mein Straßen – – – –

Und ging ins Wirtshaus hinein zum Bier. Dort saß er und trank einen schmerzlichen Zug Trägheitselement. Es schmeckte, und er lächelte wieder, und zwar lächelte er die hübsche Kellnerin, eine Nichte des Wirtes, an. Damit war er für's erste beruhigt.

Ziemlich langsam wand sich von Westen her Thomas O'Brien aus seinem kleinen, alten Kaffeehause los, am Gries, dem entlegenen Viertel von Graz, das um die in der Steiermark sehr biedere Zeit vor 1800 entstanden und nicht in allen Gassen arm, sondern ganz bescheidenhäbig ist.

Tom O'Brien, wie er sich als Nachkomme einer irischen, aber in Österreich alteingelebten Soldatenfamilie nannte, war fast jeden Nachmittag in dem kleinen Kaffeehaus, wo er eine Kellnerin hatte, die wegen Namen und hübschem Gesichtchen das Röslein vom Gries geheißen ward. Außer ihr waren die schlafende Mutter, eine spinnende Katze, eine laut und langsam tackende Schwarzwalduhr und Blumen am gewölbten Fenster stimmungmachende Requisiten, um deretwillen der in solchen Dingen feinschmeckende O'Brien das kleine Zehnkreuzerkaffee immer wieder besuchen mußte.

Heute hatte er vom Röslein einen vorsichtigen Kuß bekommen. Da ging er sehr ungern weg, denn so gute Ware wurde dort sonst nicht ausgeschänkt. Als ihn das Mädchen dann doch fortgebettelt hatte, schritt er fröhlich mit Dreimännerkräften über den märzlauen Platz, sah in alle Kauf- und Handwerksläden nach ähnlichem hübschen Menschenzeug und empfand einen Festtag.

Es war nicht übel für Amadé Helbig, daß O'Brien so lange ausblieb, daß Wigram sich auf einer Bank des Stadtparkes vergrübelte und Kantilener seinen weiten Weg nur ganz sachte schlürfte. Denn im Gaststübchen der Herzogsburg sangen drei Anstreichergehilfen aus dem nachbarlichen Malerhäuschen alte Volkslieder. Schön fein angreifend; ein ruhiger Baß, ein klug abgewogener Bariton, ein warmer, freudiger Tenor. Sie hielten im »Heidenröslein« ganz dramatische Steigerungen, zogen den »Weiler fern im Grund« durchaus nicht durch den schmachtenden Darm, sondern sangen das Lied fast in unwilligem Liebesgroll und gingen dann recht resolut ans »Brünnele«; – kurz, sie sangen als brave Jungen von Herz, die sich zu halten wissen.

Das feingeschulte Gehör Helbigs entdeckte kleine Lücken, da ein zweiter Tenor in der Harmonie nicht ganz ausgefüllt war; er setzte mit halblauter Stimme die fehlenden Notenkleinodien an ihre Stelle, und den Gesellen schien es recht, daß er mitsummte, sie sahen ihn ganz freundlich an.

Das Wirtsnichtchen saß dabei mit einer Handarbeit am Tische der drei, und Helbig versank anschauend in ihr helles Antlitz. Es war ihm ein Geschenk, sich wunschlos in ein süßes Gesicht zu verträumen und dabei leise mit einer schönen Harmonie zu spielen. Er sang, schaute, trank und kam sich wie eingebunden in einen Band Volkslieder aus der Zeit der Romantiker vor.

Es blieb nicht so. Den drei Anstreichergehilfen füllte die Wirtin alle Backen mit einer Schüssel voll Geselchtem, und sie schwiegen jetzt genau so gut wie satte Dichter. Und O'Brien kam. Er brachte einen ganzen Windstoß stürmisch guter Laune mit und überklang damit des Knaben Wunderhorn.

Mali kam herbei und fragte, was er wünsche.

»Erst, liebes Butterkipferl,« schmunzelte O'Brien, »wünsche ich ein gewisses freundliches Zimmer im ersten Stock mit weißen Gardinen, – zweitens ein frisch überzogenes Bett« – –

Die Liebesanträge O'Briens sahen immer ähnlich aus; Mali wurde rot, lachte und rief: »Das haben wir nicht! Wünschen Sie sonst nichts?«

»Sie weist meine Liebe zurück,« sagte O'Brien zum stillen Helbig. »Und ich könnte sie so romantisch unglücklich machen!«

»Ich danke,« lachte Mali. »Wie möchten Sie das anfangen?«

»Butterkipferl, du blondes,« träumte O'Brien: »Das wäre nicht schwer. Ich möchte Kinder mit dir haben: Drei Stück, mit denen du durch die herbstdurchstürmten Murauen hinaus und über die braune ungarische Tiefebene betteln gehen müßtest, wankend vor den Stößen des Boreas! Und ich würde das wissen und möchte schlecht sein, und dir nicht helfen, und würde noch unglücklicher sein als du. Butterkipferl, du hast so lichte, lachende Augen! Butterkipferl, ich möchte dich weinen machen! Heute sah ich, wie ein Spatz seine Liebste biß, daß die Federn flogen, und meine Zähne knirschten vor Wonne. Ich möchte Böses an dir tun, und dann gierig zusehen, wenn du weinst!«

»Gott behüte uns,« sagte Mali und blickte ihn erschrocken an. »Sie müssen schnell was Warmes essen, Herr O'Brien.«

»Nein, bring mir einen welschen Salat und Bier, dann erzähle ich dir noch Schauerlicheres von meinen grauen Plänen mit dir.«

»Butterkipferl!« rief einer der Gesellen.

Sie ging hin, bestellte den Freunden Essen und setzte sich wieder hoffnungsvoll zu O'Brien. Ihr Schreck war schnell verraucht. »Weiter,« sagte sie.

»Du bist unverwüstlich,« zürnte O'Brien im Tone des Vorwurfs. »Ich werde große Verbrechen an dir zu begehen haben, damit du nicht wirst, was ich in trüber Ahnung kommen sehe: Fett und behaglich, Bürgersfrau, Marktkorb, möblierte Zimmer zu vermieten. Das lasse ich in dem Roman nicht zu, den ich mit dir schreibe!«

»Butterkipferl!« rief die Wirtin vom Küchenschalter.

»Das ganze Wirtshaus nennt sie schon so,« stellte O'Brien stolz und zufrieden fest. »Sie ist meine Dichtung; schade nur, daß sie sich nicht immer danach benimmt. Sie wär' es sogar imstande und heiratete!«

Wigram kam und drückte den Freunden still die Hand. Die Gesellen am Nachbartisch hatten indes ihr Mahl beendet, und einer begann unverbesserlich an einem Liede zu summen; die anderen brummten mit, und in kurzem war die neue Pflanze vom Piano ins Mezzoforte gewachsen und blühte stattlich.

Dann trat Kantilener ein und blieb, als er singen hörte, fromm in der Türe stehen, den Hut in Händen, und sang leise mit, ganz wie zuvor Freund Helbig. Als dann das Lied zu Ende war, reichte er den Freunden die Hände:

»Ein geweihter Abend!«

»Das könnte er schon sein,« meinte O'Brien; »aber der Helbig tut heute nicht mit; ich weiß nicht, was der hat.«

»Ich hätte euch eine Idee vorzulegen,« begann Helbig.

Die Freunde sahen ihn aufmerksam an. Helbig war der von ihnen, auf den sie alle gern hörten. Er war lange nicht so original-gedankengräberisch wie Wigram, nicht so frisch wie O'Brien, nicht so warmherzig wie Kantilener; in all dem, worin diese drei Freunde außer und über allen Maßen standen, war er maßvoll talentiert. Aber er war, eben weil er nirgends grub, sondern nur schon gebahnte Gedankenwege ging, der am feinsten durchgebildete von allen; und keiner von den drei anderen hatte es zu dem scheinbar wundervollen Gleichgewicht dieses jungen Mannes gebracht, der sich selbst durchgearbeitet hatte wie ein fein ziseliertes Kunstwerk. Nur seine Eltern hatten an ihm gepfuscht, indem sie diesen, bloß zum Meditieren vorzüglichen Menschen zwangen, Jurist zu werden, um des lieben Brotes willen. Das haftete wie ein Krankheitskeim in ihm.

Die Freunde hörten also gefällig auf Amadé Helbig, den sie, vielleicht irrig, für den besten Kopf unter sich hielten, weil er am meisten und aufmerksamsten gelesen hatte.

»Ich war beim Doktor Urban,« begann er. »Als ich ihm erzählte, daß wir uns hier träfen, warnte er mich in gewohnter Weise vor Fleisch, Alkohol und Gewürz. Mir ist schon beinahe bang« –

»Ach wo,« lachte O'Brien. »Jedem, was ihm schmeckt!«

»Es ist auch nicht allein die leise Lähmung, die mir jeden Abend das Bier anhext, was mir Sorge macht. Urban hat über seine Jugend gesprochen und behauptet, daß die Alterserscheinungen bei ihm heute noch ausgeblieben seien. Er ist fünfzig. Sein Bruder, der Architekt, war mit dreißig Jahren am Ende aller Ideale, ging nach Geld, Familie und Braten, wurde dick und krank, und er, der Doktor, ist mager, beweglich, sprühend von apostolischem Bekehrungsfeuer, voll Hoffnung, von Idealen angelächelt wie ein Student, und hat noch so frische Augen – – –!

O Gott, wer nur auch jung bliebe!«

»Und hast du ein Elixier?« fragte Wigram ernst.

»Aber nein,« rief Helbig. »Ich habe bloß die Angst, und die ist ja auch ein Schutzmittel.«

»Du irrst,« sagte Wigram.

»Höre mir nur zu,« fuhr Helbig eifrig fort: »Jetzt, heute, sind wir jung, sind wir glücklich und wissen es. Bilden wir also einen Verein zur Benutzung schöner Tage, bis zum Bruchteil einer Stunde. Einen Verein zur kunstgemäßen Entwicklung von Stimmungen. Zur Erzeugung wunderschöner Erinnerungen. Mahnen wir einer den anderen, die Augen weit aufzutun, damit uns nicht die Jugend wie Sand zwischen den Fingern durchläuft, bevor wir die Kunst erlernt haben, die Hand um die Stunde zu schließen!«

»Das mußt du in dir selber haben,« brummte Wigram.

»Ich glaube, ich hätte das Talent, die schöne Stunde zu erkennen und zu genießen; – ich habe sogar das Talent, sie zu rufen. Aber vier jungen, herzlichen Burschen fliegen doch diese Stunden zu verschiedenen Zeiten über die Seele. Wenn nun wir drei anderen uns recht hineinfinden, so wird die geteilte Freude nicht kleiner, sondern häufiger …«

»Ich bin nicht dagegen,« sagte Wigram; »nur könnte ich mich nie dazu verstehen, zu reden, wenn ich in meine Gedanken eingesponnen bin. Da kann ich nichts abgeben, sonst ist alles verflogen.«

»Wie denkst du also, daß wir glücklich sein sollen?«

»Bin ich es denn?« fragte Wigram in ruhiger Trauer.

Nach der kleinen Pause, die auf diese Frage entstanden war, fiel O'Brien ein: »Ich habe da mein System, welches Helbig und vielleicht sogar Kantilener annehmen könnten. Wigram nicht, der hält seine eigene Phantasie zu streng und zu knapp. Ich lese oder mache mir Romane und lebe sie dann. Mein Leben ist mein Kunstwerk. Ich führe es in allerhand Stimmungen, in Fährlichkeiten, in Erlebnisse. Ich suche nach Handlung und träume mir das nötige Rankenwerk herum. So habe ich schon einige hübsche Kapitel aus mir und anderen gedichtet … Apropos. Könntet ihr nicht machen, daß mich Butterkipferl verabscheut? Der Gasdruck der Leidenschaft steigt in quadratischem Verhältnis zum Widerstand, den sie findet, und ich brauche gerade eine Leidenschaft, wie jene des Priesters in Viktor Hugos Notre Dame, um mein Objekt mit ihr zu malträtieren.«

»Ein grandioses Buch, Notre Dame,« sagte Wigram gedankenvoll; »in Anbetracht der Idee des Schicksals, der stupid gewaltigen Verhältnisse, welche die einzige Gottheit der Welt darstellen.«

»Ich glaube nicht an die Allmacht des blinden Schicksals; richte ich mir es nicht selber so schön ein?« rief O'Brien.

»Nur bis zum nächsten Baumstamm, den der Fluß herabtreibt, wird deine Mühle ihren eigenen Takt klappern,« entgegnete Wigram.

»Aber wir kommen von der Idee Helbigs ab, die ihre guten Seiten hat,« rief Kantilener. »Hört mir zu: Ihr wißt, daß, als wir vor Jahren am Beginn der Prima standen, am schwarzen Brett angeschlagen war: In den Ferien ist das Fechten und Viatizieren strengstens untersagt. Das hatte seine gute Ursach'. Ich und der Karl Vollrat, der jetzt Medizin studiert, und der Scheggl Franz, der auf den Tierarzt hinaus will, und der kleine Klaus Petelin, wir sind über Salzburg und Bayern an den Rhein gewandert, immer von Pfarrer zu Pfarrer, und haben unsere Steirerliederln hören lassen, die ihnen immer seltsamer und liebenswürdiger geworden sind, je weiter wir aus dem Österreichischen fort waren. Haben auch in Kirchen Hochamt mitgesungen. Und die Pfarrer haben uns einer an den anderen empfohlen, und so sind wir im Zickzack, wo immer ein singfreudiger, lustiger Klerikus hingepflanzt war, an den Rhein, und zurück, über Mainz und Bamberg nach Nürnberg und Bayreuth, und herunter nach Braunau, wo wir über Steyr wieder nach Hause gekommen sind; – kreuzfidel, soweit die Welt katholisch war. Braun, dick und fett waren wir, zehn Gulden hat jeder mitgenommen, und zwanzig haben wir zurückgebracht.«

Die Freunde lachten.

»Und so meine ich, wir sollten zur Idee des Helbig wenig weiter tun, als spazieren gehn, wo immer die Erde um diese wunderschöne Stadt uns als Himmelreich anlacht, und singen, und die Leut' erfreun, und uns auch. Unsere deutsche Heimat steckt voll wunderschöner Lieder. Dreihundert wissen wir, dreihundert lernen wir wohl noch, und dreihundert dichten wir. Wie? Und was wir mit den schönen Verslein anziehen, das wird nicht das schlechteste Menschenvolk sein. So machen wir Bekanntschaften, Freundschaften, machen Schicksale – und bleiben jung dabei. Wen werden wir wohl zuerst fangen?«

O'Brien war gleich dabei, Kantilener die Hand hinzustrecken. Helbig meinte, es wäre doch immerhin ein gutes Teil dessen, was er sich gewünscht habe, und Wigram war zufrieden.

»Kantilener hat den ersten Tenor, Helbig den zweiten, ich den ersten Baß und Wigram den zweiten,« rief O'Brien gut gelaunt. »Meine Herren,« wandte er sich an die Anstreicher am Nachbartisch: »wir werden uns für Ihre schönen Lieder mit einem echten Mozart erkenntlich beweisen; Sie haben uns auf eine gute Idee gebracht.«

Und die viere sangen das Weihelied, »Brüder, reicht die Hand zum Bunde«.

So entstand der gänzlich statutenlose Verein des Geheimnisses vom Glück. Jeder hatte freie Wahl, es anders anzugreifen; aber alle mahnten sich beständig an die Aufgabe, glücklich zu sein und begrüßten sich mit den Worten: Freue dich, Bruder! Oder auf Griechisch: »Chaire!«


Wo in der Natur die Materie Kraft gefaßt hat, Kristall oder Zellenwesen zu werden, da zieht wechselseitige Sehnsucht gewaltig den Stoff hinzu, der sich in schöner Ordnung anfügt. So geschah es auch mit dem Verein der Glücklichen. Gegen das dumpf hinträumende Vegetieren vieler, immerhin begabter junger Leute gehalten, war die Lebensliebe und die Weltfreude dieser vier Burschen erst wirklich Leben zu nennen. Man sah sie, um ein Beispiel aufzutischen, miteinander ein Stück moosiges Dach mit Gras in der Rinne und etwa einem blumenvollen Dachfenster dabei, wie es vor Kantileners Zimmer war, mit großer Innigkeit und Lust betrachten. Schlossen sich gleich andere Menschen an die Gruppe und guckten auch hinauf, als ob sie dadurch Anteil bekämen. Aber die einen glaubten, ein Kanarienvogel sei entflogen, die anderen hielten sie für Architekten, die den Einsturz des baufälligen Gerümpels erwarteten; kurz, sie suchten alle nach einem Zweck und blieben mit sehenden Augen blind. Entschlüpfte dann etwa dem Helbig, der seine Ergriffenheit nie still arbeiten ließ, ein Ausruf über die schöne Zufälligkeit dieses Dachwinkels, so staunten die Mitmenschen noch einmal dumpf hinauf und gingen dann kopfschüttelnd davon. Manche aber verstanden die vier und erzählten von ihrem köstlichen Treiben, die Freude zu suchen, weiter. Da sehnten sich immer welche, in das Quartett des Glückes einzutreten.

Dann einmal, am ersten Frühlingstage, zogen die Freunde singend auf einer der lieblich sanften Bergstraßen im Osten der Stadt einher, und die Fenster an allen Landhäusern gingen auf, weil ihnen die Menschen erfreut nachlauschten, wie sie so wunderschön dahinklangen. Denn in Graz ist die Musik eine der Hausgottheiten in allen Ständen. Und um sieben Uhr, da im Frühjahr die tiefstimmige große Glocke vom waldigen Schloßberg mitten in der Stadt nach den beruhigten Höhen hinübersang und die Sonne mit unerhörter Pracht hinter den goldenen Gardinen ihres Wolkenbettes zur Ruhe gegangen war, da faßten sich die Freunde unter den Armen und sangen ihr nach, einen schönen, ruheatmenden Kanon als Abendständchen. Denn sie liebten die Sonne sehr, und Kantilener nannte sie stets die schöne Mutter.

Hinter ihnen war eine heimkehrende Familie in anteilvoller Bewegtheit stehen geblieben. Der Vater Hofrat lächelte in neidvoller Ironie und dachte im geheimen, daß auch er einst ein wenig von dem großen Rausch gefühlt hatte, der den Jungen im achtzehnten Jahr ergreift, wenn die riesige Welt ihm mit einem Male alle Tore aufreißt. Die Frau Hofrätin hörte gerne singen, ohne hier mehr zu ahnen als bloßen Gesang, und gebrauchte nur ihre Ohren in erfreuter Verständnislosigkeit. Die Tochter sah vier junge Leute, von denen drei hübsch waren, und der schröterbreite Wigram mit dem Rammkopf sang wenigstens gut. Ein wenig begriff sie, was die viere taten, und die Romantik des Wunderlichen regte sie lebhaft an. Über Käuze lachte sie sonst gern. Diese waren aber zu gut gelungene Exemplare von Männchen, und sie interessierte sich also, trotz aller Heiterkeit darüber, daß die lieben Kerle nichts Besseres anzusingen wüßten als die Sonne.

Soviel über Hofrat Melander, Frau Hofrätin und Tochter Liese.

Wen aber der Sonnenkanon der Freunde mit seiner Abendharmonie vierschneidig ins Herz stieß, das war der slowenische Student, der die Familie begleitete, Bodo Semljaritsch.

Er hatte sich bisher stolz in der innigen Überzeugung gehalten, daß nur der Slawe, – vielleicht nur der Südslawe – die Macht und Größe des Himmelslichtes und der freien Welt erkannt habe. Er wußte: Einst war die Steiermark slawisch bis an ihre höchsten, vergletscherten Berge über dem Seenland im Nordwesten. Je jünger aber das Deutschtum im Lande war, desto mehr Kirchen und Kapellen standen auf den Bergspitzen, und im Wendenland ist kein weitschauender Hügel, der nicht solch eine lieblich schimmernde Kultusstätte trägt. Jede dieser Seelenwohnungen war ihm aber ein Beweis, daß seine Slawenväter vor uralten Zeiten dort ihre Arme zur Sonne und zum Unwetter um Gnade für die weite, reiche Welt unter sich ausgebreitet hätten: Es waren alles altslawische Gebetstätten.

Nun mußte er große, feindliche Verwandtschaft anerkennen. Zudem durchdrang ihn das deutsche Lied wie der Westwind im April den erstarrten Baum, und die Sehnsucht zu blühen wie diese deutschen Studenten, schoß ihm bis in die Haut, die sich im Schauer sträubte.

Die viere aber, als die lichte Glut vergangen war, jauchzten ihr in einem kurzen Jodler nach und zogen dann mit Klang und Schall zu Tale, indem sie, zu zwei und zwei abfallend, immer noch die ganze Breite des Weges einnahmen und zum Taktschritt lustig sangen.

Da faßte die junge, schöne Melander Liese den wendischen Studenten beim Arm. Ihn durchzuckte ein kurzes Sträuben, aber dann mußte er hinterdrein wie das Kind hinterm Rattenfänger. Zuletzt marschierten Herr und Frau Hofrat. Und wo der Zug an Wirtshäusern und Seitenwegen vorbeiging, dort schlossen sich heimkehrende Menschen an, zwei oder drei, bis ein stattlicher, belustigter und gerührter Marschtrott hinter den Freunden bergabwärts herzog.

»Glöcklein tut läuten,
Wandrer begleiten,
Glück soll's bedeuten« …

Wer kennt das Lied nicht?

Das ging bis nach Waltendorf am Fuße des Lustbichels, und dort blieben die Freunde stehen; Helbig mit der Gitarre am Flügel, und ließen die helle Schar der Nachziehenden defilieren. Befriedigt nahmen sie freundliche Blicke, Zuwinken und Tücherwehen entgegen, schwenkten ihre Hüte und gingen dann ins Gasthaus, vor dem sie standen, um von dort nach dem einfachen Spätmahl noch den ruhebegütigten, schweigsam ergriffenen Heimweg durch die Frühlingsnacht zu haben.

Zwei junge Menschenseelen aber waren gefangen.

Bodo Semljaritsch nahm sich vor, die vier Wunderlichen kennen zu lernen, und Melander Liese hatte sich den braunen, melancholisch Heiteren mit der Gitarre ausgesucht und bestärkte mit Nebenabsichten den Studenten in seinem Vorsatz. Denn er wohnte mit ihnen im gleichen Hause, und der befreundete Hofrat behandelte ihn, Bodos Vater zuliebe, als eine Art Neffen. Semljaritsch sollte einen oder mehrere von den vier Merkwürdigen ins Haus ziehen.

Mittlerweile aber hatten auch die ehemaligen Klassenkollegen Kantileners aus dem Gymnasium, der kleine, junge Sparkassenvolontär Klaus Petelin, der Student der Tierarzneikunde Franz Scheggl, und der Vollrat Karl, Mediziner, von dem erfolgreichen Gutestundenfang der vier gehört und verlangten mit mehr oder minder großer Sehnsucht ihren Anteil am Glück.

Kantilener mußte ihre Wünsche den drei anderen überbringen.

Ehe noch der April gekommen ist, sind aus den vieren sieben geworden.

Da nun aber das zweite Quartett nicht vollständig ist, denn gesungen muß sein, versteht sich der Bund zur Aufnahme des Bodo Semljaritsch, der sich ernst, fein und mit zurückhaltender Ergriffenheit zu den anderen hält und eigentlich am besten zum Grundstock paßt. Denn mit den drei anderen waren doch nur zwei vollständige Seelen hinzugekommen. Klaus Petelin freilich war Seele; zu viel Seele; fast nur Seele. Er kam und ging wie ein Hauch und trat sogar leise auf den Boden. An seinem ganzen Leibe war weniger Fleisch als an einem büßenden Heiligen, nur das Kindergesicht war fast kreisrund, von dem die Ohren wie zwei Engelsflügelchen wegstanden. Der kleine Klaus war in Heiterkeit und Wehmut leise, wie ein Schatten an der Wand. Er trug zu solchem Wesen eine Art altgriechischen Reisehut und fast immer einen kamelhärenen Havelock, so daß er aussah wie ein Jünger des heiligen Johann. Und wirklich war etwas an dieser Jüngerschaft. Denn Klaus Petelin war Theosoph, und die haben in Graz einen großen Gottsucherverein. Und dann schwenkte er durch den mächtigen Antrieb eines Kollegen von der Sparkasse, der Gerhard Liesegang hieß, schon bedenklich zum Naturmenschtum über. Und der Trieb nach dem reinen Urmenschentum geht in dieser sonderbaren Stadt noch häufiger um als der zur Theosophie. Von Hygiene, Abstinenz, Luft, Sonne, Wasser, ethischem neuen Menschentum und Abtötung des Fleisches bis zum Nierenbraten herunter geht hier viel die Rede. Es ist eine merkwürdige, rührende Bewegung dem Urchristentum ähnlich an Liebe und Unduldsamkeit, geheimnisvoller Anziehungskraft, Seelenstärke und Lächerlichkeit.

Franz Scheggl wieder kam aus dem steirischen Oberland, und man merkte es an seiner unbedingten Redlichkeit und Herzenseinfalt. Wenn einer zu Weihnachten einen Witz machte, so lachte er zu Ostern darüber, weil er ihn da erst begriff. Sein Lachen war aber von unwiderstehlicher Treuherzigkeit, steckte jeden fröhlich an und klang, wie wenn Wasser in einer großen Blechschüssel schwankt: Häu, häu, häu!

Seine frommen Eltern hatten ihn von Eisenerz weg zuerst ins Kremsmünsterer Gymnasium nach Oberösterreich geschickt, und der wanderlustige Scheggl hatte sich's bedungen, ein Teil des Weges zu Fuße zurückzulegen. Vor Kremsmünster, das ihm wegen fehlender Bergriesen gar nicht gefallen wollte, dachte er bangherzig daran, wie ihn die oberösterreichische Tante, bei der er wohnen sollte, aufnehmen würde. Denn die Steirer waren überall als schreckhafte Fresser verschrien, und ihm zog sich die Kehle vor Verlegenheit zusammen, wenn er dachte, daß ihm die sorgliche Mutter einen herzhaften Gugelhupf, drei Hausselchwürste, ebensoviel Lebzelten und neun Äpfel ins Ränzel gesteckt hatte. Auf der Reise hatte er den ganzen Schatz kaum berührt, ja, es lagen sogar noch drei frische Semmeln dabei, die er sich diesen Morgen gekauft. Heidi, wie die Steirer ans Fressen denken, wird's heißen, wenn er das alles auspackt!

Da setzte er sich denn im Anblick der Türme von Kremsmünster ganz kleinlaut an den Weg und aß die drei Selchwürste mit den drei Semmeln und aß die Lebkuchen und aß den ganzen Gugelhupf und sieben von den neun Äpfeln. Nur nicht als Fresser vor den Leuten dastehen!

Nun war ihm leichter. Das Bäuchlein wie eine Pauke wegragend, begrüßte er im Schweiße seines wackeren Steirerantlitzes bald nachher verdauungsfroh die Tante. Geschadet hat ihm das Frühstück nicht.

So groß aber auch der Appetit des jungen Scheggl Franz war, sein Heimweh war noch viel größer. Den Herbst hatte er verweint, den Winter durchsehnt; zu Weihnachten wäre er beinahe vor Erinnerung gestorben, als er Tannenbaum und Äpfel roch, und im Frühling, – ja, da ging er durch. Er hungerte sich durch das ganze Ennstal aufwärts, warf sich bei Hieflau vor Freude laut weinend auf das dicke, weiche Moos am Straßenrand und küßte den Heimatboden, hielt zu Hause mit leuchtenden Augen den Zorn der Eltern aus und freute sich so rührend über das Wiedersehen der Speckkammer, in die er zur Strafe gesteckt werden sollte, daß sogar der Vater eine halbe Stunde nachher weichherzig wurde.

Nun kam er nach Graz ins Gymnasium; dort war wenigstens steirischer Grund und Boden. Kor-, Stub- und Gleinalpe leuchteten mit majestätischen Schleppen langzügig zu ihm herüber, und alles war gut. Mit zwanzig Jahren war Scheggl ernst geworden, aber naiv geblieben. Seine Pläne gingen auf Heirat, Familie und Markt Eisenerz. Singen tat er gerne, und zwar Baß, und verdarb fast so wenig wie Petelin an den Stimmungen des Doppelquartettes.

Doktorand Karl Vollrat endlich sah als Hauptsache und einziges Wertobjekt des Menschen die Gesundheit und die Vernunft an. »Immer das Cerebrum oben« war sein Wahlspruch. Er faßte die Wanderungen der Sonnenkinder hygienisch auf und machte einmal einen gottesnahen Morgenspaziergang im halbwachen Walde, in nichts als in einen Luftbademantel gehüllt, mit. An der Freude der sieben Glücksgänger nahm er, ebenfalls aus Gesundheitsrücksichten, gerne und freundlich Anteil. Mit Petelin sprach der junge Arzt viel über Naturheilkunde; seiner Theosophie aber brachte er nur ein Achselzucken entgegen: »Metaphysik muß vernunftnotwendig Irrtum sein. Wie kann der Tiefseefisch über Wolkenbildung urteilen? Es liegt außer unserem Begriffsvermögen.« Er liebte Schopenhauer, kannte ihn fast auswendig (immer die Metaphysik ausgenommen) und brachte einen von den Freunden nach dem anderen mit den Büchern seines Weisen zusammen, soweit sie ihn noch nicht kannten. Der trotzige, stimmungsreiche Philosoph machte auf O'Brien und Scheggl gar keinen, auf Semljaritsch mäßig bewegten, auf Kantilener und Petelin tiefen Eindruck. Wigram schwieg äußerlich und kämpfte im Innern stürmisch mit der ihm verwandten Lehre; Helbig kannte schon das allermeiste und liebte den Pessimismus als eine Art Narkotikum, das er von Zeit zu Zeit in dreisten Dosen nahm. Sein Lieblingskapitel war vom Tod und seinem Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres wahren Wesens.

Dieses Kapitel wurde dem klugen Amadé später Schicksal.

So brachte Karl Vollrat immer etwas Disput in die Gesellschaft derer, die sich sonnten. Da er auch ein abgesagter Feind der Weiber war und die guten Väter kurzweg als Eherösser bezeichnete, die einen unverschämten Pakt zu einseitigem Nutzen der Weiber ernst nähmen, so gab es einige Auseinandersetzungen mit Scheggl, mit Petelin und Kantilener, kurz mit denen, welchen die Liebe in irgendeiner ihrer vielen beschränkten oder weiten Formen im Herzen rumorte. Nur Wigram lächelte grimmig dazu, sagte aber nichts.

Gegen Ende des März drängte Petelin seinen neuen Freund Helbig, daß er ihn mit Doktor Urban bekannt mache, der schon so oft, so gut und liebevoll, aber auch feurig und anklagend im Verein für Naturheilkunde gesprochen habe.

Doktor Urban wohnte auf der Ries. Diese sanfte Höhe mit Wald, Wiesen, Tälern, kleinen Teichen und moosbedeckten Bauernhäusern hat eine Landstraße, die stundenweit über die verklärte Höhe als ein rechter Himmelswiesenweg führt! Die ganze mittelsteirische Welt in ihrer süßen, weichen Schönheit schaut im Kreise herüber, der Wald kommt und geht am Wege, und wer in einem der Gasthäuser einkehrt, der trinkt mit seinem Wein die ganze Welt mit hinunter. Da sind die Augen zu wenig; wer von der Ries in die Welt schauen will, muß mit dem Herzen sehen.

Kantilener drang darauf, daß man bei dem Besuche des Naturapostels gleichzeitig vom März Abschied nehme. So gingen am einunddreißigsten des Ahnungsmonats Kantilener, Helbig, Wigram, Petelin und Vollrat über die braungrüne Wiesenhöhe, die voll Primeln stand.

O'Brien hatte gesagt: »Ich gehe nicht. Diese Ritter vom Kamelhaar behaupten, die Menschheit und die Welt zu lieben, und sie hassen mit größter Inbrunst die Gnade einer bloßen Weiberhaut, den Alkohol und den Rostbraten, was alle drei doch so wunderschöne Dinge sind.« Er blieb beim Röslein am Gries; denn das war ausgemacht im Vereine derer, die sich freuten, daß die größere, einsame Freude stets vor der allgemeinen gehen dürfe.

Scheggl Franz tat desgleichen. Mit seinem Eintritt in den Verein war auch er in das Wirtshaus zur Herzogsburg gekommen. Dort saß er nun und erzählte der blonden Mali treuherzige Geschichten von Eisenerz, vom Leopoldsteiner See, vom Pfaffenstein, von Treanchtling mit dem vielen Edelweiß, und wie sie zu Hause das Fleisch räuchern, und daß ein Tierarzt sein gutes Auskommen habe …

Semljaritsch hörte sich in der Oper die »Verkaufte Braut« an und weinte beinahe vor Weh, daß es nur einen einzigen slawischen Musiker wie Smetana gäbe, während die Deutschen die ihren dutzendweise verhungern lassen durften. Aber jetzt gäbe es keinen mehr! Das war ein schwacher Trost, der ihm selber leid tat. Seine durchaus feine Natur kämpfte gegen die Übermacht deutscher Geistesschönheit, gegen die er nichts als die unglückliche Liebe zu seinem Slowenenvolk zu setzen hatte. Er stritt und litt, weil er so stark deutsch fühlen konnte!

Die anderen fünf aber gingen langsam und innig über die aufwachenden Felder und Wiesen nach dem baumversteckten Hause des Doktors Urban, das nur nach Süden frei und weiß in die weite Welt schaute.

Doktor Urban war einer von den ganz eigengedanklichen Menschen, die in der träumerischen Stadt Graz so gut gedeihen. Der hagere, fünfzigjährige Mann hoffte, liebte und verurteilte wie ein Jüngling. Er lebte ganz in seine Natur versunken und hatte nichts lieber als die Pflanzen. Die einzige schöne Tochter, die ihm seine längst verstorbene Frau hinterlassen, war von ihm Linde geheißen worden. Nicht etwa Rosalinde oder ähnlich. Nein: Linde, tilia: Aus Liebe zu dem weichen, geschmeidig schönen Baume. Ein Glück, daß er keine Söhne hatte; denn die hätte er unfehlbar Wacholder oder Rapunzel getauft. Seine Liebe zur Natur zog ihm die Freundschaft Kantileners, sein feines Musikverständnis jene Helbigs, seine Pflanzenliebhaberei jene Vollrats zu, der ein eifriger Botaniker war.

An der Tür des Hauses hielt sich die Abendsonne auf und überleuchtete die junge Linde, vor deren stiller Schönheit Wigram sich tief verneigte, Kantilener erschrak, Petelin scheu wurde und Helbig und Vollrat sich angenehm erwärmt fühlten. Doktor Urban kam schnell und froh aus dem Hause und führte die Freunde erst zu allen Pflanzungen. Mit gerührter Dankbarkeit wies er ihnen die wundervollen Edelkastanienbäume, die den Waldrand fast fremdartig besäumten und noch viele der dürren, langen Blätter festhielten.

»Diese schönen Geschöpfe reifen hier auf der Südseite und bieten uns für den kalten Winter eine süße, reine, naturgefällige Kost. Nicht wahr, Linde?«

»Heuer haben sie bis in den März ausgereicht,« sagte Linde, ohne daß ihr schönes, rundes Antlitz mit einer Regung verraten hätte, ob sie sich darüber gefreut oder geärgert hatte. Vielleicht war es ihr gleichgültig.

»Ich habe es sogar mit Feigenbäumen versucht. Dort in der kleinen Sandgrube stehen sie gänzlich geschützt und sonnebebrütet. Aber sie reifen fast nie,« sagte der Doktor traurig. »Desto besser geraten meine Walnüsse und der liebe, schlichte Haselstrauch! Und meine gütigen Birnbäume!

In ihnen schlummert die Zukunft dieser Erde, denn ich sage euch, ihr lieben Freunde: An der Birne des Vegetariers wird einst das Schwert des Kriegsgottes zerbrechen.

Apfelsorten habe ich vierzehn, von denen aber nur acht charaktervolle Früchte geben. Dort sind meine Beerensträucher. Die Kartoffeln jenseits liebe ich nicht; sie haben kein gutes Gewissen, sonst würden sie nicht unter der Erde gedeihen; da ist es kein Wunder, daß ihr Kraut giftig ist. Aber Linde ißt sie gerne; da legen wir in der Karwoche wieder welche aus. Ihr zuliebe haben wir sogar Speck neben der Butter in der Speisekammer,« flüsterte er ziemlich verlegen Helbig ins Ohr, um von Petelin nicht gehört zu werden.

Dann lud er sie zum Vespermahl. Fruchtsäfte, Obst, Kleienbrot. Für einmal schmeckte es nicht übel, und Kantilener fand alles, was Urban vorbrachte, unendlich beherzigenswert. Er war bisher in seiner geliebten Kunstgeschichte gänzlich aufgegangen. Nun aber, seit die Menschenliebe in ihm von Jahr zu Jahr klarer und stärker wurde, brauchte er zu seiner Beruhigung dringend Rezepte zur Linderung der Armut, zur Heilung der Kranken, zur Besserung der Verderbten. Hier bei Urban war so vieles, so reines, so einfaches. Er hörte zu, wie einem uralten schönen Liede, das nur ihm überraschend neu war.

Es war ein Samenkorn gefallen.

Petelin war glücklich. Er nistete sich fest an den prächtigen Doktor, den er schon wegen der Anfeindung und des Hohnes, die er von der halben Ärztewelt zu erdulden hatte, innig liebte. Hier war er sicher, reich und glücklich. Nur vor Linde bangte ihm wie vor allen schönen Mädchen und Frauen. Seine zarten Sinne zitterten wie ein Seismograph vor der fernsten Naturbewegung. Eine Neigung hätte ihn zu Boden geworfen, eine Leidenschaft getötet.

Während sich aber Petelin ganz an die Seite seines Meisters flüchtete, schwebte Kantilener zwischen Doktor und Linde wie der Sarg des Propheten in der Luft zwischen den beiden Magnetsteinen. Sein Gehör war beim neuen Menschentum, seine Augen bei dem Mädchen. Und als der Meister freundlich zu einem Abendspaziergang lud, rückte es ihn an die Seite der stillen, langsam wandelnden Linde.

Da haben wir nun voran Kantilener und das junge Weibsgeschöpf, dann Doktor Urban mit Petelin und Vollrat, zuletzt Helbig und Wigram. Dieser hatte still zugehört, was die Freunde sagten, und alles sogleich in sich kritisch verarbeitet. Er freute sich niemals laut mit den anderen und hing dem, was alle interessierte, nie gänzlich nach, sondern schaute darüber hinweg wie nach einem fernen Ziel.

Bei der Vortruppe ging es einsilbig zu. Kantilener zeigte der stillen Linde einen kleinen Teich. »Ach,« rief er erfreut, »ist das Auge des Frühlings schon erlöst?« Sie standen und schauten.

»Ja, der war bis vor kurzem gefroren,« sagte Linde.

»Und jetzt streicht der Märzhauch wie eine liebe Frauenhand darüber,« freute sich Kantilener. »Tausend Lächelfältchen kräuseln, und schon zeigt er leuchtend dem warmen Himmel, wie gut er sein Blau versteht und widerspiegeln kann.«

Linde sah ihn von der Seite an und schwieg.

Der Doktor aber war an die Stehenden nachgerückt. »Der kleine Weiher,« rief er. »Der gibt mir oft ein Bad. Dort vor den Weiden sonne ich mich dann.«

»Künstlich angelegt,« urteilte Vollrat. »Sehen Sie, dort bewässert er die Felder. Die Geschichte ist gut erdacht und mit wenig Kosten ausgeführt. Es muß das eine sogenannte Topfquelle sein.«

Petelin war bisher als stille Jüngernatur mitgegangen, welche dienend zuhört. Nun nahm er behutsam wie mit einer Zuckerzange das Wort: »Als Kind wollte ich zu so einer kleinen Teichbütte den Abhang hinunter nach Salamandern; da faßte mich die alte Köchin fest an der Hand und sagte: Wutsch mir nicht fort, sagte sie, die Pfützen haben garstiges Wasser. Die macht des Teufels Großmutter, wenn sie über Land geht.« Leise und schon wie mit einer Pinzette holte er noch die Worte hervor: »Wenn sie über Land geht, und sich zu einem Bedürfnis niederhucken muß.«

Die schöne Linde ging mit unbewegtem Antlitz weiter.

Wigram aber, der nachgekommen war, sagte lachend: »Gesegnet sei des Teufels Großmutter dafür! Sie ist eine Elementmutter, die Sinn für Landschaft hat!«

Petelin schwieg mit roten Wangen, sah Linde nach und dachte, daß er das vielleicht nicht hätte erzählen dürfen.

Voraus freute sich Kantilener an Lindes Seite über die purpurhaarigen Birken, über die kleinen, kleinen, lieben Frühlingsschäfchen am Himmel, die Englein unter dem fahrenden Volk der Wanderwolken. Er sagte, daß er sie sich nirgends anders als über Deutschland herumziehend verstellen könne, die kleinen, lieben Wolkenkinder! Nicht viel größer waren sie als der Mond, wenn er sich bei Tage so schüchtern, blaß und nebenbei über das Firmament drückt.

»Wenn sie nur keinen Regen anzeigen,« bemerkte Linde.

»Mein Gott,« rief Kantilener, »es wird ein Frühlingsregen sein. Wir Dankbaren nehmen alles Himmelsgeschenk: Schloßen, Regen, Schnee, Tau und Sonnenliebe nur in dem auf, worin es schön ist, und spiegeln immer den Himmel zurück, wie er ist. Er ist doch immer lichter als alle andere Landschaft.«

»Ich verstehe das nicht,« stellte Linde hin.

»Das kommt schon,« tröstete Kantilener. »Als Tochter Ihres Vaters gehören Sie ja doch nicht zu den Beladenen.«

»Wer sind die Beladenen?«

»Die Unerlösten, die mit dem Scheuleder des Zweckes karrenziehend durch die schöne Welt trotten. Die nicht in unserm Verein sind, nennen wir meistens so: Die Belasteten, die Verhüllten, die Ungeflügelten, die Untergesunkenen, die Hoffnungslosen, die Ertrunkenen. Das sind alles verschiedene Grade für das Fernesein vom Himmelreich der Losgebundenen, die sich zu freuen vermögen.

Ein Beispiel: Sehen Sie, da kommt gestern ins Kaffeehaus ein junger Dragoneroffizier, und augenblicklich bringt ihm der Kellner, der ihn nie gesehen hat, eine Zeitschrift mit nackten Schönheiten. Der Kellner, der seine ganze Intelligenz und Menschenkenntnis in den Dienst des Trinkgeldes gestellt hat, ist schon ein Untergesunkener; der junge Offizier, dem die Sinne den wirklichen Schönheitsbegriff, der auch in seiner Zeitung vergraben läge, verhüllen, ist noch ein Belasteter. Vielleicht wirft er einstmals die Last ab. Doch ist es den meisten schwer, wo nicht unmöglich.«

»So schlecht sind die Offiziere doch nicht, wie Sie sie machen,« sagte Linde in leichtem Unmut.

»Haben Sie mich mißverstanden?« fragte der junge Mensch besorgt.

Linde fühlte mit dem Instinkt des simpeln Gehirnes, das sie besaß, daß Kantilener sie für dumm entdecken könnte und sagte, bedeutsam lächelnd: »Vielleicht mehr, vielleicht weniger.«

Der junge Kunsthistoriker forschte fragend in ihrem ungetrübt ruhigen, wunderbar regelmäßigen Antlitz, und je mehr er in diese Schönheit sah, je größere Tiefen dichtete er sich dort hinein.

Hinter ihnen war Doktor Urban mit Vollrat über die reine Pflanzenkost in Streit geraten. »Ich bin noch nicht so weit,« sagte Petelin schüchtern, »aber ich werde auch dahin vordringen.«

»Um aller Logik willen!« rief Vollrat. »Herr Petelin, Sie sind von so zarter Bauart, daß Sie keine Experimente machen dürfen. Bewirken Sie doch, daß Sie rote Backen bekommen wie ein Fleischerjunge.«

»Das ist nur tierisches Wohlbefinden,« tadelte Petelin. »Ich bin blaß, aber meine Seele singt und jubelt dabei.«

Doktor Urban drückte ihm die Hand. »Sehen Sie doch,« sagte er zu Vollrat, »wie der Kollege Petelins, der Liesegang, aussieht. Mager, aber sehnig. Und was für Knochen! Der verzehrt nur Pflanzenkost!«

»Ja,« sagte Vollrat, »aber trogweise. Nur so kann er das kraftlose Zeug ins Gewicht bringen.«

»Kraftloses Zeug!« zürnte Doktor Urban. »Ist denn der Stier, ja nur das Reh kraftlos, die doch auch nur Pflanzen verzehren?«

»Die haben aber auch vier Mägen,« sagte Vollrat.

Urban schüttelte den Kopf: »Der Mensch braucht sie nicht. Er ist auch ohne das Pflanzenesser. Sehen Sie sein Gebiß an. Unsere Vorfahren, als ihnen die Erde noch reichlich Früchte trug, aßen vegetabilische Kost. Jetzt haben wir gelernt, den Boden wieder reich ergiebig zu machen, und sollten auch mit unserer Küche nicht mehr in den Auerochsenwäldern Germaniens leben!«

»Einigen wir uns, Herr Doktor,« sagte Vollrat. »Unsere germanischen oder indoarischen Vorfahren haben vor dreitausend Jahren mit der Fleischkost begonnen; durch dreitausendjährige Vererbung sind wir an sie gewöhnt. Es ist nur billig, daß Sie uns ebensolange Zeit lassen, damit wir sie uns wieder abgewöhnen.«

Urban zürnte: »Sie kennen nicht den Willen des ideenstarken Mannes, der in seinem einen Menschenleben die Gewohnheitskräfte von dreitausend Jahren zu überwinden vermag!«

»Lieber Herr Doktor,« sagte Vollrat begütigend. »Ich versuche es ja auch immer wieder und habe es schon bis zu einem hübschen Mittelmaß gebracht. Sie dürfen nur nicht lauter Erzengel verlangen!«

»Der Gerhard Liesegang,« lenkte Petelin, durch das Wort Erzengel an seinen gewaltigen Vegetarier erinnert, die Rede ab, »möchte gerne auch in den Verein der Befreiten eintreten.«

»In welchen Verein der Befreiten?«

»Das hat Ihnen Helbig noch nicht gesagt?«

»Nein! Helbig! Was ist das mit dem Verein der Befreiten?« rief Doktor Urban warm interessiert dem nachschreitenden Helbig zu, der völlig stumm und versunken neben dem grübelnden Wigram gegangen war.

»Ei, ja,« sagte Helbig, »daran sind Sie schuld, Herr Doktor. Wir sind alle aus der Traumzeit der achtzehn Jahre hinaus über die Grenzmark der vierundzwanzig getreten; die meisten sind den dreißig näher als den zwanzig, und wir beginnen schon, ein wenig zurückzuschauen. Wir fürchten, daß mit einem Male die Vergangenheit schöner gewesen sein könnte, als die Zukunft zu werden verspricht, und die Angst ist erwacht, das Leben könnte verpaßt und jeder Tag nur als ›einstweilig‹ hingenommen werden; am Ende fragte man dann: Wo blieb das Leben? Wir mahnen und unterstützen uns nun gegenseitig, gut, gedankenvoll und glücklich zu sein.«

»Darum also will Liesegang zu Ihnen?« sagte Urban gerührt. »Er ist ein starkherziger Kämpfer um das Menschliche. Werden Sie ihn aufnehmen?«

»Wir nehmen jeden Sehnsüchtigen!« rief Kantilener zurück.

Auch Linde vorn hatte von Liesegang sprechen gehört und drehte sich um. »Ich mag ihn nicht,« sagte sie. »Er war einmal bei uns und aß eine große Schüssel Kraut allein. Da hing ihm der nasse Schnurrbart so über die Gabel, daß man nicht wußte, wo das Kraut aufhörte und der Schnurrbart anfing.«

»Wir werden Ihnen den O'Brien schicken,« lächelte Wigram eisig. »Der hat täglich eine andere Weste an, hohe Krägen und wundervolle Krawatten und ißt nach streng englischer Sitte.«

»Er ist also sehr elegant?« fragte Linde.

»Der Prinz von Wales selbst frägt ihn um Rat wegen neuer Smokings und Hüte,« murrte Wigram ernsthaft.

Linde schaute Wigram zweifelnd an, sagte aber dann doch: »Sie machen sich über ihn und mich lustig!«

»Nur um Sie zu unterhalten,« antwortete Wigram und glaubte, mit diesem Kompliment bis in die Wolkenregionen der Artigkeit vorgedrungen zu sein.

Er nahm zuerst Abschied von Doktor Urban, da folgten die anderen. Kantilener wartete bis zuletzt, um Linde die Hand zu geben; und da man Linde einst gesagt hatte: Wer sich von einer Gesellschaft den Händedruck auf den Schluß verspart, der liebt, – so schaute sie den jungen Menschen noch einmal an. Der Kopf war hübsch, hell und beflaumt, aber der Hut alt und verknüllt, und der Überzieher aus braunem Loden konnte in der Annenstraße zwölf Gulden gekostet haben. Und die Schuhe waren sehr bequem. – Linde entzog ihm eilfertig die Hand. »Gute Nacht,« sagte sie kurz, aber doch für alle Fälle leise.

Und während im Rückmarsch Helbig mit Vollrat wegen Schopenhauers Kapitel über die Weiber stritt, schloß sich Petelin an Kantilener. »Wie denkst du über das naturgemäße Leben?« fragte er.

»Es kann ein Stück Religion werden,« versicherte Kantilener sehr ernst. Dann aber drehte sein Denken langsam bei und nahm Kurs im Kreis um die schöne Linde.

Petelin zog sich zu Wigram, der ganz allein in der Nachhut schritt, im düstern Wolkenschatten wetterleuchtender Gedanken.

»Arbeiten Sie?« fragte Petelin andächtig.

»Ja, aber es ist mir lieb, daß Sie mich ablenken.«

»Strengt es Sie denn an?«

»Nein, nein. Ich bin nur unfähig heute.«

»Das naturgemäße, neue Menschentum, gefällt Ihnen das nicht?« sang der kleine Klaus abermals seinen Refrain.

»Ich überlege eben,« sagte Wigram und erschreckte dann Petelin mit der heiser hervorgestoßenen Frage: »Sie verzeichnen doch in Ihren Zeitungen jeden Erfolg Ihrer Theorien. Sagen Sie: Hat sich Wilhelm der Zweite schon darüber geäußert?«

»Wer!?«

»Der deutsche Kaiser.«

»Worüber?«

»Über Ihr neues Menschentum.«

»Nein!«

»Da sollte man ihn doch aufmerksam machen,« sagte Wigram nachdenklich.

»Ja, aber wer tut das?« seufzte der kleinlaute Petelin.

»Einer muß es zuletzt sein,« brummte Wigram. Vorne begannen Helbig, Vollrat und Kantilener zu singen, da eilten sie nach. »Wir brauchen endlich neue Lieder,« rief ihnen Wigram zu. »Wißt ihr für uns keinen jungen Komponisten?«

»Nein,« unterbrach Kantilener sein Singen traurig. »Es kann keiner mehr Lieder schreiben.«

»Das ist, weil die Lyriker ganz irrtümlich verwagnern,« sagte Wigram zornig. »Wenn der Meister des Sonnengoldliedes der Rheintöchter doch aufstände, um ihnen eine derbe Lektion über harmonische Innerlichkeit zu geben!«

Und die fünf schritten nach Hause mit schwerer Klage, daß das deutsche Lied ermordet sei durch die musikalischen Teppichweber, welche glauben, das Aufsteigen eines Vogels sei nicht anders zu geben als durch bergauf kletternde Noten.

»Noch Mendelssohn hat die innere Höhe im Waldlied so wunderschön durch das umgekehrte Mittel erreicht: … aufgebaut so hoch da droben,« sang Helbig. »Wo mag sich nur das musikalische Innengefühl hinversickert haben?«

»Das kommt von den Schulen, den Konservatorien, wo man Virtuosen als Lehrer hinsetzt: Hände statt Herzen!« schalt Wigram.

So ging dieser Tag im Kummer über das verirrte deutsche Lied zu Ende, und die Freunde versprachen sich, nach einem naiven Komponisten zu suchen, bis alle Schuhsohlen, die sie zahlen könnten, löcherig gewandert wären!


Auch O'Brien verließ bald genug unzufrieden sein kleines Kaffeehaus, das er für eine Art Geheimraum gehalten hatte, den niemand außer ihm kannte. Er hatte gänzlich vergessen, daß dieses Mal Samstag war; und kaum schlug es Feierabend, so zündete Rosel Licht im kleinen Raum an, und Arbeitsmenschen kamen, die den wundervoll eleganten jungen Herrn mit unbequemen Gefühlen betrachteten. Da ging er.

Er begab sich zu Frau von Karminell.

Diese von der ganzen Stadt beredete, lichtfarbige Frau war mit ihm ganz außerordentlich weitschichtig verwandt, aber sie hatten die Liebe zur Eleganz beide im Blut. Frau Else, eine reiche und schöne Industriellentochter, hatte einen Universitätsprofessor geheiratet, war infolgedessen eine kleine Großmacht und gab gar keinen schlechten Ton in der Gesellschaft an, da sie jene überlegene Intelligenz hatte, welche bei einer Frau immer zu einer überragenden Stellung führt.

Ihren Mann bemerkte man selten. Er schien unterirdisch zu leben und zu wirken. War kein Grundleger, kein Felsensprenger und Ringer der Wissenschaft, sondern ein ganz mäßig gescheiter Weiterbauer, wie es viele Universitätsneffen aus gutgeschulten Professorenfamilien sind. Er trug einen schönen Bart, einen schönen Salonrock und sprach das schöne Deutsch, das er gelernt hatte, ohne es zu bereichern und ohne es zu verderben. Hörer hatte er also nur zu den Zeiten, bevor er prüfte.

In einem aber war er groß. Eifersuchtslos im Hintergrunde bleibend, ließ er seine glänzende Frau blühen und treiben, wie dieses prächtige Weibsgewächs nur wollte.

Auch er war vermögend und besorgte Luft und Erdreich, in dem diese Orchidee wuchs, mit seinem und ihrem Gelde auf das vollkommenste. So wurde sie eine kleine Fürstin in der schönen, intelligenten Mittelstadt, welche sich zu einer, von der ganzen Bevölkerung bewunderten Hofhaltung eignen würde, wie niemals die unübersichtliche Großstadt.

»Was machen Ihre sieben Erlösten?« rief sie O'Brien entgegen. »Warum kenne ich sie immer noch nicht! Sie sind ein Künstler, der diese Juwelen in Ungeduld zu fassen weiß. Herrgott, sehen Sie sich nicht um. Sie kommen ja doch nicht hinter Ihnen!«

»Weiß der Himmel,« lachte O'Brien, »wie sie sich auf diesen Teppichen ausnehmen würden. Bedenken Sie, Frau Base: Zwei Havelocks: Wigram, Petelin. Ein graugrünes Lodenröckel: Scheggl. Ein Samtflaus: Helbig. Ein braunlodener Überzieher aus der Annenstraße: Kantilener, und ein altmodischer schwarzer Anzug, den Semljaritsch als der verhältnismäßig möglichste von allen trägt. Im Wirtshaus, im Freien sind diese lieben Mistfinken Halbgötter, hoch über aller gutgekleideten Jugend! Hier würden meine armen Kerle herumstehen wie mauserige Spatzen. Lassen Sie ihnen doch ihr freies Glück und ihre gute Luft.«

»Glauben Sie denn, ich könnte nicht ebensogut und besser wie Sie in jeder Welt leben, wenn sie mir nur gefiele?« rief Frau Else. »Ich sage Ihnen, ich bin längst in diesem Verein; wir brauchen uns nur die Hände zu geben und sind Kameraden.«

»Eine Laune. Sie wollen Abwechslung haben.«

»Was ich will, müssen ja nicht Sie verantworten. Daß ich will, wissen Sie. Morgen ist Palmsonntag. Lieber, lieber Tom, bringen Sie die sieben auf die Stadtparkpromenade. Meinethalben hinter den Springbrunnen gegen das Anastasius-Grün-Denkmal; dort sind weniger Leute, denen wir neune auffallen.«

»Die bring' ich mein Lebtag nicht zum Stadtparkkorso.«

»Sagen Sie ihnen, reden Sie ihnen ein, sie müßten sich doch ein einziges Mal das bunte Bild der Lustwandelnden als Illustration zu Goethes Versen ansehen:

›Doch an Blumen fehlt's im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.‹

Malen Sie ihnen das recht hübsch aus.«

»Sapperment,« sagte O'Brien. »Auf den Leim gingen sie mir vielleicht wirklich.«

Das Komplott war geschmiedet.

Der erste April war trunken von Sonne, Bläue und Schönheit. Die offenen Fenster widerleuchteten im Winde winkend in dämmerigen, reichbelebten Gassen, und die Menschen waren erregt und palmsonntagfroh, als ob der Heiland einzöge. Lichte Hüte, bunte Sonnenschirme, strahlende Frauenkleider; und die ganze Straße duftete nach Veilchen.

Am Stadtpark blitzte und leuchtete der dichte Zug der Lustwandelnden in frohen Osterfarben; es war prächtig. O'Brien hatte recht gehabt.

Als aber die achte in der ganzen weitatmenden Unbefangenheit ihrer Menschenfreude und in ihren schlichten Fellen so herzleicht über den Alleeboden schritten, als ob sie auf Frühlingswolken gingen, da begegnete ihnen eine schöne, lichte, reiche Frau, und O'Brien grüßte mit seinem eleganten Hut in tiefer Ehrfurcht. Da zogen schwingend auch sieben andere respektvolle Filze durch die helle Aprilluft. Und die blonde Frau dankte mit einem Lächeln, schöner als der Palmsonntag; als ob sich sieben Herzogskronen vor ihr gebeugt hätten. Dann gingen sie weiter.

»Eine äußerst kostbare Dame,« sagte Wigram schuldlos; »Zobel und Goldkette! Der Hut hat freudig einen halben Meter. So was sieht man immer gern.«

»Es ist eine Professorsfrau,« belehrte Semljaritsch; »aber graziös und elegant wie eine junge Königin.«

»Hm,« sagte O'Brien mit beklemmtem Herzen. »Ist sie noch da? Die wird uns nicht mehr loslassen. – Ich soll euch alle vorstellen

Flugs lief der kleine Klaus im wehenden Havelock davon. Es waren nur mehr sieben, und von denen waren sechse sehr erschrocken.

»Du wirst doch nicht – –!« rief Wigram, dem es einen unwilligen Ruck gegeben hatte. »Was haben wir mit Frau Pfauenschweif zu schaffen?«

»Nein, nein, O'Brien,« drängte Helbig. »Das geht nicht. Wie sähen wir neben ihr aus!«

Kantilener aber hatte sich bald gefaßt und lachte fröhlich. »Daß ihr nicht merkt, wie schön heute der erste April ist,« rief er; »O'Brien will uns zum besten halten.«

Sie waren bis an den Beginn des Stadtparkes gekommen. »Gehen wir auf die andere Seite,« mahnte Vollrat; »dort sind weniger Menschen. Also, ist es wahr, O'Brien?«

»Wie ich euch sage; sie will in unseren Verein eintreten,« lachte der romantische Tom. »Ihre Seele steht wahrlich so weit offen wie die eure. Ihr sagt ja stets, daß ihr keinen Sehnsüchtigen ausschließt; sei es, wer es sei!«

Wigram blieb verwirrt vor der Auslage des Buchhändlers an der Ecke des Stadtparkes stehen, der ihm eine der liebsten Oasen auf seinen Spaziergängen war; hier forschte er stets, was für einen Kurs die gedruckten Neuigkeiten einschlugen. Grübelnd starrte er jetzt die verschlossenen Läden an; er war so gedankenlos, daß er gar nicht gleich merkte, wie ihm seine Bücher nicht entgegenschauten, weil Sonntag war.

»Es geht nicht,« sagte er dann. »Wir brauchen nur Menschen, die nicht viel Geld haben. Nur dem hungrigen Magen schmeckt so bescheidene Kost, wie wir sie haben. Du bist schon selber viel zu vermöglich, guter Tom, und wirst uns ohnehin verlassen, sobald du einen anderen Sport gefunden hast als kleine Wirtshäuser, Kellnerinnen und Lieder.«

»Ich zwinge euch nicht,« lachte O'Brien. »Gehen wir da schnell auf der anderen Seite bis zum Graben vor der Burgbastei und dann auf den Schloßberg. Dort sind wir mitten im stillsten Hochwald, und der wunderschöne Vormittag ist gerettet.«

So trabten denn alle sieben eifrig flüchtend aus dem Bereich der schönen Seidenkleider und hellen Sonnenschirme in den Burggraben fort und erstiegen nahe dem Denkmal des Dichters Grün aufatmend den Damm der schattenreichen, stillen Allee, bis zu welcher sich nur wenige Lustwandelnde verloren.

»Hallo,« sagte Wigram, als sie aus dem alten Wallgraben auftauchten, »da ist endlich wieder reine Luft. Verdammter Paradeisvogel!«

Dann bogen sie um eine Ecke, und dann schlug der zweite Schreck ein. Frau von Karminell kam daher, ganz allein, langsam und ahnungslos, aber schon nur mehr sechs Schritte vor ihnen. Das lähmte sie alle, und sie standen wie ein unvollständiges Spiel Kegel da. O'Brien aber mißbrauchte ihre augenblickliche Schreckstarre und sagte: »Herr Wigram, Kantilener, Semljaritsch, Philosophen; – die Mediziner Vollrat und Scheggl, Herr Helbig, Doktorand jur. Alle aus dem Verein derer, die sich sonnen.«

Diesmal waren die armen Teufel nicht besonnt, sondern geblendet. Wie Handwerksburschen zogen sie die Hüte und scharrten wie Hühner im Sand mißlungene Komplimente. Helbig allein rettete ein wenig Lebensart, und Semljaritsch und Vollrat fanden sich ebenfalls schnell zurecht. Wigram aber lächelte; – ein Ding, das ihm nie recht gelang, und dachte nach, ob sie das gehört haben könnte: Verdammter Paradeisvogel! Laut genug war es gewesen.

Aber Frau Karminell machte es ihnen leicht: »Die Herren wollten gerade auf den Schloßberg?«

»Vielleicht; gewiß,« sagte Wigram.

»Darf ich ein Stückchen mit?« Und sie drehte sich wundervoll rauschend um. Teils, daß die Freunde sie von rückwärts sahen, was sich zwar auch sehr schön und schlank ausnahm, teils, daß nun wenigstens die Beine zu tun bekamen, das löste den Starrkrampf. Sie wandelten begütigt hinterher und fühlten sich ganz seltsam. So viel strahlend schöne Seide!

Helbig ging rechts. O'Brien links. Kantilener und Semljaritsch hinter ihr, und dann die drei Robusten: Scheggl, Vollrat und Wigram. Und Frau von Karminell plauderte und fragte durcheinander, so daß jeder etwas zu sagen bekam.

»Daß Sie heute nicht weit von der Stadt sind, wo Ihnen doch nie angenehme Sachen widerfahren – – (›O,‹ sagte Helbig), wundert mich wirklich. Aber nachmittag fliegen Sie weit aus?«

»Wir wissen noch nicht.«

»War es gestern schön auf der Ries?«

»Sehr schön, wie immer!«

»Sie waren bei Doktor Urban? Ich kenne ihn; er behandelt mich wegen Nervosität, und ich bin schon beinahe gesund. Wie gefällt er Ihnen? Ein Prachtmensch. Gesund, ehrlich, frisch, schlicht; alles, was ich liebe!«

»Sie, gnädige Frau?«

»Ja glauben Sie, wenn ich ein Mann wäre, ich würde mich nicht auch ganz schlicht machen? Aber der Mann soll ganz Mann, und die Frau so sehr Frau sein, als sie es nur immer versteht.«

»Und Sie verstehen es, Frau Base,« schmeichelte O'Brien.

»Herr Wigram denkt anders, nicht?«

»O gnädige Frau, o nein!«

»Was sagen Sie zu der schönen Linde?«

»Wo? Welche?«

»Nein, die bei Doktor Urban.« Sie lachte herzlich und wendete sich wieder zu den Freunden. Selbst unter dem Dämmerschatten der Schloßbergfichten strahlte sie wie eine salige Frau. Ihre Haare waren hell bronzeblond und ihr Antlitz so licht und fein und von so zarten Farben, daß man eine ganze Weile darin studieren mußte. Besonders weil man, von den klugen, grauen Augen immer wieder abgelenkt, stets von neuem beginnen durfte.

Es verlor auch jeder den Faden der Rede, und alle verschauten sich in das viele, rosige Licht auf diesem leise erregten Antlitz.

»Also die schöne Linde,« mahnte Frau Else. »Hat einer mit ihr gesprochen?«

»Eigentlich nur Kantilener,« sagte der boshafte Vollrat. »Der aber den ganzen Abend.«

»Ach, Sie?« Und sie sah Kantilener an, den sie sich, wie alle, genau gemerkt hatte. »Ich hätte eine Bitte an Sie. Kommen Sie statt O'Brien ein bißchen zu mir?«

Kantilener wechselte mit O'Brien den Platz; der seltsame Zug stapfte weiter zu Berge, und der arme Othmar, welcher auf der Bergseite war, stieg aus lauter Höflichkeit wegen des schmalen Weges mit dem linken Fuß immer ins höhere Terrain und humpelte außerordentlich dienstbar, während Helbig mit dem rechten Fuß zu tief ging. Aber er ließ seinen Platz nicht los.

»So kommen Sie doch näher an mich,« bat Frau von Karminell.

Da gingen sie ganz scheu etwas näher an die vielen, geschmackvollen Falten des schönen Seidenkleides heran und wünschten, sich spalten zu können, um nur nicht auf diese Pracht zu treten.

Frau von Karminell fragte weiter: »Ist es Ihnen unbequem, mir zu sagen, was Linde gesprochen hat?«

Kantilener wurde rot; gänzlich rot. »Es war nichts von Bedeutung,« versicherte er.

Und Frau von Karminell: »Soll das heißen: Unbedeutend?«

»O, aber! Ach nein. Ein solches Geschöpf!«

»Ich habe keine Gesellschafterin. Glauben Sie, daß mir Linde zuginge?«

»Das weiß ich nicht. Sie hat von ihrem Eigenen gar nichts gesagt.«

»Ach, legen Sie ein gutes Wort für mich ein,« bat Frau von Karminell.

»Ja, wenn ich das könnte,« rief Kantilener eifrig. »Aber sie kennt mich vielleicht heute gar nicht mehr.«

Frau Else trat an den Rand des Weges hart ans Geländer, um die Aussicht zu betrachten, und streifte so den armen Kantilener ganz leise und unfühlbar von sich ab. Sie wußte schon ganz genau, wie es mit ihm und Linde stand.

»Was kann dort oben für ein Leben sein,« sagte sie nachdenklich und wies nach den hohen Vorbergen des Schöckel. »Ich war einmal oben. Alles dürftig, die Fichten spärlich, der Boden mager. Sagen Sie, Herr Wigram, kann man groß und kräftig denken, wo alles kümmert? Sie sind von der Koralpe. Hoch oben?«

»Etwa tausend Meter!«

»Haben Sie nicht stets den leisen Druck des Unzulänglichen dort gefühlt?«

»Wie immer, gnädige Frau. Das heißt, so weit es mich selbst betraf.«

Frau von Karminell sah ihn wie leuchtend an. Sie hatte ein ganz feines Kompliment gefühlt. Die Nerven dieser Frau reagierten selbst auf das Unmerkliche.

»Kam dieser Druck der Unvollkommenheit nicht von der Natur, die Sie umgab? Hafer und Kartoffeln! Nicht einmal ein Nußbaum! Ich weiß nicht; um mich muß der volle, reiche Sommer rauschen. Die Fichten dick und straubig, die Linden und Kastanien satt, dicht und dunkelgrün, das Korn schwer. Wo der Wein nicht mehr reift, wäre ich wie verbannt, obwohl ich kaum welchen trinke!«

»Sie gedeihen eben nur auf dem allerbesten Boden, gnädige Frau. Das wundert mich gar nicht,« sagte Wigram.

»Wissen Sie,« schaute plötzlich Frau Else auf, »ich möchte Sie alle viel um mich haben. Kommen Sie doch zu mir, einzeln oder alle; Sie werden nie durch Unerlöste belästigt werden und nur Seelen bei mir finden; die anderen halte ich Ihnen ferne. Ich glaube, ich könnte mit Ihnen gesund werden. Mein Gott, ich war schon so bang über mich selbst, wie Herr Wigram!

Sie wundern sich, daß ich Worte von Ihnen gebrauche? Unerlöste zum Beispiel. Das hat mich O'Brien alles lehren müssen. Ich gehörte zu Ihnen, bevor Sie von mir gewußt haben. Also Sie kommen?«

Und sie streckte dem armen, auf solche Dinge gar nicht gefaßten Wigram einen so wundervollen Arm entgegen mit einem so zarten Handschuh, daß es ganz unmöglich gewesen wäre, hier nicht einzuschlagen.

»Abgemacht,« sagte Frau Else. »Abgemacht?« fragte sie bei den anderen umher.

Es waren alle besiegt und waren noch obendrein glücklich, daß sie es waren. »Und nun sehen wir uns die Aussicht vom Plateau an,« schlug sie vor.

Um den Schloßberg reißt das ganze Land alle Fenster auf; man sieht zu viel für eine einzelne Stimmung. Drohende Berge, lächelnde Hügel, düsterbrauige Wolken hier und weitausbrütenden Sonnenschein dort. Die Auen schwimmen im Silberflimmer, der Süden liegt im blauen Duft, – es ist für alle Art von Menschen Reichliches hingeschüttet.

Bisher hatte diese Welt offen um die jungen Leute gelegen, ihnen viel mehr zu eigen gehörig als all den beladenen Besitzern der Gründe, welche die Landschaft bildeten. Jetzt schien nur Frau von Karminell gänzlich in diese Weltenweite zu versinken. Die anderen standen im Dreiviertelkreise um eine wunderschön gelungene Frau.

»Wie groß, wie licht; was für Züge und Linien. Wie reich und harmonisch,« sagte sie leise. Und die anderen, armen, halb abgelenkten Jungen sahen hin und meinten still bei sich, man könne von dieser Frau ganz dasselbe sagen.

Es war nur Bewunderung, nicht mehr; aber die kleine, große Welt der Losgebundenen hatte auf einmal eine ganz andere Achse erhalten.

Die große Glocke hinter ihnen begann mit gewaltigen Lauten zu singen, daß die Sonne am höchsten stehe; da erschrak Frau von Karminell. »Nun ist es Mittag! Schon Mittag! Ich fahre mit der Drahtseilbahn hinunter, sonst komme ich zu spät. Besuchen Sie mein Haus, vergessen Sie nicht! Heute, morgen; ich werde für Sie immer reine Luft machen.« Und sie lachte O'Brien an: » Chaire!«

» Chaire!; – freue dich!« sagten die anderen lächelnd und reichten der leuchtenden Frau die Hände. Ganz verwirrt blieben sie zurück im einsamen Sonnenschein, hoch über aller Welt; und aus der Stadt läuteten alle Mittagsglocken feierlich herauf.


»Nun sollte ich dich zausen,« sagte Wigram zu O'Brien.

»Es wäre der beste Ausdruck vollkommener Besiegtheit,« entgegnete dieser.

»Du glaubst doch nicht, daß wir uns ernstlich zu dem Teufelsbraten einladen werden!«

»Warum nicht,« sagte Helbig. »Eine schöne, kluge Frau kann uns mehr geben, als wir ihr.«

»Lieber Helbig! Aus sogenanntem Schönheitssinn läßt du dich von einem Stückchen buntem Glas bestechen, wenn es nur hübsch gefaßt ist. Ein blühendes Unkraut, eine Tollkirsche! Ich rate euch, lassen wir die Hand von ihr!«

Sie gingen bergab und stritten.

Helbig, Semljaritsch und Vollrat stimmten für den Besuch. Kantilener, der in zwiespältiger Verfassung war, sagte: »Warum nicht?« O'Brien lachte bloß und dachte, ihr müßt, ob ihr wollt oder nicht, und Wigram bemerkte gar nicht, daß er nur gegen Frau von Karminell eiferte, um sie von den anderen verteidigt und bewundert zu hören. Nur Scheggl erklärte mit seiner ruhigen Hochgebirgsmiene: dorthin gehe er nicht.

Er war auch der einzige, der nur in sehr geringfügige Abhängigkeit von Frau Else geriet. Sogar den armen kleinen Petelin schleppten sie später hin, und die gescheite Frau brachte ihn dazu, recht niedlich über das neue Menschentum zu predigen. Er bekam dort Früchte aus der ganzen Welt und aß sich namentlich an Datteln satt, wozu er volle elf Stück brauchte. Er behauptete aber, drei Datteln seien für einen bescheidenen Menschen genügend; drei Datteln und einige Nüsse. Also fühlte auch er sich dort später wohl.


Inzwischen jedoch war Kantilener in die schöne Linde außerordentlich glücklich verliebt. Denn sie machte sich aus ihm gar nichts, so daß bei seinen bescheidenen Verhältnissen gar keine Gefahr einer Ehe bestand.

Der junge Othmar wählte überdies einen gänzlich falschen Weg, um die stille Linde über seinen Wert in bessere Meinung zu bringen. Er besang sie nämlich; wovor sie eine Art Angst hatte. Denn sie wußte nichts daraus zu machen. Und Kantilener schrieb Lieder, zum Lachen rein, schlicht und unmittelbar, und zum Weinen unmodern! Sie waren wie aus dem Sack eines Handwerksburschen im sechzehnten Jahrhundert verloren, und es ist ganz unmöglich, einige davon wegen ihrer charakteristischen Herzenseinfalt nicht wiederzugeben:

Wie kommt das alles nur zugleich?
Ich bin so arm und bin so reich,
Ich bin so stark und bin so wund,
Ich bin so krank und so gesund,
Ich hab' ein Herz und habe keins,
Ich freu' mich drüber und bewein's,
Tausend Seufzer und Liedelein,
Und alles, alles zusammen ist dein!

Was fang' ich damit an? hatte die schöne Linde gedacht, als sie den Jubel las.

Was kann wohl am besten zusammen sein
So recht in herzlicher Freude?
Zwei Kinder, oder zwei Vögelein?
Oder wir beide?
Alle Tag will mir mein Herz nur mehr
Die eine Geschichte begehren:
Wie es so lieb und glücklich wär',
Wenn wir zusammen wären!

Oder:

O schlaf, du liebes, gutes Kind!
Im Traum den Himmel wieder find,
Der dich gegeben.
O schlafe, schlafe ruhig ein,
So bleiben deine Äugelein
Voll Leben.

Ich singe leise dein Herz im Traum
Gott schütze dich vor dem Erkenntnisbaum,
Du Liebe, Reine!
O schlaf, damit es nie geschieht,
Daß deine süße Ruhe flieht
– Wie meine.

Mit solchen Dingen gedachte der arme Othmar seinen fehlenden Geldwert zu ersetzen! Um die verschobene Situation gänzlich zu seinen Ungunsten zu wenden, arbeitete er bis zur Verzweiflung an der Verbesserung seines ästhetischen und moralischen Innenwesens!

Seine Lieder richteten noch weiteres Unheil an, als bloß jenes, die schöne Linde ängstlich zu machen. Man sieht, daß aus dem dritten schon etwas gütige Eifersucht herausseufzt. Das war so zugegangen:

Der arme Kantilener hatte dem herzlieben Verein der Singenden natürlich seine Lieder überliefert und damit die bittere Klage nach einem ebenso naiven Komponisten von neuem erweckt. Alle nahmen die Lieder als Lieder, ohne weiter zu forschen, ja fast ohne zu lächeln; nur der unruhige O'Brien nicht.

Man weiß, wie O'Brien stets nach Anregung zu einem Roman suchte. Ein hübsches Geschöpf, das ein anderer so schön unglücklich besang und damit zufrieden war, mußte ein sehr interessantes Verhältnis abgeben. Gleichwie Hunden und Kindern am besten schmeckt, was sie einander wegessen können, so gaben diese Lieder eine höchst wirksame Werterhöhung für die schöne Linde ab, und O'Brien starb vor Ungeduld, ein so volksliedhaft besungenes Mädchen kennen zu lernen. Bald arbeitete er bei Frau von Karminell, bald bei Doktor Urban für den Gedanken, Linde an die Seite der Frau Professor zu bringen. Es war nicht lange nach Ostern, als Linde zu Frau Else übersiedelte und der gute Doktor ganz allein gewesen wäre, wenn nicht Liesegang zu ihm gezogen wäre. Und Liesegang war schon so hoch im Vegetariertum gestiegen, daß er selbst zu kochen verstand: Linsenschnitzeln, Kraut und Bohnen, Kokosbutterteig: kurz, sogar die, eigentlich von beiden als schädliche Finessen betrachteten Kunstwerke der Thalysischen Küche.

Linde verließ das Vaterhaus mit geheimer Freude. Die Schlichtheit und reine Menschlichkeit des Vaters hatten in ihr eine reaktionäre Sehnsucht nach schönen Phrasen, schönen Kleidern, nach Sport, Luxus und noblem Leben angezündet, die kaum mehr zu ertragen war. Ihr Vater lebte nur in Ideen, was zur Folge hatte, daß Linde sie heilig mied. Sie las Engelhornromane und liebte Uniformen, Barone, hohe Stehumlegkrägen, Ballarrangeurs, Lackschuhe, Monokel, Parfüm und Sportpferde.

Da kam O'Brien, dessen innigster Schmerz es war, nicht abwechselnd roten Frack und ein andermal silbergrauen Smoking oder hellblaues Sammetjackett und goldstoffne Kniehosen tragen zu können. Er starb fast vor Sehnsucht nach der bunten Männerwelt vom Rokoko nach rückwärts, ging auf alle Kostümbälle und machte auch außerhalb dieser Kostüm aus sich. So trug er lange Zeit ein Van Dyckähnliches Spitzbärtchen und Rubenshut, dann aber lockige Biedermeierkotelettes und Vatermörder; mit handbreiter Krawatte, dick und halseinwürgend wie ein Prießnitzumschlag, aber schwarze Seide. Die bunten Westen erfand er zwei Jahre vor ihrer Einführung selbständig, ebenso den hohen Spazierstock, die Berlocken an der Uhrkette und eine Frisur nach alten Miniaturbildern.

Eine seltsame Ausdrucksweise hatte er sich auch zurecht gelegt. Er machte »Speerfahrten« mit »Aventüren« ins Gelände und liebte Archaismen. Ein solcher Mensch wirkte auf Linde wie ein aus den Wolken rufender Bauchredner auf religiösen Wahnsinn. Sie hielt ihn für das endlich menschgewordene Manneswunder ihrer Träume und liebte ihn träg, temperamentlos, aber so fest, wie es nur ein schwerbewegliches Gemüt und ein beschränkter Verstand können.

O'Brien ging täglich zu Frau Karminell, wo Linde stets als wundervolle Dekoration am Fenster saß. Von den anderen Freunden kamen namentlich Wigram, Semljaritsch, Helbig und Kantilener, der außerordentlich unter der deutlichen Liebe der schönen Linde zum eleganten O'Brien litt. Frau von Karminell war ihm eine teilnehmende Freundin geworden. Zu Ostern las er ihr schon seine kunstgeschichtlichen Ideen vor, und bald wurden auch seine Liebeslieder an Linde ruchbar. Sechzig Stück. Frau Else hörte sie an, wie man dem Rauschen des Windes zuhört, ganz in Vorväterstimmungen versunken. Ihr konnte man alles sagen, und zuletzt saß Kantilener viel lieber bei Frau von Karminell, um mit ihr über Linde zu sprechen, als daß er sich mit dieser selbst bemüht hätte; es war schöner und unterhaltlicher.

»Du bist ein Narr,« sagte Helbig. »Deine Linde ist gänzlich Dichtwerk und hat mit der lebendigen nach und nach nicht mehr das geringste Gemeinsame behalten als das hübsche, leere Vollmondgesicht. Ich weiß gar wohl, warum Frau von Karminell das bildschöne Mädchen neben sich hält, da sie selbst doch nicht so klassisch gemeißelte Züge hat, das unruhige Frauenzimmer! Damit alle Menschen lernen, wieviel verhexender eine kluge Frau wirkt als die schönste, denkfaule, dumme Regelmäßigkeit.

Sie will sogar von mir, ich solle die Melander Liese einführen. An der möchte sie sich wahrscheinlich auch erproben; das gelingt ihr aber wohl kaum.«

»Du gehst viel mit ihr und wenig mit uns,« sagte Kantilener vorwurfsvoll.

»Ja,« seufzte Helbig in schweren Gedanken.

»Amadé, du weißt ja, wie es mit mir steht; sag mir also auch du: du liebst?«

»Es ist wohl schon beinahe so gekommen,« gab Helbig wehmütig zu.

»Unglücklich?«

»Was weiß ich! Die Melander Liese hat drei oder vier Verehrer und hält alle so fein im Gleichgewicht, daß es nur zum Staunen ist!«

»Den Semljaritsch auch?«

»Auch!«

»So bringe sie doch hierher. Semljaritsch ist zu feinfühlig, um es nicht zu bemerken, wenn Frau von Karminell ihr überlegen ist. Vielleicht zieht sie ihn ab.«

Helbig lächelte. »Ich will es versuchen.« Und gegen Ende des April brachte er Fräulein Melander in den Salon der Frau von Karminell.

Nun drehte sich fast schon die ganze kleine Welt der acht Schauenden um sie. Der neunte, Gerhard Liesegang, war ausgenommen; der kam nicht, und Scheggl blieb am liebsten in der Herzogsburg, wo er tapfer und treu gegen den bezaubernden Einfluß des geschickten O'Brien kämpfte; denn dieser wollte keineswegs Mali neben Linde auskühlen lassen. Auch nicht das Röslein vom Gries. Er hatte Francesco d'Andrade als Don Juan gesehen, rasierte sich infolgedessen die Stirnwinkel diabolisch hoch aus und ließ sich einen Spitzbart stehen, um dessen Don Juan ähnlich zu sehen. Dann machte er allen drei Mädchen viel Mühe, ihn abzuweisen, und sah sich inzwischen nach mehreren um. Er war mit heißer, ernster Ergebenheit in seine neue Rolle vertieft, und kaum hatte er die leichtsinnige, lustige Melander Liese gesehen, als er auch schon so eifrig an dem gefallsüchtigen Mädchen hing, daß Helbig verwünschte, das nichtsnutzige, bildhübsche Ding noch tiefer in den Markt hineingeführt zu haben!

Frau von Karminell sah all diese Bemühungen, Parteiungen und kleinen Eifersüchte und lenkte sie immer lächelnd zu friedfertiger und heiterer Eintracht zurück. Sie konnte alles beruhigen, wenn sie mit ihren großen, grauen Augen mit der bläulichen, feuchten Sklera nur bloß klug verwundert eine Torheit ansah.

Zu ihrem rechten Weh hatte sie bemerkt, daß sich die Freunde zu sondern begannen. Wigram war fast unsichtbar geworden, und sah man ihn, so erkannte er kaum die lichte, schlanke Frau Else, deren Nähe sonst Blinde fühlten, ohne sie zu sehen. Er ging wie im Traum, wie trunken durch die Alleen des Stadtparkes oder grübelte auf einem einsamen Felsen des Schloßberges nach den Alpen im Norden und Westen hinüber. Was war da geschehen?

Kantilener und Helbig waren fast die einzigen, die in alter Weise froh und glücklich zusammenhielten. Semljaritsch schloß sich ihnen erst wieder herzlicher an, als die beiden auf die Idee gerieten, den Faust und die römischen Elegien im Freien zu lesen; da hielt er mit und fragte weiter nach deutscher Kunst, Kultur und Gedanklichkeit. Es waren wunderschöne Stimmungen, an denen auch Frau Else manchmal teilnahm.

»Ich kenne diese römischen Weingärten,« sagte sie im Gespräch über die Elegien, die sie mit graziöser Unbefangenheit angehört hatte. »Sie sind von einer gewissen brokatnen Schönheit und Sattheit. Aber der Sonnenschein über ihnen ist tot, weil so wenig Bäume dort stehen. Ich empfinde aber: Wenn keine Bäume rauschen, so spricht die Natur nicht. Nun kenne ich die Weingärten in Catania, Ischia und am Vesuv, die Vignen der Castelli romani und von Frascati, und in unseren Breiten die Weingärten von Rust, vom Kahlenberg und Baden bei Wien, die von Meran, Bozen und die am Rhein. Keiner aber von allen reicht an die steirischen Weingärten! Nicht wahr, Herr Semljaritsch? Unser Unterland!«

»O, das ist schön,« sagte der melancholische Slawenstudent. »Ich streite oft mit Scheggl, daß eine Landschaft nicht auf den Menschen einhauen dürfe mit Fichtenprügeln und Felsblöcken, wie seine Berge! Nur Kommerzialratsgeschmäcker sind so grobsinnig, solchem Spektakel allein nachzulaufen. Aber wer die unermeßliche Hügelweite liebt, wo von jeder dieser sanften Höhen die ganze Erde ihm gehört, wer ruhend und eindringlich schauen kann, der sei unser Gast! Weiße Kirchlein, schön gemischte hohe Wälder an der Mitternachtsseite, satte, fast blaugrüne Rebenlauben gegen Süden, freundlich umhergewürfelte Häuschen, bunte Blumengärten, der Mais, die Edelkastanien! O, was für ein Gottessegenland!«

»Wird je der Zeitgeschmack die Fremden nach diesen Gegenden lenken?« fragte Helbig. »Ich glaube, die Mittel- und Südsteiermark ist zu fein. Nur die Dolomitschroffen von Sulzbach werden sie wohl noch entdecken.«

»Lenke sie der Himmel ab,« rief Semljaritsch. »Unser armes Land ist schon viel zu sehr germanisiert. Wenn jene aus dem Reich die süße Schönheit unserer Hügel, die Armut meines unglücklichen Slowenenvolkes und den berückenden Reiz dieser billigen Weingartenhäuser entdecken, gleich wäre die deutsche Sintflut bei uns, und Cilli und Pettau würden übermächtig!«

»Wer das zustande brächte,« rief Helbig lebhaft, »dem sollte man auf dem alten Donatiberg, dem uralten Slawenaltar des Wettergottes, eine deutsche Eiche setzen!«

Semljaritsch sah ihn vorwurfsvoll an. »Lassen wir jedem, was ihm lieb ist,« bat er.

»Wir haben im Unterland einen Weingarten,« begann wieder Frau Else, »gehen im Sommer hin und bleiben bis in den reichen, klaren südsteirischen Herbst hinein. Da sollen Sie meine Gäste sein; Sie drei und sonst nur noch Wigram. Hat den einer gesehen?«

»Er wird immer geheimnisvoller,« klagte Helbig. »Weiß der Himmel, was ihn besitzt. Er scheint unruhig und doch wieder glücklich. Seine Augen brennen in die Ferne, und er sieht nichts von dieser Welt. Ich glaube, er arbeitet an einem großen Werk.«

Einer der schönen Fichtenschöpfe, wie sie auf jenen aussichtsreichen mittelsteirischen Höhen, oft ganz unmotiviert, vom Walde abgesondert eine Kogelstelle bedecken, hielt die Heimwandelnden an. Sie waren von Hohenrain über den Lustbichel gegangen.

»Die Landschaft ist wahrlich schon südsteirisch,« bewunderte Frau von Karminell. »Weinlaub an den Häusern, Edelkastanien im Wald und die Fichten noch viel satter und erstaunlicher als im Oberlande, weil sie so viel Raum haben, sich auszuleben.«

»Da fällt mir ein,« fuhr sie plötzlich traurig fort. »Wir freuen uns ja nur mehr zu vieren?«

»Ich weiß nicht,« klagte Kantilener. »Es hat jeder seinen eigenen Weg genommen.«

»Es wäre gerade ein Unglück,« rief Frau Else eifrig, »wenn der Verein der Innerlichen zerstieben sollte! Wissen Sie, was ich vorhabe? Am Pfingstsamstag ist in der Industriehalle ein großes Sommerfest mit Feuerwerk. Da gehen wir selbstverständlich nicht hin, sondern machen einen schönen Pfingstgang über die Petersberge und Autal, und wenn am Abend die Raketen steigen, sitzen wir außen als Zaungäste auf der Wiese und freuen uns wie arme Teufel.«

So einigte sich der Verein der Glücksucher abermals zu einem schönen Gang. In das große Fest der Pfingstwiesen, die leidenschaftlich blühten: um den Kuckuck, den Pirol und die hunderttausend Heuschrecken zu hören. Weiter nichts.

Nur, daß Frau Else sich vorgenommen hatte, aus dem scheuen Wigram dessen Geheimnis zu schmeicheln. Nicht aus müßiger Neugierde. Aber sie wollte teilhaben an allen Gedanken ihrer Käuze und ebenso groß sein können, als der hochgreifendste von ihnen.

Am Samstag vor Pfingsten trafen sie sich dann auf der elenden, kleinen »ungarischen Westbahn«, und die sonst so heikle Frau stieg wahrhaftig mit der größten Heiterkeit in die dritte Klasse. Denn sie wollten heute von Osten her der versinkenden Sonne nachgehen, so weit sie konnten; dabei mußten sie der Stadt und dem Sommerfeste zustreben.

Auf der Höhe von Autal dann zog sich Frau von Karminell den Wigram heran.

»Wenden Sie doch nur einmal Ihr Gesicht nach der Seite, wohin Sie denken, damit ich errate, was Sie erfliegen wollen,« rief sie ihm zu; und Wigram drehte sich kaum merkbar lächelnd, aber gefügig nach Norden.

»Wie kann man dort hinsehen,« schalt Frau von Karminell. »Dort liegt Querkopf-Böhmen, Fabrik-Mähren, Drill-Preußen, lauter hartes, beschränktes Land! Nur ein Stück Eisen kann nach Norden schauen, und auch das nur, wenn es verrückt ist!«

»Nur Eisen; ja,« sagte Wigram und schritt an der Seite der hellen, heiteren Frau düster und bedrängt weiter einher.

»Mensch,« drängte Frau Else. »Sie zehren sich an einer Idee schwindsüchtig! Teilen Sie sich doch mit; vielleicht kann ich doch raten?«

»Nein,« sagte Wigram. »Es ist was Politisches.«

»Eine Memoire ans Parlament?«

Wigram gab dem Vollgefühl nach, einer schönen Frau von dem Liebsten sprechen zu können, was er hatte, und sagte: »Ich versuche, direkt in die Speichen eines der gewaltigsten Räder dieses Erdenuhrwerkes zu greifen.«

»Wigram! Sie wollen doch niemand töten?!« So rätselhaft, ja unheimlich war ihr dieser verschlossene Mensch gewesen, daß sie ihm auch das zugetraut hätte, was selten die höchste Höhe, fast immer die tiefste Verworfenheit des Menschen bezeichnet.

»Ich verfasse einen Brief,« sagte Wigram mit geheimnisvollem Aufleuchten seiner Mienen.

»An wen?«

»An den einzigen Kaiser, der seit dem ersten Napoleon die Erde unruhig macht. An den einzigen Kaiser, der es sich selbst verdienen will, einer zu sein.«

»Wilhelm den Zweiten?« lächelte die Frau.

»Ja.«

»Haben Sie das – schon abgeschickt?«

»Es ist noch nicht ganz fertig. Da muß jedes Wort eine sechzehnpfündige Wahrheit sein.«

»Was ist Wahrheit,« seufzte die immer zweifelvolle Frau.

»Meine Wahrheit,« sagte Wigram fest und ruhig.

»Sie geben mir das, bevor Sie es absenden?«

»Es sind die einzigen Hände, die es halten dürfen, ohne daß Er böse zu sein brauchte. Allein hätte ich das nicht weiter ertragen. Nur daß Sie mich ruhig anblicken, belehrt mich, daß ich nicht wahnsinnig bin.«

»Das dürfen Sie wahrhaftig den anderen Freunden nicht mitteilen. Lassen Sie mich ein bißchen nachdenken.«

In Frau Else zog es durcheinander wie Wolken und Elektrizitäten vor einem Sturm, der sie aus allen Weltgegenden durcheinander weht; es rang und wälzte und bedrohte sich gegenseitig. Ihr war zum Lachen und zum Staunen. Spott und Wehmut, Erkenntnis eines unglaublichen Streiches und Ehrfurcht vor der erhabenen Torheit dieses Träumers rüttelten an ihr, und nichts sollte er merken; denn es war sein Traum, sein Glück, in das keine fremde Hand anders als mit leisem Streicheln greifen durfte. Frau Else zerstörte nie einen Wahn; sie wußte, daß das beste Leben seine besten Stunden durch Wahn erhielte.

Nein, was so ein junges Mannsstück für Ideen daherträgt; wann wäre eine Frau auf so etwas geraten! Briefe an Kaiser Wilhelm, um die Welt verbessern zu helfen!

Das war doch zu toll und zu heilig. Es brauchte eine lange Zeit, bis die Harmonie der klugen Frau wieder in ihr emporkam; dann aber begann sie sich zu freuen über das seltsame, groteske Erlebnis.

So waren sie bis an ein niedriges Gasthaus gekommen, vor dem Linden rauschten. Aber die kleine Gesellschaft der Erdenahen blieb nicht mehr in stummer Ergriffenheit beisammen, um nach dem heiligen Rauschen der Wälder hinzuhorchen, oder hinzustaunen, wie der Waldgeist seine Blumen träumte. – Scheggl und Vollrat, die gingen, um des armen Dorfwirtes kranke Kuh zu besehen, und Scheggl verschrieb ihr ein gutes Mittel. Petelin und Liesegang standen in der Küche und fragten die Wirtin nach dem Wachstum der Nüsse, der Äpfel, und ob die Kinder ja keinen Alkohol bekämen! O'Brien schlenderte an den Zäunen nach hübschen, prallen Dorfmiedern. Kantilener war schon gar nicht zu sehen. Der saß weitab in der kleinen Keuschlerhütte eines armen Bauern. Nach alten Holzschnitten hatte er gefahndet, und bitteren Druck, Not, Verzagtheit und selbst einen wankenden Herrgott hatte er gefunden.

Das nun hatte Kantilener mit Frau von Karminell gemeinsam, daß er nie einen Wahn angriff; selbst den Aberglauben behandelte er mit Schonung. So saß er denn und gab Beispiele zum besten, daß es eine Weltordnung geben müsse. Die Keuschlersfrau hörte ihm, von Zeit zu Zeit weinend, zu, und der Kleinbauer seufzte an der Gicht. Da wagte es Kantilener, ihm ein unschädliches Hausmittel anzusagen, von dem er gelegentlich gehört, weil ihn die Botanik Vollrats immer mehr gefangen nahm, und war gerührt von der zagenden, halberhellten Hoffnung, mit welcher der geplagte Bauer sich an dem Gedanken vom kleinen Kräutlein aufzurichten begann.

Tiefnachdenklich schloß Kantilener sich als letzter dem Rückzug an, kam dann zu Vollrat, fragte ihn, welche medizinische Fächer ein wißbegieriger Laie belegen dürfte und sprach mit ihm und den beiden Naturheilpilgern viel über die Not menschlicher Tiefen …

Nur Semljaritsch und Helbig waren an der Seite der Frau geblieben, in Stimmung versunken, wie ehedem im März.

Frau von Karminell wandte sich zu Wigram, als die Sonne weit hinter den prächtigen Bergen vor ihnen unterging und davor die schönste Ebene ihren Duft und goldfarbigen Schwaden legte. »Keiner singt mehr?« fragte sie.

»Es mußte so kommen,« antwortete er. »Sehen Sie denn nicht, daß der Verein der Eindringenden zerfallen muß, wenn er bestehen bleiben soll? Sie sind so klug. Glaubten Sie denn, das ginge das ganze Jahr so weiter wie die Lerchvögel, mit Tirili und in das Licht hinaufsteigen? Jeder von ihnen reift, und jeder reift dahin, wohin er muß. So streben sie auseinander. Wer ist heute von jenen allen bei Ihnen geblieben? Nur die, welche sonst nichts Suchendes haben! Helbig, der trägt sein Glück viel zu wenig in sich selber. Er hängt an diesen lieblichen Hainen mehr als an seinem Lebenswerk. Nehmt sie ihm weg, und er wird abdorren. Die Leidenschaft, die ihn wegen eines Mädchens quält, ist auch nicht notwendig gewachsen. Er schafft sich sein Schicksal nicht, sondern läßt es sich zufliegen.

Und Semljaritsch hat noch keinen Boden. Halb noch Slawe, ist er mit seinem Fühlen schon tief in die deutsche Kunst verstrickt. Er ist wie ein Rekonvaleszent. Er sitzt vor der eigenen Haustür, träumt, mag nicht hinein und kann nicht weiter fort hinaus. Die sind beide halb und sind also die einzigen, welche noch die Stimmungen des Vereines der Sonnensucher brauchen, weil sie keine eigenen haben.«

»Das ist traurig,« klagte Frau von Karminell.

»Warum sammeln Sie die Jungen aber auch immer zum Dutzend?« fragte Wigram. »Nehmen Sie uns fortab einsam oder so, wie wir uns zufällig fügen. Viere waren wir wenigstens noch ein Quartett. Achte geben mindestens vier Parteien. Wenn Sie ihnen jetzt, wo wir an die Münzgrabenstraße kommen, freistellen, zu gehen, wohin jeder will, da sehen Sie zu: Es bleiben nur Semljaritsch und Helbig bei Ihnen und ich, weil Sie ein Stück meiner Idee bei sich haben.«

So geschah es denn auch. O'Brien empfahl sich am eilfertigsten; Scheggl folgte ihm schnell aus Sorge, der könne zum blonden Butterkipferl gehen; Liesegang und Petelin zogen sich rasch gegen die Ries, und eine Zeitlang schaute Kantilener den beiden Apostelhavelocks verlangend nach; dann schloß er sich mit einem energischen Ruck an den praktischen Arzt. »Wir gehen durch den Münzgraben,« sagte er leise zu ihm. »Ich weiß dort ein paar arme Teufel, die kein Geld für den Doktor haben. Für ein bißchen guten Rat hast du Prüfungen, Erfahrungen und Klugheit genug. Kommst du mit mir?«

»Meinetwegen,« sagte Vollrat. »Man lernt doch wieder dabei.«

So blieben nur vier zurück, welche die heitere Feier zu Ende kosten wollten; die gingen nach der Industriehalle, wo die Menschen begierig gedrängt am Zaune standen, weil das Feuerwerk beginnen sollte.

Es war ein schwüler Abend, und der Sommer feierte mit heißem Atem seine erste Nacht mit der Erde. Die Menschen am Zaun hatten alle von dem hellen Gasthausgarten beleuchtete Gesichter. Viele Durstige ließen sich zum Trinken herausreichen. Es wurde ein Doppelliter Bier vorbeigetragen, den lächelten alle an.

Die Kinder in ihrer Ungeduld waren hier das einzige, was die Zuschauenden lebhafter erfreuen konnte.

Dann begann das Feuerwerk. Mit jeder Garbe, die emporstieg, sandte Wigram als geheimster Rat seines fernen, lebhaften Kaisers einen prachtvollen Gedankenstrauß in den Nachthimmel. »Fliege fort, und hilf dem großen, irrenden Volke,« betete er.

Semljaritsch dachte an die Höhenfeuer, an den Donnerkultus und die Sonnengebete der alten Slawen und überlegte sorgfältig, daß die enge Verwandtschaft mit den Süddeutschen doch eigentlich jede Feindschaft unnötig machen und besiegen müsse. Es ist ja nur die Trägheit der Masse, eine fremde Sprache zu lernen, schalt er in sich hinein. Dieses Laster nennen sie dann Nationalgefühl. Lachen und weinen, prahlen und fürchten wir nicht alle gleich? Er hielt jäh inne, als ob ihm ein Pfeil in die Kehle geschossen worden wäre, denn drüben brauste die Wacht am Rhein auf, und tausend Menschen sangen mächtig mit. Er ballte wütend die Fäuste, dann bezwang er sich. Den besten Heimatboden im Herzen des Menschen hat doch der Haß, sagte er sich. Alle Tugenden und Gefühle lassen sich kündigen und machen Bankrott, nur der Haß überlastet das armselige kleine Haus mit Hypotheken bis zum Verderben.

Aber die Wacht am Rhein konnte er doch nicht mitsingen.

Helbig sog die Stimmung, die Frau von Karminell angegeben hatte, mit der Kraft drohender Leere in sich. Die Raketen aber sah er nicht unmittelbar an. Sie spiegelten sich zu schön auf dem lichten Antlitz der Frau neben ihm. So oft eine emporstieg, schaute er in dieses Gesicht, das von freudigem Staunen über die Farbenpracht widerleuchtete. Das war Helbigs Feuerwerk. Sie sagte jedesmal Ah! und konnte sich freuen wie ein Kind. Wigram und Kaiser Wilhelm hatte sie vergessen und wartete fieberhaft auf jede neue Rakete, und schrie leise auf, wenn die goldschwänzig in die Luft stieg.

Sie war auch ganz traurig, als es zu Ende war, und mußte ihre Geister wieder zusammenrufen, als sie Wigram die Hand reichte: »Morgen bringen Sie mir das Schreiben!«


Aber auseinandergegangen war der Verein der Glückbewußten keineswegs. Je seltener sie sich zusammenfanden, desto besser wurden diese Stunden, welche das Gefühl ihrer Ausnahmestellung, der Inselhaftigkeit ihrer Gemeinde nur noch mehr hoben. Sie betrachteten sich stets mehr und mehr als eine kleine Welt in der großen, als jene, denen es von allen Menschen am besten vergönnt sei, die Augen offen zu halten. Aber nicht, daß sie nicht gewußt hätten, wie es viele andere Menschen außer ihnen gäbe, die sich ein ebenso frisches Lebensgefühl, ebensolche Bescheidenheit der Freude und Feinheit des Genießens selbständig zu erringen wüßten. Solche nannten sie ihre Brüder in der großen Fremde.

Die meisten der Freunde trafen sich bei Frau von Karminell, welche für jeden von ihnen mit kluger, durchleuchteter Anteilnahme lebte. Alle kamen sie zu ihr, nur Cyrus Wigram war seit dem Abend ausgeblieben, an welchem er der lebhaften Frau versprochen hatte, ihr seinen Brief an Kaiser Wilhelm zu zeigen. Es hatte ihn gereut. – – – –

Denn einmal war sein Geheimnis am berauschendsten und gewaltigsten, wenn er es allein besaß. Dann glaubte er, Frau Else könne politische Philosophie nicht in sich verarbeiten: die wäre ihr fremd, schwer und lästig. Tiefe, heiße Dankbarkeit aber wallte in ihm, als er bei seinem angstvoll vorsichtigen Ausholen der Freunde erkannte, daß zwar Frau von Karminell nicht ihre brennende Ungeduld, ihn zu sehen, sehr gut aber sein Geheimnis zurückgehalten hatte. Keine Seele ahnte, – außer ihm und ihr, – das war köstlich. –

Er aber ließ in Einsamkeit sein Schreiben weiter reifen und hielt es in wollüstiger Bangheit zurück und zurück …

Inzwischen ging im Verein der Zeitbewußten Merkwürdiges vor durch die überlegte Schuld der lichten Frau von Karminell.

Frau Else hatte genau beobachtet, in wem von den Freunden innere Musik war. Die lud sie sich an einem schönen Juninachmittag ins Haus: Es kamen der helläugige, blondflaumhafte Kantilener, der feine, durchnervte Helbig, der Träumer Semljaritsch, der Romantiker O'Brien. Und in einer Ecke stand schüchtern der kleine Klaus, welcher sehr die großen Wagneropern liebte; wie sich denn auch bei Friseuren und Schneidern viel Begeisterung für das Napoleonische findet.

Frau Else geleitete die Freunde aus der toten Nachmittagssonne, die vor dem Hause in der Gasse lag, durch den Flur in ein wundersames, kühles Gartenzimmer, das ganz von Weinlaub verdunkelt war. Nur wenn ein Windstoß die grünspielenden Blätter auseinanderwarf, da glaubten die Freunde, ein Schwarm weißer Tauben fliege plötzlich am Fenster vorbei, so huschte dort das geschreckte Licht zwischen den geöffneten Ranken empor.

Hier stand das Klavier, aus Ebenholz. Über die Wände glänzten Altgoldtapeten. Diese echten, schweren Goldmuster mit den grünen, tiefockerfarbigen und hellblitzenden Elementen mußten von einer Meisterhand in so uralt romanische Ornamentik gebracht worden sein. An den Wänden standen die Marmorbüsten der drei Allergrößten aus dem Reich der Klänge. Wie aus drei Welten schauten sie.

Der dunkle, schwere Flügel, die wenigen grünsamtenen strengen Möbel, die aufgeschlagenen Notenfolianten, der zurückgehaltene grüngoldige Abend dieses Raumes, die drei großen Schweigsamen, das Dämmergold der Wände, das Geriesel und Aufblitzen des flüssigen Weinlaubes draußen gegen die stille Gartenwelt: die leise Mahnung, daß draußen Sommertag sei, machten auf die Freunde den mächtigsten Eindruck. Sie waren zum erstenmal hier, und standen still, von leisem Schauer umweht. Ernst, Pracht und Tiefe.

Frau von Karminell verstand sich auf die Stimmungen.

Sie stand in ihrem leise rauschenden Kleide lächelnd hinter den Freunden.

»Mein Rheingoldzimmer,« sagte sie.

Es war hier wahrlich wie auf dem gründämmrigen Grunde eines großen, kühlen Stromes.

Frau Else trat an den Flügel und sah O'Brien an, den einzigen, der hier Bescheid wußte. »Sind Sie bereit?« fragte sie.

O'Brien ging in einer heiteren Feierlichkeit, die ihm ganz eigentümlich stand, zu ihr hin und schlug einige Noten auf. Dann setzte sie sich; ihr schönes Kleid floß prächtig um den kleinen Sitz. »Nehmen Sie Platz,« bat sie die Freunde. Die taten es wie verzaubert.

Und Frau Else begann mit weichen Händen. Wie im Traum sprach das Klavier empor. Es war eine Tonranke, die sich fugenhaft immer wieder zurückschlang und immer neu und weich erfunden war. Im Vorspiel lächelte sie zum jungen Kantilener hinüber: »Ihr Sommersonnenwendlied.«

Und O'Brien, der sich selbst als seine eigene Dichtung in jede Schwingung bringen konnte, sang mit tiefem Klangbewußtsein das merkwürdige Lied Kantileners, das eigentlich nur wenig Inhalt hatte und ganz auf Ton und Stimmung geschrieben war. Es waren auch fast stets die gleichen Reime, wie das Rauschen der Bäume immer gleich anhebt und gleich abschwillt.

»Schwermütig über die Gärten
Zieht ein Rosenduft,
Sehnsüchtig in der verklärten
Leuchtenden Sommerluft.

Mein Glück zog goldene Fährten
Über Blüten und Gruft,
Ach, und immer begehrten
Neue Wünsche zur Luft.

Blühtest du so im Garten
Vom Kinder- ins Mädchenkleid,
Als wolltest du mich erwarten
Nun, in der reifenden Zeit?

Himmelgütiges Walten
Führte mich vor dein Gesicht;
Mein Herz will Treue halten,
Du nur entfliehe ihm nicht.

Dem leid- und sehnsuchtverzehrten,
Das sich zu Tode ruft;
O gib dich dem Gefährten
Jetzt noch im Rosenduft!

Es ringt aus dem Herz, dem beschwerten,
Einsam mein Lied in die Luft, – – –
Schwermütig über die Gärten
Weht der Rosenduft.«

Noch rieselten die Klavierlaute eine Weile und versiegten dann. Tief nachdenklich schwiegen die Freunde. Hier hatte ein Fremder ein Kunstwerk geschaffen, das die Tonsehnsucht des jungen Kantilener verstand. Hier war Musik gewesen. Unfehlbar geahnte Musik.

Nichts konstruiert. Die Wirkung war tief.

O'Brien ging vom Flügel fort und nahm schweigsam Platz bei den Freunden. Mit ernstleuchtenden Augen sah sich Frau von Karminell ihren jungen Dichter Othmar an.

»Wer war das?« fragte dieser leise.

»Warten Sie noch; ich sage es Ihnen dann,« winkte ihm die klare Frau zu. Dann griff sie selbst suchend in die Notenblätter. Sie sang niemals Lieder, welche dem Inhalte nach nicht auch einer Frau in den Mund hätten gelegt werden können, und sie sang auch niemals solche, welche über das schöne, heitere Gleichgewicht hinausgriffen, das diese Frau vom Himmel geschenkt erhalten hatte. Wilde Leidenschaft, Zorn, überlauten Jubel, das umging sie. Auch erlaubte sie ihrer milden, anfragenden Altstimme niemals die hohen Weibertöne. Sie irritieren mich und andere, sagte sie.

Darum suchte sie lange in den Noten und blätterte mit den schöngeformten, ernsten Händen. Und es war auch dabei zuzusehen eine Freude.

»Es soll doch auch zu unserer Dämmerstimmung passen,« klagte sie leise. Nun hatte sie noch schwerer suchen.

»Da wäre etwas Vorfrühling,« sagte sie endlich und begann in tiefen, sehnsüchtig gezogenen Lauten zu singen:

»Wann wird die Amsel schlagen?
Noch geht es winterwärts;
O, nach sonnigen Tagen
Ruft in Sehnsucht mein Herz!
Tauwind, willst du nicht wehen?
Mein Herz ist so schwer, so schwer – – –
Und die Liebe mag nicht vergehen,
Ja nie und nimmermehr!

Hast du mich ganz vergessen?
Und ich bin Tag und Nacht
Tief in Trauer gesessen
Und hab' an dich gedacht.
Böse möcht ich dir bleiben
Und werfe mich hin und her –
Und kann die Lieb' nicht vertreiben,
Ja nie und nimmermehr!«

Wieder war der Ton fast restlos getroffen. Aber während Kantilener erregt im Zimmer auf und ab ging, hatte sich die schöne, reichbegabte Frau in rechter Nachdenklichkeit zurückgelehnt. Sie fühlte die Liebe dieser Lieder auch in sich: Zu wem nur? Zu wem? Hätte sie ein Ziel gehabt, so wäre diese Liebe Glück gewesen. So hieß sie leise nagende Unzufriedenheit!

»Eines noch, dann ist ausgeträumt,« raffte sie sich auf und sah umher.

»Wir wollen uns mehr Helligkeit ins Zimmer lassen.« Und sie zog die Gardine von einem Fenster, vor dem das Weinlaub nur mit einigen Blättern schwankte. Da leuchtete das ganze Goldzimmer hell und freudig auf und glänzte wie ein Krönungssaal. –

Frau Else schüttelte sich die hellen Haare und die dunkeln Gedanken aus der Stirne, setzte sich rasch und sang heiter und herzlich und mit einem Takteinhalten, als sei es ein Schullied, das Kantilenersche Bittgedichtlein vom Sonnenkuß:

»Mein Herz blüht wie ein Rosenstrauch,
Die Sehnsucht, die bleibt stumm,
Die geht nur wie ein Maienhauch
Verliebt um dich herum.

Das allerkleinste Lüftelein
Ist glücklicher als ich,
So küßt dich halt der Sonnenschein
Vieltausendmal für mich.

Und küßt dich schon der Sonnenschein
Mit seinem Mund von Gold – – –,
Es kann doch nie so innig sein,
Wie ich dich küssen wollt'!«

Beinahe getanzt hatte sie die kleine Ariette mit der Stimme. Das hatte sich wie Wellchen im Bach gebäumt und war mit Kichern zerflossen. Die schöne Frau stand auf, als wollte sie schnell den überwältigenden Eindruck ihrer unendlich heiteren Liebenswürdigkeit beenden und schloß das Klavier.

Kantilener aber rief: »Wer! Wer hat das alles gemacht?«

Die Freunde sprangen empor, erregt, hoffnungsfroh –. »Er lebt also!« rief Helbig in lichter Freude. »Es ist wieder einer da, der Lieder schreiben kann?«

»Ein Österreicher? Ein Österreicher?« rief Semljaritsch. »Gebt acht!« Und er rannte auf Frau Else zu, die lächelnd in diesem kleinen Sturm am Fenster stand. »Ein Slawe?« fragte Semljaritsch.

»Nun, was rätst du, kleiner Klaus?« rief O'Brien dem freudig leuchtenden Petelin zu.

»Ich möchte alles noch mal hören,« gab dieser naiv zur Antwort.

Aber trotz ihres Entzückens waren die Freunde zu unruhig. Namentlich Kantilener. Seine klingenden Kindchen hatten ihre fehlenden Flügel bekommen; nun fand er sie erst schön; er setzte sich tiefergriffen in einen Lehnstuhl und ließ alle drei guten Dinge vor sich nochmals vorüberziehen; das letzte konnte nur huschen, so lustig war es.

»Er möchte mit Ihnen Freundschaft halten,« sagte Frau Else endlich ernst und mit klarer, fester Stimme; »aber er ist Jude.«

Da wurden alle still. – – –

Man muß denken, daß Graz fast gänzlich im Kampf für sein Volkstum an der nahen Grenze lebt. Daß die freisinnige Presse dort keineswegs allmächtig ist und daß von den nationalen Parteien die extremste sich stets am besten sichtbar und hörbar zu machen verstand.

Diese jungen Leute hatten alle, außer dem gänzlich vorurteilslosen O'Brien, gegen ein Erburteil zu kämpfen. Frau Else sah, wie es ihnen weh tat, daß ein solches Talent aus dem gehaßten Volke der Bewußtlosesten erblüht war. Denn alles, was nach der Meinung dieser jungen Leute jenes Volk trieb und dachte, gehörte dem großen Gebiet, »der bedrückten unerlösten Fremde« an: Geld, Gut, Ware, Bedarfsliteratur, Nutzkultur.

Frau Else schwieg und sah in diese jungen, schmerzlich getroffenen Gesichter hinein, mitleidsvoll verständig, als ob es arme Patienten wären. Dann sagte sie: »Ich weiß, ich weiß. Der Mensch gibt sein Vertrauen weg und sagt mit zorniger Wonne: Fahr hin. Er wirft die Liebe von sich und sagt weinend: Gut, daß sie fort ist. Aber wenn er einen Haß von seinem Herzen lassen soll, das ist das schwerste von allem. Den kann er nicht von sich stoßen, es tut ihm allzu weh.«

Da ging der milde Kantilener zu ihr hin. »Ich möchte den Komponisten kennen lernen und ihm ein lieber Freund sein, wenn wir beide dazu taugen.«

Helbig zerbrach in anderer Weise den Wall um sein Herz. Er war ganz Verstand und suchte sich, langsam auf und ab gehend, Vernunftgründe aus.

»Wohl möglich, wohl möglich! Wir Deutsche haben eine gealterte Kultur. Unsere Anschauung ist derart mit Vernunft durchknetet, unser ganzes Arbeiten so reflexiv und überlegt worden, daß wir nur mehr verständig überlegte Musik zu machen vermögen, was eigentlich ein Unding ist. Denn die Musik wirkt auf ganz andere Nerven als die des Verstandes, und wer sie auf letztere einrichten will, beweist nur, daß ihm durch Überkultur die musikalische Sinnlichkeit abhanden gekommen ist.

Jenes Volk aber hat seine Sinnlichkeit außerordentlich stark festgehalten. Die Lust am Gold, am Titel, am Prunk, am Witz und am Weibe sind zumeist lebhafter in ihm als bei den umwohnenden Ariern. Diese Ursprünglichkeit der Sinne läßt sie auch die Musik sinnenfällig nehmen. Vielleicht sind sie die einzigen, welche heute noch Ahnungsmusik machen können.« Und weiter sagte Helbig: »Wie selbst Wagners germanische Verstandesmusik aussehen kann, hören wir an der Wüsteneimelodie der Hirtenflöte im ›Tristan‹ und an der Sprechmodulation Mimes, dessen Schmeichelweise in das Gebiet des Redetons und nicht in jenes des Gesanges gehört. Wie Musik schmeicheln muß, scheint den Deutschen verloren gegangen. Denkt nur an Zerlinens Arie im ›Don Juan‹: › Batti, batti, o bel Masetto‹. Wer kann das noch?«

So waren die Freunde schon halb beruhigt, als ihnen Frau von Karminell Näheres von Amos Bohnstock erzählte. Sohn eines Trödlers von der Lend, nach vollendetem Gymnasium zum Schmerz seines Vaters in die Musik durchgebrochen, Geiger und Konzertmeister am Grazer Theater, noch lange nicht dreißig. Der arme Bohnstock mußte hochaufgeschoßne Vorfahren gehabt haben; sein Name war wohl das Diktat irgend eines Bezirksprofosen aus Kaiser Josephs Zeiten, und zu allem Unglück war Bohnstock abermals überlang geraten, so daß man Sorge um die Haltbarkeit seiner Lunge haben mußte. Alle Lebenskraft in diesem hohlbrüstigen jungen Menschen schien in musikalisches Empfinden umzuarten. Außer seiner Musik und einer unermeßlichen, tödlichen, hoffnungslosen Sehnsucht nach dem deutsch-germanischen Wesen lebten wenig andere Kräfte in ihm.

Ganze Nächte saß dieser seltsame junge Mensch und brütete sich die eigentümlich dunkeln Gemütsstellen aus altdeutschen Volksliedsammlungen zurecht. Mit manchen Abgründen rang er vergeblich; er konnte sie durch seine Musik nicht ausfüllen.

Seit Wochen grübelte Amos über dem todwunden Ende des Liedes »Jetzunder geht mir mein Trauren an«:

Es ist nicht hier ein kühler Brunn,
Der mir mein Herz tät laben, – – – –
Ein kühler Brunnen zu jeder Stund,
Der fließt aus meinem Herzen …

Ihm war selber so zumute. Die Sehnsucht hatte ihn ins Herz gestoßen, die Sehnsucht nach der schlichten, klaren, deutschen Seele, und aus der Wunde floß in kühlen Strömen seine Lebenskraft.

Wenn er den Text eines innig reinen Liebesliedes gefunden hatte, so ging er in die Universitätsbibliothek und suchte sich in den Wiedergaben nach altdeutschen Meistern das liebe Mädchenantlitz dazu. Blond und blau, schlicht und züchtig, still und treu. Dann erst erklang seine Sehnsucht in wunderbar volkstümlichen Weisen, genau so wie Mendelssohn einst die Waldlieder in ihrer tiefsten Seele ergriff. Ein Gesichtlein hatte er einst gefunden, in der Art Holbeins des jüngeren gemalt. Das Bild selbst hängt im Hofmuseum zu Wien und ist so still und brav, daß spätere Zeit einen feinen Streif als Heiligenschein um das liebliche Köpflein zog. Die wurde ihm das Mädchen zu Kantileners Liebesliedern, und an sie richtete er all seine verzehrende Sehnsucht nach dem, was er für die deutsche Idee hielt. Und wie die Sehnsucht immer farbiger, reicher und bildvoller als die Erfüllung ist, so kam es, daß ihm die deutsche Urmelodie süßer und voller floß, als wenn er mit dem Blute seines Traumvolkes geboren worden wäre.

Es war noch nicht lange Zeit, – erst seit Ende Februar, daß Frau von Karminell ihn entdeckt hatte. Auf einem Kostümfest wollten junge Mädchen steirisch tanzen, und die Musik wußte sich nichts Rechtes zu finden. Da kam ein junger, langer Jude in schlotterndem Kandidatenrock aus einem unbeachteten Winkelchen und improvisierte die launenhaften, stampfenden, neckenden, widerstirnigen und ausweichend graziösen Weisen solcher Tänze so köstlich, daß allgemeiner Jubel entstand.

Gleich ging Frau von Karminell zu ihm, lud ihn zu sich und protegierte ihn auch am Theater dermaßen, daß er bald Konzertmeister wurde. Er stand vor der schönen Frau seit dieser Stunde in einer Art von Verehrung, die alle Zeichen der Leidenschaft hatte und tödlich unheilbar war. Aber sie gab ihm auch das Lichte, Glückliche, Freudige für seine Lieder, und neunstimmig sang es in ihm, seit er sie kannte. Während Frau Else ihn bloß für zwiespältige Stunden brauchte, um sich in Harmonie spielen zu lassen, gab er sein ganzes Leben in diese selben Stunden, und schuf Meisterwerke an Musik und Spiel, die für alle Welt verloren blieben; bloß um von dieser Frau ein Schön Dank zu verdienen.

Den lernten die Freunde nun kennen. Er blieb in Worten scheu und still und sagte ihnen am Klavier desto schöner, wie gut er zu ihnen gehörte. Sie liebten ihn bald alle, außer Liesegang, welcher jede Idee, die er aufnahm, so unveränderlich konservierte, als ob sie in ihm versteinert wäre. So auch den Antisemitismus. Die anderen waren zu intelligent, um prinzipienfest zu sein.

Kantilener und Bohnstock schlossen sich am engsten zusammen, und wie jeder bedeutsame Mensch der Lebensrichtung des Freundes eine neue Komponente hinzufügt, so geschah es hier mit Kantilener. Es war mit dem jungen Philologen so weit gediehen, daß er mehr medizinische als kunstgeschichtliche Vorlesungen besuchte, ja, Kantilener hatte kürzlich sogar ein medizinisches Examen abgelegt. Vollrat hatte triumphiert; er hoffte, in Kantilener einen Kollegen und Mitarbeiter zu finden. Es war merkwürdig, wie diese grundverschiedenen Naturen einander anregten. Von Dr. Urban, Liesegang und Petelin wurden sie immer wieder an die einfache Heilkunde, mindestens zur naturgemäßen Lebensweise gemahnt. Kantilener, der aus reinem Mitleid und aus Menschenliebe Medizin studierte, brachte Vollrat immer wieder in die Wohnungen der Armen, und Vollrat studierte hier die Wirkung des Elends, der bedrängten Lebensweise und der gesundheitswidrigen Wohnungen. Schon als Doktorand schrieb er gute Broschüren über die Wirkung von Licht, Luft und Sonne, Heiterkeit, wechselvoller Tätigkeit und der Möglichkeit, auch in das eintönige Leben der Ärmsten Anregung und Geldverdienst zu bringen durch Zucht von Blumen, Gemüsen, Geflügel und Kleintieren, wie etwa Kaninchen. Er betonte immer wieder die Notwendigkeit, selbst dem Ärmsten einige Klafter eigener Erde zu überlassen, darauf könne der sich dann ein Stückchen Paradies schaffen. So war Vollrats Name schon bekannt, als er Doktor wurde, – bekannt freilich nur bei denen, die Zeit und Mittel hatten, seine Schriften zu lesen … Vollrat hatte schnell einige Dutzend vermögliche Patienten beisammen, denen er herzhafte Rechnungen machte. So kam er schnell in Mode.

Kantilener sah seine Armen um ihren Arzt betrogen. Die aber gaben viel auf Arznei, Mixtur und Einreibung, von welch allem die einseitigen Luft- und Sonnenapostel Urban, Liesegang und Petelin möglichst wenig wissen wollten. So sah denn Kantilener mit Schmerz, daß der richtige, kluge Mittelsmann fehlte. Während er aber gerade mit dem Entschlusse rang, seinen Beruf zu ändern, um selbst dieser Helfer der Belasteten zu werden, lernte er Bohnstock kennen. Bohnstock nun wollte, ähnlich wie Kantilener schon am Beginn dieser Erzählung versucht hatte, das Leben nur aus ästhetischer Weltanschauung gelten lassen und griff mit Freuden die Worte Beladene, Unfreie, Versunkene auf, mit denen die Sonnenkinder alle bezeichneten, welche den Tag unbeachtet verfließen ließen und nur einstweilen zu leben verstanden. »Es gibt nur ein Mittel,« versicherte Bohnstock mit schwermütigem Nachdruck, »dieses kleine Stück Leben, das wir ergriffen haben, mit bewußtem Glück zu durchsonnen: Intelligenz; nur eine Übung der Intelligenz, welche das ganze Leben umspannt: Kunst.« Dabei versenkte er sich mit solch offen glühender Leidenschaft in alles, was zur Kunst gehörte, daß schon der bloße Anblick einen feinfühligen Menschen hinreißen konnte. So begann denn Kantilener wenigstens, die Kunst der Armen oder Beladenen zu studieren, um auch hier den Blitz des Menschengeistes innig bewundern zu lernen. Töpferware, Textiles, Kunsthandwerk, ländliche Bau- und Zimmerkunst.

Der Haß Bohnstocks gegen Technik und Industrie war rührend. In der ohnedies nicht industriereichen Stadt brachte man eine Maschinenausstellung zuwege, und die Schulleiter führten ihre Bürgerschüler in hellen Haufen hinein. Bohnstock begegnete solch einer lauten, froh erregten Schar, die sich ganz freudig am Tor der Industriehalle drängte. Da schlug er auf eine Bank hin und brach in Tränen aus. »Die Verfluchten,« rief er überwältigt vom Schmerz, »arbeiten schon als Kinder an der Nutzknechtung der Menschenseele. Wann werde ich diese Welt endlich verlassen dürfen? Sie tut mir weh, wo ich gehe und stehe!«

Ansteckender noch als sein rein vergeistigtes Lebenstum wirkte auf Kantilener die verhaltene Glut der Neigung des Musikers zu Frau Else.

Schon im Frühjahr hatte es für den armen Othmar ein eigenartig Süßes gehabt, seine Klagen um Linde an diese, in herrlichem Faltenwurf vor ihm sitzende, an diese schlanke Frau Samt und Seide zu richten. Er schilderte ihr mit Wehmut, wie er sehe, daß er sich Linde nur erdichtet habe, um ein schönes Geschöpf lieben zu können, und wie er nun von seiner eigenen Schöpfung nicht los könne. Es war so bestrickend, diese geschmeidige Weiberklugheit, die dem Herrn Gott gegen dessen Vorsatz und aus Eigenwillen aalglatt zwischen den Fingern durchgeschlüpft zu sein schien, mit seinen Liedern und wunderschönen Irrtümern zu erschüttern, und die Lippen dieser gescheiten Frau in Rührung und Ironie zucken zu sehen.

Dann kam der junge Tonkünstler, welcher zitterte, wenn nur der Blick jener hellgrauen Augen auf ihn fiel, und dessen ganze Kunst nur durch ihre Gnade so herrlich blühte. Das zu sehen, griff weit in Kantileners Herz hinein und drehte um, was lange vorbereitet lag. Als sie jetzt einmal vor ihm stand und zuhörend die schlanken Arme mit den langen Handschuhen vor sich ausgebreitet hinstemmte, da schwindelte dem armen Jungen bei dem Gedanken, – zu was der Mensch es doch alles bringen könnte! Mit diesem wörtlich ausgedrückten Gefühl ging der große Stich durch seine Bewunderung. Als meisterhaft, als ein Geniestreich der Schöpfung begann sie ihm zu gefallen … In seinem intelligenten Kopfe mußte selbst das stärkste, ursprünglichste Gefühl erst eine Gedankenschicht durchstoßen, bevor die große Dummheit begann.

Und dann, als der Hochsommer voll und reich über den gesegneten Feldern lag und die Bäume dunkelgrün um die stillgewordene Stadt rauschten, als der junge Othmar das erste Geschöpf von Fleisch und Blut zu lieben beginnen mußte, da verreiste Frau von Karminell.

Auf ihren Weingarten reiste sie. Die Ferien trennten sie alle. Helbig war zu seinen Eltern nach Leibnitz gefahren, wohin sie des billigeren Lebens halber übersiedelt waren, und Herr Hofrat Melander nahm mit seiner Familie ganz nahe, auf dem Frauenberge Sommerwohnung. Er hielt den genügsamen Helbig, weil der sein ganzes Taschengeld auf Blumen für die leichtsinnige Liese ausgab, für vermöglich, zog infolgedessen den guten Amadé in ernste Erwägung und wurde in seinem Irrtum noch bestärkt, als er sah, daß die im Orte ansässigen, also billig lebenden Eltern seines Kandidaten in behaglichen Verhältnissen zu sein schienen. Hier entwickelte sich ein Handel voll heiterer Irrtümer.

O'Brien blieb in Graz, um vorerst das Röslein vom Gries zu Ende zu verführen. – Er erreichte es, indem er dem ahnungslosen Mädchen heitere, leichtfertige Lektüre gab.

Etwa Murgers Bohème. Und Rose lachte und ließ sich die Studentenliebe herzlich gefallen; im Kaffeehaus hatte sie die Scheu ziemlich verloren, und was noch weiter verloren ging, machte ihr gar nicht viel Schreck: Der Sommer war heiß, die Nächte dufteten vor lauter Nelken und Rosen, und O'Brien machte einen wunderschönen Roman daraus. Er kam wie ein Kater übers Dach und schied wieder mittels Strickleiter. Er brachte ihr mit den wenigen Freunden, die in der Stadt blieben, ein reizendes Ständchen, welches Röslein nur noch berühmter und eitler machte, und gehörte ihr ganz und gar, nur daß er zur Aufstachelung der eigenen Sehnsucht Landfahrten machte; drei oder vier Tage. Länger hielt er es nie aus. Dann träumte er unter den Lindenbäumen der sonnenvollen, steirischen Gelände von den Nächten am Gries und machte hübsche, leichtsinnige Lieder darauf.

Von O'Brien also hatte Kantilener wenig Trost. Vollrat praktizierte an einem Sanatorium in achthundert Meter Seehöhe, bei Weiz oder Passail in der äußersten Ostalpengegend. Die schöne Linde verbrachte die Ferien beim Vater, wo O'Brien seine vergeblichen Versuche auf die dummkluge Tugend nicht fortsetzen konnte. Semljaritsch war im slawischen Unterlande bei den Eltern. Sein Vater war Advokat und slowenischer Parteigänger, da hatte der in deutscher Dichtung und Kunst gefangene Bodo schwere, schwere Stunden.

Liesegang und Petelin zogen, wie weiland die Jünger, durch das ganze Land, nährten sich von Brot und Früchten, trugen Sandalen, Havelock und Pilgerstab, tranken Wasser, beteten die Mutter Natur an und predigten den Kleinstädtern und Bauern das Evangelium der heiteren, neuen, naturgemäßen Seele. Sie duldeten schweren Spott und bekamen in Waldbach und Wenigzell beinahe Schläge von den Bauern, weil sie feurig gegen den Alkohol gewütet und sich damit die innige Zuneigung mancher Weibspersonen errungen hatten. Dagegen hatten sie Glück, wo viele Sommerfrischler waren, und steckten mit ihrer rührenden Naturjüngerschaft alle bleichsüchtigen, hohlbrüstigen, krummen, häßlichen oder sonstwie kümmerlich gediehenen Jünglinge und Jungfrauen mächtig an. Alles, was sich nach Gesundheit sehnte, alle Enterbten der Schönheit, alle Hysterischen, Schwachen und Furchtsamen schlossen sich ihnen an wie der Seufzer den blassen Wangen. Sie sammelten reichlich Herzen für ihren großen Verein der neuen Menschen in Graz.

Scheggl war in Eisenerz; Wigram auf der Koralpe bei seinen Eltern, hornharten Bauersleuten. Er zerriß immer noch alle Briefe an seinen Kaiser und lebte in beispielloser Erregtheit. Alle Zeitungen durchsuchte er, ob der große Lebhafte etwa ein neues Zeichen seiner Anteilnahme an den Dingen dieser Welt gegeben hätte, an das man ein Schreiben knüpfen könne.

Kantilener hatte niemand auf der Welt als einen Onkel und Vormund, der sich wenig um ihn kümmerte und ihm seine monatlichen fünfzig Gulden, von denen der bescheidene Othmar lebte, als einziges Zeichen einer Verwandtschaft zuschickte; und auch das waren nur die Zinsen von Kantileners kleinem Vermögen, das er in der klugen Verwaltung des Vormundes auch dann noch ließ, als er längst volljährig geworden war.

Nun saß er mit Bohnstock allein in Graz und empfand erst jetzt, wie es sei, wenn Frau Else von ihm fort war:

Die ganze Stadt stand leer!

Da ging er die Stätten suchen, wo er mit der lichten Frau zusammen gewesen war. Von dort, wo die Freunde sie das erstemal gegrüßt hatten, bis auf den Schloßberg, der noch einsamer und hochwaldstiller war, als an jenem ersten April. Und auf dem höchsten Teil des Berges blieb er sitzen, bis zum Mittag die große Glocke tieftönig anschlug und alle die vielen Glocken unten in der Stadtferne erweckte. Und als er daran dachte, wie sie ihnen hier den griechischen Gruß: »Freue dich« geboten hatte, übertönten die Glocken seine Gedanken und sangen ihm alle: Frau Else ist fort, Frau Else ist fort.

Dann einmal fand er den armen Bohnstock mit schwerem Gemüt im Nachmittagssonnenschein vor einem Gärtlein in der Zwerggasse stehen, das sie zusammen mit Frau von Karminell bewundert hatten. Es ist das ein rechtes Grazer Gartengäßchen mit kleinen, bescheidenhäbigen Häusern, durch das sonst niemand geht, weil es keine wichtigen Wege verbindet. Darum erkannten beide schnell den süß schwermütigen Grund, der sie in dieses kleine Land der Nelken, Reseden und Feigelstöcke geführt hatte. Sie drückten sich die Hände. »Nun gehen wir auch noch in die Liebenau,« sagte Othmar; – das war der letzte Spaziergang mit der schönen Frau gewesen. – Durch den Münzgraben, wo Kantilener so oft Trost und Arznei in die kleinen Giebelhäuser getragen hatte, waren sie damals gegangen und hatten erlebt, daß von allen Gärten Leute und Kinder ihn grüßten und sich freuten, wie ihr teilnehmender Helfer und Aufrichter mit einer so glänzend schönen Frau ging.

»Alles kennt Sie? Alles grüßt Sie?« hatte Frau von Karminell verwundert gefragt. Da waren zwei Kinder herangesprungen mit einem gutgemeinten, wunderbar grellgeblumten Sträußchen, und aus dem Garten winkte die junge Mutter eine freundliche Kußhand lachend herüber. – »Alles liebt Sie?« fügte da Frau Else langsam hinzu und sah ihn an, als sähe sie ihn zum ersten Male. Groß erstaunt und siedendheiß. Es war sehr bang auszuhalten gewesen. Dann aber war sie klug und heiter, wie stets, und voll Wohllaut gewesen.

Den Weg gingen sie nun. Und alle Holunderbüsche und alle Gärten am Wege fragten: Wo ist die schöne Frau? Und beide gingen und ließen so viel Raum zwischen sich, daß die Helle, Schlanke Platz gehabt hätte, mit ihnen zu gehen.

Bohnstock suchte eine Melodie. Eine Melodie zu dem alten Volksliede:

Die Dritt, die Dritt, die nenn' ich nicht;
Sie hat ein lichtes Angesicht
Und soll mir nicht erröten …

Nicht ein Wort berührten die beiden Verträumten von Frau Else und wußten doch, warum sie diesen süß-wehmütigen Weg gingen.

Nur dann in der Au redeten sie sich auf ihre Weise aus. Es stand nämlich am Aurand über die sonnige Wiese weitleuchtend eine wunderschöne Birke, in deren Nähe sie lagerten. Da ging Bohnstock zu dem silberstämmigen Baume, zog lächelnd sein Messer und begann leise singend in die Rinde zu schneiden.

»Was tust du der Schwester Birke an?« fragte Kantilener arglos, sah genauer hin und entdeckte, daß es ein Herz war. Da war es, als sei der Schnitt auch durch ihn gegangen, so erschrak er. Seine Verlassenheit, der tote Stadtsommer und die ferne, schöne Frau fielen ihm recht drückend auf das Herz, und zu dem allen wußte er, daß er an einer süßen, schweren, hoffnungslosen Liebe erkrankt sei, die weder ein noch aus wußte.

Und es ist nicht zu ertragen, eine Liebe zu haben von stärkerem Druck, als das Herz gebaut ist … ein klein, klein wenig muß heraus, und wenn er auch nur dem Wind ihren Namen hätte sagen sollen. Da nahm er das Messer des jungen Musikers und schnitt ein bange geratenes E mitten in das Herz. Bohnstock, welcher die Fähigkeit zu erröten in sehr hohem Maße besaß, quittierte sein Verständnis mit einem halben Quadratschuh Purpur über Antlitz und Stirn und Ohren.

Kantilener trat aufatmend zurück. So ein Streich erleichtert immer. »Wenn ich die Schwester Birke wäre, ich würde mich über das liebe Ehrenzeichen freuen,« sagte er.

Dann saßen die beiden Mitschuldigen Hand in Hand und schauten beseligt ihr Werk an.

»Nun schau, Bruder Bomsel,« sagte Kantilener, welcher den Namen Bohnstocks immer so entstellte; »schau, was so ein bloßes Symbol in einem weißen Stämmchen für ein Altarbild gibt.«

Der Sommerwind mischte sich ins Gespräch. Da hörten und sahen beide zu, wie er der Birke die langen, wehenden Haare kämmte.

Dann erhoben sie sich, um wieder auf alten, unsichtbaren Fährten lieber Stunden zu wandern. »Wir werden dieser weißen, schlanken, holden Frau Birke, die so viel lichte Grazie hat, einen Ehrennamen geben müssen,« meinte Kantilener.

»Gut,« antwortete Bohnstock. »Sie hat ihn schon.«

Sie nannten keiner den lieben Namen »Frau Else« und fanden das köstlich. Es war sehr verrückt, aber sie taten's nicht anders.


In jeder anderen Stadt ist der Sommer Lähmung. In der grünen, laubrauschenden, von der wir reden, ist er nur Traum. Im Stadtgarten rauscht der schöne Brunnen, und die wilden Vöglein, die alle das Futter von der Hand des Menschen fortholen gelernt haben, plätschern und priesten im hellen Wasser. Stille Menschen sitzen mit ihren Büchern auf einsamen Bänken, und ein paar Frauen haben ihre Kinderwagen voll Jugendsommerschlaf vor sich stehen und stricken und nicken im Halbschlummer. Rundum rauscht es schattig, und die Berge breiten offene Arme in ewiger Schönheit um die gesegnet stille Stadt. In diese Arme warfen sich die beiden, so oft sie konnten. Ferien, schwermütige Ferien. Und sie machten beide sehnsüchtige Lieder, der eine den Text, der andere die Musik.

Eines Morgens am Beginn des August erwachte Kantilener schon früh in seiner Dachstube am Gries und sah noch in Hemdärmeln durchs Fenster auf sein Gärtlein hernieder. Dieses Gärtlein lag in der Dachrinne; die Flora bestand aus Gras, einem Bäumchen, etwas Blumen, und die Fauna aus einem Spatzennest; dritte Brut, die gerade ausflog.

»Nun geht ihr in die weite Welt, und alle Kornfelder sind euer, Brüder Sperlinge,« segnete der junge Othmar ihren Auszug. »Fliegt mir doch einer prophetisch nach der Richtung, in die ich wandern soll. Mir ist zu bange in den schönen Erinnerungen dieser stillen Gelände.«

Die Spatzen aber flogen als kleine Wolke die Reichsstraße nach Süden entlang. »Ich kann sie ja doch nicht besuchen,« seufzte Kantilener und sah sich nachdenklich auf der Straße unten eine Kappe und Tasche und zwei wandernde Schuhe an, welche alles waren, was man aus der Vogelperspektive von einem Briefträger erblickte, der ins Haus kam.

Nach der Zeit, welche zum Aufstieg in Kantileners Dachhöhen notwendig war, schnaufte der Briefträger demonstrativ vor der Türe, Kantilener fuhr in die zum Empfang eines Postboten notwendigsten Kleidungsstücke und öffnete mit freundlichem Gleichmut, um zwei Briefe in Empfang zu nehmen; der eine verdeckte den anderen und war gleichgültig. Den anderen sah Kantilener nicht.

Als aber der Briefträger ging, zog plötzlich ein feiner Duft nur ganz vorüberhuschend in Kantileners Nase und stellte augenblicklich einen erschreckenden Kurzschluß mit dem Erinnerungsorgan her.

»Briefträger, Briefträger!« schrie er in unbeschreiblicher Aufregung, flog über die Treppe hinab und erwischte den Langsamen noch glücklich am Haustor, um ihm ein Trinkgeld zu schenken.

Den Duft kannte er. Er war nie zu bestimmen, nie einzufangen gewesen, wenn Frau Else an einem vorüberging! Wollte man ihn einziehen, so war er weg. Und es war so süßer Wohlgeruch; aber neckend wie ein Puck. Nie dauerte er länger als eine Drittelsekunde, dann war es aus, und keine Nase der Welt erwischte ihn mehr. Er war wie ihr flüchtiges Anlächeln: Wollte man es sich entzückt besehen, so war es fort, und nur mehr die wachen, klugen Augen mit den leisen Schatten ringsum und dem wertvollen, feuchten Blau der Sklera sahen einen ernsthaft an.

Da arbeitete Kantilener mit erschreckten, versagenden Knien über die Treppe zurück, Nase und Mund auf dem kleinen Brief. Er suchte den Duft und preßte die Lippen darauf. Ihn zu küssen, das hätte er aber nicht gewagt. Das wäre ihm schon eine Art Ehebruch gewesen.

Oben schlitzte er zitternd den Umschlag auf und las dann mit tanzenden Augen, daß Frau Else ihn zu sich auf den Weingarten bäte. Ihn, Bohnstock und O'Brien, die sie in Graz wisse und die er benachrichtigen solle. An Helbig und Wigram habe sie geschrieben.

Und nun, nun war diese Welt die schönste aller Welten!

Kantilener machte dem wenigen Straßengeräusch des rasigen Griesplatzes das Fenster zu, begann zu singen: O sanctissima, unterbrach sich, versuchte ein Gedicht, schleuderte die Feder weg, warf sich auf sein Bett und brachte zwei pralldicke Tränen zur Welt, suchte dann seine schönste Krawatte und einen neuen Kragen, hielt mitten im Anlegen dieser Prachtstücke inne und lief achtmal laut atmend im Kreise durch das Zimmer. Dann erst konnte er jauchzen, und dann kleidete er sich an, tat das Fenster wieder auf und fuhr wie ein Armbrustbolz zu Bohnstock, indem er nur bedauerte, nicht die Luftlinie wählen zu können.

Bohnstock wohnte nicht bei seinen Eltern; er brauchte die Nähe des Theaters und die Ferne geschäftlichen Druckes. Wie Kantilener am Gries, so saß Bohnstock in der Schörgelgasse, gegen das Blumendorf Sankt Peter zugewandt, in einer Dachstube.

Bohnstock geigte, daß der Himmel vor Lust noch blauer wurde; er spielte gerade Haydns Symphonie in D und schwang den langlockigen Kopf mit den glühenden Augen, die das Schönste an ihm waren, wie eine Fahne hin und her.

Ganz versunken war er und spielte den Menuettsatz zu Ende, ohne Kantilener, der leise eingetreten war, zu fragen, was er bringe.

Dann legte er die schöne, alte Meistergeige, die er sich schwer erworben hatte, zärtlich auf die Noten. »Gehen wir heute abermals über entschwundenen Fährten?« fragte er seinen Mitnärrischen.

Kantileners junge Augen hätten ihm alles verraten müssen; sie lachten und jubelten, als sein Mund ernsthaft sagte: »Ich mag nicht mehr. Ich gehe vor Auszehrung zugrunde. Jedes Stückchen Erinnerung zieht und saugt an mir. Ich fahre zu ihr.«

»Othmar!« Bohnstock rief das in einem Ton, als ob er sagen wollte: Das ist eine Roheit!

»Du gehst doch mit?« fragte Kantilener.

»Ich kenne dich nicht,« klagte der andere. »Du, sonst der Takt und die Innerlichkeit selbst, willst mir zumuten …!«

»Aber wenn sie dich doch bittet!«

Bohnstock wurde blaß und setzte sich. Kantilener hielt ihm den Brief hin; hilflos schaute sich der junge Musikant das rosafarbige Ereignis an.

Dreimal versuchte er zu reden. Aber er hatte Ameisenlaufen in Wangen und Lippen. Endlich gelangen ihm die Worte: »Da könnte man also wirklich auf die Bahn gehen und wahrhaftig fahren?«

»Körperlich, bewußt und tatsächlich,« versicherte ihm Kantilener.

»Wann?«

»Gleich. An O'Brien schicken wir einen Dienstmann. Der Schnellzug geht um halb zwei Uhr. Ich laufe nur, einzupacken.«

»Wie lange glaubst du, kann man bleiben?«

»Genau so lange, daß sie uns noch mit leiser Kränkung und ungern fortläßt, und wenn wir nur eine Stunde dort bleiben müßten!«

»So wollen wir es halten!«

Und am Mittag fuhren sie alle drei.

O'Brien versprach sich, acht Tage fortzubleiben, weil er eine recht große Sehnsucht nach Röslein zusammensparen wollte. Er fragte Kantilener: »Fünf Viertelstunden fahren wir?«

»Fünf Viertelstunden.«

»Und sie erwartet uns?«

»Sie erwartet uns.«

»Es ist sehr schön dort oben.«

»Schön dort oben!«

»Kennst du diese Weingartengegend?«

»Ich kenne sie nicht.«

Die dithyrambische Festlichkeit der Antworten Kantileners fiel O'Brien auf: er betrachtete sich seinen offenherzigen Jünger mißtrauisch. Dem hat sie doch nicht auch geschadet wie dem langen Bomsel? fragte er sich. Das Frauenzimmer wird sich doch nicht den Spaß erlauben, uns quartettweise abzufangen wie die Krammetsvögel an der Schnur?

Der Zug hielt in Leibnitz. Am Bahnsteig stand Helbig mit der schönen Melander Liese. Sie drückte ihm beide Hände und faßte ihn dann am Kopf, als ob sie ihn küssen wollte.

»Herrgottskuckuck,« rief O'Brien, »da hab' ich durch die Rosel das Gleichgewicht verloren. Jetzt sitzt der Helbig im leichtsinnigsten Paradies, das man sich wünschen kann. Helbig, trenne dich, sonst springt mein Herz.«

Helbig lachte die Freunde an und stieg ein. Da begann das stets aprilsonnige Melanderfräulein gar zu weinen.

»Ich komme bald zurück,« winkte der glückliche Amadé.

»Verschau dich nur nicht dort; ich lasse dich gar nicht gerne weg,« rief sie; da fuhr der eilfertige Zug schon davon.

Weiter und weiter. Und Liese wurde immer kleiner, wie sie dort am Bahnsteig stand und winkte, weinte, sich schneuzte und abermals winkte. Dann wischte sie die Augen ab und ging leise singend zurück durch die Auen:

»Ach was!«

Das war nämlich ihr Wahlspruch. Sie war etwas eifersüchtig auf Frau von Karminell, die mit ihren matten Farben, mit klaren und zarten Kleidern und weichen Bewegungen sehr vornehm über die bunte, laute und rasche Liese hinausragte. »Ach was! Ich kann's auch. Sonst bliebe der Helbig nicht bei mir. Er wird schon wieder kommen. Und wenn er nicht kommt –, so fang' ich mir ein ganzes Dutzend. Die sollen's dann büßen.«

Im Waggon schüttelte O'Brien sich ganz ähnlich die Eifersucht vom Leibe. Ich bekomme eine ganz andere dafür, dachte er, sah Bohnstock und Kantilener an und dachte an Frau Else. »Helbig, du bist ein geschickter Junge. Erzähl mir später einmal, wie du sie bekommen hast.«

»Wenn sie mich im Stiche läßt und dich dafür nimmt, erzähl' ich dir alles,« versicherte Helbig halb heiter, halb in wehmütigem Ernst. »Weiß Gott, was sie hinter meinem Rücken schon jetzt anstellt; – sie muß zwar nur einen einzigen Liebsten haben, aber mindestens immer sechs Anbeter; sonst glaubt sie, daß ihr Leben verfehlt ist.«

Der Zug hielt endlich vor dem südsteirischen Städtchen, von welchem aus Frau Elses Sommersitz in einigen Stunden mit dem Wagen auf luftiger Bergstraße zu erreichen war; und der Wagen wartete schon. Leer. Frau Else war nicht darin.

Da stiegen sie alle viere ein. O'Brien frisch und mit einem neuen Romankapitel im Kopf, Helbig eigentümlich angebangt von dem Wiedersehen mit der Frau, deren Zauber auch ihn gestreift hatte, Kantilener und Bohnstock wie zwei Angeschossene. Man mußte ihnen wie armen Sündern auf den Karren helfen, da sie beide über den Fußtritt, den Wagenrand und die Decke stolperten. Dann zogen die Pferde das ganze Schicksal bergauf.

Überall auf den Bergspitzen die weißen Kirchen und die kleinen Weiler und in Haine und Baumgruppen geduckt die Sommerhäuschen; alle Nordleiten mit Wald bestanden, alle Südhänge bedeckt mit sonnenüberträumten Weingärten. In den Gegenden am südlichen Rande Mittelsteiermarks wird der Wein oft auf Baumfragmenten gezogen; meist oberen Teilen von Föhren, die in die Erde gegraben werden, so daß jeder Weinstock einem herrlich vollen Baume gleicht. So machen die Weingärten einen reichbelaubten, vollen Eindruck, und man übersieht viele Meilen weit dieses schönbusige Land. Kommt ein Windstoß, so fangen die Klappermühlen zu sprechen an. Deren sind Dutzende ringsum.

Von jener kleinen Art, wie man sie auch anderwärts in Gärten sieht, bis zu gigantischer Größe verleihen diese hölzernen Sterne, die im Sonnenschein weithin blitzen, den Geländen einen Reiz, den keiner auch nur ahnen kann, der nicht an träumerischen Tagen oder in atmender wundervoll lauer Nacht ihr tiefes, wechselreich klangvolles ›döng‹ ›döng‹ hörte. Kommt ein Windstoß, so rühren sich die großen mit ein paar würdigen Holzlauten, die kleinen aber klappern nervös durcheinander. Sie sind die Zungen der Weingärten. Je reicher das Jahr, je süßer die Trauben, desto mehr sprechen ihrer von jenen unsäglich trauten Höhen. Man hat sie zum Verscheuchen der Tausende von Drosseln und Staren gebaut, und die laute Vogelwolke fliegt wohl bei jähem Aufprasseln der nahen Klappermühle empor, fällt aber schnell beruhigt wieder in die reiche Süßigkeit ein. So stehen sie denn fast nur zu unbeschreiblicher Stimmung da und rufen Stolz und Sommerfreude ihrer Besitzer weit ins Land hinaus. Der Ansässige kennt alle ihre Stimmen. In einer Sturmnacht, vor einem Gewitter, wenn sogar die großen Holzklöppel eilig über die Klanglatte holpern, da rufen alle Weingärten angstvoll zum Herrn der Wolken. Das ist unbeschreiblich ergreifend!

Der Wende nennt solch eine Windklapper einen Klapotez, wobei der Ton auf das o fällt, und den Namen hat der deutsche Südsteirer übernommen; so mag er auch hier bestehen.

Diese Klapotez nun waren das erste, was den Freunden stimmungsreich entgegenklang. Der Wagen rasselte durch Wäldchen und Weingärten, und hinter jeder neuen Biegung kamen neue Grüße herübergeklappert; so verging die Zeit in halbschauendem und horchendem Hinnicken.

Dann, als die Sonne schon mit schräger Goldflut die Berglandschaft in herrliche Plastik setzte, langten sie an, und Frau Else im weißen Sommerkleid und breitem Sonnenhut kam ihnen entgegen. Unter dem lichten Hut leuchtete ihr helles Antlitz noch mehr, und die herzlichste Freude glänzte mit. Es wurde den beiden Verzauberten luftleicht ums Herz, als sie sahen, daß diese schönen Lippen vor Glück zuckten und bebten; denn wahrlich, Frau Else hätte beinahe vor Freude geweint. So gern hatte sie ihre reinen, weltfrohen Käuze!

An der Tür stand Herr Professor von Karminell mit seinem schönen Bart, würdig wie ein assyrischer Flügelochse; er war voll stolzer Genugtuung, akademische Jugend bei sich zu halten, und begrüßte auch Bohnstock mit freundlicher Gravität.

»Es ist ein Klavier, eine Geige und eine Gitarre vorhanden,« sagte er ihm und führte sie alle in das große, niedrige, kühle Zimmer, in welches die Reben hereinnickten. Da standen Wein und Früchte zum Willkomm. Bohnstock aber entdeckte ein Pianino, eilte hin, machte es auf und spielte donnernd den Einzug der Gäste in der Wartburg. Das Klavierchen klang wundervoll verstimmt und doch wieder freudig; wie Aprilwetter; ein rechter Weingartenflügel. Es hieß auch allgemein das Spinett, und seine Saiten sangen auch noch mit, wenn sie schon lange nichts mehr zu tun hatten.

Von draußen plauderte der Klapotez herüber, und es war alles sehr festlich und schön.

Kantilener saß und schluckte innerliche Freudetränen, daher er nicht essen konnte, so viel ihm auch Frau Else hinschob. Er hielt sich nur immer am Sessel fest, weil er das Gefühl hatte, als lupfte ihn das übermenschliche Glück fort und fort in die Luft, und er wollte durchaus nicht auffliegen, weil man dann alles gewußt hätte. Sein Herz aber stieg unbezähmbar in die Höhe. Es mußte wahrlich schon im Halse sitzen.

Endlich, als Bohnstock zu Ende gerauscht hatte und ihm alles Komplimente machte, welche Pracht er dem Klagespinett abgerungen hatte, da fand er sich unbemerkt und beruhigte sich. Essen konnte er nicht, wohingegen Bohnstock vor glückseliger Verlegenheit gewaltig in sich fraß, zu allgemeiner Freude.

O'Brien und Helbig blieben Menschen; in guter Laune und gehobener Stimmung besorgten sie Gespräch, Lachen, Neugierde und Lob, und was sonst noch alles zu einem Besuch und Wiedersehen gehört, so daß die Ankunft der jungen Leute nichts Auffälliges hatte.

Dann erkundigte sich Frau von Karminell nach dem Gepäck der viere. Es hatte sich nur O'Brien für längere Zeit versehen. »Aber Sie müssen ja doch drei Wochen zum wenigsten bleiben,« klagte Frau Else entsetzt.

Professor Karminell erklärte nun, mit seiner Wäsche aushelfen zu wollen, und das brachte nun die beiden ärmeren, Bohnstock und Kantilener, in grelle Verlegenheit, indem sie nicht einmal mit Bluthunden in so feine, und obendrein gestärkte Hemden hineinzuhetzen gewesen wären. Es wurde dann beschlossen, daß einer nach dem anderen fortfahren solle, um das fehlende Gepäck nachzuholen, und dann erst recht zu bleiben.

Es begann nun eine überirdische Zeit.

Über dem verklärten Hügellande in Lauben träumen, in Waldgängen wandeln, von sanften Höhen über beruhigte Ländlichkeiten nach den fernen, finsteren Alpenzügen der Koralpe oder nach dem urforstreichen Bachergebirge oder nach der kroatischen Grenze schauen, wo der Donatiberg in wunderlichster Form zum Himmel hinaufgriff, das füllte die Tage. Am Abend dann sangen in wehmütig gezogenen Lauten die kleinen Weinhähnlein, die Heimchen der Rebengärten, ihr zieh! zieh! – Lichtlein wandelten durch Wald- und Rebengelände, fernes, weinfrohes Singen und Jauchzen irrte in vielfachem Nachhall hold verwirrt längs der Hänge weiter, und die Windmühlen sprachen da und dort wie im Traum empor. Da saßen dann die Freunde bei der Gartenlampe, von Schmetterlingen umhuscht, und erzählten der schönen, nachdenklichen Frau, was jeder von ihnen aus seinem Leben machen wolle. Und die schöne, nachdenkliche Frau hatte das lichte, feine, klare Haupt auf eine Hand gestützt, die die viere auf den Knien hätten küssen mögen, und schaute die Sprecher an, Zug für Zug. Ei, wie bemühten sie sich da, für verzauberte Königssöhne zu gelten!

Der Herr Professor blieb beiseite. Er hatte das Werk eines verstorbenen Kollegen in zweiter, verbesserter Auflage herauszugeben, und man fand ihn fast stets bei dieser Arbeit. War er da, so sprach er nur von ihr, und die jungen Freunde, die froh waren, selbstlos sein zu dürfen, ließen das Thema niemals vom Tische fallen und brachten Herrn von Karminell auf mancherlei gute Ideen. Man kann sich denken, daß sie auf so kluge Art auch im Hausherrn den lebhaften Wunsch erregten, sie recht lange Zeit bei sich zu behalten. So rücksichtslos hatte er noch vor keiner Menschenseele sich, sein Werk und seine Ideen zum ersten Gebot machen können, und hier waren gleich drei, die nichts anderes zu hören verlangten. Nur O'Brien bog ab und neckte inzwischen Frau Else. Das war das Neueste an ihm. Sie blieb in heiterem Ernst ruhig und bemerkte für sich, daß Vetter Tom an einer leisen Eifersucht erkrankt sei. Das belustigte sie.

Wigram war nicht gekommen. Er hatte mit der Bitte abgelehnt, im Herbst in der Stadt wieder vorsprechen zu dürfen. Dieser Mensch konnte zuzeiten einfach versinken und für alle Freunde zu nichts werden. Dann kam er wieder fast täglich und nahm Anteil an allem, was man tat.

Kantilener war einen Tag in Graz gewesen und hatte seine Siebensachen geholt. Dann fuhr Bohnstock und kam wieder, und dann Helbig.

Der blieb am längsten aus, denn er hatte am schönen Frauenberge bei Leibnitz ein Stückchen Schicksal zu überstehen.

Die hübsche Liese erwartete ihn in einem Kleide von munterer Aprikosenfarbe am Bahnhof und kehrte ihm ein Antlitz entgegen, gesund und farbig wie ein Pfirsich. Helbig aber dachte mit leisem Unbehagen daran, wie wallend und farbenfein Frau Else sich gekleidet hatte. Und nun dieses Aprikosen-Eis! Die schöne, lustige Liese war eigentlich nicht im Gleichgewicht des guten Geschmackes aufgewachsen.

Amadé Helbig sagte ihr also früher und bestimmter, als er sonst getan hätte, daß er nur gekommen sei, um wieder rückzukehren. Worauf Liese ihm zuerst mit scheinbar großer Heiterkeit entgegnete: »Ach? dann geh doch recht bald.«

Den ganzen Tag war sie dann sehr höflich gegen ihn und liebenswürdig gegen andere. Da blieb er richtig noch einen Tag. Als er dann abermals ehrlich fort wollte, weinte sie in der Zeit, da sie allein beisammen waren, so stark und ungemessen, daß sie ihre Eltern, welche rote Augen an dem lebhaften Kinde nicht gewohnt waren, ernstlich besorgt ansahen und gegen den armen Amadé sehr gemessen wurden. Da blieb Amadé noch einen dritten Tag, an welchem Punkt zehn und ein viertel Uhr vormittags beide Eltern, welche doch früher ausgegangen zu sein schienen, die jungen Leute bei einer außerordentlich verschlungenen Versöhnungszeremonie ertappten. Das Auseinanderfahren der beiden arg verküßten jungen Geschöpfe fand an einer Brosche der Liese und an einem Knopfe Helbigs zerrenden Widerstand und konnte selbst einem Optimisten wie Helbig als mißlungen gelten. Der Herr Hofrat löste sogar noch die Krawattennadel des bedauernswerten Amadé aus den Haaren seiner Tochter, überreichte sie dem rechtmäßigen Besitzer und sagte in drohendem Tone: »Wir sprechen uns noch.«

Amadé Helbig schwebte ab, ohne später zu wissen, wie ihm das gelungen war.

Beim Mittagstisch, dessen Gesellschaft im Gasthause sich ohne Aufsehen nicht gut teilen ließ, herrschte Leichenmahlstimmung. Dann, als die Familie allein in der Stube zurückblieb, begann ein ernstes Verhör nach der Wurzel der Möglichkeit, welche Helbig bis zu solchem Wagnis getrieben haben könne, und ob er in der Lage sei, sowohl mit seinem kirchlichen Jawort als auch mit einem gewissen Jahreseinkommen die dem armen, anbei weinenden Geschöpf Liese widerrechtlich abgenommenen Küsse zu sühnen.

Da kam nun die von Helbig selbst noch gar nie so genau betrachtete, jetzt aber abscheuerregende Tatsache heraus, daß zwar Helbigs Einkommen zu einem Mittagessen in der ›Burg‹ und die elterliche Zulage zu einem Nachtmahle und zur Bekleidung des armen Amadé ausgereicht hatte, daß aber monatlich kaum so viel Gold des Überflusses am Grunde der Helbigschen Kasse liegen bleiben mochte, um nur zwei Meter aprikosenfarbigen Kleiderstoffes für eine junge, schöne Frau zu bezahlen.

»Und die vielen teuren Blumen?« klammerte sich die entsetzte Frau Hofrätin noch an einen letzten Strohhalm.

»Für die habe ich vier Monate lang keinen Braten gegessen,« gestand Helbig … Eine Eröffnung, welche statt gerechter Rührung den heiligsten Zorn des Hofrates hervorrief.

»Gott sei Dank, daß dieser verächtliche Leichtsinn auch noch an den Tag kommt,« rief er. »So sehen wir doch klar, daß, wenn auch Herr Helbig die Mittel gehabt hätte, die Beleidigung unserer Gastfreundschaft zu sühnen, er doch nie den sittlichen Ernst besessen hätte, diese Mittel ihrem richtigen Zwecke zuzuführen!«

Vor acht Tagen hatte er noch die rührend poetische Aufmerksamkeit des blumenreichen jungen Mannes gelobt.

Da die Hofratsfamilie nie daran gedacht hatte, daß ihre Tochter außer blühender Schönheit etwas praktische Erziehung oder Geld benötigen könnte, so zerfiel eine, wiederum von Helbig schüchtern gestellte Gegenfrage sehr schnell wie ein letztes Flämmchen.

Amadé wurde landesverwiesen, und hinter ihm drein schluchzte bitterlich die betrogene Liese. So hatte sie noch nie im Leben geweint.

Da hatte es denn Helbig leicht, zu Frau von Karminell rückzukehren, wo er in der sonnenreich tröstlichen Gegend mit dem ganzen wundervollen Gefühl des Ausgejagten und Enterbten philosophieren konnte. O'Brien half ihm dabei in angeregtester Teilnahme, und da Helbig an seinem Ausgestoßensein viel Poetisches fand, und die Nähe der anmutigsten aller Frauen der beste Balsam für unglückliche Liebe war, so gelang es dem Schicksal, daß der arme Amadé sich später gar nichts in der Welt so innig zurückwünschte als die Zeit, wo er sein süßes Weh in solche Umgebung und Landschaftlichkeit überfließen lassen konnte.

Er sang zu Spinett und Gitarre sämtliche Volkslieder von ungetreuer Liebe, von Scheiden und Meiden, und trug stets eine wehmütige Resede im Knopfloch.

Auch hatte er bald eine andere Ablenkung.

Eines Tages nämlich entschuldigte sich Frau von Karminell mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit, daß es ihr gänzlich mißlungen sei, den Besuch eines Neffen ihres Mannes abzuwenden. Und als drei Stunden nach Ankunft des Nachmittagszuges die Freunde von einer schattigen und gedankenreichen Waldwanderung zurückkamen, da fanden sie, daß das Ausklopfegerüst zu einem Reck umgestaltet war, an welchem eine im Oberteil nur mit Turnerleibchen überzogene Gestalt soeben eine elegante Riesenwelle ausführte. Dann folgte viermalige Kippe, neunmaliges Ziehklimmen und Kreuzaufzug. Auf der Reckstange sitzend, entdeckte der Turnmann die Freunde, welche ihm bewundernd zusahen, flog im schönsten Knieabschwung, den man in jenen Gegenden je erlebt hatte, zu Boden, tiefe Kniebeuge, Arme vor. Dann erhob er sich, ehe die erschrockene Frau Else herbeieilen konnte, und stellte sich den Freunden mit einem Stolze vor, wie etwa ein Gladiator des Kolosseums die Bekanntschaft von vier Nazarenern machte, die hinter dem Gitter das Signal zum Verspeistwerden durch Tiger erwarteten.

»Jurist Arbold, Burschenschaft Ostgotia.«

Der Ostgote sah aus, als ob er eben der Schlacht am Vesuv entkommen wäre; sein kühnes Antlitz war von Schmissen rastriert wie Notizpapier, und selbst das schwarze, glatte, an einen Rattler gemahnende Haar hatte lange, schäbige Stellen; Narben, über denen das schöne, glänzende Fell nicht mehr recht wachsen wollte. Man sah es ihm an, daß er wirklich etwas Weingartenruhe brauche.

Der Gladiatorenstolz des Juristen Arbold hielt den ganzen Tag vor, obwohl Frau von Karminell die vier Luftfreien mit fast demütiger Hochachtung behandelte. Am Abend nach dem sechsten Glase Wein schwand dieser Stolz nur gegen den vornehmen O'Brien gänzlich, und gegen Helbig und Kantilener insoweit, als er in ein wunderschönes Volkslied, das sie sangen, mit rassevollen Ostgotenlauten einfiel, die zur Erhaltung seiner guten Laune niemand hinwegzuflehen wagte. Gehör hatte er gar keines.

Über Nacht wuchs der abgeschmolzene Stolz wieder nach.

Als er dann am dritten Tage sah, daß keine von den vier harmonischen Seelen an seiner Ostgotenschaft zweifle und ihm jeder den Ruhm eines Turners, Muskelmannes und Rempeldegens andächtig überließ, feierte er seine Eröffnung. Merkwürdigerweise zuerst gegen Helbig. O'Brien war ihm wegen der angelsächsischen Nettigkeit und Kostbarkeit der Bekleidung eine etwas ängstliche Erscheinung; nur das Romantische des phantasievollen Tom zog ihn an. Kantilener blieb ihm rätselhaft. Nach Arbold lebte der echte Mann im Haß; ja, man konstruierte einen Feind, wo man keinen hatte. Kantilener konstruierte Liebe, wo keine war. Bohnstock schloß als Semit aus der Welt, welche Arbold duldete, von vorneherein aus. Aber Helbig! Diese verarbeitete Intelligenz, die über jegliches Ding gleich Gedanken aus dem Ärmel schüttelte. Helbig, der mit der Ruhe eines Hochöbersten über den großen Nutzen und die Schönheit des burschenschaftlichen Gedankens gesprochen hatte und bewies, wie der volle Mann etwas Roheit, Haß und Reibung brauche, um sich die starke Seele zu erhalten, der imponierte ihm.

»Warum sind Sie nicht Burschenschafter geworden?«

»Ich stehe gern allein der Welt gegenüber,« hatte Helbig gelächelt.

»Sie haben aber doch diesen Verein der Erleichterten, oder wie Sie es nennen?«

»Er besteht darin, daß jeder seinen eigenen Weg geht.«

»Sie suchen also keine Füchse?« fragte Arbold.

»Bewahre. Wer die Sehnsucht hat, fliegt mit uns, solange er sich in unserer Luftschichte halten kann. Sinkt er und ruft uns, so halten wir ihn. Will er sinken, so lassen wir ihn und trauern.«

»Was wollen Sie also, jeder für sich?«

»Uns durch das Leben nicht prellen lassen. Wir nehmen jede Stunde als Material zu einem kleinen Lebenskunstwerk. So sind wir glücklicher als andere.«

»Nehmen Sie mich einmal in die Schule. Ich bin recht unzufrieden und immer mißlaunig; möchte mir das abgewöhnen.«

Herr Arbold hatte bisher nie lernen wollen. Wie er durchs Gymnasium gekommen war, hätte ein Rätsel scheinen müssen, wenn nicht Herr Professor von Karminell sein Verwandter gewesen wäre. Von Natur darauf bedacht, sich gegen den aufgedrungenen Willen aller Obrigkeit zu stemmen, sah er den Lehrer als Feind und Gewaltherrscher an und ließ dessen Wissenschaft an sich herabrollen wie Wasser an einer Öljacke. Dabei war in seinem leer gebliebenen Herzen eine mächtige Sehnsucht nach Gedanken, nach Kunst und Wissenschaft versteckt, und namentlich zur Geschichte hatte er starke Neigung und wahrhaftes Talent. Nur von Professoren wollte er nicht lernen, sondern von Gleichgestellten, von Freunden. Bei denen fragte er eifrig nach aller Welt Gegenständen umher. Ein Glück, daß mehrere von den Hochschulprofessoren ihre Hörer als junge Freunde und Kollegen betrachteten. Diese jungherzigen, warmen Männer fühlte Arbold sehr schnell heraus und besuchte ihre Vorlesungen ohne Rücksicht, ob sie zum Jus beitrugen oder nicht. Er wollte gar nicht Doctor juris werden, sondern Kämpfer für die Kraft, Gesundheit und Herrschaft deutschen Volkstums. Von seinem Standpunkt aus betrachtet als Turn- und Fechtlehrer. Er fühlte, daß er damit seinen stolzen, wackeren Wert hatte, und die Heiligkeit dieser seiner Lebensidee ließ ihn niemals klein oder niedrig denken. Nahe betrachtet war er ein erfreulich tüchtiger Mensch, trotz seiner Scham, zu lernen.

Schon der erste Ausflug mit Helbig brachte ihn zum Aufblühen. Er stritt mit dem neuen Genossen, indem er sagte: »Kraft und Herrschaft ist alles.« – »Gerechtigkeit und Gleichgewicht ist alles,« erklärte Amadé, – und Arbold wieder bewies, wie der Hang zur Gerechtigkeit manche stolze Kraft zerspalten und geschwächt habe. Zuletzt einigten sie sich, daß es sehr gut sei, wenn bedingungslose starke Menschen in einem gewissen Prozentsatz vorhanden seien; als Hämmer zur Arbeit ihres Volkes. Arbold war stolz und froh, von diesem gescheiten Menschen anerkannt worden zu sein, und eine wahre Zugluft nach gedanklicher Verarbeitung aller Dinge wehte fortan durch sein ganzes Streben, weil es neu und prächtig war, sich an einem klugen Denker zu messen und unbesiegt zu bleiben.

Denn Helbig war viel zu gerecht, um jemals recht behalten zu wollen.

Von den weitschauenden Höhen dieses Weinberglandes ging dem Arbold dann auch die Poesie der Besiedlungshistorie auf. Helbig machte aus allem eine Geschichte. Er begann mit den helm- und schwertreichen Tumulusgräbern der unheimlich dunkeln, aus Verlegenheit keltisch genannten Vorzeit und zeigte hinüber nach Maria Rast, nach Negau, nach Groß Klein, wo solche Ablagerungen verschollenster Zeit aufgedeckt worden waren. Er schilderte den römischen Vorprall, den germanischen Rückdruck, welcher nach deutscher Weise überstark und viel zu weit über das Ziel ging. In Italien, Spanien und Afrika zerrieb sich deutsche Überkraft, und hinter ihr, in die halb geleerten Alpenländer, sickerte nachfließend wie Grundwasser das vielleicht seit urfernen Zeiten ansässige Slawenvolk empor!

Arbold schäumte vor Zorn und Schmerz. Lange Zeit wagte Helbig nicht, ihn nach den Namen seiner Vorfahren zu fragen und ihm daraus vorzurechnen, wie viel gutes, reiches, herzheißes slawisches Blut er selbst in seinen Adern haben möchte, der Ostgote Arbold!

Er wußte, Arbold würde in seinem Trotz der Forschung feind werden und lieber Steine über die offenen Furchen seiner aufgeackerten Wissensbegehr schütten, als so schmerzliche Tatsachen hinzunehmen.

Da erzählte er nun zuerst vorsichtig von deutschem Bauerntum, aus dem das beste Blut dieses Volkes, der herrliche Bürger, erwuchs. Keinem Volke wurde der Bürger so sehr dessen beste Kraft und Blüte wie dem Deutschen. Der Bauer schob seinen Pflug in die wendische Scholle ein, der Bürger grenzte sie ab. Aus römischen Trümmern wuchsen Knittelfeld, Judenburg, Graz heraus, ja mitten im Slawenlande, wo das deutsche Bauernblut im wendischen aufging, standen Cilli und Pettau; deutsche Bürgerkraft auf römischen Ruinen.

»Warum mußte sie eine Grenze finden?« rief Arbold verzweifelnd. »Gerade hier ist das Land am schönsten und fruchtbarsten!«

»Endosmose,« lächelte Helbig. »Das Blut der Völker hatte sich inzwischen gemischt und war gleich stark geworden.«

»Darum können wir sie nicht niederringen,« stöhnte Arbold. »Ihre besten Männer tragen deutsche Namen oder haben deutsche Mütter gehabt!« –

»Die unseren slawische …«

»Das also hat uns entkräftet!«

»Bereichert, Freund Arbold! Wollen wir uns und unsere Vorfahren verkleinern? Wir Deutsche und Slawen verbrauchen die schönste Kraft, die man sich wünschen kann, im Kampfe gegeneinander, und das ist ganz gut. Wozu ist sonst die Kraft nütze? Wen freut sie? Solange nur der deutsche Geist, der deutsche Gedanke und die Kultur leuchtet, solange es deutsche Bürger gibt, deren Herzen damit gefüllt sind, solange sind wir ja doch die Übermächtigen. Ein deutscher Chauvinist macht zehn slawische, aber ein deutscher Dichter zieht hundert der Besten jenes Volkes wieder zu uns.«

Und nun schilderte er ihm den erfolglosen, verzweifelten Kampf des edel begabten Semljaritsch gegen die berauschende Fülle deutscher Kultur: »Die Besten dieses Nachbarvolkes ertrinken in dem Übermaß deutscher Schönheit und Geistesreiche. Überschüttet, beschenkt, groß nur durch fremde Größe bleiben sie Beschämte und Trauernde über ihr eigenes Volk, denn all ihre Kraft ist die unserige. Der deutsche Bauer germanisiert nicht mehr den slawischen; o nein. Aber der deutsche Dichter und Denker füllt die besten Slawenkräfte mit deutschen Gedanken, so daß sie kaum mehr das bißchen Sprache haben, das sie von uns scheidet. So oft sich unser slawischer Freund zur Größe erheben will, – er muß stets ein deutsches Buch ergreifen, oder deutsche Musik hören. So oft er einsam des eigenen Geistes sich freuen will, – er muß auf den Grundlagen deutscher Denker weiterbauen. Es ist geradezu ein Kriterium für die edle Natur des Fremdsprachigen aus kulturarmer Nation, daß er, wenngleich mit Zorn und Scham, unwiderstehlich in die gewaltige Begriffswelt des tiefangelegten Nachbarvolkes gezogen wird.

Und darum, Freund Arbold, sollten Sie auch dem jungen Bohnstock Ihre Hand nicht verweigern. Wer liebt, dem soll man es danken. Sie wünschen sich, ein befreiter Mensch mit uns zu werden; das haben Sie mir gestanden. Er nun möchte wieder sein, was Sie bisher waren, fanatisch deutsch. Helfen doch auch Sie ihm dabei. Ich kann Ihnen freilich nicht meine Überzeugung geben, daß ich die Juden für Deutschlands und Österreichs Nutzen halte; sie geben unserem Volk Empfindlichkeit, Nerven und Widerspruchsgeist; sie sind das Sicherheitsventil der Freiheit, weil sie viel nervöser auf Druck reagieren als wir. Der große deutsche Volkskessel ließe sich ohne sie gefühllos überheizen, um dann zu platzen.«

»Sie erlaubten dieser Welt, zu gedeihen wie ein Brachfeld,« murrte Arbold. »Alles gedeihen lassen, alles blühen lassen, zeitigt mehr Unkraut als Kraut.«

»Es scheint mir,« verteidigte sich Helbig, »daß unseres Herrgotts größte Weisheit darin besteht, die Welt eben als Brachfeld ihr eigenes Gleichgewicht suchen zu lassen. Ich möchte gerne sein richtiges Kind sein. Nicht zum Bessermachen, zum Schauen und Denken bin ich da:

So seh ich in allem die göttliche Zier
Und wie mir's gefallen, gefall' ich auch mir.«

»Wer sagt so?« fragte Arbold.

»Goethe in seinem Türmerlied.«

»Das war auch kein Deutscher.«

»Oder der ausgesprochenste,« murmelte Helbig halb für sich: »Mir scheint es als das eigenartigste und vielleicht wahrhaft Große am Deutschen, daß er an sein Volkstum wenig denkt. Als Sachse ist er Engländer, als Longobarde Italiener, als Westgote Spanier, als Franke Franzose geworden. Ist es nicht das stolzeste Wunder, daß unser Volk zum heiligen Samenbehältnis aller Nationen ausersehen war? Wenn die Welt ausstürbe bis auf ein Volk, keines vermöchte sie so bunt und vielfarbig wieder zu bevölkern wie das deutsche. Alle anderen würden den großen, mechanischen Bienenstaat gründen; der Deutsche nur erzeugte die kämpfende, parteiungsfrohe Welt, in der zu schlagen, zu hassen und zu herrschen Ihnen, Freund Arbold, so viel Lust macht. Der ewige Hader dieses Volkes beweist nur seine überschäumende Innenkraft.«

»Wie kann man sich nur so außerhalb seines Stammes stellen,« kopfschüttelte Arbold. »Und doch haben Sie leider recht; ich muß mir Ihren Ausspruch als Warnung merken: Undeutsch werden zu können ist eines der eigentümlichsten Kennzeichen des Deutschtumes.«

Für diesen Tag blieb Arbold schweigsam, mürrisch und zwiespältig. »So oft ich mich mit diesem Zeugs von Gedanken abgebe,« schalt er, »habe ich nichts als Gärung gewonnen; man sollte Gedanken stets verscheuchen. Der Starke soll nicht denken; denken macht Splitter aus einem Block.«

Am Abend reichte er aber dennoch dem armen Bohnstock zum ersten Male die Hand, und zwar mit einem verlegenen Heilô und einem Kraftmeierdruck, daß dem guten Bomsel vor Schmerz und froher Überraschung zu gewichtsgleichen Teilen die Tränen in die Augen traten.

Arbold hatte Angst bekommen, daß Bohnstock mit Übergehung deutschen Volkstums in die Weltengleichgültigkeit Helbigs einschwenken könne. Da schmeichelte ihm doch lieber die Werbung um die eine, geliebte Nation. – – – – – – – – –

Von allen Freunden hatte es niemand geschäftiger zwischen Graz und dem Weingarten hin und her als O'Brien. Gegen die schöne Frau wurde er eine Zeitlang immer stiller, immer anschauender. Dann grübelte er jeder ihrer Bewegungen nach und studierte mit brennenden Augen die Neigung ihres Kopfes nach dem blondflaumigen, warmklugen Antlitz Kantileners, das ins Dunkel schauende Lauschen, wenn er sprach, die Wärme ihres Stimmtons, wenn sie fast nach jeder Besprechung den armen, lichterloh brennenden Othmar um seine Stellungnahme fragte: Nun, und Sie?

Es ließ ihm keine Ruhe.

So lange Frau von Karminell niemand gehörte, so lange bemerkte er kaum, daß man solchen Goldschatz begehren könnte. Nun, da die Angst kam, sie könne sich an einen von den Freunden verlieren, stieg in ihm der große Schreck auf, wie schön sie doch sei! Er begehrte nach ihr, erst, ohne es noch zu ahnen, dann immer bewußter. Zuletzt fraß sie ihm wie Gift im Blute. Diese Frau, die ihm einst so lustig, so außer allen Sinnen und geistig schien, war ihm zum Weibe geraten.

Er träumte von ihr, er stöhnte nach ihr, er schrie vor Reue, daß er so lange Zeit geprellt neben ihrer Schönheit Blindekuh gespielt hatte.

Die unreine Natur des Zugreifens, Besitzenwollens war ohnehin schon in den wenigen Monaten – seit Don Juan, wie ein großer Heuschreckenfraß über seine ganze Gedankenwelt geschauert. Er war ein schwer Bedrückter geworden, Brandplatz seiner eigenen Sinne, die bilderreiche Seele verwüstet vom Krieg der Wünsche!

Frau Else wehrte sein dumpfes Anstaunen nur freundlich ab oder fragte mahnend, was er habe. Sagen wollte er nichts, aus Sorge, alles zu verderben. Sie nun ahnte wohl Sinnlichkeit, schob es aber auf das Grazer Abenteuer mit dem Mädchen am Gries und warnte ihn freundlich, sich nicht so roh aufzuzehren. Daß sie über solche Dinge nur hinstrich, war dann jedesmal ein ganzer Arm voll Brandfackeln in seine Glut; es stachelte ihn entsetzlich auf, daß sie derlei kannte.

Dann fuhr er fort nach Graz und vergeudete sich dort, wo er konnte, wahllos und blind greifend. Dumpf im Hirn, schwül im Blut und stets nur unreiner kam er dann wieder zurück.

Diese reine, frische Ländlichkeit wurde ihm unerträglich. Er wollte Frau Else wieder mitten in den verführenden Stimmen der Stadtkultur haben. Und da er wußte, wie lieb es ihr war, wenn er die Welt recht romantisch sah, so schilderte er ihr die Stadt mit Geigen- und Harfentönen.

»Graz am Beginn des September! Am Jakominiplatz liegen Berge von duftenden Melonen; die habt ihr hier nicht. Sie sind so spätsommerlich, so überreif, so kostbar. Und die Stadt hat ihre verträumten Augen wach aufgetan.

Am Abend die Straßen wie hell, wie voll, wie gesprächig, wie neu! Ich ging am Theater vorbei. Zwölf Reihen tief standen sie, um die Namen der neuen Schauspieler zu lesen, zwölf fiebernde Reihen!«

Bohnstock unterstützte O'Brien gegen seinen Willen mit der Nachricht: »Ich habe heute einen Brief des Direktors bekommen, der mich dringend zu den Proben der Meistersinger und Tristans ruft.«

»Meistersinger und Tristan,« rief Frau Else, wie aus einem Traum erwachend, erhob sich von ihrem Sitz und sah in Verwirrung nach der Uhr, als empfände sie, daß viel Zeit vergangen sei.

O'Brien griff wieder ein. »Sie bereiten große Dinge in der Kunst. Warum lest ihr nicht die Zeitung? Die ganze Stadt ist in Gärung; neue Schauspieler, neue Sänger, neuer Spielplan.«

Frau Else ging schon leise erregt hin und her.

»Weiß Gott,« fuhr O'Brien fort, »wir werden viel zu urteilen, zu fördern, viel zu beleben und viel zu Tode zu höhnen haben. Eine große Zeit bricht an. Die Freunde sind auch schon in Graz; alle, alle. Liesegang und Petelin überlegen die Gründung eines großen Kulturvereines: Neue Menschen!«

Der Pfeil war auf Kantilener gezielt und saß ebenfalls.


Nach drei Tagen war der Karminellsche Weingarten verödet und verlassen. Die süßen, schweren Trauben reiften für Drosseln und Winzerbuben, und wehmütig gingen die Klappermühlen, die lieben Windgeister, in der reinen, leise wehenden Herbstluft; sie mahlten ihre trauten Töne für keine Entzückten mehr. An den Geländen irrte der Widerhall weiter und verlor sich; das Reblaub wurde vor geschlossenen, grünen Fensterladen rot, die Weinlese des jungen Landvolkes jubelte an einem toten Hause vorbei.

Die schöne Frau war fort.

In die geliebte Erregung der abendbeleuchteten, geräuschigen Stadt war sie hineingefahren, mit O'Brien und Kantilener in einem Wagen, die still und glühend bei ihr saßen: In Erwartung, in Erwartung!

Frau Else zitterte nach der Stadt, und als sie dort war, scheute sie den sonnenheißen Gang zum Theater nicht, weil ihr Bohnstock gesagt hatte, um zwei Uhr sei Probe für die Meistersinger. Da stand sie hinter dem Gebäude in der Alleegasse und hörte mit klopfendem Herzen, wie die Trompeten drinnen sieben- und achtmal die prächtige Fanfare des Vorspiels wiederholten, und wie der Kapellmeister schalt, obgleich es schon sehr schön gelungen war.

O'Brien stand neben ihr und verschlang mit blutumpochten Augen ihre schlanke Gestalt.

Er kannte nur mehr sie; nur sie!

Mit dem armen Röslein hatte er Unglück gehabt; sie hatte ihm vorgeweint, daß ihr Verhältnis Folgen haben würde.

»Ich verschaff' dir einen Mann,« hatte er ungestüm gerufen. Und dieser merkwürdige Mensch suchte abends von neun bis zwölf, namentlich Samstags, alle kleinen Kneipen der ganzen Stadt ab. Wo er ein stilles, kluges Männergesicht sah, da setzte er sich hin und begann vom Geschäft zu reden, bis er herausbekommen hatte, ob's etwa ein Gesell sei, der sich ein eigenes Hauswesen gründen wolle und eine Frau mit Anlagekapital brauche.

Er kündigte das arme Röslein in den Zeitungen an und prüfte und wählte, während er unter dem Vorwand, Schulden zu haben, von seinen reichen Eltern eine für den jungen Menschen recht erhebliche Summe herauslockte. Die Heiratskandidaten bestellte er ins Café und machte einen nach dem anderen mit Rose bekannt.

Die wollte zuerst lange nichts davon wissen und lieber ihren Tom zum Liebsten als einen Faßbinder, einen Gipsfigurengießer, einen Anstreicher oder einen Tischler zum Mann bekommen, welche vier Gewerbe O'Brien anmarschieren ließ. Zuletzt versuchte er es mit einem Kellner; Rosel war inzwischen immer gefährlicher an die süße, schwere Zeit der Weibsernte geraten und mußte an Unterschlupf denken. Auch siegte die Klugheit der Kellnerin und die lockende Aussicht, selbst ein kleines Kaffeehaus am Gries zu halten. O'Brien mietete einen wunderschönen gewölbten Laden, aus dem ein Seiler heraus mußte, erwarb die Lizenz, richtete alles mit dem erfreuten Kellner vom Sandwirtshaus ein, der noch nicht einmal Oberkellner geworden war und nun gleich Herr sein sollte, und überzeugte sich als Brautführer selbst von der Richtigkeit der vollzogenen Trauung, de dato Graz, am 16. Dezember 1895.

Er hatte alles mit englisch prompter Geschäftsklugheit fertig gemacht; nur der Thronerbe des neuen Volkscafés wurde erst am dritten Mai nächsten Jahres nachgeliefert und nach seinem Taufpaten Thomas genannt. Wegen seiner raschen Ankunft hieß er bei den Gästen der unglaubliche Thomas. Im übrigen hatte die ganze Unmoral wieder einmal viel Glück gehabt.

Sogar für O'Brien. Der neue Sport, die höchst anregende Suche nach einem Mann für die Geliebte, die humoristische Menschenkenntnis, welche dabei für den gutgelaunten Freiwerber abfiel, das Neue einer Geschäftseinrichtung, die O'Brien bei allen Trödlern recht kostbar altertümlich besorgte –, zur Verzweiflung des Sandwirtkellners, der nur neue Möbel, und zwar moderne, haben wollte –, all das lenkte ihn doch ein wenig von seiner in Sinnesverwirrung umgeschlagenen Leidenschaft für die schlanke Frau Else ab.

Er erzählte ihr alles, und sie lachte und lachte, daß ihr die schönen Schultern zitterten.

»Wo waren Sie heute?«

»Beim Trödler Hirschl in der Reitschulgasse.«

»Was haben Sie gekauft?«

»Eine Schwarzwälderuhr. Der Viertelstundenschlag in Tenor, der Stundenschlag in sonorem Bariton. Sehr großväterlich, mit Fliegenschmatzen und Wurmstichen.«

»Und dann?«

»Dann war ich in der Schörgelgasse, eine Gitarre kaufen; so eine darf in einer Vorstadtwirtschaft niemals fehlen. Dann in der Bürgergasse einen alabasternen Schiller mit Gipsnase, – denken Sie sich, nur achtzig Kreuzer, weil er auch mit Tinte begossen war! – Dann in der Hans Sachs-Gasse einen alten Sekretär! Für ihn, für seine Geschäftsbücher und Banknoten!«

»Nimmt denn nicht sie das Geld ein?«

»Sie teilen. Sie tut es, solange die Gäste nüchtern sind, und er, wenn sie angeregt sind. Denn erstens kann er sie da besser behandeln, und zweitens möchte er Zärtlichkeiten von seiner Frau abwenden, da er den Zweitgeborenen diesmal selbst – – –«

»Lassen wir das,« sagte Frau von Karminell lachend und schob den Kopf leicht in den Nacken, als wollte sie etwas wegrücken. Die Bewegung sah reizend, leichtsinnig aus, O'Brien betrachtete sie mit Entzücken, und vergaß darüber, was er hatte sagen wollen.

»Also der Schreibschrank,« schnurrte Frau Else lachend. »Welcher Stil?«

»Empire. Schöne Beschläge; der hat sogar den Sandwirt-Jean über die Schwarzwälderuhr und den Schiller hinweggetröstet.«

»Was machen Sie morgen?«

»Morgen hat Jean frei. Ich gehe mit ihm Tischtücher kaufen. Da kann er am Stil nicht viel verderben und darf selber wählen. Er hat sich heute vor Freude viermal verrechnet.«

»Zu seinen Ungunsten?« erkundigte sich teilnehmend Frau Else.

»Freilich. Das andere gilt ihm nicht als Verrechnen. Er ist aber ein famoser Kerl. Voll Ehrgeiz, dabei voll Zärtlichkeit. Er nimmt sie wirklich aus einer, nur dem gesunden Volk möglichen Mischung von Liebe und Klugheit. Bei uns ist die Liebe stets unklug und die Klugheit lieblos.«

Frau Else sah blitzartig auf. »Halten Sie mich für klug?« fragte sie.

»Für sehr,« entgegnete er melancholisch.

»Jedenfalls für zu klug, um zu lieben, das ist wahr,« sagte sie nachdenklich.

O'Brien verabschiedete sich mit schwerem Herzen. Noch war nichts bei ihr gewonnen, nicht einmal durch seinen originellen Heiratshandel. Er ging kopfhängerisch über die Straße und überlegte, ob er es mit einer neuen Tracht versuchen solle? Etwa das Antlitz glattrasiert und über den Ohren gedrehte Locken, so daß er auch ohne Zopf von vorne dem jungen Goethe ähnlich sah. Denn Frau Else hätte sich in den jungen Goethe verliebt, hatte sie einmal gesagt.

Ach was! tröstete er sich dann. Sie sagt mit Recht, sie sei zu klug, um zu lieben. Also liebt sie auch keinen anderen. Jubilate! Nur keinen anderen! Ich ging ins Wasser, oder zum Militär, wie der Dusle im Volkslied!

Halt! Das war wieder eine neue Idee. Wenn er zum Militär ginge? Die Mediziner rücken ja im Frühjahr ein, zum ersten Halbjahr.

O'Brien hatte wieder einen neuen Traum. –

Auch war er in das Haus des Hofrates Melander gekommen, wo er verhinderte, daß Liese ferner zu Frau von Karminell gelassen wurde, da das Wiedersehen mit Helbig stets eine unverbesserliche Wunde aufriß. Er setzte sich in Helbigs Nest mit der Natürlichkeit eines Kuckucks zurecht und verdarb mit ganz denselben Schwerenötereien, über die Frau Else nur lachte und lachte, an der lustigen Liese das bißchen vorsichtige Erziehung, das sie bisher noch vor endgültigem Kalfaktern geschützt hatte.

Eines schönen Herbstabends ging sie aus lauter Aberteuerlust heimlich mit dem romantischen Tom auf eine Weinlesefeier in ein Baierdorfer Gasthaus, wo sie sich aber dann dennoch gegen die Sturmversuche O'Briens in guter Laune brav hielt.

»Sie müssen mich nur richtig verstehen,« sagte sie zu O'Brien. »Schlecht werde ich sein, wann es mir beliebt. Einstweilen beliebt es mir nur, Ihre lustige Welt genau kennen zu lernen. Sie ist sehr amüsant. Ich danke herzlichst, wirklich herzlichst. Fahren wir nur schnell zurück; Papa glaubt mir's sicher schon nicht mehr, daß ich so lange bei der Linde Urban war.«

Und dabei blieb es. Bei der Rückfahrt versuchte O'Brien, Liese mit der schönen Linde eifersüchtig zu machen.

»Wann werden Sie doch endlich die arme Linde heiraten?« fragte Liese harmlos zurück.

»Herrgott! Heir – – –?«

»Ja, heiraten,« sagte Liese freundlich. »Das arme Ding liebt Sie recht ernstlich. Sie waren jetzt ein volles Vierteljahr nicht dort, und sie sitzt und träumt und baut ein zweistöckiges Familienhaus auf Sie. Gehen Sie doch wieder einmal hin!«

O'Brien hatte eine lustige Idee. »Machen wir zu dritt einen Ausflug,« bat er. »Welch heitere Kombination wäre das doch; Sie lieben den Amadé, ich liebe Sie, und Linde mich. Wir werden also hintereinander marschieren; was?«

»Einverstanden, wenn Amadé vorausgeht,« lachte Liese.

Da war vorläufig nichts zu machen. Aber vielleicht gelang es ihm, Helbig an Liese verzweifeln zu machen; das Mädchen fiel ihm dann schon aus Trotz in die Arme.

»Ich werde Amadé einladen und mich mit der Rolle des Elefanten zufrieden geben, für einen Kuß,« sagte er.

Die entzückte Liese gab ihm gleich einen als Abschlagszahlung. Dann schieden die leichtsinnigen Geschöpfe.

»Hallo; nun zum Amadé,« sagte sich O'Brien. Und er suchte Helbig auf, in dessen Stube.

»Armer Amadé,« so trat er ein.

»Jawohl, armer Amadé,« sagte Helbig. »Ich habe alle Aussichten, im Winter noch als Doctor juris nach Wien – und wohin, glaubst du? – ins Eisenbahnministerium zu kommen.«

»Pfui Teufel!« rief O'Brien. »Ein guter Posten also; wohl den Herrn Eltern zuliebe?«

»Ja.«

»Wenn das die arme Hofrat-Liese früher gewußt hätte, daß sie noch Hoffnung auf dich hätte! Sie hätte mich nie geküßt!«

»Sie hat dich … – – –?« Helbig wurde blaß. –

»Herrgott, hast du's denn immer noch nicht überwunden?« fragte O'Brien ganz erschrocken.

»Ich werde es dann verwunden haben, wenn das wahr ist, was du gesagt hast,« versicherte Helbig.

»Mein Gott, ich bin eben nicht so skrupelhaft wie du! Warum hast du nicht anderswie zugegriffen? Hält der um ihre Hand an, statt um ihre Freigebigkeit! Das ist eine reife Frucht, mein Lieber. Soll ich auch warten, bis sie mir ein anderer wegkostet?«

»O, o!« stöhnte Helbig. »Und ich habe sie geschont!«

»Ich bisher auch,« versicherte ihn O'Brien. »Ich war von der Rosel her zu verschreckt. Aber seit sie gestern mit mir in Baierdorf beim Weinleserummel war, dacht' ich mir: bin's nicht ich, ist's ein anderer!«

»Also, so weit ist es gediehen.« Helbig rannte im Zimmer auf und ab. »Du hast ja nur recht, Tom! Nur recht!«

»Glaubst du, könnten wir sie nicht teilen?« fragte O'Brien in einer gerührten Anwandlung von Gutmütigkeit.

»O! O!« schrie Helbig in grimmiger Freude auf. »Verdienen würde sie's.«

»Und 's wär' ein Hauptspaß, Amadé. Noch nie dagewesen! Sie wird uns voreinander verheimlichen, und wir tanzen vor Vergnügen, wenn wir uns erzählen, – wie sie uns einen mit dem anderen betrügt.«

Dem sonst nicht weiberscheuen Helbig schwindelte ob der grenzenlosen Leichtfertigkeit des guten Tom.

»Das ist ja doch zu toll,« stieß er aufgeregt heraus. »Hör auf damit. Wir würden uns obendrein vor Eifersucht erwürgen. Ich für mein Teil hätte schon jetzt Lust dazu.«

»Ich nicht,« gestand O'Brien vergnügt. »Eigentlich liebe ich eine andere. – – – Um dieser willen könnte ich wohl morden!« fuhr ihm plötzlich die alte Leidenschaft wie eine Feuergarbe heraus. – – –

Und nun rannte er ebenfalls auf und ab, um sich zu beruhigen.

»Laß mir die Liese, und ich helfe dir bei deinem Handel,« zischte Helbig. Ihm war O'Briens Frevelmut ins Blut geschossen.

»Aber Freund! Spatz in der Hand! Spatz in der Hand!« mahnte O'Brien. »Wir geben uns das Ehrenwort, aufrichtig gegeneinander zu sein, und teilen. Wird einer tobsüchtig dabei, so warnt er den anderen vorher, und der hat zurückzutreten. Das werde ich tun, ich verspreche es dir. Aber mehr kannst du nicht verlangen. Also abgemacht: wir halbieren sie?«

»Ich kann in den Gedanken noch nicht hinein,« ächzte Helbig. »Mir ist er zu eng. Laß mir eine Nacht zum Ausrasen.«

»Morgen kannst du sie auf der Ries beim dritten Fuchswirt mit mir treffen,« neckte O'Brien. »Und entschließe dich. Halb oder gar nicht. Herrgott, ich bin doch ein so guter Kerl! Ursprünglich wollte ich dich vollkommen ausstechen, Amadé; wirklich! Aber ich habe dich schrecklich lieb, und du bist ein so reinlicher, netter Kerl, daß ich sogar dasselbe Handtuch mit dir haben könnte … Und dann ist es doch hochromantisch! Was?«

»Laß mich nur heute in Ruhe,« schrie Helbig und schob den seltsamen Freund zur Tür hinaus. O'Brien sang entzückt über seine neue Idee die Stiegen hinab.

Drinnen rannte Helbig auf und ab, bis ihm schwindelte. Sein Blut sott wie dickes Öl, die Schläfen klopften: Greif zu! Greif zu!

Er hörte deutlich Lieses Stimme und ihren Wahlspruch: Ach was!

Da schrie und weinte er auf der Folter der Versuchung. Der leibhaftige Teufel war bei ihm gewesen!


Am anderen Tage war glatte See über seinem Denken. Wie's kommt, so kommt's, nahm er sich vor. Er wollte gar nichts von vornherein planen und festsetzen wie O'Brien. Das Schicksal macht sich ohnehin von selbst. Vor allem wollte er selbst sehen, wie die Sache mit O'Brien und Liese stünde, und nachmittags ging er auf die Ries.

Die Liese Melander hatte den Eltern gesagt, daß sie nochmal zu Urban müsse. Ob die Eltern nicht einmal mitwollten? Sie wußte, daß der Herr Hofrat das amtlich ungeaichte Heilsystem als eine Art Anarchie verachtete und es Urban nicht verzeihen konnte, daß er mit seinem Doktorgrad diesem Unkraut im Garten der Medizin eine Art von gesetzlicher Gutheißung gab. Und Frau Hofrätin stellte sich diese Leute als in einem Aquarium wohnend vor. Das kalte Wasser aber scheute sie wie ein Bauernspitz.

Natürlich ging Liese allein zu Urban.

Sie hatte diesmal wirklich reizende Toilette gemacht. Ein Hut mit Astern und Reseden, weil das so zur Herbststimmung gehörte, und eine smaragdgrüne Samtbluse mit Goldputz, die zu ihrer frischen Hautfarbe trefflich stand. Ihre Züge waren durch das bißchen Schmerz um Helbig zarter geworden, die fein gebogene Nase, die sich so leicht rümpfte, sah beinahe adelig aus, und die vollen Lippen hatten einen wehmütigen Zug bekommen, der zu den unruhigen, lachenden Augen allerliebst stand. Sie war dunkelblond und von der schönen Fülle, welche sich zu dieser Farbe so leicht findet.

Als sie aus der Merangasse in die noch reichlich mit Altgrazer Motiven geschmückte Leonhardstraße einbog, erwartete sie O'Brien, ganz an einen Gartenzaun geschmiegt, so daß sie beinahe an ihm vorbeigegangen wäre. Er hatte geglaubt, heute müßten die Eltern mißtrauisch geworden sein. Aber niemand verstand es besser, Mißtrauen, auf das sie sich von je bereiten gelernt hatte, zu verflüchtigen, als Liese.

Nun gingen sie durch die Gärten der Leonhardvorstadt nach der Ries. Liese sah mit großer Lebhaftigkeit um sich, aber Helbig zeigte sich nicht.

O'Brien wußte nicht genau, ob er kommen werde. Er hatte vormittag für das Volkscafé Tischwäsche kaufen müssen und konnte nicht mehr nachfragen. So beschloß er, wenigstens Linde mitzunehmen und beide Mädchen aufeinander eifersüchtig zu machen; ein lustiger Tag sollte heut um jeden Preis gelingen.

Linde wurde blaß, als sie O'Brien mit Liese allein kommen sah. »Ich gehe mit Herrn nicht allein spazieren,« erwiderte sie auf Lieses Einladung.

»Aber ich bin doch zur Aufsicht da,« lachte Liese.

»Du kannst dich selbst nicht beaufsichtigen.«

»Es ist wahr; ich habe keine Alte-Tanten-Natur.«

»Und ich keine Flatterhaftigkeit.«

»Was nicht flattert, bleibt sitzen.«

Davor hatte nun Linde große Angst. Auch überlegte sie, daß sie ja der leichtsinnigen Melander nur Freude mache, wenn sie O'Brien mit ihr allein ließ. Sie sagte also, was das Sitzenbleiben beträfe, so werde man ja in einigen Jahren darüber weitersprechen können, und willigte in den Spaziergang ein.

O'Brien war mit freudigem Antlitz dabeigestanden, als die Mädchen zu streiten begannen. Er hatte sich vorgenommen, es bis zur Rauferei kommen zu lassen, und sie dann beide zu küssen, was er sich als von sehr beschwichtigender Wirkung dachte. Dann wollte er ihnen in bezug auf seine Person einen ähnlichen Vorschlag machen wie gestern dem armen Helbig, und ihnen die Geschichte vom Grafen Gleichen erzählen. Natürlich wußte er, daß Liese gelacht und Linde ihn am liebsten in Stücke zerrissen hätte; aber er hatte sich vorgenommen, von Linde seinen Laufpaß zu verdienen. Das hätte nun auf solche heitere Weise geschehen sollen. Aber die beiden hatten inzwischen schon sein prächtiges Vorhaben durch ihre unzeitige Versöhnung verdorben.

»Wer hätte das gedacht,« murmelte er, als die beiden sich in süßester Freundschaft unter den Armen faßten, ihm Sonnenschirme und Jacken anhängten und vorangingen. »O Weiber, Weiber! Die Liese, der Schlaumeier! Da hat sie die arme Linde nur um den Leib genommen, um herauszukriegen, ob das Naturarztentöchterlein ein Mieder trägt. Mein Gott, da hätte sie doch nur bloß mich fragen sollen.«

Die Mädchen schwätzten von der neuen Herbstmode, von dem Garnisonswechsel, vom neuen Tenor. O'Brien versuchte, sie immer wieder frisch in Streit zu bringen, aber sie merkten es und nannten ihn den ganzen Nachmittag statt: du, Tom, – Sie, Herr O'Brien.

Und um sie lag eine Landschaft, daß der Schauende sich zerteilen hätte mögen, wie eine helle Wolke sich im blauen Himmel auflöst, um nur allgegenwärtig zu sein. Sie sahen nichts davon.

Beim dritten Fuchswirt, – es gibt tatsächlich auch einen ersten und zweiten, die wie alle Rieswirtshäuser reizend gelegen sind, – ganz oben auf waldiger Berghöh, setzten sie sich ins Grüne und schauten zum erstenmal vergnügt umher.

»Der Herbst,« sagte O'Brien. »Der Onkel Oktober mit Jagdgewehr und Weinglas! Herr, was der bunt zu kolorieren versteht. Das ist wahrlich ein Farbenkasten.«

»Ich sehe nur rot und gelb,« suchte Linde umher.

»Und das Ultramarin der fernen Bergwälder? Und der silberne Duft der Ebene?« fragte eine freundlich traurige Stimme hinter ihnen.

»Mein Gott, der Amadé,« fuhr Liese empor. Sie hatte gänzlich die Fassung verloren und lachte und weinte in einem Aufschrei.

»Daß du nur wieder da bist, lieber Bub,« jubelte sie dann, nahm ihn, ohne sich um O'Brien, Linde und Kellnerin zu kümmern, mit einem Arm, von dem der Ärmel zurückstreifte, um den Hals, mit der anderen Hand unterm Kinn und gab ihm einen Kuß, den Helbig, ganz geschreckt, gar nicht erwiderte. Ganz still hielt er; es war zu schön!

»Na also,« sagte O'Brien, »das ist wieder etwas, was die schöne Linde nicht kann.«

»O doch,« erwiderte die bestürzte Linde, und O'Brien war viel zu flink, um sie zur Besinnung kommen zu lassen. Schnell holte er sich auch einen Kuß; böse Beispiele verdarben gute Sitten. Dann lachten alle errötend.

»Das sind schöne Geschichten, was?« fragte O'Brien die mitlachende Kellnerin. »Nur schnell den Wein, der zu Herbst und Kuß gehört. Haben Sie Tafelobst? Nein? Schade! Aber noch einige späte Rosen? Her damit. Wir wollen uns bekränzen.«

O'Brien fügte sich überraschend schnell in die neue Situation. Vollrat hatte ihm einmal gesagt: »Ich habe nie einen Menschen gekannt, bei dem jene Gehirnplasma, deren Spaltungsunfähigkeit Konservativität genannt wird, sich so leicht zu teilen vermögen wie bei dir. Dir paßt jede Neuigkeit sogleich, als ob sie Gewohnheit wäre.«

»Das macht mein Glück aus,« hatte O'Brien gesagt.

Auch jetzt ärgerte ihn der Streich der leichtsinnigen Liese gar nicht. Katzenschnell drehte er sich in die neue Stimmung und riß die arme Linde mit sich fort. Und wo das böse Beispiel Linde nicht angesteckt hatte, dort tat es die Lust, eine schöne, gefährliche Nebenbuhlerin auf so erfreuliche und liebenswürdige Weise an einen anderen abgestreift zu sehen. Sie hatte erkennen gelernt, wie unwiderstehlich ein wenig Leichtfertigkeit die Männer betört, und wollte es einmal, nur einmal, auch damit versuchen! Dazu kam dann der Wein, und der Wein war gut, und Linde war seine Wirkung gar nicht gewohnt, als Doktor Urbans Tochter.

Als die ganze Gegend in Gold und Rosen brannte, und die Sonne ihren letzten Vorrat von Licht an alle Wolken verküßte, jubilierte geradezu ein kleiner Bacchuszug von der Ries zu Tal.

O'Brien und Linde verloren sich links, Helbig und Liese rechts in den Wald. O'Brien sang Linde das Lied des teuren Herrn Walther von der Vogelweide:

»Unter der linden
an der heiden
wo unser zweier bette was,«

und sang so schön, daß der Herbstwald horchte und das »Tandaradei« jubelnd bis fast nach Sankt Peter weitergab. So schön, daß Linde ganz verzaubert wurde. Sie sank in unbeschreiblicher Losgebundenheit von ihrem bisherigen Sein unter einem herbstgoldenen Baum an seine Brust. Alles an ihr war aufgelöst: Haar, Kleider, Herbheit, Jungfräulichkeit, und sie erlaubte ihrem bösen Jungen, was er wollte! Das Genie des Leichtsinnes hatte sie verführt, zu schenken, zu schenken! …

Nimm, was du kannst; Weinlesezeit!


Hätte etwas noch schlimmer sein können als die Geschichte unter dem Goldbaum, so wäre es das mit Helbig und Liese gewesen. Denn die waren mit den verschwiegenen Winkeln des Rehwildes, mit dem schluchzenden Aufjauchzen einer Minute nicht zufrieden. Mit brennenden Wangen jagten sie gegen die Stadt, und während sich Linde schon betäubt, von süßen und quälenden Gedanken geplagt, zu Hause aufs Bett warf, um nach einem Totenschlaf sich entsetzt als die alte zu finden, welche getan hatte, was sie nimmermehr zu tun schwur, während Linde O'Brien fortan fürchtete und mied wie den Satan und ihn nie mehr in ihre Nähe kommen ließ, während dieser Zeit versprach Liese dem geliebten Amadé eine ganze, lange Nacht.

Sie eilte nach Hause, um bei den Eltern kein Mißtrauen zu erwecken, brachte den ganzen Abend fünfzig Tollheiten und Albernheiten vor und ließ die Alten so lange nicht aus dem Lachen kommen, bis diese herzlich schläfrig und müde waren.

Um Mitternacht dann stand Helbig fröstelnd vor Aufregung gegenüber dem Haustor, in die Türnische eines herbstduftenden Gartens geschmiegt. Eine Haselmaus piepte über ihm in der Nußstaude, ein Wagen rollte, die Uhren schlugen alle aus, durcheinander, nacheinander, zwölf Uhr.

Kommt sie? Kann sie? Will sie?

Nur die Blätter rieselten im Garten leise zu Boden.

Dann … da klang ein Schlüssel. Geht das Haustor auf? Täuschen die Augen? Die Straßenlaterne war weit fort, und doch!

Er schlich zum Haustor. Schmal stand es offen, und ein Graues guckte heraus.

»Amadé?«

Sie war es. Wie ein Dienstmädchen hatte sie sich gekleidet, wie eine Nachtmotte. In ein Himalajatuch gewickelt. Keine Hausmeisterin hätte das unforme Ding für ein blühend heißes Mädchen gehalten.

Aber der Kern, der Kern war süß!

Die Leidenschaft der beiden dauerte durch den ganzen Winter. Jede Woche fast stand er bebend vor Frost und Erregung in der Gasse, um das schöne Mädchen zu erwarten, das er so oft im Ballsaal umbetet, beneidet, glänzend vor Liebenswürdigkeit gegen alle, sehen mußte. Alle hofften auf sie, keinen wies sie ohne Hoffnung ab; er aber, er besaß sie allein. Die unbändige Not der Trennung hatte ihn so weit getrieben, zu nehmen, was zu nehmen da war.

Noch im März hatte er sie oft bei sich in der Studentenstube, und wenn er sie zurückbrachte, sangen schon die Amseln im tiefen, feuchten Morgengrau. Aber die Liese war den ganzen Winter gefallsüchtig gewesen und dachte an andere neben ihm.

Und er, er sehnte sich bald wieder nach Reinheit.

Dann, vor Ende des März war Abschied. Er mußte nach Wien.

Liese weinte viel, aber sie hatte für reichlichen Ersatz gesorgt. Eine Zeit war es O'Brien, der ein schöner Einjährig-Freiwilliger geworden war. Dann ein Leutnant, dann ein Ingenieur. Dann heiratete sie einen unglaublich idealen Jungen, dem sie das beste Zehnteil ihrer Vergangenheit gestand, um gegen Enthüllungen gesichert zu sein, und der ihr alles verzieh.

Sie wurde die beste Hausfrau der Welt, ging selbst mit dem Marktkorb, geriet bald aus der Form, und niemand erkannte in der dicken, frischen Hausmutter das laute, leichtsinnige, blühend schöne Mädchen von ehedem. – – – –

Für Doktor Urban hatte der Diebstahl O'Briens an der Unschuld Lindes ein großes Gutes bewirkt. Linde hatte den Alkohol, die Eleganz und die kluge Welt fürchten gelernt und schloß sich mit Innigkeit an den idealen, echten, treuen Vater. Mit genauester Kindesliebe büßte die dumme Linde die einzige Dummheit ihres Lebens. – Vom Heiraten wollte sie lange nichts wissen, und als der Vater nach sehr langen Jahren starb, nahm das stattlich gewordene Weib den Liesegang und kochte ihm, vegetarisch und trogweise.

Helbig blieb lange Zeit in Wien verschollen. Sein erster Brief kam ein volles Jahr nach jenem Oktober und klang verzweifelt.


Jedoch die anderen Freunde haben noch Oktober.

Um diese Zeit begannen für Cyrus Wigram wunderbare Tage. Der letzte große Rausch einer Jugend, sein letzter herrlicher Irrtum von Überlebensgröße trieb in ihm riesige Schosse, die aus Wigrams Welt einen Garten geheimer Wunder machten. Erst aus diesem betörend schönen Wahn heraustretend, sollte er dann, einst, in jener Art von Klarheit wandeln, wie sie nur wenigen aus dem Kreise derer beschieden war, welche die gute Stunde suchten.

Es war eine verzauberte Zeit!

Wigram kehrte erst in der Mitte des Oktober nach Graz zurück. Er hatte sich mit tausend Fragen und Zweifeln umhergeschlagen, die er den Freunden niemals hätte vorlegen können.

Und die Frau von Karminell?

Von der fürchtete er entnervt zu werden.

Seit seinem Versprechen, ihr den Brief an Kaiser Wilhelm zu zeigen, war er vor sich selbst erschrocken. Nie, nie hatte Süßigkeit in seine Stunden gelächelt, und nun konnte er in inniger Weichheit davon träumen, wie sie diesen großen, stolzen Brief in der Hand halten würde und ein aufregendes Geheimnis ganz allein mit ihm auf der Welt haben müsse. Das warf er sich mit Bitterkeit vor.

Und dann war er vor einer Liebe geflohen.

Als er dann in jenem Herbst seine gedankenvollen Einsamgängereien in Graz wieder aufnahm und wie gewohnt mit klopfendem Herzen seine geliebten Kunst- und Buchhandlungen abrevidierte, ob nicht endlich wieder der Funke des Genius in eine der schönen Künste herniedergefahren sei, da erstarrte er vor einer allegorisch gemeinten Heliogravüre. – Was ist das wieder für eine Schabl – – –? wollte er rufen, aber der bittere Ausdruck entfiel ihm schnell, als er den Namen des Zeichners las.

»Bei dem gilt nicht, was er kann, sondern was er will,« murmelte er und las: »Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter!«

»Und das soll der hübsch polierte Rittersmann besorgen?« fragte er sich. »Was sind eigentlich unsere heiligsten Güter?« Grübelnd stand er vor der Allegorie. Die Menschen drängten an ihm vorbei, er hielt seinen Platz wie ein Fisch, der in strömendem Wasser steht, und grübelte und bohrte:

»Was sind doch unsere heiligsten Güter? Er gibt einem doch immer zu denken.« Erst als ihn ein Bekannter anrief, zog er sich von dem Bilde fort, um nur nicht gestört zu werden. Das Kinn auf die Brust gestemmt, den dicken, wirrlockigen Kopf voll erregter Ideen, bestieg er im rieselnden Nebelreißen des grauen Novembertages seinen einsamen, weltvergessenen Schloßberg, – die Insel des Schweigens voll Fels, Hochwald und Ruinen mitten in einer großen Stadt.

Und was ihm ein halbes Jahr unter tausend Zweifeln mißlang: Ob er wohl recht habe? Ob er wirken werde? Ob er selbst nicht seine Anschauungen einst ändern und also dem älteren Kaiser nur die flüchtige Traumware des Werdenden als ewigen Wert aufschwatze? – was er bisher aus Gewissenhaftigkeit nicht gewagt, das schnellten jetzt Trotz und Weh wie einen Pfeil ab. Unter einem vermauerten Türloch, bei der entblätterten Felsweinlaube unter der alten Bastei vor dem Novembergeriesel unterduckend saß er auf der Bank aus armseligen Holzlatten, welche man in jene Nische gezimmert hat, riß Blatt auf Blatt aus seinem Notizblock und bedeckte sie mit einem Rügelied in bitterer Prosa an den großen Lebhaften:

»Majestät!

Wohl bestellt ist es mit dem Einsamen, der Sie anruft, denn er darf, was unter fünfzig Millionen keiner wagt, als Freund mit seinem Kaiser grollen.

Seinem Kaiser! Denn er wählte, ein Freier, Sie zum Kaiser seines Herzens, zum alten deutschen Wahlkönig. Und er setzt Sie ab, wenn Sie ihm nicht halten, was er von Ihnen allein erwartet und rechnet. Hören Sie einen, der frei ist in allem: Frei vom Weibe, von jeglicher Leidenschaft außer jener des Denkens, frei vom Erwerb, vom Urteil des Freundes und Feindes, ein Einsamer, der sich selber seine Welt erbaut hat. Haben Sie solchen Mann unter Ihren Zahlreichen? Der Seltsamkeit willen mögen Sie ihn anhören.

Ich muß Ihnen, Majestät, von den heiligsten Gütern der Völker Europas reden, wie sie ein solcher sieht, der ungetrennt von der Not, in Hörweite des Elends, in Nachbarschaft mit der Gemeinheit seine schauenden Wege geht, und geben kann, was Ihnen kein Begünstigter Ihres Geschmackes vermag: Grundproben aus der Tiefe! Nicht Beifall will ich, sondern das Gute.

O, wir haben heiligste Güter! Nur haben wir keine zu schützen. Zu erringen haben wir sie, wir ärmsten, geblendeten Völker Europas!

Wir sind das alte morsche Rom, wir sind die allzulange Gediehenen, die Unbeschnittenen von der Hand des Schicksales, die Schößlinge ohne Gärtner auf geilem Boden.

Drei große Sehnsuchten haben wir, und die sind unsere heiligsten Güter!

Die erste betet nach Gesundheit des Leibes.

Wann gab es je so viel Propheten als Ärzte, so viel Ärzte als Propheten? Alle, welche an die Menschheit denken, gedenken Not zu lindern, Krankheit zu heilen oder sie zu verhüten. Allen Armen Licht, Luft, Nahrung, Kleidung und Hilfe im Elend unserer schwachen Körperlichkeit zu geben: Der Staat, welcher dieses vermag, hat ein heiliges Gut!

Die zweite Sehnsucht geht nach Gesundheit der Seele.

Wann gärte die Unzufriedenheit ärger, als seit sich die gierigen Hände Europas über die ganze Erde krallen? Kaum im alten Rom, wo das Volk unersättlich nach Festen der groben Sinne, der Soldat übermächtig, der Cäsar ein Spielzeug dieser beiden naturbrutal erwachsenen Gewalten war, bis der Koloß zerschellte. Wir haben den Riesen im Osten geweckt, und den Barbaren fehlen nur mehr unsere Kriegsschulung und unsere Kriegsmaschinen, um uns zu erdrücken. In vielem, was den Mann bedeutet, sind sie stärker als wir. Denn wir können in der Unruhe unserer Nerven nicht mehr in Klarheit leben und vermögen bei der Schwäche unserer Nerven kaum mehr in Seelenruhe zu sterben. Die ersten Männer des Staates sollten sein der liebreiche Arzt und der weise, ruhige Lehrer der Seele, welche dem Bedrücktesten Stunden nachdenklicher Muße schenken könnten. Unbeladene Zeit werde den Beladenen, und eine befreite, heitere Schule erstehe schon den Kindern. Der Körper pflege sich im Kraftspiel ohne Zwang; – wer es flieht, kann im Geiste immer noch stark werden. Könnte ein Staat helfen, aus jedem die beste Möglichkeit zu erziehen, welche in ihm liegt, wie heiter und ruhig würden da die Menschen!

Die dritte Sehnsucht ruft nach Freude.

Gänzlich haben wir verlernt, uns zu freuen, und selbst die gute Stunde scheuchen wir fort, weil wir über sie hinweg nach der besseren schauen. Und doch sind in jedes Menschen Seele Möglichkeiten, sich zu freuen. In jeder Seele andere Möglichkeiten. Selbst kann sie jeder bebauen, begießen und pflegen, wenn er nur gelernt hat, sich freuen zu wollen. Da ist dem einen die Natur, jenem eine der vielen Künste, anderen wieder Arbeitstüchtigkeit oder technische Vollendung erfreulich. Es habe doch jeder sein Steckenpferd, und wenn es auch nur die Aufzucht großer Kürbisse wäre! Was kann auch hier schon die Schule tun, wenn sie das besondere Kind im Gedeihen der ihm eigenen Freude unterstützte.

Was alles kann die Kunst tun, die noch immer nicht im Volk ihre Freundschaft hat! Mit der Freude an der Kunst beginnt auch eine Kunst, sich zu freuen. Freie Theatervorstellungen für die Armen, freier Eintritt zu den Kunstausstellungen, an Sonntagen, für alle intelligenten Organisationen besonders der Arbeiterschaft. Und, Majestät, freieste Kritik, wobei nur die Roheit und böser Wille ausgeschlossen sein sollten.

Wenn, wie im alten Florenz, jeder seinen Zettel mit Lob oder Tadel unter ein Kunstwerk legen darf, wenn dann die Künstlerschaft selbst die geistigen unter den Urteilen auswählen und veröffentlichen muß, dann nimmt alle Welt Anteil. Hier wird dann stete Revolution sein, aber Ruhe im Staat. Die Wagenrennen des alten Byzanz vermochten die Kräfte eines zügellosen Volkes zu binden. Wieviel schöner könnte es die Kunst.

Mitarbeit an den schönen Dingen der Öffentlichkeit wird viele Mitfreude erwecken. Die größte Freude aber wird jeglicher an sich selbst erleben, wenn er sich und seine Stunden als Stoff betrachtet, um Gesundheit, klare Ruhe und Heiterkeit daraus zu formen.

Drei große Sehnsuchten haben wir, und die sind unsere heiligsten Güter.

Rufen Sie nicht zur Verteidigung von Ererbtem, damit die, welche keines haben, Sie nicht bloß für den Kaiser der Besitzenden halten. Heilige Güter zu erringen, dazu regen Sie die Völker Europas auf, Majestät, und Sie werden der Kaiser aller Guten sein über die ganze Erde!«

Wigram saß im rieselnden Wolkenzug und las und stritt gegen die eigenen Worte. Nur der Anruf einer großen Idee war jeder Satz, und allzuviel hatte er hier in überstürzter Weltnot zusammengedrängt, davon jeder Satz ein großes Hauptstück für sich verlangt hätte. – »Gleichviel! Er weiß, was ich will. Er wird nicht zürnen; er wird nachdenken. In den nächsten Briefen werde ich ihm alles ins einzelne vorlegen. Er wird die Briefe lesen; er ist zu selbständig, um sich von einem, der weniger denkt als er selbst, mit dem Bericht einschläfern zu lassen: ›– – dann ist noch der Brief eines halbverrückten Träumers mit Weltverbesserungsplänen eingelangt.‹ – Oho, das will ich selber beurteilen, wird er sagen.

Ja, ja; so ist er … trotz seines polierten Rittersmannes. Er ist doch der Kaiser noch, dem alle nachhorchen, – seit langer, langer Zeit. – – – –«

In Versunkenheit stieg er vom Berge durch das feuchte Nebeltreiben hernieder, um den Brief mit klaren Zügen niederzuschreiben.

Ein einziges Zucken des Mißtrauens gegen sich selber durchfuhr ihn, als in den Nebeln ein Riß entstand, durch welchen er nach den Hügeln des Ostens blickte, wo die schöne Linde wohnte. Mit kurzem Schreck dachte er an Kantilener, den er lange nicht gesehen:

Kantilener, in der Wunschdichtung des stürmischen Herzens, hatte von der wirklichen und wahren Linde nur Antlitz und Gestalt behalten, um damit das begehrte Wunderkind seiner Volkslieder, das reine, tiefe, träumende, ahnungsvolle Mädchen Wunschholde zu schaffen.

Hatte auch er mit den Zauberhänden des leidenschaftlichen Begehrens bloß ein blendendes Bild erfaßt, um hineinzudichten, was einem Throngeborenen fast unmöglich wäre und ihm gegen alles Menschliche ginge: Ein Kaiser der Armen, der Beladenen, der Sehnsüchtigen, der Werdenden und Ringenden zu werden?

Aber zu glühend brannte ihm der Wunsch in der Seele, es möchte dennoch so sein. Das Licht dieser Glut überstrahlte das Bild des schon allzulange Umträumten. Und wie neue, schwere, feuchte Wolken den kurzen Blick in die Gegend der Ries, der holden Irrtümer des Freundes überwallten, so schlug Wigram selbst unwillig die schweren, dichten Vorhänge seiner Träume um das klare, prüfende Denken. Er ging heim, schrieb den Brief und sandte ihn ab, bloß mit einer einfachen Freimarke. Die Rekommandierung wird schon das Schicksal besorgen, dachte er.

Damit war er in das Reich der Wunder eingetreten, welche die folgenden Zeiten, zwei Jahre, zu den reichsten seines ganzen Lebens logen und umtäuschten.

Ein überstürzter Frühling von Genialität bedeckte und überschüttete diesen seltsamen Menschen, in welchem die Phantasie in einem gewaltigen Fieber verbrannte, um sein späteres Denken zu läutern.

Als ob es der Saal des göttlichen Ratschlusses wäre, trat er von da ab in sein Kaffeehaus; das größte der Stadt, wo die meisten Zeitungen lagen. Die konnte er mit hämmerndem Herzen, mit siedender Erregung durchforschen, durchgraben nach Lebenszeichen »von ihm«.

Gleich in den ersten Tagen nach seinem Briefe durchfuhr ihn ein Schreck. Der Kaiser hatte in einer Regimentskapelle selbst nach dem Taktstock gegriffen. Wollte er doch tiefer in die Kunst dringen als bisher? Aber nein. Er dirigierte einen italienischen Gassenhauer und zwei preußische Märsche.

Wie ins Herz gestoßen sank Wigram zurück.

Dann aber, nach einigen Tagen, gegen Ende des November, blühte seine Hoffnung wundervoll empor.

Der Kaiser war beim Minister Miquel gewesen und hatte mit lebhafter Anteilnahme über das Genossenschaftswesen und die Organisation des Handwerkes gesprochen. Die Vertreter des Handwerkes hatte er tüchtig nach Details ausgefragt.

Ja mein Gott! Will er doch ins Volk? Hat da mein Brief – –?!

Aber ein paar Tage später sprach Wilhelm wieder von Schlagworten und Parteirücksichten, denen gegenüber er auf die Armee zähle und rechne. – Dann wieder ließ er das Grab Carlyles schmücken! Warum? Heldenverehrung? – – Zu Bismarck fuhr er auch wieder und sprach allein mit ihm. Wovon?

Das Menschenherz ist so gar zum Lachen töricht, wenn es wünscht. Wenn es wünscht, dürfen Berge gehen und die Erde stillstehen; mäuschenstill schweigt dazu die Vernunft! Wigram also träumte davon, der Kaiser werde wohl beim Fürsten Bismarck über die Lebensfähigkeit einiger Wigramscher Ideen, zwar da und dort nur, und sicherlich ganz flüchtig, anfragen. Ach, warum denn nicht?

So nahe grenzt schon der Wunsch an den Wahn, und der Wahn an Störung der Geisteskräfte.

Und dann, im nächsten Jänner, welches Neujahrsgeschenk! Der Glückwunsch an den alten Bauernführer Krüger nach Transvaal. Der Glückwunsch als Trutzwort gegen Länder- und Goldgier!

Regten sich denn nicht Wigramsche Wünsche und Vorwürfe hinter diesen Äußerungen als heimliche Federn?

Und dann wieder der warme, menschenliebende Gedanke, über dem Wigram fast vergessen durfte, daß eine Ordensgründung mit dabei stak, – Verdienste um Veredelung des Volkes und solche auf sozialpolitischem Gebiete zu belohnen, an Männern, Frauen und Jungfrauen. Und den Namen des Kaisers sollte der Orden tragen.

»Das sollte der einzige Orden auf Erden sein,« rief Wigram wie berauscht und rannte in unbeschreiblichem Glücksgefühl aus seinem Wunderkaffeehaus auf die Straße.

Ganz gewiß! Es war so: Er, Cyrus Wigram, der arme, häßliche Bauernsohn mit dem groben Rock und keinem Gut als seinem gedankenreichen Kopf, war wirklicher, geheimer Rat des fernen Kaisers. Er griff mit in die Speichen eines der großen Weltuhrwerksräder, wie er einst gesagt hatte; das war ein Glück, eine Größe, ein Rausch – – – kaum zu ertragen!

Als er dann wieder ins Kaffeehaus zurückkehrte, um auch die Festrede des Kaisers zum fünfundzwanzigsten Jahrestage des neuen Reiches zu lesen, da hatte er schon wieder Gelegenheit, schwerblütig und traurig über den der Zukunft geltenden Programmworten dieser Rede zu grübeln. Ausbau, nicht Neubau? Festigung, nicht Umwertung? Abwehr von Gefahren, nicht Verhütung? Und wieder: »Deutsche Güter gehen über den Ozean, nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, – – –« Und die Werte deutschen Geistes? Wohin sind die? Kann denn dieses Land große Männer nur haben, wenn es ohnmächtig ist, und sobald es stark ist, nur eine erbärmliche Nutzvernunft?

Und dieses unmögliche »Deutsche Reich«, dieses Geschöpf für einstweilen, dieser Larvenzustand scheint ihm so köstlich? Nur weil er König von Preußen ist?

Bis zum Februar ging er in wunderlichem Durcheinander von Seelenqual und berauschter Freude, zwischen Nüchternheit und Wahn in einem unbeschreiblichen Traumleben taumelnd dahin, dann kam wieder ein neuer gewaltiger Anstoß.

»Wer Christ ist, der ist auch sozial … Selbstüberhebung und Unduldsamkeit sind beide dem Christentum zuwiderlaufend. Die Geistlichen sollen sich um die Seelen kümmern und Nächstenliebe pflegen, aber die Politik aus dem Spiele lassen, derweil sie das gar nichts angeht.« Der klang beinahe nach dem klugen, alten Fritz, aber wärmer, menschlicher. Gar nicht Stock und Degen und Feldbinde! Viel befreiter als sonst.

Gleich setzte sich Wigram hin und schrieb seinen zweiten Brief; – – denn in eben dieser Zeit hatte ihn Kantilener mächtig angeregt wegen des Urchristentumes. Zu seiner Zeit wird von jenem Brief die Rede sein.


Denn auch die anderen Freunde hatten, alle nach jedes Eigenart, ihren merkwürdigen Winter. Nur lebten sich die einen fröhlicher und besser mit dem Herzen, die anderen mit dem Verstand durch jene Monate hindurch, in denen sich auch die befreiteren von den Menschen aus Not gesellen müssen. Kantilener stand zwischen beiden. Nun, da er seine lichte Frau von Karminell wieder hatte, sparte er mit den Stunden, in denen er zu ihr ging. Sie sollte ihm nie gänzlich unentbehrlich werden, damit er nicht sterben müsse, wenn er sie verlieren sollte. Sie sollte ihn auch nicht gänzlich ausfüllen. Denn sein Glück durfte auf keiner Frau und überhaupt auf keinem anderen Menschen als ihm selber beruhen. Der sanfte junge Mann war stark wie ein Nordpolfahrer, wenn er entsagen sollte um eines geistigen Lebens willen.

Wohin dieses Glück gehen würde, ob zum rein geistigen oder zum Gemütsleben, das wußte er nicht … Die Freunde standen einseitig diesseits oder jenseits. Er hätte gerne goldenes Gleichgewicht gehalten. Aber der Verein der Lebensbewußten hatte sich in jenen Herbsttagen beinahe klar in zwei Gruppen geteilt. Wohl gingen sie noch oft gesammelt, um dem Herbste zuzuschauen, dem herrlichen steirischen Herbst, der wegen der Frostbarkeit seiner Nächte vielleicht nur an den kanadischen Seen durch Schönheit der Laubfärbung übertroffen dasteht. Dieses Land, die mittlere und untere Steiermark, ist ohne das die verklärte Heimat der Luftperspektive, und Höhe hinter Höhe verblaut sich bis in den Himmel hinein in zartester Malerei. Die Fichtenwälder geben auf wenige Viertelstunden Entfernung schon das tiefste Ultramarin. Wenn nun dazu die roten Buchen und das vielverwechselnde Gold, Kupfer und die irisierende Bronze der gemischten Wälder mit einstimmen, so ist es eine innige Freude, hier farbig schauen zu lernen! Ein Akkord aus der Sphärenharmonie.

Und sie gingen schauen, die Sehenden. Mit Frau Else, ihrer vier oder sechs, oder sonst in kleinen Gruppen, wie Neigung und gemeinsame Herzenswege sie gebildet hatten.

Liesegang, Kantilener und Petelin hielten gerne zusammen. Mit ihnen ging oft der nüchterne Vollrat, da er stets Anregung zu neuen Studien begehrte. Von den Freunden lernte und hörte er, was die leidende Menschheit brauchte, da er nicht das heiße Herz hatte, dies alles selbst zu erkennen.

Dann aber ging er und studierte die Fälle. Auch Scheggl schloß sich gerne mit an diese Gruppe, da sie die innerlichste und hausgemütlichste war, welche viel über Kinder und Familien sprach; – und von Nahrungsmitteln, wobei Scheggl dann unverbesserlich den Vegetariern die leuchtenden Vorzüge des geselchten Schweinefleisches vor die verstockten Gemüter rückte.

An Helbig, solange der noch in Graz war, hing sich Arbold in alter Treue. Und ein zwölfter war noch in den Kreis geraten: Die Melander Liese hatte sich nämlich zu ihren leichtfertigen Geheimbotschaften an den reichbeschenkten Amadé eines armen, jungen Menschen bedient, der ihr mit idealer Schwärmerei ergeben und den Handel, bei dem er Briefträger war, als eine romantische und tiefbedrückte Liebe ansah, der man zu kleinen Flügelchen verhelfen müsse.

So ging dieser Mensch, welcher hungrig und mager war wie eine dürre Latte, hosenschlottrig zwischen beiden hin und her, aber sein Herz flog wolkenhoch während solcher Gänge.

Er war Statist beim Theater, wohnte als Portiersohn im Haus der lustigen Liese und wollte ein großer Künstler werden. Um auf das Schicksal seiner zaundürren Fleischlosigkeit noch draufzuspucken, hatte ihn die boshafte Vorsehung mit dem Namen Wendelin Zimbal verziert.

Er wußte von all dem nichts. Er hoffte und träumte sich weit über seine Person hinaus, sprach von Kainz und Sonnenthal, als auch von solchen, wie er einer sei, und war infolgedessen glücklich und unruhig, bis der Augenblick komme, wo er die erste große Rolle unter dem brausenden Jubel des Publikums spielen würde.

Dieser junge Mensch stand und ging den ganzen Tag. Er hatte seine Lehrzeit bei einer Wanderschmiere durchgemacht, – Sommer und Winter. Bei Tage hatte er den Landwirten Bier abgezogen oder hielt beim Abstechen die Schweinchen an den Ohren, und am Abend spielte er etwa den alten Moor in den Räubern, wobei er mit dem dichten, weißgepuderten Haar und dem graugeschminkten Gesicht, aus dem sich die zwanzig Jahre nicht wegrunzeln ließen, wie eine arg verschimmelte Unschlittkerze aussah. Auch andere Rollen spielte er, und den Bauern war's gänzlich gleichgültig.

Die Bäuerinnen machten dann und wann Versuche, ihn herauszufüttern, aber umsonst. Bei ihm ging alles schneller durch den hungrigen Körper wie bei einem Antvogel, und was etwa hängen geblieben wäre, mimte er am Abend in einer unendlichen Rollendurchdrungenheit, welche sehr anstrengend war, leidenschaftlich wieder herunter.

Seit ihm die Liese vom Fenster aus, oder im Haustor, von dem närrischen Verein der Glückskinder geschwatzt hatte, ließ es ihm keine Ruhe, bis Helbig ihn ins Land mitnahm und Wunder zeigte, die er noch nicht kannte: Daß der Himmel apfelgrün sein könne, daß weiches gehobeltes Holz an Zäunen im Wetter seidenartig, blaugrau bis violett würde, daß die Schatten oft wunderschön blau oder grün seien, und überhaupt daß das ganze Farbensehen hauptsächlich auf Kontrastwirkung beruhe.

Nun schwelgte und staunte er, und Arbold staunte gutmütig mit.

Helbig aber, der sie beide so sehr bereicherte, war krank, wahrlich krank an der Seele! Die verbotene Leidenschaft, dann die Ausgewiesenheit, und endlich die Aufregung der Sinne und der Eifersucht hatten in seine Neigung zur spielenden Liese verwirrende Zutaten geworfen und ein arges Hexengebräu zusammengekocht. Nun warf sich ihm das Mädchen in vierzig, fünfzig Nächten an den Hals, und er verzehrte sich besinnungslos, rücksichtslos bis an das Mark seines Lebens, – damit er nur für dieses ganze Leben kein zweitesmal solche Qual auszustehen brauche. Sein ganzes Wesen war zartnervig; dem tat dieses Verzehren und Verbrennen gar nicht gut. Zuletzt erging es ihm nach der alten Sage vom Venusberg. Das große Grausen vor der stupiden Geschlechtlichkeit faßte ihn, und er sehnte sich bis zum Aufschreien nach dem ehemaligen Leben. Nach Reinheit, nach einem stillen, herben, holden Mädchen, nach der hellen, kalten Luft und den keuschen Berghöhen, nach Gleichgewicht und klarer Geistigkeit! Oder es kamen noch schlimmere Tage. Da saß er dumpf und gleichgültig und glaubte, sein Leben sei zu Ende, und nichts mehr blühe für ihn.

Dieser Mensch, welchem das Wort so leicht und lebhaft strömte, sang dann wohl Tannhäuserlieder. Oder nicht er, seine gequälten Sinne und Nerven sangen; aus Angst, wie Kinder im Dunkeln.

Es ist ein Jahr. Ich stand noch allein
Im sonnedurchschauerten Buchenhain
Und strebte zu wandern, zu wandern!
Dort hinter den Bergen das Wunderland,
Die Höhen mir selber noch unbekannt,
Ach, eine hinter der andern! – – –

Nun weiß ich, wie die Blauferne trügt;
Ich kenne, was hinter den Wäldern liegt
Und wanderte über die Höh'nflucht. –
Die Frauen brachten mir Leid und Glück,
Und armausbreitend schau ich zurück
Und sterbe vor Sehnsucht – nach Sehnsucht!

So selbstzerstörend verbrachte er den Winter. Mit Ende des Frühjahrs sollte er nach Wien. Manchmal hoffte er sich dort Großes. Er würde dort langsam vom Juristen zum Kunstkritiker abschwenken. Sein Geist würde sich in der Großstadt noch mehr ausziselieren und verfeinern.

Raffael Santi, dessen erstaunliches, goldenes Gleichgewicht er stets bewunderte, ist in Urbino nicht mehr Genie gewesen als ich selbst, dachte er. Da er aber nach Rom kam, schnellte sein Geist wie ein Springstrahl empor. Er schuf Werke, kaum zu begreifen nach der bisherigen, auf Nußholz symmetrisch und scheinheilig hingestellten Anmut.

Ich werde die Natur nicht vergessen, aber ich werde das Leben studieren. Ich werde groß werden, reich und fein.

So träumte er, aber selten.

Gegen das Ende des Winters schloß er sich dann auch wieder an den Kreis um Frau Else, wohin er ein- oder zweimal den armen Zimbal mitbrachte, der auf dem Parkett und auf den tiefen, weichen Teppichen sich stets in seinen eigenen Beinen irrte und die Balance der reichen Leute für eine ganz außerordentliche, königliche Kunst anzusehen begann.

Nur den Luxus betrachtete er mit den Augen künftiger Größe.

Das werde ich mir auch so einrichten, dachte er. –

Frau Else aber blieb dem Zimbal ein höchstes Geschöpf, schon weil er sie im Theater nur in der Loge sah. Die Ehrfurcht vor den Logen verwand er nie, besonders wenn seidene Frauen drin saßen und majestätische Fächer nachdenklich bewegten.

Das Theater war diesen Winter für einen gewissen Kreis um Frau Else die Erde und der Himmel. Bohnstock geigte sich beinahe die Seele heraus; er geigte für die schöne Frau in der Loge, und wenn sie nicht da war, geigte er seine Sehnsucht nach ihr. Er hatte überdies mit der Weißglut seiner Begeisterung für Wagner alle angesteckt.

Man denke nur, daß die Grazer damals erst diese großgermanischen Opern kennen lernten. Für alle, die nicht viel nach Wien oder gar nach Bayreuth fahren konnten, trat erst mit jenem Jahre der geheimnisvolle Meister auf, den die Zartesten und die Rohsinnlichen zu lieben und zu begreifen vermögen. Er ist die Sonne für Gute und Böse, in ihm singt die Ahnung und die Brutalität; er ist fein und plump … alle haben teil an ihm.

Und der zog jetzt lebendig ein. Es war ein großes Jahr, eine Glut und ein Taumel ohnegleichen.

Jugend und Weiber erlebten damals eine schwere Druckprobe auf ihre Phantasie; bis zu welcher Hitze sie emporkochen konnte, damit ihr Träger geistig gesund blieb.

Da gab es bedenkliche Zeichen. Kein Heros sah je mehr Begeisterung, kein Triumphator hörte brausenderen Jubel, kein Gott fand mehr Liebe, als etwa der Sänger des Siegfried. Alles, was Wagner an Idealen und an Brunst aufwirbelt, war da losgelassen. Die Jugend jauchzte vor Lust am Heldentum, den Weibern aber rissen sich alle Sinne aus den Strängen. Eine heilige und lächerliche Zeit war das. Menschen im Rausch! Jede Natur wurde nackt. Hätte sie der Meister gesehen, er hätte arg philosophiert darüber.

Sogar die kluge Frau Else saß blaß, ergriffen und willenlos geschüttelt von jener brausenden Begeisterung in ihrer Loge und starrte in das entfesselte Theater. Wie bei den blinden Himmelsgebeten Kantileners an ein Mädchen, zu dem sie nicht paßten, zuckten ihre klugen, feinen Lippen in Rührung und Ironie.

Sie liebte Wagner unendlich, aber sie durchschaute ihn; es war zu viel Überlegung in ihnen beiden, als daß sie ihn nicht erkannt hätte, in seiner Mischung von Instinkt und Mache. Da gab es kein wehrloses Staunen wie bei Mozart und wohl auch noch bei Beethoven. Meister, wir kannten uns besser!

O'Brien aber saß stets neben ihr und verzehrte sich im Anschauen der tausendstimmig redenden, feinen Klugheit ihrer hellen Züge. Wer dieser Frau nur einmal die verruchte Höllengescheitheit trüben und sie wirbeln machen könnte, damit sie nichts als töricht, berauscht, und ganz süße Weiberwillenlosigkeit wäre!

Seit ihm aus Lindes Stimme der harte Ton der Abneigung, der Absage und Fremdheit entgegenschlug und seit er sah, daß Liese mit einem anderen sündhaft geworden war, seit dieser Zeit fehlte ihm die wohltätige Zersplitterung, welche ihn die eine, verzweifelt eigensinnige Neigung vergessen ließ.

Gewalt hätte er brauchen mögen! Die Musik wühlte ihn nur noch mehr auf. Auch er war krank, krank an demselben heillosen Laster, wie Helbig. Beide hatte sie die Sinne wuchern lassen, nun war das goldene Korn erstickt; rote, heiße Mohnfelder brannten in schläfriger Dummheit an ihrer Stelle.

Von den übrigen Freunden waren nur Helbig und Arbold öfter in Frau Elses Loge auf Besuch. Arbold hätte am liebsten Felle, Schwert und Horn getragen; er sah Wagner als naiver Ostgote nur stofflich; Helbig aber vermochte überall Geist und Nachdenken über die rohen Bilder zu senken. So wurde auch Arbold reicher.

Kantilener und Semljaritsch kamen nie in die Theaterloge. Kantilener nicht, weil er beim bloßen Anblick dieser Frau kämpfte und litt, da sie für ihn auf einem fremden Stern leben mußte, und weil er in seinem braunen Cheviotröckchen schon aus Stilgefühl keine Loge mit einer leuchtend schönen Frau darin betrat. Semljaritsch wollte sich nicht von Frau Else um die Wirkung fragen lassen, welche diese Oper auf ihn ausübte; denn er litt unsäglich an der neuen, deutschen Überlegenheit.

»Dieses verwünschte Volk. Schon vor zweitausend Jahren hatte es einen römischen Frondeur gefunden, der es aus Opposition in seiner Germania verherrlichte. Dann hatte es eine Welt erobert, selbst der bittere Gotenkrieg wurde einem Prokopius unter den Fingern zum Heldengesang! Dann blieben ihnen alte Lieder erhalten. Der Hagen des Nibelungenliedes allein wäre als Beweis für die innere Riesengröße dieser ehemaligen Volksseele genügend. Und jetzt haben sie solche Künstler wie Wagner gefunden, welche dieses altdeutsche Ideal nicht einmal gänzlich verdarben, wie es der Spätgeborene doch unfehlbar müßte. Nur Hagen, Hagen war mißglückt, – – und das war gut. Denn, wenn diese Deutschen ahnten, daß ihre größte Größe in der erhabenen Gefolgschaftstreue liege, in der bewußten Unterordnung unter den ganz Großen! Sogar jener todgetreue französische General, der sich selber seinen Herrn gewählt und ihm bis in das Elend folgte, trug solch einen verwünschten deutschen Erbschaftsnamen: Bertrand …

Und das slowenische Volk? Keine Vergangenheit, kein Denkmal, als das bißchen glagolitische Schrift; kein Heldentum, kein Gottesgedanke als einen dreiköpfigen Götzen; … wenn nicht die Erhabenheit der Kultusstätten auf freier Berghöhe gewesen wäre, er hätte verzweifeln müssen. Wo könnte da ein Sänger vergangener Halbgottesgröße und Sonnennähe erstehen? Und sonst nichts, nichts. Das große Schwungrad des deutschen Kulturgedankens wehte schon angsterregend nahe an ihm vorbei. Ein Schritt noch, es schleudert ihn willenlos mit sich, und er ist deutsch.

O ihr wendischen Berghöhen, ruft mich zurück! Ich verrate mein armes Volk, das nicht einmal anderes singen kann als Schwermut, gleichmäßige Schwermut!«

Inzwischen verfehlte wieder der arme Othmar Kantilener keine Tristanvorstellung.

»Wie lenkt' ich sicher den Kiel
Nach König Markes Land?«

So sang er; das summte ihm stets im Gemüte herum. Denn was durfte er anderes, als treu sein Schifflein lenken und Frau Isolde geleiten als starker Vasall, den Blick aufs Ziel, das Herz in Schweigen.

Einen Liebestrank, der sie schuldlos schuldig machte, – wo wäre der? Den tränken sie doch nie zusammen. Schuldig werden aber durfte er nicht einmal, um dafür zu sterben. Da wäre der Tod zu geringe Sühne. Sterben nach schuldiger Liebe; pfui, wie bequem!

Mit den bebenden Tönen des großen, traurigen Liebesliedes im Gemüt arbeitete er zweifach. In der Philosophie und der Medizin zugleich mußte er Doktor werden. In der ersten ging ihm das Studium viel zu leicht; er warf sich vor, daß er zu sehr an der Kunst hänge. Damit war er nicht zufrieden, denn die Künstler schufen nur für die Reichen und Entlasteten; für die Glücklichen.

Wenn ihm Bohnstock und Frau Else zuredeten: ob das nichts sei, die Menschen durch Jahrhunderte zu erquicken, ihnen Freude, Rührung und Nachdenklichkeit zu schenken, da schüttelte er nur traurig den Kopf und sagte: »Es sind doch nicht jene, denen die Freude, die Rührung und die Nachdenklichkeit schwer not täte. Ja, wer ein Künstler für die Bedürftigen werden könnte! Der müßte aber anders, ganz anders arbeiten.«

»Wie?«

»Eine Religion gründen. Das sind die Künstler der Armen, und hoch stehen sie über den Zerstreuern der Reichen.«

»Eine Religion gründen. Armer Othmar!« sagte dann wohl Frau Else und betrachtete ihn erstaunt, mitleidig und doch andächtig, Zug für Zug.

Einmal berührte sie sogar bei solch einer kindlichen Antwort leicht sein Haar, was sie sonst niemals tat. Sie griff nie jemand an und gab selbst ihre Hände nur langsam und zögernd her.

Kantilener litt unsäglich durch diese leise Berührung. Er glaubte, daß sie verachtendes Mitleid bedeute. Sie hätte ihn trösten wollen. Und doch war es so ganz anders gemeint gewesen, und Frau Else war vor sich selbst erschrocken. Aus lauter Freude über den guten Jungen hätte sie – – –. Sie hätte ihn nämlich beinahe an sich gezogen, mit beiden schlanken Armen!

Nun mied auch sie ihn. Wochenlang, bis sie sich über ihn wieder heiter gespottet hatte.

O'Brien aber hatte das gesehen und hatte die flüchtige Bewegung mit der Phantasie der Eifersucht richtig gedeutet, und Herz und Eingeweide wurden ihm vor Schreck wie zu Stein. Da er aber nun schon gewohnt war, unrein zu denken, so sagte er sich gleich: Die beiden müssen längst etwas Heimliches miteinander haben.

An einem Februartage, als die Wolken gramvoll und schwer herniederdrückten und die Welt bis an den Saum im Schnee lag, ging er dann mit dem ahnungslosen Freund Othmar über den Stadtpark.

Aus einem Zypressenbaum zirpte ein Vögelchen.

»Nun höre du,« blieb Kantilener stehen. »Da singt ein Vogel im Zypressenbaum. Sollten wir uns nicht irren, daß noch Februar ist? Vielleicht wird heuer der Frühling trotz dieses betrüblichen Schneefalles zeitig kommen. Wie könnte der sonst an Singen denken?«

»Dir lächelt selbst der Schnee; du hoffst, wenn Sonne und Himmel blindenaugig schauen, und aus dem schweigendsten der schwarzen Bäume singt es dir zu,« sagte O'Brien düster.

»Ich habe auch mein Teil geheimer Leiden,« versicherte ihn der andere.

»Und geheimer Freuden!« rief O'Brien neidvoll.

»Warum sagst du das so böse?« fragte Othmar verwundert. »Du erlebst doch dieselben Freuden an Welt und Menschen.«

O'Brien blieb stehen und sah Kantilener leidenschaftlich in die Augen – »nur nicht an Frau Else,« sagte er dann.

Der arme Othmar wurde tief rot. »Ich doch wahrhaftig auch nicht,« rief er und schaute sich mit ehrlich erschrockenen Augen die gelbe Blässe im Gesicht seines Freundes an.

»Ihr liebt euch,« stieß O'Brien aus.

»Tom, wie kannst du diese reine Frau beleidigen?«

»Du aber liebst sie?«

»Habe ich dich schon mit so derben Fragen gestoßen!« rief Kantilener verletzt. »Ich freute mich, wenn ich sah, daß du sie liebst, und andere lieben sie auch. Das kann doch gar nicht anders geschehen. Aber man sieht und findet's schön oder traurig oder mitleidswert – jedoch man schweigt in allen Fällen.«

»Du weißt nicht, ob sie dich liebt, Othmar! Du bist sonst aufrichtig. Nur das eine sag mir! Du weißt nichts davon?«

»Wenn ich nur wüßte, daß sie mich nicht verachtet,« gestand Kantilener traurig. »Hast du neulich ihre Bewegung gesehen? Wie einen armen Schuljungen, der eine große Dummheit gesagt hat, wollte sie mich begütigen.«

O'Briens Gemüt sprang von je in Extremen umher; nun drehte er sich auf dem Absatz und lachte vor Freuden über diese außerordentlich frohe Botschaft. Als er schon ein ganzes Loch in den Schnee gebohrt hatte, sah er sich's belustigt an. »So also hast du das aufgefaßt? Mitleid? Und ihr habt nichts, gar nichts miteinander?«

»Nichts, als was du selber siehst,« versicherte Kantilener, dem diese Roheit gegen eine so zarte Grundmelodie schwer wehe tat.

»Dann also bitte ich dir alles ab,« lachte der beruhigte Tom. »Nun sag du mir nur, wie kannst du neben dieser Frau hergehen, sie lieben und nicht verlangen nach ihr?«

»Es ist nichts an ihr zu verlangen; – was ich von ihr haben darf, habe ich ja doch. Ich freue mich, daß sie schön, fein, reich, klug und froh ist, und denke, sie ist ein Meisterwerk des Glückes. Wenn diese Gedanken gar zu oft kommen und sich an die Stelle von anderen setzen wollen, dann fliehe ich sie eine Zeitlang.«

»O du Kind,« rief O'Brien; »ja dann geh du nur und gründe eine Religion. Ich, was mich angeht, ich müßte sie besitzen. Das ist das herrlichste Weib auf Erden, – und nichts scheint mir schöner, als einer Königin Krone, Hermelin und Purpur vom Leib zu ziehen und nicht einmal Leinwand an ihr zu dulden. Sich aus der Königin ein Weib zähmen, das ist doch eines Mannes Tat und Freude; was! Ich muß sie haben, haben, oder ich gehe in den Krieg oder nach Tibet. Es brennt und bohrt und wünscht in mir mit tausend giftigen Mahnungen. Gott Dank und Lob, liebster Othmar, daß du sie noch nicht in den Armen oder gar im Bett gehabt hast, ich hätte dich wahrlich erstochen, du armer lieber Kerl!«

»Mir wäre doch ein Messerstich lieber als solche Gedanken!« rief Kantilener schaudernd. »Laß mich damit in Frieden und geh allein zugrunde. Die arme, holde Frau ist doch zu Besserem auf der Welt.«

»O zu gar nichts Besserem!« lachte O'Brien, verabschiedete sich und lief geradewegs zu Frau Else.

Kantilener nun, der hatte vier Tage zu tun, bis er das Gift solcher Worte ausgeblutet hatte. Namentlich die Angst, O'Brien könnte die lichte Frau dennoch ins Elend der Sinne reißen, drückte ihn schwer.

Er ging zu Bohnstock und hätte ihn am liebsten gefragt, ob es auch ihn nach Frau Else verlange. Bohnstock komponierte eben. »Spiel mir vor,« bat Kantilener.

Es war schwüle Musik.

»Das klingt so – – – indisch,« sagte Kantilener gedrückt.

»Findest du?« rief Bohnstock erfreut. »Ich dachte wirklich an die Lotosblume, die nur in den heißen Nächten blüht; denn weißt du, ich muß nach dem vielen Wagner etwas Orient haben. Hast du keinen Stoff zu einer hinreißenden, glühenden Oper?«

Kantilener setzte sich, dachte nach, erschrak vor einem Gedanken, sammelte sich und sagte dann, wovor er erschrocken war:

»Es ist eine triviale Fabel; – so recht für den großen Zirkushaufen. Am Hof eines indischen Fürsten lehrt ein griechischer Sklave den Kindern des Königs die Sangeskunst. Nach der jungen, wunderschönen Königin sehnen sich seine Lieder, und der ganze Hof singt sie, ohne zu ahnen, wem sie gelten.

Nur der König horcht den Grundton heraus.

Er fürchtet die glühende Gewalt dieser Lieder, denn die junge Königin träumt Tag und Nacht von ihnen.

Da entfährt dem griechischen Sänger ein Lied voll Leidenschaft, in welchem er von der Königin in jeder Strophe ein Stück ihrer Pracht und Größe herunterfleht. Die Krone, den Purpur, den großen Hofstaat. Als einsames, schönes Weib möchte er sie sehen.

Die Königin verliert nach diesem Liede den Schlaf einer Nacht.

Am anderen Tage läßt der König den Sänger in den Kerker tun. Nach dem Henker sendet er, der zwölf Stunden weit in einer eroberten Burg schwere Arbeit hat. So bleiben dem Sänger ein Tag und eine Nacht.

Am Tage hörte er die Königin im Garten singen: ›Da du um mich stirbst, muß ich dir lohnen. Da du nie mehr sagen wirst können, wie ich dir lohne, wird dein Lohn unsagbar sein.‹«

Bohnstock sprang in tiefer Erregung auf:

»Und sie bringt die letzte Nacht bei ihm im Kerker zu. Schreib mir das, Othmar, schreib mir das. Es ist das Lied meiner Seele!«

Da wußte Kantilener nun auch, wovon der Tondichter träumte.

»Dein Wagner hat nur eigene Dichtungen in Töne gesetzt,« sagte er ernst. »Der Stoff übrigens ist Allerweltsgut. Dichte du ihn aus … Mich würde er krank machen.«

Und er ging durch den öden, tiefgrauen Winterabend fort.

»Wohin,« seufzte er, »wohin?«

Er stand im Schnee unter den hohen, wartenden Bäumen des Stadtgartens.

»Ob Liesegang und Petelin ihren Verein beisammen haben? Es wäre Tag und Stunde. Ob Urban, der köstlich Reine, dort ist? Ich bin mir nicht mehr selber Arzt genug.«

Und er ging in den Verein, welchen die Naturmenschen gegründet hatten.

Im dritten Stock eines Hauses am Fuße des Schloßberges hatten sie ein riesiges altertümliches Zimmer gemietet mit vier Fenstern. Das eine sah nach dem tief verschneiten Schloßberg, wo die Baumwege wie Höhlen in den Berg verschwanden, die anderen auf den Platz Karmeliter.

Der Verein der Naturmenschen war versammelt. Wieviel Kümmerlichkeit! Blasse junge und kränkliche alte Menschen, manche mit langen Haaren, zum größeren Teil dürftig auch in ihrer Kleidung. Verwachsene Frauenzimmer, oder solche mit einer Warze oder dünnem Haar, nicht mehr als das Büschelchen einer Maispflanze. Sitzengebliebene Mädchen, die nicht wußten, daß sie nur ungewählt blieben, weil sie zu liebedürstig waren, zu anhabig! Kantilener trat in seiner schönen Gesundheit wie ein Lichtgott unter diese große Ausstellung von Knickereien und Ersparnissen der Natur. Kaum zu glauben, wie erstaunt sie nach dem hellbeflaumten Jungen sahen! Neid, Freude, Hoffnung, Staunen … Etwa in Worte gefaßt: Wie? Kommen schon auch glückliche Menschen zu uns?

Die Gesunden, Starken und Unbedürftigen in der Versammlung, welche doch immerhin vielleicht ein Dritteil ausmachten, waren fast noch zufriedener. Sie hätten am liebsten nur Musterexemplare des neuen Menschentums im Verein gesehen, wie sie selber zu sein glaubten. Das Gebrechsel- und Seufzervolk war manchen von ihnen gar nicht recht bequem. Doch: wer sollte denn nach Gesundheit beten, wenn nicht die Kränklichen, die Schwächlinge und die Kümmerlichen? So sagten die Guten unter ihnen, und die Unzufriedenen gaben ihnen recht; denn Jünger nach Vollkommenheit und wunschherzige Menschen waren sie alle.

Als Kantilener die Türe geöffnet hatte und in den Saal trat, war es wie ein Windzug über die Wetterfahnen einer gedrängten Giebelstadt gegangen, so hatten sich die Gesichter nach ihm gewendet. Verlegen drückte er sich in die Fensternische, die nach dem Schloßberg ging. Die Gesichter wandten sich wieder zurück, alle nach einer Richtung. Denn dort auf dem Podium ragte einer hervor und sprach und predigte.

Kantilener aber stand in der Fensternische mit Wigram, welcher dort horchte, Aug' in Auge.

Wigram lächelte und reichte ihm die Hand.

»Ich habe hier auf dich gewartet seit langem. Höre dem dort zu. Er denkt und redet eigenartig.«

Der oben am Kanzeltische stand, war – zu erfinden gibt es da nichts – ein Schneider. Im Wellenschlag von Zeiten der Sehnsucht und der Unruhe treiben die Schneider stets obenauf umher und haben die hohen, hellen Stimmen. Dieser Mensch redete übrigens eindringlich und geweiht, und ein Geist war über ihm. Seine Worte aber gingen so:

»– – – denn, wie ich sagte, Brüder und Schwestern! Im Geist ist Einheit; warum sind wir dennoch die Vielfältigen? Ihr einen wollt das friedliche Leben und die Menschengeschwisterschaft und sehnt euch, die Gartenwege des Paradieses von neuem über die Erde zu ziehen.

Ihr anderen wollt die sanfte Nahrung der Unschuld: Pflanzen, süße Milch; und kein Blut der schwerbedrohten Geschwister Tiere soll mehr fließen!

Ihr dritten wollt den längst versteckten Gott suchen und ruft Sonne, Wind und Wasser an, daß sie ihn euch verraten sollen, und ihr vierten hinwiederum seht in Sonne, Wind und Wasser Ärzte, und in der Welt ein großes Krankenhaus, das ihr zum Gesundungsheim umbauen wollt.

Jetzt noch stehen wir beisammen; bald werden wir uns trennen, denn es ist menschlich, nur nach einer Richtung zu schauen. So betrachte ich uns wie Kinder eines Vaterhauses, welche nach allen Winden auseinandergehen, nach Zielen, die weit voneinander liegen. Mich ängstigt aber vor diesem Wirbelwind der Trennung, der uns nicht fester finden wird, als dürre Blätter. Es fehlt schmerzlich, der uns alle verstände, es fehlt schmerzlich, der an uns alle glaubte, es fehlt schmerzlich, der uns zusammenhielte. Der gute Hirt!«

Als der Schneider gesprochen hatte, war Stille. Einige hysterische Frauenzimmerlein schluchzten; ein Mädchen hatte sich zu einem Harmonium durchgearbeitet, welches dort stand, weil der Saal auch von dem Verein der andächtigen Gottlosen für einen Tag im Monat als Erbauungstag gemietet war. Die meisten von diesem Verein, der neunundzwanzig Mitglieder zählte, waren auch jetzt anwesend, und das Fräulein am Harmonium gehörte mit dazu.

Ganz ähnlich wie man vom Wendelin Zimbal hörte, war auch sie von der Natur gründlich verhöhnt worden. Die Verhöhnung begann mit dem Namen Kunigunde Anatour, hatte ihren sichtbarsten Witz mit einer Warze auf der Nasenspitze des Fräuleins gemacht und endete mit einem männersuchigen und menschheitumarmenden Gemüt. Sie war ein Engel, namentlich, solange sie kochte, wusch, bügelte und Kranke pflegte, und wäre ein Stück Vermögen für einen braven Mann von bescheidener Stellung gewesen, wenn sie nicht »in aner Tour«, wie ihre Verwandten spotteten, mit witternder Nase hinter einem Mann ihrer Wünsche dreingegeistert hätte. Und fast in jedem, den sie sah, ahnte sie eine Zeitlang den Endlichen, daher stets eine Art von männlicher Luftleere vor ihr entstand, wenn sie durch eine Menschenansammlung steuerte.

So kam sie auch überraschend schnell zum Harmonium. Denn selbst zwei langhaarige Jünglinge, welche soeben über die Bedeutung des Altars des unbekannten Gottes zu Athen stritten, teilten sich mit Ängstlichkeit. Sie aber erstieg mit Wehmut das Instrument und strömte einen Choral von sich.

Im Verein der neuen Menschen waren nämlich alle Arten erbaulicher Vorträge gestattet, da sie noch nicht wußten, was sie beisammen wollten.

Der Verein, welcher heute nichts Besseres zu tun hatte, als ratlos zu sein, hörte zum Teil zu, zum Teil auch nicht.

Dem Kantilener war es aufgefallen, daß nach der Rede des schmerzlichen Schneiders viele nach Wigram geblickt hatten, als wollten sie sagen: wie denkst du? Antwortest du ihm nicht?

Sie hatten noch kein Wort von Wigram gehört, aber gerade, weil er nie sprach, und, wenn er nur die Brauen nachdenklich zusammenzog, schon für sehr gesprächig gelten mußte, weil man doch ein wenig an ihm lesen konnte, deshalb ahnten sie das Wunderbare hinter ihm.

Er aber schaute finster zu Boden.

»Nun?« fragte Kantilener, »hilft ihnen niemand?«

»Wozu?« fragte Wigram. »Hilflos zu sein ist ihr Beruf. So lange sie das sind, hält der Verein zusammen.«

Liesegang hatte die beiden entdeckt und boxte sich freudig zu ihnen hindurch. Hinter ihm schwamm wie ein Schattenwölkchen Petelin nach.

Petelin hatte es bis auf drei Datteln, drei Nüsse und zwei Äpfel im Tage gebracht, stand also der Verklärung schon sehr nahe. Er drückte Kantilener mit Überschwang die Hand, aber dem mitleidigen Othmar war es nur, als ob ihm jemand auf die Finger gehaucht hätte.

O Herr der Bergpredigt, dachte er. Hättest du auch gesagt: Selig sind die freiwillig Verhungernden?

Liesegang blieb inzwischen vor Wigram stehen. Nach der Begrüßung verkroch sich wieder die Freude aus seinem Antlitz in einer dreieckigen Sorgenfalte über den Augen, und das Alpenglühen frommen Leides turnte über das ganze, lange Antlitz mit dem Ziegenbart herab. Hinter dem wehmutgeöffneten Mund standen die schiefen Zähne wie eine Reihe strapazierter Zaunpfähle.

So wirkte er dreiundzwanzig Sekunden lang auf Wigram und Kantilener.

Dann sagte er: »Hat er nicht recht, der Schneider? Recht hat der Schneider; der Schneider hat recht! Wir werden zerstieben. Ich hab's doch immer gesagt: Zuerst das Rückgrat des Vegetariers! Dann die Muskeln des Abstinenzlers. Dann erst die Seele des neuen Menschen. Aber gegorene Gifte trinken und Leichenabsud essen, und dann den Frieden und die Gesundheit über diese Erde tragen wollen, nein; das geht nicht! Ist es denn noch ein Nutzen, wenn wir Tiermörder, Kannibalen an unseren unmündigen Geschwistern, in diesem Verein dulden? Soll der neue Mensch nicht lieber, in der einen Hand den Apfel, in der anderen den Scheuerbesen haltend, als flammender Paradeisengel diese Welt betreten?!«

Kantilener lächelte. »Gar nichts soll er in den Händen halten,« sagte er. »Liebe und Duldung muß er in der Seele haben.«

»Allein bleiben soll er und sich selbst genügen,« murrte Wigram.

»Da kämen wir nicht weit,« rief Liesegang glühend vor Eifer. »Nein, Wigram! Nein, Kanlilener! Wenn in zwanzig Jahren diese Erde nicht vegetarisch und mordfrei ist, so wandere ich aus!«

»Ich noch früher,« versicherte Petelin.

»Aus der Welt?« fragte Wigram trocken.

»Ich baue mir eine Hütte unter den Kokospalmen Indiens,« sagte Liesegang, »dort allein leben Menschen, welche den Frieden fanden.«

»Und darum unterjocht sind,« warnte Wigram nachdenklich. »Wo liegt nur die gute Mitte?«

»Wigram! Wolltest denn du es nicht versuchen, diesem Verein als Führer vorzustehen?« fragte Liesegang.

»Ich kann nur einsam bestehen,« antwortete Wigram. »Warum schwingst nicht du dich dazu auf?«

»Ich bin kein Führer, ich bin Arbeiter. Und dann, ihr werft es mir ja selbst vor, ich bin einseitig und unduldsam.«


Fräulein Anatour hatte plötzlich zu spielen aufgehört, es wurde still, und eine Stimme fragte:

»Ist Doktor Urban nicht da? Fräulein Anatour ist unwohl.«

Einige Frauen halfen ihr. Sie hatte sich mit Wehdurchdrungenheit überanstrengt und klagte nun, daß sie jeden Augenblick mit einer Ohnmacht beschwerlich fallen könnte.

Die in Armeslänge nahe befindlichen Jünglinge zogen sich also von ihr zurück, um den Dankausbrüchen der etwa wieder Hergestellten zu entgehen. Aber eine kleine, bucklige Näherin zog ein Püllchen aus der Tasche. »Trinken Sie,« flüsterte sie.

Entsetzt, aber leise rief Kunigunde: »Um Gottes willen! Gebranntes Gift!« Dann trank sie. Es war ein ausgezeichneter Schnaps, und ihr wurde schnell wieder warm und wohl.

»Unser Heiland hat auch Wein getrunken,« sagte die Nähterin naiv. Und Fräulein Anatour neigte viermal das Schmachtlockenhaupt: »Ja der! Wenn wir den noch hätten! Das wäre der rechte …«

Dieser Ausspruch des Fräuleins Anatour erinnerte den in der Nähe stehenden Schriftführer des Vereins der andächtigen Atheisten an den offen gebliebenen Vorschlag des Schneiders, und er rief: »Ich bitte um Ruhe! Ich bitte um gütige Aufmerksamkeit. Ich bitte, hat niemand zu den gewichtigen, aber vielleicht dennoch etwas pessimistischen Gedanken des Herrn Vorredners Stellung zu nehmen? Vielleicht einer der Herren Gäste?« fragte er und sah Kantilener an. –

Der war schon eine Zeitlang unruhig. »Es sind doch alles Suchende und Emporringende,« hatte er zu Wigram gesagt; »man muß mit ihnen sprechen.«

»Wie denn?« fragte Wigram.

»In Liebe«, – und er erhob seine Stimme. »Meine Brüder und Schwestern in der Sehnsucht,« sagte er. Und erstaunt, erfreut und hoffend sahen sie auf ihn, der sie mit heiterer Zuneigung betrachtete, und in dem sie Teilnahme, Frohsinn, Schönheit und milde Kraft ahnten.

»Wie ich längst von euch weiß, sind in dieser Versammlung, welche sich auf ein großes Evangelium einigen möchte – – –«

»Sehr gut,« riefen einige. Die anderen aber zischten so lebhaft nach Ruhe, daß man fühlte, das Fieber der Hoffnung, die Glut des Zutrauens habe schon viele Gemüter gepackt.

»– – es sind zu dieser Gemeinde zusammengekommen die Mitglieder des Vereins der Vegetarier mit dem Zweigverein der Antialkoholiker, der Verein ›Vater Kneipp‹ mit den drei Zweiggruppen ›Wasserheil‹, ›Sonnensegen‹ und ›Windfahne‹, die Tafelrunde zur Verbreitung naturgemäßen Wohnens, die Tischgesellschaft ›Grünzeug‹, der ›Verband für natürliche Bibeldeutung‹, einige Nazarener, Urchristen und der Verein der andächtigen Atheisten, und« – er lächelte den Freunden zu, – »vier Mitglieder des namenlosen Vereins derer, welche sich freuen. Dann Mitglieder des theosophischen Klubs, eine Spiritistin, und das Quartett ›guter Mond‹.

Was ist nun die frohe Botschaft, welche alle diese Vielgedanklichen gemeinsam der Menschenwelt schenken möchten? Sie ist so einfach:

Gesunder Leib, gesunde Seele, Genügsamkeit, Friede mit sich selbst und den Mitmenschen und stille, innerliche Heiterkeit.

Jeder will es, und jeder will es anders. Wirke doch jeder in seinem Verein nach seiner Weise und komme hieher nur, um über den Erfolg zu künden. Wie werden wir uns dann alle freuen, wieviel werden wir zu bedenken und zu besprechen haben!

Freunde wollen wir sein, die jeder den anderen gelten lassen, und nur ein Feind sei aus diesem Verein verbannt: Das schroffe Nein!

Versprechen wir uns alle, das Nein gegen den Mitmenschen, gegen seine Abart und Andersmeinung außerhalb dieses Raumes zurückzulassen und hier jede Meinung mit Freundlichkeit zu besprechen. Dann wird dieser vielfältigste aller Vereine so lange halten, wie die größte Unverwüstlichkeit dieser Erde hält: Hoffnung! Dieser Verein wird eben deshalb ewig bestehen, weil ihn keine zeitlichen Klammern halten dürfen. Kein Vorstand, kein Ausschuß, und vor allem kein Programm als dieses: Der Glaube in Ehren, die Liebe in Übung, die Hoffnung als Lohn. Seid ihr einverstanden?«

Sie waren es, alle. Kantilener hatte sie zwar angenehm enttäuscht. Sie hatten von ihm eine Feuerrede erwartet, und er war mit lächelnder Vernunft gekommen und hatte alle still, froh begütigt und keinen hingerissen. Manche drückten ihm die Hand und machten sich mit ihm bekannt. Auch der Schneider kam auf ihn zu: »Sie melden Ihren Eintritt in den Verein an?«

»Ja!«

Die Verkündigung des neuen Mitgliedes fand zufriedene Freudigkeit. Man bereitete sich, ihn neben Urban und Wigram als Bedeutendsten und Klügsten anzusehen. Nur nicht als den Messias. Denn einen solchen erwarteten diese merkwürdigen, sehnsuchtvollen Menschen dennoch, – als Vorstand.

Kantilener trat zu Wigram, der ihm mit weiten Augen entgegenstarrte. »Nun?« fragte er freundlich.

»Diese anarchischen Ideen müssen in der Luft unserer Zeiten liegen!« rief Wigram in schwerblütigem Staunen. »Bald fängt sie da, bald dort einer, und jeder fängt dieselbe. Wir aber sind eifersüchtig, wenn auch ein anderer sie sieht.

Denn nicht nur dein Vorschlag, ohne Leithammel zu leben, ist mir aus dem Munde genommen. Da schreibe ich zum Beispiel neulich einem bedeutenden Unbekannten, die Menschheit hätte drei große Sehnsuchten; nach Gesundheit, Seelenruhe und Freude, und heute tritt mir der Othmar vor eine Gesellschaft und sagte ihr fast dasselbe!«

»Aber da sind wir ja Brüder, Cyrus!« lachte Kantilener erfreut und hielt ihm die Hand hin.

Wigram nahm sie und schwang sie nachdenklich hin und her: »Bis ich ein Stück weitergehe, Othmar; Brüder, bis ich ein Stück weitergehe.«

»Ich gehe mit.«

»Kaum. Du kommst den Fragen dieses Lebens mit Liebe bei, ich mit – – –« Wigram suchte nach einem Wort.

»Mit Haß?« rief Kantilener traurig.

»Das nicht, aber mit einer Art von Absage, mit Unvertrauen, ich weiß noch nicht genau. Und sage mir: Glaubst du denn, daß dieser Verein, in dem doch so viel Rührendes, Starkes, Begeistertes und Seeleneroberndes steckt, das geringste Gute auf der Erde anstiften wird?«

»Mir kommt er wie die Anfänge einer neuen Welt vor,« sagte Kantilener und zog Wigram aus dem Vereinssaal fort in die Winternacht hinaus. Sie gingen durch den ödverschneiten Park, und Kantilener sprach weiter.

»Sieh diese gramvollen Wolken. Als ob noch Dezember wäre! Hoffnungslos. Aus solcher Nacht leuchtete der Stern von Bethlehem. Aus Lumpen und Armut begann die Liebe zu reden. Und, Wigram: Aus Krankheit und Schwäche wird sie das andere Mal reden.

Dieser Verein ist das zweite Urchristentum. Glaubst du, in den Katakomben seien Schönheiten, gelungene Meisterstücke des Menschenkneters, glaubst du, dort sei die wunderschöne Heiligkeit zusammengekommen, wie die katholische Seelenschmeichelei sie malt?

Glaubst du nicht, daß reumütige Impotenz oder gealterte Koketterie, daß hinkende Schuster, warzige Mädchen, verlassene und betrogene Dienstboten, hoffnungslos unheiratbare Frauenzimmer allerart, Weiber von Säufern und geprügelte Ehemänner hinliefen? Daß, kurz gesagt, neben sehr wenigen Lichtgestalten voll Schönheit und Glaube, neben wenig Gesundheit und Kraft die gesamte unfreiwillige Lächerlichkeit ihrer Zeit dort versammelt war?

Glaubst du, die glühende, ekelvolle Verachtung der lachenden, gesunden Antike hätte sich so drastisch geäußert, wenn eine Christenversammlung ihr nicht wie ein lebendiger Ausschlag des Volkes erschienen wäre?«

»Gut, gut,« gab Wigram zu. »Aber was tut das hier? Es sind viele Schwache, Kränkelnde, Verkümmerte und von der Natur Verkürzte dabei, welche nach Vollkommenheit dürsten. Aber eine Versammlung von destilliertem Elend, wie du sie mir da malst, das sind sie denn doch lange nicht!«

»Sie sollen es aber werden!« schrie der gute Othmar, den die Lust der Askese und der Entsagung machtvoll angefaßt hatte. »Dieser Verein soll abermals rufen: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid! Er soll versammeln, die geschädigt, vergrämt, krank und sehnsüchtig sind. Siehst du nicht, wie mächtig die Sozialdemokratie wirbt, die doch nur für heidnische Sorge, Essen und Trinken und Unterschlupf, wahrhaft nutzbar wird? Der möchte ich Seelen zuführen, Seelen, nicht Mägen! – Ich möchte in das animalische Wünschen der dumpfen Masse die heilige Brandfackel der Sehnsucht werfen …«

»Du hast schon über Organisation nachgedacht?« fragte Wigram ernst. »Glaubst du, daß die Sozialdemokratie mit eurer neuen Menschheitsbewegung einig gehen wird? Oder mißtrauisch auf Mitglieder schauen muß, welche die Freude und den Frieden suchen, statt Unzufriedenheit und Kampf? Und hat sie auf diese beiden Kräfte nicht besser spekuliert, wie wir die Menschen kennen?«

Kantilener dachte ernsthaft nach. »Es kommt eben alles darauf an, daß unser Bund der neuen Menschen stark und mächtig wird. Die Fühlung mit der immerhin mehr physischen Partei dürften wir nie verlieren.«

»Deine Urchristen schlossen sich niemand an. Aus sich selber wurden sie mächtig.«

»Freilich, freilich!« erwiderte Kantilener resigniert. »Aber mächtig wurden sie nur, weil sie nicht blieben, was sie waren. Ich bin auch so eine Natur, welche das Nützliche und Kluge niemals ganz überwinden kann, und das ist Schwäche. Ein Prophet werde ich nie sein; dazu fehlt mir die Verachtung aller Rücksichtnahme.«

»Die mußt du haben,« rief Wigram grollend, mit eindringlichem Baßlaut, indem er stehen blieb.

»Was hast du? Bist du böse?«

»Ja,« sagte Wigram. »Ich will es dir sagen. Du bist ein Berufener, das habe ich heute erkannt. Aber du bist noch ein Junge! Wer Teufel hat dich so schmiegsam werden lassen? Werde hart! Glaub an dich und sei hart in Glaube und Wollen. – Vielleicht arbeiten wir dann doch zusammen.«

Und er kehrte sich um und schritt durch die Nacht fort.

Am dritten Tage nachher kam er des Morgens in die Wohnung des erstaunten Kantilener. Der lag noch, von hundert Ideen umschwirrt, im Bett und spintisierte.

Wigram setzte sich zu ihm und begann: »Kurz und gut. Sag mir, wie bist du auf das mit den Urchristen und dieser Gesundheitsbewegung gekommen? Wie kommst du überhaupt zu Ideen, die eigentlich in meine Welt gehören? Zur Erkenntnis, daß diese Welt am Rande eines gewaltigsten Zeitabschnittes steht?«

Kantilener stand auf und erklärte ihm während des Ankleidens: »Ich habe meine Dissertationsarbeit aus der Kunstgeschichte wählen müssen. Da bin ich auf die christliche Kunst geraten.

Zuerst begann ich mit Giotto, ging dann noch früher auf Cimabue und von da zurück ins Nebelgrau der Investiturzeit. – Alles schon fertige Überlieferung. Wenig Werdendes.

Nun ließ ich die Gotenzeit und das offizielle Christentum gänzlich aus und drang in die zerfallende Antike ein. Das dürftige Material der Katakomben studierte ich psychologisch, erforschte die Sgraffiti als älteste Karikaturdenkmale und vergrübelte mich in das noch gänzlich dunkle griechische und asiatische Christentum. Du, Wigram! Nur bei den Barbaren war originelle Kunst. Die armenischen Christusbilder, syrische Arbeiten, bulgarisch byzantinische Überreste, – da war Auffassung!

In Hellas und Rom aber mühselige, talentloseste Nachtreterei! In der Kunst, im Handwerk nicht ein Gedanke, nicht eine Frische, da dachte ich mir: Blieben die Männer von Geist und Erdenfreude denn so fern? Und studierte die Märtyrergeschichten, dann die heidnischen Satiriker, endlich die Kirchenväter; die ganz alten. –

Da fand ich bedrückende Ähnlichkeit mit unserem zerfälligen Zeitalter. Es ging mir tief zu Herzen, Wigram. Die Menschen glauben so sehr an die Kraft ihrer Staaten – –«

»– – – – – und wir sind das morsche Rom,« sagte Wigram in schwerem Ernst. »Das habe ich meinem fernen Bekannten auch geschrieben; aber ich fürchtete bis vor kurzem, der würde mir's in Ewigkeit nicht glauben. Denke dir, der glaubt an einen gewaltigen Nationalstaat, an eine starke Zukunft, an Militär und frische, junge Kaiserherrlichkeit!«

»Ist es denn ein so unbedeutender Mensch?« fragte der ahnungslose Othmar.

»O, keineswegs; voll Gnade, Kraft und Gedankenfreude.«

»Dann muß er aus sehr reicher, verwöhnter, sogenannter guter Familie sein,« meinte Kantilener. »In Sorglosigkeit gehüllt, durch Schmeichelei belogen, durch Selbstzufriedenheit betrogen. Nur solche können und wollen nicht sehen, wie die ganze, alte Welt in Weh aufzuckt und ihr Schicksal nicht mehr ertragen kann.«

»Ja, ach ja!« seufzte Wigram. »Darüber bin eben ich erkoren, ihm alles das zu sagen.«

»Strick und Nadelöhr, lieber Wigram. Du kennst das Bibelgleichnis vom Reichen. Vergebliche Arbeit!«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht,« lächelte Wigram in geheimnisvoller Verklärtheit. Denn damals war eben die Zeit, wo der Kaiser sein Wort vom sozialen Christentum gesprochen hatte. Vor drei Tagen noch war alles im Schnee der Hoffnungslosigkeit erstickt; vor drei Tagen hatte Wigram noch gedacht, daß diese bange Zeit einer neuen Religion bedürfe, welche zersetzen müsse, um aufzurichten; wie das Christentum einst es tat.

Und nun ruft dieser Prachtmensch von Kaiser aus: Christlich sein, heißt sozial sein. Wahrlich! Heute stand's im Morgenblatt. Also eine Revolution von oben aus. Und heute wehte der Föhn, aus allen Dachrinnen lief es, klingend sprangen die Eiszapfen, und der Himmel war überirdisch blau und lächelte allerdurchlauchtigst.

Tauwetter! Frühlingszeit! – – – – –

Die beiden Freunde machten einen schönen, gedankenreichen Spaziergang durch die wache, rieselnde Welt. Dann ging Othmar wieder an seine altchristlichen Studien.

»Bohnstock hat dennoch recht,« sagte er. »Die Kunst ist ein erhöhtes Leben, ein vertieftes und ein verklärtes zugleich. Was lernte ich nicht für dieses heutige Leben und diese heutige Zeit aus jenen alten Bildern, die mir so eng und unfrei schienen!«

Wigram aber ging nach Hause und schrieb seinen zweiten Brief an Kaiser Wilhelm über die Naturmenschen als die neuen Christen – – – – –

»– – – – – und seien Sie größer, Majestät, als jene alten Soldatenkaiser des alten Rom. Gestatten Sie diesen harmlosen Kindern im kamelhärnen Kittel, frei durch die Lande zu wandern und zu lehren, zu mahnen und zu predigen. Sie bringen Seele und Gesundheit mit sich. Ihre politischen Pastoren und das Hochschulprivilegium, beide werden aufschreien wie die Götzenpriester jener alten Welt in Angst und Sorge um die Pfründe. Halten Sie lächelnd den Kaiserschild über die Jünger des neuen Menschentumes. Auch sie geben ja dem Kaiser, was des Kaisers ist, und sind so unpolitisch!«


Vierzehn Tage nach diesem Brief dirigierte der Kaiser wieder den Hohenfriedberger Marsch.

Wigram stöhnte vor Weh und mied eine Woche lang alle Zeitungen. Er war tief unglücklich.

Dann, am Tage, als es ein Jahr war, daß die Freunde Frau Else kennen gelernt hatten und diese sie einlud, wieder bei ihr zusammenzukommen, da ging er in seiner Erregung, die holde Frau endlich wieder sehen zu müssen, doch ins Kaffeehaus. Um sich zu zerstreuen.

Und da stand es, daß sein Kaiser schon vor einer Woche nach Italien gefahren war.

Um Gottes willen! Wollte der auf den Spuren des alten zusammengebrochenen Weltkaiserreiches wirklich seine schwermütigen Studien machen? Hatten Wigrams wiederholte Worte: ›Wir sind das alte Rom‹ – so tief gegriffen?! Das Nationalmuseum mit seinen Scherben, Trümmern und Torsen hatte er in Palermo besucht, und dann das Grab Friedrichs des Zweiten, des Geniekaisers, der vergeblich für die Gewaltreichsidee gestritten hatte. Also dennoch? Geheimer, mächtiger Wigram!

Er grübelt über Ruinen! Gott sei Dank, das Samenkorn ist gefallen, jubelte der völlig Wahnverwickelte und eilte glücklich zu Frau Else.

Die elf Freunde waren alle da, sogar Liesegang und Zimbal, als Wigram hereinstürzte.

»Sieh da, Herr Wigram. Also dennoch?« frug Frau Else ganz, ganz ein klein wenig gedehnt. Aber dann reichte sie ihm herzlich die Hand … »Wie gut Sie aussehen. Lange Abwesenheit von meinem Hause ist also wirklich hygienisch, Herr Liesegang.«

Liesegang knickte sich verlegen zu einer Art Verbeugung ab. Mit seiner vegetarischen Idee gänzlich imprägniert, war er durchaus weiberfest; besonders gegen unvegetarische Schönheiten. Er schielte nach der Tür und gedachte bald zu entkommen.

»Nein, wirklich, Sie sind wie verklärt,« hatte sich Frau Else an Wigram zurückgewandt.

»Vor Freude!«

»Doch nicht, daß Sie hier sind?«

»Auch. Aber – doppelte Freude,« winkte ihr Wigram zu.

»Wie?« erstaunte Frau Else. »Haben Sie … ihm … geschrieben? Und erfolgreich? Aber davon sprechen wir allein.«

Und sie wandte sich wieder zu den Freunden, welche in drei Zimmern verteilt saßen. Scheggl blätterte hocherfreut in Katharina Pratos Haushaltungskunde, Bohnstock hatte die philosophischen Schriften Wagners in Händen, Petelin Nährwerttabellen sämtlicher Früchte, O'Brien stand vor dem Spiegel, Kantilener und Vollrat musterten ein Herbarium, Zimbal vertiefte sich in »Bühne und Welt«, Semljarisch in eine slawische Besiedlungsstudie aus den fontes rerum austriacarum, Arbold sah eine Bronzegruppe balgender Athleten von Meunier, Strasser oder sonst einem Gorillakünstler an, und nur Helbig starrte in unheilbarer Schwermut in den Garten hinaus. Für alle hatte Frau Else gesorgt, und jetzt entzückte sie sogar Liesegang mit der Mitteilung, daß für ihn und seine Partei rein vegetarisch, mit Kokosbutter und gewürzfrei gekocht worden sei. Er müsse zu Mittag bleiben. – – – Nur Helbig, den vermochte sie nicht zu erheitern. Sie nahm also Wigram zu Hilfe und ging auf den krankhaft blassen jungen Jurisdoktor zu; denn das war er nun.

»Nun sagen Sie mir endlich, Sie Ärmster, was tun Sie denn?« begann sie. »Mir und dem schweigsamen Wigram können Sie's ja wohl sagen: wir leiden sicherlich mit Ihnen.«

»Ich nehme Abschied,« sagte Helbig.

»Abschied? Wovon?«

»Von diesem Garten, von der ganzen, stillen Gartenstadt, von der überirdischen Umgebung, von meinem verklärten Dasein, von der Jugend und –« er sah Frau Else schmerzlich an, »von Reinheit, Feinheit und Wohllaut.«

»Weil Sie nach Wien kommen?! In die berühmte Musikstadt, mitten in den neuen Künstlerkrieg der Sezession, in die Anregung und hohe Schule der großen Welt?«

»Das habe auch ich gehofft. Jetzt aber ist mir schwer bange. Ich muß mein innerstes Feiertagsglockenläuten hören können und im Grünen still sein dürfen. Ich muß mir meine Menschen suchen und den anderen ausweichen können: dort aber komme ich in ein Bureau! Ahnen Sie, was das ist? Was das mir ist, dem davor graut, einst mit der großen Menge, die wie Menschen aussah, auch nur in Masse begraben zu sein?«

»Von uns zwölfen hier sind gar manche einsam, lieber Amadé,« tröstete Wigram. »Du wirst dort viel verloren haben: Landschaft und Freude. – Aber eines wirst du gewinnen: die Möglichkeit, in die Kämpfe dieser Zeit tätig einzugreifen. Das ist schönstes Mannsein! Sorge für nichts als Gesundheit dazu, dann hast du mehr gewonnen als verloren.«

»Da bin ich schlecht fundiert,« seufzte Helbig.

»Nehmen Sie doch Urlaub, vor Amtsantritt,« drängte Frau Else. »Ich stelle Ihnen unseren Weingarten frei zur Verfügung. Sonnen Sie sich, ruhen und schauen Sie sich die Seele heiter, und im Sommer komme ich und mäste Sie prächtig heraus.«

»Sie liebe, gütige Frau! Nein, mit erstem Mai muß ich fort, – – –. Mit erstem Mai!« wiederholte er voll bitterem Schmerz.

»Bis dahin ist noch Zeit, viel gute Kraft nachzuholen,« sagte Wigram. »Wir werden öfter zusammen ins Freie fliegen.«

Sie wurden gestört.

Mit verwundetem Herzen hatte O'Brien beobachtet, daß Frau Else lebhaft und herzlich mit Helbig sprach. Er verstand nicht völlig, was sie sagte; deshalb regte ihn der innige Ton ihrer Stimme auf. Er drängte sich an die Gruppe.

»Abschiedsschmerzen!« rief er. »Der glückliche Helbig. Wird der nach Wien berufen, wo Mozart verhungert, Beethoven vereinsamt und Grillparzer verbittert ist. Die Toledaner Klingenschmiede sollen ihre feinsten Schwerter in Sahne gehärtet haben. Dieser üppige, fette Wiener Boden ist ganz ebenso geeignet für allzu schmiegsame Geister; er stählt und härtet. Helbig wird grollen, trotzen, kämpfen lernen und ein ganzer Kerl werden!«

»Wie du es bist,« lächelte Helbig melancholisch.

O'Brien sah Frau Else an. »Ja, wenn mir das Frau von Karminell sagen würde?« fragte er.

»In Ihrer Art sind Sie es ja,« gab sie zu.

»Ist die so fremdweg abzusondern und kalt zu klassifizieren?«

»Kränke dich nicht,« sagte Wigram. »Sieh dich um, schau in die beiden Nebenzimmer und werde endlich klar über das, wofür die Herrin uns nimmt.

Zwölf Stück sind wir hier, und außer dem überaus gesunden Scheggl, der aber dennoch seinen Gebirgskoller hat, außer dem bodenfesten Vollrat sind lauter Sonderlinge beisammen.

Glaubst du denn, Frau von Karminell, welche der Statthalter für seine Wohltätigkeitsfeste, der Theaterdirektor für seine Wagnerinszenierungen und das bißchen Großindustrie unserer Stadt für ihren Glanz unentbehrlich hält, daß diese Frau, die jeden Hochschulball eröffnen muß, nicht Menschen, mehr als zuviel, um sich versammeln könnte? Warum scheidet sie Uniformen, Fracks und Cerevise so sorglich von uns und unseren schäbigen Röcken, daß man glauben könnte, wir verkehrten allein bei ihr? Wir sind die Kauzsammlung dieser schönen Feinschmeckerin; das Abnormitätenkabinett. Wir leben für das Drolligkeitsbedürfnis einer klugen Frau, die uns alle um den Finger wickelt, in die wir alle verliebt sind, und die uns alle auslacht.

Diese Stellung erkannt zu haben und mit gutem Humor bei ihr zu bleiben, um sowohl ihren Triumphwagen als ihre Heiterkeit zu beleben, das ist die einzige Weisheit, welche unsereinem noch ein bißchen Würde gibt. Ich für mein Teil bin durchaus nicht zu stolz, dem Amüsement einer Frau Königin zu dienen.«

»Hören Sie, Herr Wigram (ich glaube, Herr Doktor Wigram inzwischen),« sagte Frau von Karminell mit ernstem, blassem Gesicht. »Wenn Sie die Wahrheit nur mit solchen Verzerrungen sehen, so halte ich wenig von dem klaren Spiegel Ihres Verstandes. Ich bitte Sie, dergleichen weder zu denken noch zu sagen.

Ich liebe Ihre Vereinigung, weil sie mich erhebt, heiter und ruhig macht und daran erinnert, daß das Leben mit Klarheit geführt sein will. Ich war nervös, zwiespältig, gefallsüchtig und manchmal sogar frivol, ehe ich Menschen von der Ideenreinheit eines Kantilener, Liesegang, Semljaritsch, Wigram (aber ich müßte ja fast alle nennen!) kannte. Jetzt bin ich voll Stimmung; klar, heiter und still. Das habt ihr mir gegeben. Daß ihr Originale seid – – ihr würdet ja ins Wasser springen, wenn ihr es nicht sein dürftet! Es ist euer Glück, euer Stolz, eure Lebenskraft und euer Hochgefühl! Ich bin es, die von euch empfängt.

Die Schlichtheit Ihrer Röcke ehrt mich. Ich lebe so sehr im Luxus, daß er mir selbstverständlich ist und gar keine Hochachtung mehr abzwingt. Ich kleide mich, weil ich gefallen will, denn ich bin eine Frau. Ein Mann hat andere Mittel, um zu gefallen.

So, nun haben wir ja reinen Tisch, Freund Wigram. Und nun gehen wir zum besetzten.«

Sie rief die Freunde zum Speisen, dann wandte sie sich nochmals zu Wigram. »Darum also sind Sie fast ein Jahr nicht gekommen? Das war Ihre humorvolle Weisheit, die nicht zu stolz ist, dem Amüsement einer Königin zu dienen?«

O'Brien drängte sich an ihre Seite. Die ernsten Worte der sonst so heiteren Frau hatten ihn schwer getroffen, und aus ihrer ihm unbegreiflichen Liebhaberei für die einfachen Kleider der Nachdenklichen hörte er einen verächtlichen Vorwurf gegen sich selber heraus, der ihm alles Blut aus den Wangen trieb. Frau Else hatte Wigram und Kantilener an ihre Seite zu ziehen gedacht, aber O'Brien, der alle Beherrschung verloren hatte, drängte Kantilener weg.

»Willst du ihre Wärme Fleisch an Fleisch fühlen?« zischte er dem armen Othmar ins Ohr, dem ohnehin vor der Nähe der berauschend geschmeidigen Frau bangte. Entsetzt zog der sich also um drei Plätze fort. Daß Wigram an ihrer anderen Seite saß, war dem O'Brien recht, denn Kantilener, Helbig oder Bohnstock wären ihm noch viel aufregender gewesen. Er fühlte durchdringend, daß Bohnstock glühend liebte, und daß dem Helbig in ihrer Nähe wohl war.

Er verdarb durch seine Eifersucht das heitere Mahl, das Frau Else mit solcher Liebe und Freudigkeit gerichtet hatte, gänzlich.

»Sie machen diesem ruppigen Kaulkopf Wigram Komplimente, während er Sie meidet,« warf er ihr mit glühenden Wangen vor. »So weit ist Frau Else gekommen, daß sie um junge Männer wirbt und schmeichelt. Hat sie das nötig?«

»Ich will in Friede und Freude sein,« sagte sie kurz. »Wenn Sie eifersüchtig sind, gehen Sie fort und beruhigen Sie sich anderswo. Ich sehe hier sonst nur Leute von Gleichgewicht. Andere hätte ich nicht geladen.«

O'Brien schwieg. Beim zweiten Gang begann er abermals: »Ich werde Ihnen einen Rat geben. Sie sind so schön, so klug. An Ihrer Stelle würde ich sie alle knapp halten. Selten dürften sie mir kommen, und Gnade wäre von Ihrer Seite, was Sie jetzt schon fast zu einer Gnade von Seite dieser verrückten Kamelhaarjünger gemacht haben.«

Sie sagte kurz: »Die wissen alle ganz gut, daß ich auszeichnen kann und will. Abweisend und rar sein, dafür sind mir die Leute gut, welche mir nachlaufen.«

»Wär's aber nicht schön,« fuhr O'Brien etwas klüger fort, »wenn Sie ein wenig kühler gegen Menschen ständen, die gar nicht Welt genug haben, um zu begreifen, daß ihnen hier Ungewöhnliches widerfährt? So schön, so begehrenswert! Ist es denn nicht eine Beleidigung, daß nicht alle blind und toll in Sie verliebt sind? Die würde ich mir tüchtig durcheinander wirbeln! Es wäre doch ein Hauptspaß, diese Intelligenzen zu stören, ihre Ideen kurzweg abzusetzen und eine blonde, grauäugig überlegene Frau an ihre Stelle zu bringen!«

Frau Else lächelte. Dann unterhielt sie sich viel heiterer als bisher mit den anderen und verzog sie nur desto mehr.

»Nun?« flüsterte O'Brien nach einer Weile von neuem: »Das wäre doch ein Stück Lebensaufgabe.

Ich will ja nicht von Liesegang oder Scheggl oder Zimbal reden. Der Kerl ißt mit dem Messer, pfui Kuckuck! Sie werden sich den Mund zerschneiden, Herr Zimbal!«

»Schweigen Sie,« gebot die Hausfrau, und Helbig erklärte Zimbal in Eile den Gebrauch all der merkwürdigen Geräte, welche da neben dem Teller lagen. Ehrfürchtig nahm Zimbal den Nußknacker und holte sich, schon während der Braten serviert wurde, eine Nuß aus den Früchten, die er angeknabbert, zum Entsetzen Helbigs, wieder auf den Fruchtbehälter zurücklegte, als ihn der Freund auch mit der Chronologie eines Diners vertraut gemacht hatte.

Liesegang beging solche Verstöße nicht, denn er aß überhaupt nur mit dem Löffel und pries die vegetarische Reinheit und den unerhörten Wohlgeschmack der Speisen mit Backen, die prallgestopft waren, wie Federbälle.

»Ja, die Kokosbutter,« lächelte Frau Else und schenkte Petelin alkoholfreien Wein ein. »Die habe ich bisher gar nicht gekannt, aber ich werde versuchen, sie auch bei mir einzuführen.«

»Tun Sie das,« rief Liesegang. »Es ist ja unerhört, welcher Wohlgeschmack damit zu erzielen ist!«

Und er schlang und schluckte; – – – es war alles mit reinem Schweinefett bereitet. Keine Seele ahnte den Streich, und Frau Else jubelte nur ganz innerlich.

O'Brien aber trank keinen alkoholfreien Wein und trank viel. So wurde er immer unruhiger.

»Was ich sagen wollte: also den Kantilener, dann den Juden, auch den Helbig, vielleicht sogar den Windischen und den Wigram haben Sie schon weidwund; den einen mehr, den anderen weniger.«

Frau Else neigte ganz reizend den launenhaften Kopf. Die Eifersucht O'Briens war ganz umsonst gewesen. Die leichtfertigen Ideen des Vetters aber mißhagten ihr nicht gänzlich.

»Ei,« sagte sie, »das sind ängstliche Neuigkeiten. Bei dem armen Kantilener wär's mir gar nicht recht. Zu dem und zu Wigram paßte das nicht. Ich bitte Sie: verliebte Propheten!« Und sie lachte, daß ihre spitzenbedeckten Schultern bebten, eine recht verwirrende Eigenschaft, die noch ganz anderen Leuten als O'Brien in Herz und Kehle griff, so reizend war das anzusehen!

Und der Versucher fuhr fort:

»Es müssen, es müssen Sie alle zwölfe lieben! Verzweifelt, leidenschaftlich! Und dann bringen wir einander gegenseitig um!« schrie er beinahe, ohne von den lachenden, disputierenden und gedankenrollenden Freunden beachtet zu werden. Es wäre ihm ganz recht gewesen, wenn Frau Else so leichtsinnig geworden wäre. Da ließ sich im Trüben fischen.

Und schon sah sich die lichte Frau einen nach dem anderen heimlich von der Seite an. Lieben? Lieben? Aber nur wenn sie Kantilener anblickte, erschrak sie ein wenig; sonst war sie noch leicht und frei.

Bohnstock sah zu ihr herüber. Angstvoll beobachtete er, wieviel und dringlich und leise O'Brien in die geliebte Frau hineinsprach, und wie sie den Kopf neigte und lachte und ganz anders aussah als sonst: gar nicht geweiht und stimmungsvoll.

Wie vielfältig dieses Weib war. Heute hätte er sie nur gleich anfassen und wie verrückt küssen mögen. So hat er nie zu denken gewagt, aber jetzt forderte sie wahrlich selbst dazu heraus, reizend gefunden zu werden.

Frau Else sah flüchtig auch nach ihm hinüber und entdeckte den Sinnenbrand in seinen Augen. Sie zuckte nervös zusammen, verbarg aber ihre leise Beängstigung, indem sie dem Musiker freundlich zutrank.

Bohnstock wurde ganz irre und wirr vor Freude. Ihm trank sie zu, ihm allein!

Und O'Brien ärgerte sich. »Den brauchen Sie doch nicht mehr aufzuregen! Sagt Ihnen nicht schon der Wind, daß er das Faunusbukett bekommt?«

Frau Else schnellte auf, ihre Nasenflügel vibrierten. »Pfui, Tom,« rief sie. »Pfui über solche geschmacklose Ausdrücke! Zur Strafe gehen Sie jetzt! Fort in den Garten! Oder bringen Sie mir Rosen vom Blumenhändler. La France, Maréchal Niel und dunkelrote. Ich will Ihren häßlichen Ausdruck aus meinem Zimmer vertreiben.

Fenster auf, und dann schnell die Rosen.«

Da ging O'Brien widerstrebend fort, um ihr zu gehorchen. Frau von Karminell aber setzte sich mit einem furchtsamen Blick auf Bohnstock nieder; es war wie ein Pfeil in ihr Entsetzen gefahren, und sie hatte es immer noch nicht verwunden.

So gern sie mit dem Gedanken an Liebe spielte, so wohl es ihr tat, mehr als bloß bewundert zu sein, – vor dem brutalen Aufschrei: du bist das schönste Weib auf Erden! zitterte sie. Nur Köpfe wollte sie in Verwirrung bringen; nicht das Blut. Vor dem Brand der Sinne bangte der klugen Frau, welche in allem das Abgeblaßte, Feintönige und Angedeutete liebte.

Solange dergleichen undeutlich blieb, regte es sie eher angenehm an, wie ein Narkotikum in kleinen Dosen. Ein Seufzer, ein Schauer, ein Traum von Leidenschaft … nicht mehr. Unsinnlich war sie nicht, nur viel zu klug; die kluge Else.

Nun konnte sie endlich nach der anderen Seite, wo Wigram saß, horchen; da ging die Rede freilich ganz anders.

Höre einer einmal, dachte sie. Jetzt reden sie gar von einer neuen Religion. Sollten wir unseren armen Othmar wirklich so weit gedeihen lassen? Und Wigram erzählte eine Legende. Worüber lachten sie denn jetzt?

»Neigen Sie sich zu mir, Herr Doktor Wigram,« rief sie. »Erzählen Sie mir doch nur auch die hübsche Legende.«

Wigram kehrte sich in guter Laune gegen sie und begann von neuem: »Als unser Herr noch über die Erde ging, begegnete er einer schönen Frau; der Schwester des ohnehin klugen Pilatus.

›Meister,‹ sagte die zu ihm: ›dich hat der Vater gesandt?‹

›Ja,‹ lächelt der Heiland, ›der Vater.‹

›Sage mir also, Meister, was ist des Vaters Sache: zeugen oder zerstören.‹

›Er belebt, auch wenn er zerstört.‹

›Dann ist aber doch die Liebe sein?‹ fragte sie.

›Du sagst es,‹ sprach der Heiland.

›Die Sünde aber ist des Widersachers?‹

›Wahrlich ja.‹

›Nun sündige ich aus Liebe. Wo bleibt da der Vater, und wo der Widersacher?‹ lächelte sie arglistig. ›Der Vater will doch das Leben; nicht? Ich verschaff's ihm, und da heißen mich eure Rabbis des Teufels Kind. Wem soll ich nun glauben?‹

Sprach der Meister: ›Kind, wo die Liebe größer ist denn die Sünde, dort ist der Vater. Wo aber die Sünde größer ist als die Liebe, dort ist der Widersacher. Was aber größer ist, das wird dir die Stimme deiner Unruhe sagen.‹

›Ei, so,‹ lachte die schöne Frau. ›Schade, Meister, ich hätte dich gern in Verlegenheit gebracht.‹ Und ging.

Er aber wandte sich zu den Jüngern und sagte: ›Wahrlich, ich sage euch, das ist die Schlange, von der geschrieben steht, daß sie rühmte, geben zu können das Wissen über Gut und Böse; denn sie lauschte, wenn der Vater sprach, was nur des Vaters Rede sein darf, aber redete seine Worte nach, wie die Schlange redet.‹«

Wigram schaute Frau Else scharf in die Augen und fuhr fort:

»Wehe den Leichtfertigen. Aus Gnade fanden sie die Tür des Himmelreiches offen und sahen hinein und gingen vorbei.«

Frau Else sah errötend auf den Tisch. »Früher klang das viel lustiger,« sagte sie. »Es soll wohl eine Moral darin sein?«

»Eine Moral für schöne Frauen,« antwortete Wigram.

Die Freunde lachten wieder.

»Ich werde Ihnen was sagen, Freund Wigram. Nur der von euch wird aus mir einen Engel machen, dem ich die Hände zu küssen vermag, und das kann nur ein Reiner im Herzen sein. Die anderen aber sollen Frau Else lassen, wie sie ist.«

Inzwischen war O'Brien wieder gekommen. Den Arm voll Rosen, den Kopf aber voll noch heißerer Gedanken, als er hinausgetragen hatte.

Nun ging er zu ihr hin und brachte ihr den glühenden, farbigen Duft auf langen, schwankenden Stielen.

»Darf ich Ihnen eine vorne ans Kleid heften?« fragte er.

»Ich danke,« rief sie wegweichend. »Was! Ringe tragen Sie auch, damit Ihre Finger wie Raupen aussehen? Wie können Sie so geschmacklose Götzenhände haben; stecken Sie doch nur gleich auch Ringe ins Ohr oder einen durch die Nase … Da!«

Sie legte ihre wunderschönen, mattweißen schlanken Hände, welche das Glück hatten, nicht unbrauchbar klein zu sein, und welche nie einen Ring litten, vor sich: »So sieht der Mensch aus!«

Da müßtest du noch manches ablegen, du Schlanke, dachte O'Brien erregt und fuhr fort: »Nun haben Sie Ihre Rosen. Sagen Sie mir jetzt: Nehmen Sie die vom Verehrer, oder vom Verwandten?«

»Vom Verwandten,« sprach sie kurz.

»Warum sagen Sie mir dann ›Sie‹ wie einem Fremden. Du mußt mit mir Bruderschaft trinken.«

»Ei bewahre,« sagte sie erschrocken und rückte weg.

»Dann den Kuß ohne Bruderschaft, du Süße!« Und der tolle Junge faßte sie wahrhaftig um die Mitte.

In diesem Augenblick ging der erste gewaltige Riß durch das klare Zusammensein der zwölf Nachdenklichen.

Bohnstock faßte ein Dessertmesser und sprang auf, in Leidenschaft und Schreck. Kantilener riß sich die Serviette fort und starrte totenbleich auf den Trunkenen, die anderen wollten sich nicht tätlich bezeigen, aber sie riefen O'Brien zornige Worte zu. Nur Wigram war schwer aufgestanden und hatte mit starken Händen die beiden Arme O'Briens herabgezwungen. Der wahnwitzige Junge rang und tobte und schäumte in Wut und Leidenschaft, aber die Arme seines Bezwingers waren eiserne Ringe. Wigram stand fest wie ein Rammklotz.

»Führen Sie ihn fort,« bat Frau Else, welche entsetzt und blaß dastand. »Arbold, Sie tun ihm nichts. Sie werden ihn auch nicht fordern, verstanden? Gehen Sie lieber und holen Sie meinen Mann aus der Hochschule!«

Wigram packte O'Brien noch fester. »Wenn du nicht gehst, trag' ich dich,« drohte er.

O'Brien sah sich mit funkelnden Augen um. »Ich muß euch also leider die Freundschaft kündigen?« fragte er. »Allen? Gut. Ich bin noch so nüchtern, mich morgen daran zu erinnern.«

Und er ging neben Wigram. »Laß mich los,« sagte er an der Tür. »Ich gehe allein und andere Wege als ihr.«

»Kommst du wohl noch über die Straße?« fragte Wigram finster.

»Ich bin nicht betrunken, wie ihr meint. Ich war nur toll, vor euch zu wagen, was mir allein schon noch gelungen wäre.«

Da ließ ihn Wigram frei und ging zurück, seinen Hut zu holen; die Freunde kamen ihm blaß und erregt entgegen. Frau Else stand als ein schönes, steinernes Weib an einen Stuhl gelehnt, und die Freunde gingen an ihr vorbei und nahmen, jeder in seiner Art, Abschied.

Der in allen Tiefen aufgewühlte, fassungslose Bohnstock warf sich ihr zu Füßen und küßte ihr Gewand. Er hielt immer noch das Messer in der Hand und bemerkte es erst, als er in die Spitzen des schönen Kleides griff. Verlegen stand er auf und tat es auf den Tisch.

Da lächelte Frau Else schon wieder ein wenig.

Kantilener ging als der letzte hinaus und nahm bloß mit den Augen Abschied. Den sah sie an, und beiden schossen zu gleicher Zeit die Tränen heraus. Dann klappte die Tür, und die schöne Frau war allein im Speisesaal. Sie hatte alle fortgeschickt.

Noch zitterte sie wie Wasser unter dem Windgekräusel, – und weinte ein volles Viertelstündchen stehend, still und innig, mit groß offenen Augen nach der Tür schauend, durch die der letzte hinausgegangen war.

Dann entdeckte sie ein Bonbon vor sich am Tisch und aß es.

Dann rang es ihr noch einige schmerzliche Krückelchen um die Mundwinkel ab, wie einem Kinde; – endlich ging sie an den Spiegel, um sich wieder zurecht zu zupfen.

Dabei dachte sie nach, was geschehen war.

›Der Tom darf mir nicht mehr ins Haus –

Wigram, der ließe sich für mich zerreißen …

Was mag der Helbig getan haben? … Da hab' ich ganz vergessen, den anzusehen, vor Schreck …

Der arme, liebe Othmar. Wie der blaß geworden ist. Hätte also der Tom dennoch recht? Nun, wir werden ja sehen. –

Arbold, wie gern der sich geprügelt hätte! –

Nein, und der Bohnstock!‹

Ein innerliches, leises Lachen begann sie zu schütteln, was sehr hübsch aussah.

Damit war die Affäre überwunden. Als ihr Mann kam, erbat sie in bester Laune den Exilsbefehl gegen O'Brien, welchen der Herr Professor denn auch mit eisiger Würde erließ.

O'Brien verschwand und wurde Einjähriger bei den Jägern in einem kleinen, obersteirischen Nest, wo er den Bauernburschen viel Kummer bereitete und sich vor den Fenstern der Mädchen nie erwischen ließ. Das freie Leben während der Bataillonsübungen gefiel ihm über die Maßen. Als Offizierskind gedieh er ganz herrlich in dem Dienst, und sein Hauptmann hätte ihn beinahe umarmt, als er bat, das Jahr voll ausdienen zu dürfen, denn nicht Doktor wollte er werden, sondern Offizier.

Da paßte er nun herrlich hinein und wunderte sich an jedem lustigen Abend lachend darüber, daß er es einst in einer Gesellschaft von Philosophen, Nazarenern, Katharern und anderen waffenscheuen Geschöpfen ausgehalten hätte. Gott sei Dank, nun wußte er doch, was Mann sein hieße.

Nur an Frau Else dachte er mit sehnsüchtigem Groll. Diese Frau heilte man nicht aus, weil es keine gab, über der man sie vergessen konnte.


Helbigs letzte Wochen in Graz waren wirklich nichts als ein wehmütiges Abschiednehmen, und treu hing Arbold an ihm, wenn sie der untersinkenden Sonne nachgingen. Er erzählte Helbig aufrichtig, daß er im vorigen Jahr, als er von der Anwesenheit der Freunde im Weingarten gehört, beschlossen habe, Helbig und die anderen womöglich durchzuprügeln – – – und heute könnte er sterben für sie. Widerwillig, mit tausend Schmerzen und Beschämungen sei er an sie herangekommen. Aber in seinem Turn- und Fußballherzen war eine Liebe entstanden wie die des Barbaren zum Luxus. Er wollte durchaus feine Geister kennen.

Helbig hielt er für ein Genie und litt schwer an dessen Abscheiden nach Wien. Helbig war sein Liederhort, sein Ritterbuch, denn er wußte hundert Stimmungen, und wenn gerade einmal Geschichte, Landschaft und Philosophie erschöpft waren, dann log er ihn so wunderschön an!

Tatsächlich machte es Helbig Freude, dem naiven Arbold Geschehnisse als wahre zu erzählen, welche er selbst erfunden hatte. Man kann sich denken, mit wieviel Wundern sich da die Erde für Arbold füllte.

Gingen sie da einmal durch die Auen südwärts, und Helbig sprach: »Siehst du dort am Berge den Turmknauf glühen? Wie Feuer! Und der goldene Wetterhahn drauf? Ja, wenn ich sein Geheimnis verraten wollte.«

»Erzähle,« bat Arbold.

»Da war – aus Kainach drüben ein alter Wanderlehrer, der über die ganze Steiermark und Österreich lehren ging und keine Professorenkanzel für die wehende Landstraße gegeben hätte! Er hatte niemand auf der Welt, war innerlich ein Heide und fühlte als solcher den Fichtenbaum, die Linde und den Wind, Sonne und Wolken als heißgeliebte Geschwister. Mit ihnen zusammen zu sein in Leben oder Tod war ihm Glück. Mit der dumpfen Menschheit wollte er nur zusammengeraten, um sie zu lehren, wie sie besser werden könnte. Sonst nicht. Friedhöfe waren ihm der größte Greuel. Zwangsversammlungen, um auf den Jüngsten Tag zu warten, ausgeschlossen von Mutter Natur, zusammengestopft mit Dumpfheit, Dummheit, Not und Aberglauben und vernagelt obendrein, in sechs Bretter.

Der Tod wäre ihm ersehnt gewesen, wenn er nur keine Ruhe, verfluchte Ruhe, – wenn er nur jagenden Wechsel brächte! Und als er zu sterben kam, da ließ er sich in Gotha verbrennen und sorgte, daß treue Freunde die Asche in einen schönen goldleuchtenden Kirchturmknauf taten. Den hatte er letztwillig der Gemeinde des Dorfes vermacht, dessen Turmspitze in ganz Steiermark am weitesten in die vier Winde sieht.

Und sie wissen nicht, daß der da oben hoch über den Menschen ruht, und daß der überschauende, knarrende Hahn ihm sagt, wie die Wolken sich drehn, wie das Wetter steht, und wie der südenwehende Frühling lächelnd über die Lande zieht!«

Arbold aber zog andachtdurchschauert die Mütze vor dem Turmknauf und sah heilig hinauf. »Der Merkwürdige! Der Eigentümliche!«

»Arbold,« fuhr Helbig fort, »das mußt du einmal auch mir tun, du treue Ostgotenseele! Wenn ich gestorben bin, wird dir eine Steinurne zukommen mit meinem Namen und einer Vollmacht und Reisegeld nach Gotha. Du bringst meinen Sarg zur Feuergrube und läßt die Asche in die Urne tun und versiegeln. Der Boden aber wird herauszuschrauben sein, da nimmst du meinen Staub und tust Knochenasche statt seiner in die Urne und übergibst das meinen Angehörigen zur unvermeidlichen Einscharrung. Meine Asche aber läßt du dem Wind, daß er sie über die geliebte, überschwenglich schöne Erde bläst. Dann bin ich überall. Arbold! Willst du mir das tun?«

Und der treue, robuste Ostgote gab ihm die rechte Hand darauf. »Das tu ich dir. Aber hoffentlich in sechzig Jahren, lieber Amadé.«

Helbig sah ihn traurig an. »Bald, bald! Ich hab' etwas mit der Lunge und muß sorgen, daß sie mich nicht ganz vom lieben Sonnenschein absperren.«

Täglich ging Helbig mit Arbold nach einer anderen Erdenschönheit und nahm wehmütigen Abschied. Am Karfreitag erklommen sie durch ernstschweigende Wälder den Plabutsch, – selber geweiht und schweigsam.

»Heute sind die Überirdischen frei,« sagte Helbig, »und ich wollte, ich begegnete einem.«

Aber keine lebende Seele außer Reh und Urhahn regte sich in den alten Forsten und über den Waldwiesen. Zitronenfalter gasteten dort oben noch als des Frühlings Zettelausträger von Schlag zu Schlag. Im Schatten des obersten Hanges war eine graue Schneewelle des Winters letzte Habe. Purpurrot standen die Buchen und warteten, im nachdenklichen Sonnenschein jenes verzauberten Tages, auf den hellgrünen Schmuck, mit dem unten im Tale Park und Au längst schon besprenkelt waren.

Oben auf der Spitze ist eine Warte aus den großen Korallensteinen des Madreporenriffes, welches dieser Berg einst war, gebaut; wie man sich einen Avarenring denkt, so sieht sie aus: massig, grau, rund und mit einem Schneckenwege herum, der zur Höhe führt. Dort oben jedoch saß ein einsamer Mensch und schaute nach Süden.

Sie stiegen hinauf, da drehte er sich unwillig um, stand aber schnell erstaunt auf. Semljaritsch.

»Wie wenig Menschen wissen doch von diesem Berg, wenn nur wir Nachdenklichen uns hier oben treffen,« sagte Helbig.

»Er ist so einsam und so vergessen,« setzte Semljaritsch ernst hinzu, »daß er noch den alten Slawennamen trägt. Seit über tausend Jahren. – Ich steige auf diesen Berg oft, um einer vergangenen Welt nachzugrübeln. Wir hatten einst hier ein gewaltiges Reich.«

»Unter dem deutschen Franken Samo,« lächelte Helbig.

»Und jetzt kann mein Auge kaum mehr aus der Weite die Berge herausfassen, welche das Land des Welschkornes, der Strohdächer und des Weines begrenzen, den mein verarmtes, schwermütiges Volk für andere baut.«

Arbold schwieg und dachte: Viel zu nahe ist uns diese Grenze; Helbig aber setzte sich zum slawischen Freunde hin: »Dafür ist die steirische Schönheit am schönsten bei euch.

Wenn ich noch könnte! Wenn ich noch dürfte! Ich wäre ein Maler geworden, und du hättest mich die wendische Sprache gelehrt. Ich wäre dann vom Georgitage bis Allerseelen durch eure Hügelweiten gezogen und wäre von den Auen der goldsandigen Drau am Fuße der Kolos bis zu dem wundergeheimen Dolomitenkessel der Sanntaler Alpen gewandert, wo die Wasserfälle von allen Seiten über senkrechte Wände in das reiche Zirkustal donnern, welches kein Wagen je erreichte.

Und ich hätte mit der Farbenglut, den Formen und den malerischen Gütern der wendischen Armut die Sehnsucht der ganzen reichen Menschheit nach jenen stillen Hügeln mit ihren Bergkirchen aufgewühlt.

Ein Fluch und eine Schande, eines armen Jungen Herzensberuf totzulügen und ihn zu einem Brot zu stoßen, nach dem er nicht verlangte! Für den Leib auf eine Weise zu sorgen, daß seine Seele hungern muß dieses einzige, ganze Leben lang!«

Und Helbig überschaute mit brennenden Augen die heimatliche Erde, die er liebte und verstand wie nichts anderes auf der Welt. »Gleinalpe, du mit den Schneekuppen, lang wie eine Reihe schwimmender Schwäne, und du, Koralpe, du einsam ernste. Urwaldstille Bachernberge und ihr, Hügel der Reben, lebt wohl. Ich liebte euch, wie ich Menschen niemals liebte.

Und du Stadt, du viel gehöhnte und doch so herzbezwingende. Der Wind von Abdera, Schilda und Schöppenstädt wird durch dich wehen, und ich werde nicht mehr lächeln dazu. Die Flamme der Begeisterung und des Geistes von Florenz wird dich überlodern, und ich werde nicht mehr staunen über dich. Das Gewitter des Volkszornes wird durch deine südlich hellen Gassen brausen, und ich werde mich nicht mehr freuen können, daß du in Torheit, Jubel und Wut, in Liebe und Haß die erste bist von allen deutschen Städten!

Meine Jugend ist aus.«

So nahm Helbig, der unbrauchbarste aller Menschen zur Dutzendbrauchbarkeit, Abschied; tagtäglich immer nur Abschied von einer Welt und einem Leben, an dem er mit einer aus gesunder Menschenkraft nicht erklärbaren einseitigen Leidenschaft hing. Es war, als ob diese träumerischen Gelände sich zu eigenem Lob ihren Träumer erzeugt hätten. Das konnte nicht gut werden, wenn der entwurzelt würde.


Der Sommer, der Herbst und Winter jenes Jahres vergingen in Friede und Innigkeit.

Als der stürmische Angriff des tollen O'Brien auf die begehrte Frau in den Herzen jener ausgezittert hatte, die er in mitschwingende Erregung geschüttelt, blieb alles wieder still und froh im Idyllischen.

Nur Kantilener ging mehr als früher mit Frau von Karminell, und Wigram kam viel öfter als sonst. Bohnstock versuchte, die aufsteigende Leidenschaft ins Musikalische zu lenken, und schrieb seine Oper.

Merkwürdig war es anzusehen, wenn Kantilener oder Wigram mit der Frau gingen, welche von Geschmack, feinster Linienschönheit und Reichtum zum Staunen umflossen war.

Die Leute blieben stehen und sahen den beiden Ungleichen nach, obwohl Kantilener für einen neueren Überzieher sechs harte Gulden mehr von seinem Budget abgesprengt und das für ihn blendend elegante Schneiderstück am Jakominplatz und nicht mehr in der Annenstraße gekauft hatte. Ehrbar sah er ja aus, und auch Gott verzieh ihm gewiß das Kleidungsstück, aber als Kantilener im Rausche seiner erneuten Schönheit aus dem Laden draußen war, hatte der Geschäftsinhaber dem schmunzelnden Kommis, welcher den armen Othmar darin so lange bewundert hatte, bis Othmar schwach wurde und zahlte, die Hand gedrückt und gesagt:

Endlich, nach sieben langen Jahren!«

Man ersieht hieraus, daß Kantilener jenseits von aller Mode in Unschuld dahinlebte. Frau von Karminell aber ging trotzdem sehr gerne mit ihm. Einmal, weil sie gar nichts auf einen eleganten Mann gab; dann, weil man dem Überzieher Kantileners und dem Havelock Wigrams ansah, daß eine leuchtende Frau nur mit einem Genie so gehen könne, und dann, weil sie sich von den Textilmustern der apostolischen Armut nur noch seltsamer und sonnenüberlegener abhob.

Wie gesagt, die Leute blickten ihnen nach, aber es sah doch sehr hübsch aus.

Einmal im Juni saßen zweie auf einer Bank im Stadtpark. Frau von Karminell in einem weichen Leinwandkleide mit mehr Stickerei als Leinwand, fließend schön, luftig und hell. Kantilener in einem Cheviotgenähte, das O'Brien nicht einmal beim Losbruch der Volkswut über die Kapitalisten als Verkleidung angezogen hätte, und Kantilener saß wonnedurchschauert mitten drin! Er hatte sogar eine Art Kappe auf, da ihm aus seinem Strohhut die Locken oben zu einem Loch herauszuquellen begannen.

So saßen sie beisammen wie eine Allegorie auf die Demokratisierung der Schönheit.

Frau Else wollte wissen, was Bohnstock in den Ferien beginne, und Kantilener erzählte von der Oper des Musikers.

»Was sind das,« sprach die kluge Frau verwarnend, »für Phantasien, die Sie dem armen Bomsel einimpfen?«

Kantilener sah sie aufrichtig verwundert an.

»– – – von der Königin und dem Kerker?«

»Das haben doch Sie ihm eingeblasen; er hat mir's gesagt.«

»Ach Gott,« lachte Othmar mit etwas Verlegenheit. »Das ist doch der Haupttypus von irgend fünf oder sechs alten Volkssagen. ›War einst ein jung, jung Zimmerg'sell‹; nicht? Die schönste und glücklichste Frau geht zu dem ärmsten Jungen des ganzen Landes, um in den rostig eisernen Ring seines schicksalharten Lebens einen Rubin einzusetzen. Einen Rubin, an dessen Besitz so ein armer Teufel zugrunde geht.«

Frau von Karminell fragte, ein Knie übers andere, und den lichtgelockten Kopf auf die Hand gestützt: »Objektiv, diese Idee?«

»Wieso? Natürlich objektiv!« sagte Kantilener betreten. Ihm war in den Sinn geraten, daß ihm die Sage selbst sehr gut gefallen hatte.

»Hm,« summte Frau Else vor sich hin. »Sie halten also den Stoff für sehr poetisch, wenn ein armer Teufel die Königin – – – –« sie suchte nach einem Wort.

»– – – – hat;« ergänzte Kantilener naiv und ängstlich. »Wenn er gleich darauf sterben muß? Ja. Aber er soll gar nicht mehr darüber nachdenken dürfen, sondern muß gleich sterben, gleich. Das muß dann sehr schön sein. Mitten im Rausch des Unglaublichen: Kopf weg.«

Er bemerkte, daß Frau Else ihn von der Seite ansah, ein Knie übers andere, den lichtgelockten Kopf in die Hand gestützt. Da wurde er verwirrt.

»Das heißt, der Bomsel, der sagt mir, daß der Stoff so schön sei,« beeilte er sich und trat mit dem Fuß weit herum auf alle erreichbaren kleinen Roßkastanien, die in diesen Tagen so reichlich von den Bäumen fallen.

Es wurde ganz still zwischen den beiden.

Die Bienen und Fliegen summten im Sonnenschein, und in der Ferne rauschte der Brunnen.

Ein ganzes Jahr dauerte dieses ungewisse, betretene Gefühl, das weder Leidenschaft war noch Reinheit. Kantilener reifte unendlich langsam zu allem; noch mit neunzehn Jahren war er Kind gewesen.

Und Frau Else fand es hübsch und rührend und ließ diese zarte Stimmung unberührt, gerade weil es eine zarte Stimmung war.


Wigram wieder, der drang in sie, dem armen Bohnstock durch schnöde Abweisung mit kräftig zausender Hand in seinen schwülen Liebestraum zu fahren! Dieser Wigram sah den Freund Bomsel als eine Art Reinzucht arisch-musikalischer Ideen auf fremdem Boden an, die man beaufsichtigen und leiten müsse.


Es war schon gesagt, daß sich dieses Jahr kaum von den vergangenen unterschied. Die Freunde hatten nach dem Ausscheiden O'Briens bald wieder ein Teil ihrer heiteren Sicherheit gefunden, Frau von Karminell aber war anders geworden.

Der Teufel plagte sie. Sie hätte wahrlich gerne sehen mögen, wie die armen Kerle verliebt aussähen. Und was von ihren Ideen übrigbliebe. Das wäre doch eine Feuerprobe auf deren Echtheit.

Es gab aber auch Gezeiten, wo sie weich, traurig und nachdenklich war. Für solche Stunden ließ sie den Wigram zu sich, um herbe Wahrheiten in die aufgeackerten Furchen ihrer oft so bunten, unkrautvollen Weiberwildnis aufzunehmen.

»Was lehrst du sie?« fragten ihn dann die anderen, und Wigram, der ungern über seine Ideen sprach, lenkte ab: »Sie kann alles brauchen und ist wie bodenlos. Alles gefällt ihr, und sie nimmt gleich erfreut Weihrauch und Wermut. In diesem schillernden Frauenzimmer wohnt unbewußt viel Liebe … zu den Dingen dieser Welt.«

Ihr wieder gab es keine Ruhe, zu erfahren, wie denn das eigentlich mit den Briefen Wigrams an Kaiser Wilhelm stünde? Denn der abnorme Mensch kam das eine Mal an aller Welt verzweifelnd daher, und das andere Mal wie geweiht, erhöht und entrückt.

Er aber lächelte geheimnisvoll. »Daß Sie überhaupt wissen, was ich tue, ist schon ein Kniefall vor Ihnen.«

Als im Mai der Kaiser ein lebhaftes und dankvolles Telegramm an den grollenden Fürsten Bismarck entsendet hatte, da hatte Wigram ihm über Ratgeber geschrieben:

»Rufen Sie solche, Majestät, denen das Volk lauter zujubelt als Ihnen selbst. Sie werden gewinnen, wenn Ihre Ratgeber Glück und wenn sie Unglück haben. Der Kaiser sei größer als die Eifersucht, größer als der Ruhm, größer sogar als das Leben. Er sollte sich erziehen, für sein Volk als Erster zu sterben, wenn es sein müßte, und nie soll er sich als Herr empfinden, sondern als jener, welcher am besten zu dienen weiß.«

Frau von Karminell konnte nichts tun, als mit Wigram über die Eigenheiten, die Sprunghaftigkeit und über die Eigenliebe sprechen, welche jenen Gekrönten von der Tiefe fernhalten, die ihm sonst all ihre Wunder erschließen würde.

»Dieses lebhafte Herz ist durch bloße Eitelkeit von den Geheimnissen des Genies getrennt,« meinte er einmal. »Wenn er sich vom Meister zum Schüler durchgerungen haben wird und hören wird, statt zu sprechen, dann erleben wir das Zerbrechen des Kyffhäusers. Der Wahn, Herr der Starken zu sein, statt Diener der Schwachen, das ist der Berg der Volkssage, der sich nicht öffnen will. Und die Raben sind die Schmeichler.

Aber ich weiß einen weißen Raben.«

»Glauben Sie denn,« lächelte die gescheite Frau, »daß ein Mensch, dem alle Welt zuhört, daß der König und das Kind eines durch Prahlsucht verschrieenen Volkes so sehr gegen seine Natur kann? Die Großzahl der Menschen hält ihn doch für das Genie, wofür auch Sie ihn gerne halten möchten. Es ist schön, aufregend schön, was Sie da vorhaben, aber ich würde mich dennoch fein langsam auf das Weh einer großen Enttäuschung bereiten! Nicht?«

Sie machte damit Wigram sehr nachdenklich …

Dieses Jahr ging auch recht unglücklich für Wigram zu Ende. Außer einer Friedensallegorie fiel wenig ab, was ihm an Wilhelm gefallen hätte, und sogar die war bloß gut gemeint. Manche Jahre fördern uns eben nicht.


Nur einem brachte jenes Jahr sein Schicksal. Dem guten Scheggl im Gasthause zur Herzogsburg.

O'Brien war von Linde zu Frau von Karminell und von da zur Melander Liese gegangen, und Wigram blieb von der »Herzogsburg« ferne, seit er entdeckt hatte, daß er mit einem Stück Brot bis in die Nacht hinein auf den Bergeshöhen aushalten könne, ohne in seinen Gedanken gestört zu werden. Kantilener versuchte einen gemäßigten Vegetarismus, und Helbig saß in Wien. Da war Scheggl allein bei der hübschen, stillen Mali geblieben.

Im Fasching aber war Hausball in der »Herzogsburg«. Und da stand schon am Abend der kleine, geflügelte Heidengott lachend in den geballten, lauen Föhnwolken und schoß Pfeil auf Pfeil blindlings hinab in die frohe, volle, tanzende und wirbelnde Stadt.

Scheggl hatte den ganzen Abend sein Mädchen nicht aus den Armen gelassen, und weil sie dann müde war und der Onkel Wirt für Aushilfe gesorgt hatte, geleitete sie der anhängliche Junge in ihr Kämmerchen – und kam nicht mehr herunter. Er hatte seine Bravheit überschätzt, und sie hatte sich die ihre weggetanzt.

Dann freilich weinte sie: »Ich hätt's doch wissen können, daß es jeder Kellnerin einmal so ergeht! Aber daß du so schlecht bist, – dem hätt' ich bös geantwortet, der mir das noch gestern von dir gesagt hätte.«

Scheggl tröstete sie, so gut er konnte. Es habe sich eben der Ehekalender ein wenig verschoben. Deshalb sei er doch in einem Jahr Tierarzt und sie Frau Tierärztin.

Aber es hatte sich doch mehr verschoben als nur ein gewisses Datum im Kalender einer ehrbaren Ehe. Wo so ein Obersteirer hinliebt, gleich gibt's Segen. Und nun konnte die arme Mali höchstens bis in den Juli hinein eine unauffällige, schlanke, flinke und gutgelaunte Kellnerin bleiben, dann geriet sie aus der gewohnten Linie.

Und da bewies nun der gute Scheggl, wie verläßlich die aus Obersteier seien, auch wenn sie was angestellt haben.

Während er zu den letzten Prüfungen lernte und Pferde, Kühe, Hunde und rotlaufbefallene Schweinchen kurierte, schrieb er für Fachzeitungen Artikel und verdiente Geld, wo andere Menschen gar nicht ahnen, daß es der Mühe wert wäre. Alles, um seiner Mali eine gesunde Sommerfrische zu erwerben.

Im Frühherbst dann ging er suchen, lange Zeit, bis ihm Kantilener half.

Da liegt südlich von Graz das obstumbuschte Dorf Liebenau. Gegen Norden verliert es sich in den stillen, lieblichen Münzgraben, von Osten schauen die weichen Hügel von Sankt Peter und Autal herüber, im Süden und Westen rauschen die stillen, formenreichen Auen. Ganz landverloren, ganz feldeinsam liegt es im wiesensummenden Sonnenschein.

Wie viel Malerei des Zufalls besteht hier!

Häuschen mit bunten Gärten voll farbenrufender Bauernblumen, mit vielen Kindern, Hühnern, Kohl, und mit Welschkorngirlanden unter den Dachgiebeln: dünne Wasserläufe, darinnen die Knaben der kleinen Fischbrut nachstellen, Mühlen, Holunder und Obst.

Und in den Obstgärten reift der schwere Herbst.

Dort unter den kleinen Häuschen stand auch jenes der Wehmutter, dicht von Reben umrankt.

Vorn im Gärtlein am Zaun paradierten die großen Sonnenblumen mit den wuchtig reifen Köpfen, die sie jetzt nur mehr mit Mühe der wandernden Sonne nachzuwenden vermochten. Am Boden duckten sich die Astern, die Enterbten des Sommers, Georginen prahlten in brennenden Farben, Malven und Pappelrosen standen, – selbst im wehmütigen Herbst war das ein rechtes Blumenheim.

Als die Freunde zum erstenmal jenem Dorfe zuwandelten, war die Luft silbern, Altweibersommer flog im wehenden, herben Hauch, welcher von den greisen Waldbergen kam, und in den Obstgärten reifte die schwere Herbstfrucht. – – –

Die beiden aber schauten nach rechts und links an die Haustüren und Giebel, denn Kantilener hatte vergessen, wo es angeschlagen war, das kleine Schild mit der Gottesmutter. Als sie dann in die Weinranken des Häuschens mit den Sonnenblumen hineinforschten, wurde oben im Giebel hastig eine Gardine zugezogen, und wie im Traum nur blieb in ihrem Gedächtnis ein süßes, blasses Mädchenantlitz hinter das Fenster gemalt.

»Ob wir noch Platz bekommen?« seufzte Scheggl. »Schön wär's da wohl. Aber im Zimmerl da oben steckt schon eine.«

Kantilener trat ein. Ihm war freudig, süß und schwer zumute, wie stets, wo er in Krankheit und Not zu helfen vermochte.

Die Frau mit dem Muttergottesschild war zu Hause. Als eine muntere Person voll guter Laune in schweren Stunden, noch in den besten Jahren, flink wie ein Mädchen und frisch bei der Arbeit hatte sie Kantilener geschildert.

Sie kam den Freunden rasch entgegen, und Scheggl brachte sein Anliegen vor.

»Ich darf kein Zimmer vermieten,« sagte sie; »aber das Haus gehört meiner Schwester, der Greislerin. Die hat Ihrer Fräul'n ein Zimmer reserviert: das letzte, und dann sind wir komplett. Mein Gott, wenn die Leuteln nur nicht grad im Oktober zusammenkommen täten.«

»Warum denn grad im Oktober?« fragte Scheggl.

»Na, so zählen Sie doch zurück! Der Februar! Der Fasching! Da g'schehen halt alleweil die mehrsten Malheurer! Wollen Sie sich ein wenig bei mir umschauen?«

»Nein, nein,« flüsterte Kantilener. »Die armen Kinder schämen sich.«

»Ah was,« sagte Frau Hollerhuber. »'s liegt noch keine. Die schon da sind, sind im Garten oder auf der Wiese. Nur oben nach der Gassen zu, da dürfen wir nicht hineinschauen.«

Die Freunde fragten nicht weiter, und Frau Hollerhuber klatschte nicht.

Zu ebener Erde war das Zimmer mit vier Betten. »Kommen drei Dienstmädeln herein und eine Kellnerin,« sagte die Frau. »Drei sind draußen in der Au, die vierte kommt erst in den nächsten Tagen.«

Daneben waren die Wohnräume der Familie. Küche, Zimmer, Kammer. Und selbst da wohnte schon so ein junges Heidenmütterchen und wartete ihre Wochen ab.

In den beiden Giebelzimmern konnten je zwei Betten stehen; Frau Hollerhuber aber bekam meist feine Herrschaft hinauf, und in jenen Zimmerchen war infolgedessen fast immer schluchzende, verlassene Einsamkeit, bis die ganz kleine Gesellschaft da war. Dann freilich sahen sie viel wehmütiges Glück.

Ja, das Häuschen hatte Geschichten, – Geschichten.

Und am andern Tage zu Beginn des Oktobers brachte Scheggl die arme Mali in das kleine, blumenversteckte Hospital des jungen Lebens. Und eine Zeit begann in dem traurig lieben Versteck des Fehltrittes, dort, wo die Stadt in Natur verwilderte, eine Zeit, deren sorgende, hoffende und innige Schönheit kein Dichter singen hätte können.

Im Garten saß eine junge Mutter, Weißnäherin, auf den Stufen der Türe und sah zum erstenmal wieder den blauen Himmel und verglich die Augen ihres Kleinen damit, glückselig; denn die waren noch blauer. Sie selbst war überrascht, wenn sie diese Augen ansah. Dort im bunten Gartenlande gediehen die Farben. Da saß die junge Nähterin mit dem rosigen, hellumlockten Gesichtlein, schimmernd von Glück und Trauer, und hielt das Kleine an der Brust, und leiser als der leiseste Geigenton sang ihr Schlummerliedchen:

»– – – – wenn ich ein Vöglein wär'.«

Denn oben in der blauen Luft rief es ihr von ferne, ferne zu. Dort zogen die Linien sehnsüchtiger Wandervögel nach Süden, wo ein braver Bursch für sie arbeitete und sich die junge Familie erst verdienen mußte.

Das war ja das Tröstliche an dem kleinen Haus des Lebens, daß hier nur die Treue, oder wenigstens Reichtum gesündigt hatte, der nicht herzlos war. Denn auch für die Mädchen unten war besser gesorgt worden, als das sonst zu geschehen pflegt.

Zweie von den jungen Dingern gingen langsam auf den schmalen Wegen in der stillen Herbstsonne, und ihre Röcklein waren vorne kurz, viel zu kurz.

Sie aber hielten sich umschlungen, als rechte Schwestern, und sprachen leise miteinander von den Großen, welche sie lieb hatten, und auch von den Kleinen, Künftigen, die sie noch viel lieber haben würden.

Und was aus den Kleinen wohl werden müßte! Viele schöne Märchen der Zukunft hörten da die Blumen des Gartens; weiß Gott, ob eines wahr wurde.

Da fand die stille Mali viel Träumerei und etwas Neid, viel Teilnahme und etwas strenge Not, viel Menschenschicksal und etwas Bitterkeit, um ihr Köpfchen mit reichen Gedanken und ihr Herz mit Mitleid zu füllen.

Die gemeinsame Angst und Hoffnung, die gleiche Trauer, die gleiche Schande und Freude machte sie wie zu einer Familie. Alljährlich im Oktober lud hier die Stadt ihre Fastnachtsgeschichten ab.

Nur eine war unter den vieren, die hatte schon mehreres erlebt, und ihre Stimme klang laut und sicher über das schüchterne Neulingsterzett der drei Mädchen unten in der Stube, die sich in den stürmischen Herbstnächten bange, heimliche Geschichten erzählten, von Süßigkeit und brennender Liebe und Scham und Not, von Treue und Untreue.

Einzig die oben im Stübchen an der Gasse kam nie zu den anderen. Diese nannten sie die schöne Italienerin, obwohl sie ein klares Deutsch mit leise verschleierter Altstimme sprach. Sie saß stets oben, das lichte Antlitz von dunklem, glattem Haar reizvoll umlegt, und schaute mit stillen Kirschenaugen durch das Fenster auf das halbe Dutzend herunter, das auch so gewesen war wie sie.

Alle Tage kam ein Strauß herrlicher, blühender Rosen, den sie nahm und ins Fenster stellte, bis sich der Herbstwind die Blätter abbröckelte, daß sie langsam quirlend durch die silberne Luft flogen. Dann sah sie ihnen mit Augen nach, welche in ihrem tiefen Schwarz so zornig oder so angstvoll glänzten wie jene eines angeschossenen, kleinen Vogels:

So hatte das kleine Häuschen ein Geheimnis, und scheu guckten die ärmeren Mädchen hinauf. Die oben aber sehnte sich, daß ihr das kleine Herz beinahe brach, mit den Mädchen unten in den Garten zu gehen und zu reden, – weiß Gott was; nichts von Sünde und Süßigkeit, nein! Nur über Steckkissen, kleine Hemdchen und Häublein, und wie oft man ihm zu trinken geben dürfe.

Aber die stolzen, schwerverletzten Eltern hatten ihr geboten: »Warst du schon schlecht, so wahre doch das Geheimnis deiner Schlechtigkeit für dich allein: Daß du deinen Stolz nicht noch weiter vergissest und dich auch mit Dienstboten und Kellnerinnen einläßt.«

Da fragte sie denn Frau Hollerhuber alle Tage: »Wie geht es der Kathi? Und der Annerl? Und der Mali?« Sie kannte sie alle und liebte sie, und litt und hoffte mit und beneidete sie mit zerspringender Brust um die helle Herbstluft und den Sonnenschein und die stille Au und die Erlösung des Erzählens!

Und eine nach der anderen kam dran und litt und wurde befreit. Ja, Frau Hollenhuber konnte das!

Und dann kam auch die blasse Mali in die Wehen und hatte viel Not, weil der kleine Franz am liebsten gleich mit dem Rekrutenmaß auf die Welt gekommen wäre. Er war ein Ausstellungsstück; für Scheggl, Mali und Frau Hollerhuber! Dick, fest, hungrig, anspruchsvoll und außerordentlich gemütlich, wenn er satt war. Ganz wie der Vater! Scheggl kam jetzt gar dreimal im Tage und brachte sein Essen mit. Der Appetit des Sohnes regte ihn an. Und jetzt galt er sich eigentlich erst als ein ganzer Mensch! Ein unermeßlich starker Familientrieb hatte in dieser ehrlichen Seele gesteckt. Nun wußte er, wofür er lebte. Scheggl war überglücklich.

Neun Tage nach dem ersten Quarren wollte er den Franzerl schon singen lehren, und glaubte sich's selber wahrhaftig, der Jung singe vom obersteirischen Schützenmarsch den ersten Takt. Da er selbst begeistert weitersang und mit dem Pfeifenrohr wie der beste Feuerwehrkapellmeister taktierte, so konnte niemand widersprechen, und Mali lag und lächelte.

Einige Schwierigkeiten machte die Wahl eines gewichtigen Taufpaten, und Scheggl wäre arg in Verlegenheit gewesen, wenn ihn nicht Frau von Karminell einmal den Münzgraben hinunterwuschen gesehen und aufgehalten hätte.

»Wohin so heimlich?« hatte sie gefragt.

Es wäre nun dem guten Scheggl leichter gewesen, eine Brummfliege im verschlossenen Mund zu halten, als nicht zu sagen, daß man sich so prächtig fortgepflanzt habe.

»Zu meinem Buben,« sagte er also in verlegenem Stolz.

Man kann sich denken, daß sich nun sehr schnell eine Taufpatin gefunden hatte.

Frau von Karminell war in die lebendigste Erregung geraten. Erst schalt sie am selben Nachmittage Kantilener aus, daß er ihr das alles verschwiegen habe. Ob er sie für so engherzig halte? Und nicht einmal helfen habe sie können. Er solle doch wenigstens berichten, wie das gekommen war.

Drei volle Stunden mußte Kantilener erzählen und raten, was man den jungen Leuten für eine Freude machen könne.

Inzwischen erledigte Scheggl seinen Gang zum nächsten Pfarrer, ließ sich gemütlich ausschelten und erklärte mit solcher Gutmütigkeit, daß die Geschichte in einem Jahr vermittels christlicher Ehe schon besser aussehen werde, daß der fröhliche geistliche Herr ihn bald in Ruhe ließ.

Im letzten Drittel des Oktober, gerade wieder zur Zeit der Weinlese, die heuer wegen des schönen Wetters sehr spät fiel, fuhr die schönste, glänzendste Taufpatin, welche das kleine Dorf je gesehen hatte, vor dem Häuschen an.

Getauft wurde bei Frau Hollerhuber, denn Frau von Karminell hätte es nicht ausgehalten, das Dichtwerk des kleinen Anwesens nicht zu sehen. Sie hatte weder Kinder, noch je getauft, noch viel von Ähnlichem gehört, und da sie ein richtiges und empfängliches Weib war, so wurde sie von dieser fremden, lieben kleinen Linnenwelt, von der sie keine Ahnung gehabt hatte, mit naturgewaltiger Kraft getroffen.

Sie weinte vor Rührung, Freude und Überraschung und hätte den kleinen Franz am liebsten gleich mit sich fortgenommen. Ein unbemerkter Trieb war in ihr mit Macht aufgeschnellt, und Herzweh und Vorwurf gegen sich, gegen ihren Mann, ja selbst gegen ihre nutzlose Tugend stiegen ihr bis in Kehle und Augen. Sie beneidete Mali und die Dienstboten brennend, und hätte sich am liebsten gleich schuldig gemacht, Mutter gefühlt und zu Frau Hollerhuber ins Quartier gelegt, alles womöglich noch heute!

Und während der Geistliche einen braven, christlichen Trinkspruch hielt und wünschte, es möchte auf der ganzen Welt Gottes Obhut über jedem kleinen Fehl so versöhnlich lächeln wie hier, währenddem war ihre ganze wogende, seidebehütete Brust, ihr ganzer kluger Kopf heiß voll tollheitredender, heidnischer Gedanken.

Kantilener holte sie ab. Sie wollte kaum in den Wagen und schaute zurück und winkte, und schaute abermals und winkte. Und vor dem Häuschen stand der Pfarrherr, das Weinglas in der Hand, und grüßte, und der brave Scheggl hob den Jungen im Steckkissen hoch empor; da zappelte er lange wie ein weißes Fähnlein, bis sich die Straße bog.

Frau Else warf sich zurück in den Wagen und sah zu Boden. – »Warum haben Sie mir das nicht erzählt,« rief sie in leidvollem Vorwurf Kantilener zu. »Warum haben Sie davon nie gesprochen. Das ist mein schönstes Erlebnis auf Erden, und Sie hätten mich beinahe darum gebracht! Mein Gott, mein Gott! Was verstehen denn Sie von solchen Wundern!«

Othmar! Hätte der ihr jetzt gesagt, wie innig er das verstehe, und wie er die Kleinen liebe, und wie er mit Scheggl zusammen winzige Wäsche gekauft und mit ihm gesorgt und gehofft habe, sie hätte sich ihm an den Hals geworfen.

Er aber schwieg und sah mit erschrockenem Herzen ihre Erregung an. Ärmste, liebe, schöne Frau. Nun hat sie ihr einziges Unglück entdeckt und wird unzufrieden und voll hoffnungsloser Wünsche werden! Was für ein schwerer Schade! Und er hütete sich, diese Sehnsucht des unfruchtbaren, einsamen Glückes noch mehr zu entfachen.

Umsonst. Frau Karminell war von der größten Schwermut dieser Welt verwundet, die es nach dem Gedanken ans Sterben gibt: Kein junges, geliebtes Weiterdasein. Für Leben und Liebe keinen Inhalt und keine Erfüllung.

Sie war von diesem Tage an nicht mehr die lichte, helle, harmonische Frau. Über die schönen Augenbrauen griff von Tag zu Tag mehr eine Falte heimlichen Wehes herein, und oft ging sie im Winter und kommenden Frühjahr heimliche Wege den Münzgraben hinunter nach Liebenau.

Da stand sie dann hinten in den Wiesen außerhalb des Zaunes und schaute zu, wie hinter dem Fenster die muntere Frau arbeitete, von der sich die kleinen Mädchen erzählen, daß sie die Kindchen aus der Mur fischen kann, wem der Storch keine bringen will.

Die saß dort im Stübchen und schliß Federdaunen für neue Kopfkissen und Betten, auf denen neue Sorgen, neue Schmerzen und neue süßeste Hoffnungen abwechseln sollten. –

Da hielt sich die schöne, reiche Frau an den Zaunstecken und weinte bitterlich.

Keine Seele wußte von solchen Ausflügen, Frau Else wurde schöner und schöner. Nur die Schwermut ihrer grauen, großen Augen erzählte mit dunkeln Schatten unter den Lidern von einem heimlichen Weh.


In Wien litt Helbig zur selben Zeit kraftlos, ja mit hineinwühlender Selbstpein an einer anderen Naturkrankheit, welche bei hochgebildeten Menschen sonst für unmöglich gilt und nur die einfachsten Seelen zu töten vermag. Am Heimweh.

Er war schon nach Wien gekommen mit dem bitteren Gefühl, daß diese Stadt und sein Beruf ein Unrecht an ihm sei. Das war kein guter Beginn.

Es hätte nun wohl eine Möglichkeit der Versöhnung gegeben, wenn er auf die Wieden, zwischen Haupt- und Margarethenstraße gezogen wäre, oder nach dem fünften Bezirk, wo es überall anheimelnd an die Grazer Stadt mahnt. Die vielen kleinen Läden, die hellen Häuser, von denen nur die neuen über zwei Stockwerke haben, stille Seitengäßchen, freundliche Wirtschaften und Kaffeehäuser, der originelle Obstmarkt, das fast südliche Hinausleben der Bewohner auf die Gasse, und dann zum Hintergrund steter Fluchtbereitschaft das baumrauschende Schönbrunn mit seinen Linden und seiner fernsichtreichen Höhe.

Aber nein. Helbig zog ins Diplomatenviertel des dritten Bezirkes. Kein kleiner Laden, kein kleines Gasthaus, kein reichbelebtes Kaffeehaus. Stille, verödete, kinderlose Palaststraßen, glattrasierte Zurückhaltung, steifkragene Würde. Jeder zweite Mensch Herrschaftskutscher oder Portier; in den wenigen billigen, alten Miethäusern der Marokkanergasse zusammengedrängte Armseligkeit. Und das hatte er getan, weil der Bezirk am Stadtpark lag. So viel wirkte ein bloßer Name. Denn auch in Graz gab es einen Stadtpark. Als dann Helbig erkannt hatte, daß der kleine, putzsüchtige Stadtpark alles andere enthielt als stilles Hinträumen im Sonnenschein, da war er zu müde und resigniert geworden, um nochmals zu suchen und zu siedeln.

Wo auch das heutige Wien noch in Geländen verwildert, die wie aus Herrn Biedermeiers und Franzl Schuberts Tagen herübergerettet scheinen, im rebenträumenden Grinzing, und in all den kleinen Dorfschmuckstückchen längs der Hänge des Kahlenberges und des Dreimarksteins, dorthin führte ihn niemand.

Denn zu allem Unglück fand er in seinem Bureau keinen heiteren, offenherzigen Menschen, keinen Wiener. Der dumpfe, stille Widerwille, den er schon in die Kanzlei mitbrachte, trat ihm auch gleichmäßig aus den Beamten entgegen. Dazu verstand keine Seele Helbigs eigenartige Sprache und Nomenklatur, die er sich im seltsamen Kreise derer, die sich des Lebens besannen, angewöhnt hatte. So versank er in mißgemutes Schweigen. Er hätte ähnliche Vereine aufsuchen können, wo die Menschen gediehen, an denen er sich in Graz warm gelacht hatte, – aber schon glaubte er gar nicht mehr, daß es in Wien Leute geben könnte, die auf irgendeine Art das neue Menschentum herbeizuführen trachteten.

So hatte er mit der Gesellschaft Unglück. Die Oberflächlichkeit mied und haßte er, die Tiefe fand er nicht gleich und verzweifelte also an ihrer Existenz in dieser Stadt. Am Ende des öden, staubigen Stadtsommers voll Karbol- und Pferdegeruch hatte er nur mehr eines im Herzen: Dumpfen Haß gegen die Großstadt, gegen diesen Beruf und dieses Leben.

Losreißen, das wagte er nicht. Er glaubte sich lungenkrank, und wahrlich, der sumpfartige Brodem der Gassenluft hatte ihm nicht gut getan. Woher nun das Brot nehmen, wenn er krank würde? Er versuchte, die Stelle zu wechseln. Aber er hätte überall einen für seine Karriere schlechten Tausch getan: Da widerstritten ihm die Eltern, die das Brot als einzigen Götzen der Welt anbeteten, mit einer Art von Tobsucht in unmäßigen Vorwürfen, Amadé sei zum Leben unbrauchbar.

Und der Unglückliche glaubte auch das noch.

Wehe, wenn in einem verfehlten Leben die schwachen Stunden so häufig werden, daß der Seelenkranke an sich selber verzweifelt! Solange Helbig mit robuster, feindlicher Eigenliebe die ganze Schuld auf Wien und die Wiener schob, war noch nichts verloren. Ein Freund, eine Liebe, ein Strahl der Kunst, nur eine eigene Idee, und das grüne Inselchen eines frohwachsenden Lebens lag sonnig mitten in der feindlichen Großstadt.

Aber die Briefe der Eltern rissen ihm nur Nebel der Tiefe auseinander. Er prüfte sich, prüfte sein Ehemals und erkannte mit schwindelndem Entsetzen, was ihn, den reichbegabten, feingeschulten Amadé, die Mäcensnatur, von den Freunden allen, sogar von Arbold und dem armen, lächerlichen Zimbal unterschied:

Wigram konnte sterbenskrank sein, – er hätte die Wonne grübelnder Gedanken mitgenommen auf sein Leidenslager.

Kantilener hätte in gleichem Fall die Liebe und Sehnsucht, den Menschen zu helfen, behalten; O'Brien hätte sich ein prachtvoll tragisches Ende zurechtgedichtet, Vollrat sich als Experiment kaltblütig studiert, Scheggl sogar hätte resignieren können – da er nie hoch hinaus gewollt hatte. Nur er, er griff um Rettung nach allen Seiten und nicht in sich selber.

Jetzt erst erkannte er, daß seine Harmonie – harmonische Umgebung gewesen war.

Um die zum Lachen verzweifelte Krankheitsgeschichte dieser entwurzelten Pflanze zu begreifen, sei hier nur gesagt, was dem Helbig in Wien alles zum Wohlbefinden fehlte.

Es fehlte ihm vor allem das durchdringende Naturgefühl mitten in der Stadt, wie es in Graz möglich war; das zurückbleibende, stillwandelnde Träumen. Das Zeithaben!

Es fehlte ihm zu der unentbehrlichen Naturversunkenheit an der Umgebung Wiens die Übersichtlichkeit und weite Umschau der mittleren und südlichen Steiermark, ihre Hochstraßen, Bergkirchen, Straßenwirtshäuser und Maibäume, die formenreichen Höhen, der malerische Parzellenbewuchs des reicher besiedelten Landes, da um Wien der ewig gleiche Waldbestand des Bodens eintöniger Großgrundbesitz ist. Es fehlte ihm der Fichtenbestand, der gemischte Wald und seine reiche Silhouette. Es fehlte die Giebelstellung der Häuser, die vorspringenden Dächer, ja das moosige Stroh darauf, die Gehänge des türkischen Weizens um die Fenster, die Blumen in den Fenstern und in den bunten Vorgärten; die naiven Malereien an den Häusern, der Feldbau mit Mais, Bohnenstangen und Kürbissen, die Weinhecken, die farbigen Glaskugeln in den Gärten und die Fichtenkobel bei den Häusern, die Dorflinden, die »Grazer Tagespost«, das Gras in den Seitengassen, die Osterien und der ganze südliche, wendisch-italienische Einschlag, das steirische Geflügel und die Kellnerinnen; und diese fehlten ihm sehr schmerzlich.

Es fehlte ihm der Humusboden steirischer Wälder mit seinem dichten Unterwuchs, die Volkseinfalt, der Aberglaube, die Gitarren in den Gasthäusern und das echte Volkslied.

Es fehlte ihm die Sonnwendfeier der Bauern und die deutschvolkischen Spektakel, die Kalkalpenflora und Fauna, die Siebenschläfer und Bilche der südlichen Weinländer und die Schmetterlinge jener Sonnenlande, es fehlten ihm zu herbem Schmerze die Edelkastanien, das urwüchsige Bauernporzellan der Hausindustrie und ihre Gläser mit den systematisch geordneten Luftblasen, der Loden, das Grün der Kleidung, die Grazer Fetzenmärkte, welche ja wirklich allein schon ein Märchen sind: eine stete lebendige Volkskramforschung. – Es fehlten ihm die zahlreichen Gewitter, der beschneite einsame Bergsaum des Oberlandes und der Kärtner und Krainer Grenze, die kleinen Tümpel und Teiche, die Knarrheuschrecken mit roten und blauen Flügeln, das Jodeln, die ferne wandelnden Lichter der freien Höhennächte, die Klappermühlen mit ihrem lieben Holzklang, der föhnhafte Februar und der laue März, die Primeln um Lichtmeß, kurz die große und die kleine Steiermark.

Und an all diesem Vielerlei ist noch zu wenig aufgezählt. Mit solchen neunhundert Kleinigkeiten kann ein Menschenherz verwachsen, daß es entzweireißt und verblutet, wenn man ihm sein liebes Angehänge entringt. Wahrlich, es ist wunderlich und zum Lachen, und doch gibt es Menschen, welche an solchen Nichtigkeiten des Glückes sterben.

Ein einziges Mal trieb ihn die Sehnsucht, Urlaub zu nehmen! In jenem Oktober, als dem guten Scheggl seine Familie vor der Zeit zu reifen begonnen hatte.

Da fand er Frau Else traurig und nachdenklich, sonst aber die Freunde in ihrer alten Glücksgewohnheit. Liesegang, Petelin, Urban und Kantilener waren heiß beim Gedanken, eine Naturheilanstalt zu gründen, Wigram ging gänzlich im Ideenrauch abseits versteckt, und Vollrat schüttelte als kluger Luxusdoktor tapfer Geld aus den guten Familien und führte einen Eiertanz zwischen heiratsfähigen Töchtern und einen Schwertertanz zwischen Schwiegermutterblicken aus, den er zur Höhe einer Kunst emporstudierte und der ihn und die Freunde köstlich unterhielt.

Hier also war alles noch in vollem Gedeihen. Und nur er so krank, so wund! Er konnte fast nicht mehr los von den Freunden und der heißgeliebten Stadt, und der Abschied traf ihn mit der Vernichtung eines Todesurteiles.

Bleich, mit zusammengekrampftem Herzen ließ er sich von der Eisenbahn nach Norden ziehen, und als der Schnellzug dem Weichbild von Graz entglitt, glaubte er, es risse ihm die Augen aus, so fest hatten sie sich im Abschied an die Heimat gesogen.

In Wien dann floß sein Blut langsam und reichströmend wie aus einer Wunde. Ein Gespenst von zertretenem Glück. Eine todwunde Zeit.

Hier ist auch nicht ein kühler Brunn,
Der mir mein Herz tät laben, –

Ein kühler Bronnen zu aller Stund,
Der fließt aus meinem Herzen …

So konnte er singen. Die Eltern verbaten ihm durch einen verzweifelten Brief gänzlich die verderbliche Wiederkehr nach Graz. Da siechte er denn langsamer dahin, das Blut floß unwilliger, aber es verströmte sicher.

Unheilbares Heimweh.

Dann und wann versuchte er, in die Natur zu flüchten. Aber es war nicht seine Natur. Wenn es nur nicht gerade nach Süden zu so viele Fabrikschlote gegeben hätte! Dort sah er doch fern, ferne hinaus, und sah sogar die steirischen Grenzberge, im Schnee des klarhimmeligen Oktobers leuchtend.

In Inzersdorf, in Rothneusiedl saß er auf den abgeernteten Feldern und schaute und wünschte. Dort in der Ebene, welche anderen fast reizlos scheint, war ihm das liebste Sein. Hier war die Stadt nicht mehr, und nicht mehr der sonntagdurchjohlte Wienerwald. Hier war die weite, die beruhigende Unermeßlichkeit, der balsamische Blick nach Süden!

Und die ambrosischen Wolken zogen hoch und formenreich, hier, wie daheim.

Einmal klapperte es bei leisem Windhauch hinter ihm an den Zäunen von Inzersdorf. In süßem, heißem Schreck fuhr er empor und lauschte: Döng, döng! Der Holzlaut, der geliebte Klang der steirischen Weingärten. Gab es hier einen Klapotez, zu dem sich wallfahrten ließe?

Aber nein. Ein kleines Mädchen schlug in der Langweile des schulfreien, sonnenheißen Nachmittages mit einem Stäbchen an die Zaunstecken.

Da zuckte sein Herz vor Heimweh; sein leeres Herz, in dem nur Erinnerungen mehr widerhallten. Schwerkrank ging er fort.

Ein andermal spielte ein Werkelmann von ferne die Häuserreihe der spätjahrbesonnten Felddörfer ab. Wie einst in Liebenau, in Kalsdorf, in Feldkirchen, wo die strohdachigen Dörfer im Feldsegen schatteninselhaft träumen. Wenn der jetzt eine der alten Steirerweisen spielte, oder das Marienlied, das er in Liebenau zur Zeit der reifen Pflaumen im zitternden Sonnenschein gehört hatte, dann starb er!

Und dennoch horchte er gierig nach den fernen abgerissenen Leiertönen, welche die Laune einer Häuserlücke oder eines Oktoberhauches herübertrug, bis er sie erkannte:

Wiener Gassenhauer! Eigenloblieder!

Exil! Exil!

Und wieder ging er fort, weit aus dem Winde, damit er nicht mehr hören müsse. Aber die Dornen der Erinnerung drückte er nur noch fester an sich. Und wieder fiel ihm eines der bodenlos schwermütigen Volkslieder ein, das ihm einst Bohnstock in traurigem Staunen vorgesagt hatte. Er hatte weder Freund noch Geliebte. Wie gut verstand er da das alte Schweizer Volkslied des einsamen Hirten:

's isch äben e Mönsch uf Ärde – Simelibärg!
– Und ds Vreneli ab em Guggisbärg
Und ds Simes Hans-Joggeli änet dem Bärg –
's isch äben e Mönsch uf Ärde,
Daß i möcht bi-n-ihm si.

U mah-n-er mir nit wärde – Simelibärg! usw.
Vor Chummer stirben i.

Das ist die Geschichte einer welkenden Menschenpflanze, die aus steirischem Humus auf den Lehmgrund des Wiener Bodens versetzt ward und zugrunde ging, auf demselben liebfröhlichen Boden, wo das grundständige Leben so glücklich blüht, wo Herzlichkeit, Sang und Klang, Sonne und Wein, Wind und Wald, Natur und Kunst reichlich gedeihen!

Der Winter wühlte dann auch an Helbigs erschütterter Gesundheit weiter, und mit untergraben half das sonnenlose Leben:

Der Sonntag vergeht,
Der Montag verweht,
Die Zeit geht über mich hin – – – –
Mich freut kein Tag,
Mich schmerzt keine Plag',
Weil ich verlassen bin.

So kam denn das neue Jahr herein, ein stürmisches Jahr, welches Schicksal trug; Schicksale für manche von den Zwölfen.


Denn wie manches Jahr an uns vorüberweht und wir fragen am Schluß: Was war es? Wo blieb es? Was geschah? Und finden nicht Freude noch Zorn, nicht Geschehnis noch Innerlichkeit in den Behältnissen zwölf schaler, kraftloser Monate, so kommt ein anderes Jahr mit dicken Wetterwolken, mit Sturm, der umreißen, Regen, der befruchten kann, Schloßen, die zerschlagen können, und mit Sonnenrissen in den Wolken, welche an der gewohnten Gegend neue Wunder beleuchten. Das Jahr, welches kam, trug viel Gewitterneigungen!

Da begann schon im Fasching ein Schicksal.

Es hatte Frau von Karminell sich in Vergnügen, Tanz und Theater geworfen, um zu vergessen, daß eine kleine, helle Stimme in ihr umsonst nach Leben rief!

Eines Abends saß Wigram bei ihr und sprach über die Notwendigkeit der Liebe und über die Notwendigkeit des Hasses in den Dingen dieser Welt. Und groß sei nur, wer beides könne.

»Glauben Sie,« fragte sie nachdenklich, »daß Kantilener hassen könne?«

»Nicht einmal den Haß selber,« lächelte Wigram.

»Ich dachte manchmal schon, daß ich mir mindestens seine Verachtung verdient hätte. Sankt Othmar predigt nämlich nichts Geringeres, als was der Heiland vom reichen Jüngling verlangt hatte, Hab und Gut für die Armen hinzugeben! Mein Gott, als ob ihnen damit geholfen und ich nicht gänzlich vernichtet wäre. Ich muß sorgenlos leben, sonst stürbe ich.«

»Hm,« sagte Wigram, »mir scheint, Herr Professor von Karminell wird Ihnen in bezug auf Kantileners neues Menschentum schon eine melancholische Mitteilung gemacht haben.«

»Aber keine Silbe,« rief sie und ließ ihren Mann aus seinem Zimmer bitten, denn Wigram wollte nicht recht mit jener Neuigkeit laut werden.

»Er hat um ein Stipendium nachgesucht,« berichtete kurz der Professor, der es sehr eilig hatte, »und ich denke, wir bewilligen es ihm. Doktor der Medizin und Philosophie zugleich ist eine schöne Sache, und in Anbetracht seiner erwiesenen Mittellosigkeit – – –«

»Aber er hat doch ein kleines Vermögen!« rief Frau Else erstaunt.

»Er hat es verloren,« sagte der Herr Professor gleichmütig und ging wieder fort an seine Arbeit.

»Wie denn? Wie das? Der arme Junge, und hat mir nie etwas gesagt,« rief sie mit zitterndem Herzen.

»Vielleicht fürchtete er, von Ihnen gescholten zu werden,« nickte Wigram vorwurfsvoll. »Er hat beinahe sein ganzes Erbteil dem Verein der neuen Menschen für die Gründung eines Gesundheitshauses zur Verfügung gestellt, und da Doktor Urban und einige andere Ideologen auch bis aufs Blut in ihr Vermögen griffen, so werden sie im Frühjahr bauen. Wenn nur ein Geschäftsmann wie Vollrat drunter wäre! So aber möchte es verlorenes Geld sein.«

Frau von Karminell war fassungslos und außer sich über diesen Narren, wie sie ihn schalt. Und hielt mit Gewalt die bitteren Tränen der Scham und die süßen Tränen der Freude und Begeisterung zurück. Ein Glück, daß das Theater begann; sie hätte laut herausgeweint.

»Daß Sie ihm nie sagen, wie ich ihn verraten habe, das hoffe ich von Ihnen,« warnte noch Wigram auf der Gasse.

Sie stieg in den Wagen. »Nie! Nie! Und – – – ich lasse ihn grüßen!«

Der Wagen rollte. Mächtig bewegt warf sie sich zurück. »Willst du ganz vollkommen sein, so verkaufe all dein Gut und schenk es den Armen! – – –« Nun wollte sie weinen, konnte aber nicht mehr. Sie war ganz hilflos gegenüber dieser so einfachen Handlung ihres heiteren Jungen!

Und im Theater gaben sie über all das noch den »Evangelimann«, aus dem das Heilandswort der Bergpredigt, wie ein Meteor am Sternhimmel, weit über alles Talent eines guten Komponisten leuchtet. Und da ging eine Kinderei vor, eine Seltsamkeit, wie sie nur das Leben zuwege bringen kann, ohne jede Logik und dennoch stark wie Gottes Wille.

Eine ganz einfache Stelle war es, ohne Bezug auf Frau Elsens durchwühltes Gemüt. Der arme, verfolgte Matthias singt nämlich:

Mein Vaterhaus stand in Sankt Othmar, – – –
Es war das alte Schulhaus.

Sankt Othmar! Das Wort, womit sie aufkeimende Neigung schmeichelnd zur Ruhe gespottet hatte, das Wort, mit dem sie ihn verschreckt und redescheu gemacht hatte, nun hörte sie es aus ganz fremder Kehle singen, ohne Bezug, ohne Spott, als bloßen Ortsnamen, und er flog ihr ins Herz wie ein Pfeilschuß …

Mit einem langen, innigen Blick sah sie hinauf in die Galerien, wo er zu sitzen pflegte. Alles dunkel.

Zum Aktschluß stand sie auf und schaute, schaute, bis das Theater sich leerte. Er war nicht dort. –

»Wie soll er denn oben sein? Er hat ja kein Geld fürs Theater; er hat ja alles verschenkt!«

Und bang, fast schluchzend, mit einem unbeschreiblichen Gefühl von Weh und Jubel, aufgewühlt in allen Tiefen und immer nur mit dem Versuch beladen, die beiden dummen Zeilen zu singen, so fuhr sie nach Hause.

Mein Vaterhaus stand in Sankt Othmar, – – –
Es war das alte Schulhaus.

Die süßeste und schönste aller Frauen galt sich nur mehr für einen als süß und schön. Sie gehörte sich selber nicht mehr, und nicht mehr der Welt, die nach ihr verlangte.

Der arme, junge Student hätte gebieten können, so demütig wurde sie vor ihm. Doch das verstand er nicht.

Sie konnte kaum erwarten, bis er wieder kam, und statt seiner kamen in den nächsten Tagen Wigram oder der gute, verschlossen liebende Bohnstock. Sogar Vollrat, sogar Zimbal kam.

Zimbal kam eben, als sie ausgehen wollte, anfragen, wie er neulich im »Tannhäuser« gefallen habe, wo er einen Ritter statiert hatte. Ach, er wußte gar nicht, wie sehr er gefallen hatte. Beinahe bis zu einem Entlassungsdekret, das Frau Else von ihm abgewandt!

Das arme, immer noch verkannte Genie hatte beim Einzug der Gäste auf der Wartburg noch gar kein Aufsehen erregt, weil da die Damen rechts gingen, und er hinter seiner korpulenten Frouwe nach allen Richtungen gedeckt war. Als aber nach Tannhäusers bösem Geständnis das ganze Weibsgeflügel aus dem Saale rumort, da war seine Deckung dahin. Und er stand links vorne, hinter dem Landgrafen, in Trikots, die wahrlich für mehr Fleisch und Blut gewoben waren! Er stand und tat sehr gefährlich mit seinem Schwert, wie eine Gelse, die stechen will.

Das ganze Theater jedoch geriet ob solcher Wadenvergessenheit und ob des gänzlichen Mangels an jeder Profilierung des Ritters, an dem das Hinterteil eingezogen erschien wie die hohlen Wangen des Hungers, in leise schüttelnde Kicherbewegung.

Wendelin Zimbal hatte mitten in Elisabeths Schmerzensarie einen reizenden Heiterkeitserfolg erzielt.

Der nun kam auch noch! Und nur Kantilener kam nicht. Sie aber erinnerte sich, daß O'Brien ihr erzählt hatte, wie feurig Zimbal einst Botenschaft getragen, für Amadé und Liese. Und fassungslos wie sie war, bat sie den Zwirnmenschen, ihr nur ja gleich den Othmar zu bringen, wo immer er sei.

Sie bat so innig, daß der gute Zimbal glaubte, der Himmel stehe offen, und dort werde gesungen. Mit leuchtenden Augen schaute er; seine Ohren hörten nur den schmeichelnden Stimmton einer liebenden Frau, und so ließ er sie dreimal bitten, bis er verstand und mit herrlicher Stimme schwur, alles zu tun, was sie verlangte, und wenn er Kantilener ermorden sollte!

Sie aber lachte vor lauter Glück: »Kann sein, daß ich's einmal brauche. Nun aber bringen Sie ihn lebendig, lieber Künstler.«

»Lieber Künstler!« – Das hatte er noch nie gehört. –

Und um das Übernatürliche vollständig zu machen, streckte sie, die so selten eine Hand reichte, ihm mit einem Lächeln voll Sonnendank beide wundervolle Arme entgegen, an denen lange Handschuhe waren, welche allein hingereicht hätten, den armen Jungen in alle Abgründe der Ehrfurcht zu schleudern.

Zum erstenmal erlebte er solche Frauenhände in den seinen. Und Zimbal war's imstand und küßte alle beide; erst das Leder am Gelenk, – und dann verfehlte er sich noch höher.

Sie lachte ein klein wenig, wie Wasser in verborgenen Höhlennischen anklingt, und berauscht, bewußtlos, – was soll man sagen? Willenlos wie ein Tennisball flog er davon auf den Griesplatz: »Sie will dich! Sie ruft dich!«

Gleich wußte Kantilener, wer. Und eine Ahnung fuhr ihm durchs Herz, nun komme es! Er wurde blaß, und die Knie bebten ihm leise, als ihn Zimbal auf die Gasse hinunterzog und mitriß mit den Worten: »O, sie ist schön! O, sie ist berauschend! Sie ist das Wunder, das Märchen vom Glück, sie ist nicht von dieser Welt!«

So unterhielt er den erschrockenen Kantilener, und das war sehr gefährlich bei dem ganz unhaltbaren Zustande, in dem der arme Student nun schon fast zwei Jahre wahre Gottesschlachten kämpfte, um brav und klug zu bleiben. Hätte er seine kranken Armen und den Verein der neuen Menschen nicht gehabt, er hätte sich schon seit langem weinend um ihre Knie geschlungen, zitternd vor Weh, und hätte gebeten: Töte mich, denn die Sünde wird zu groß!

»Was ist? Was ist?« fragte er, noch in der Gasse, wo sie wohnte, fassungslos.

»Sie liebt dich,« schrie Zimbal und stieß ihn ins richtige Haustor.

Kantilener fiel dreimal über jede Stiege, dann langte er oben an.

Vor der Tür erholte er sich. »Zimbal ist verrückt, Zimbal ist verrückt, Zimbal ist verrückt!« sagte er über zehnmal in dem Ton, in welchem Kinder auswendig lernen, vor sich hin, um sich zu beruhigen.

Endlich glaubte er an ein Mißverständnis und läutete an, nicht ohne daß das Schrillen der Klingel durch ihn fuhr wie leibhafte Elektrizität zum Behuf einer amerikanischen Hinrichtung.

Und es waren noch nicht alle Wunder erschöpft. Sie selber machte auf, huschend, leise, schnell, ließ ihn ein und rauschte in ihren weichen, fließenden Kleidern dem Vorausschwankenden nach, ohne ein Wort.

Im Zimmer dann stand sie vor ihm und schaute ihn an, wie ein schöner Traum.

»Da habe ich Sie nun …« Sie sagte sich das selber; innerlich, ganz innerlich und doch halblaut.

Es wäre gegen die Richtigkeit aller Geschichte, wenn Kantilener nicht vor lauter Verlegenheit und – – – und aufsteigendem Rieseln seiner Nerven recht ungeschickt gefragt hätte: »Gnädige Frau wünschen?«

Beinahe hätte ihn Frau Else wieder um den Hals genommen; diesmal noch ganz anders als bei jener ehemaligen, ersten Bewegung. Aber nein. Nicht schenken durfte sie sich … Begehrte er sie nicht, dann hieß es still sein und verwinden. Sie durfte nicht Dinge in ein Leben heiterer Heiligkeit werfen, die nicht hinein gehörten. Vielleicht war ihm Liebe schon längst zum Mitleid gediehen, Liebe zu einem einzelnen Geschöpf.

Selber stand sie nun bangherzig und in rechter Demut vor ihm.

»Sie meinten neulich, – – – verzeihen Sie, ich erriet erst später – – – Darf ich Ihr schönes Unternehmen, das Haus der Gesundung unterstützen? Ihren lieben, armen Kranken, Ihren Sehnsüchtigen, Ihren Beladenen zuliebe. Nicht Ihnen! Darf ich?«

»O gnädige Frau! Liebe gnädige Frau! Sie? Sie wollten? Sie wollten auch mit dabei sein?« jubelte er. Vogelleicht war es ihm zumute. Also bloß das? Was für eine einfache Lösung nach Zimbals erschreckenden Worten. Freudig und enttäuscht lief er auf und ab.

Sie beruhigte ihn. »Wir sprechen jetzt als Geschäftsleute,« mahnte sie. »Fehlt Ihnen noch viel zum Ausbau oder zur Errichtung des Institutes?«

Kantilener stand still, augenblicklich, und wurde wieder bedenklich. Sollte er ihr sagen, daß nur dreitausend Kronen fehlten? Die gab sie her, und er hatte die Schönheit selbst geplündert. Das hieß doch aus dem Tempel der Göttin die Weihgeschenke rauben.

»Nein, nein, liebe gnädige Frau,« sagte er langsam; »was uns fehlt, ist nicht der Rede wert. Und von Ihnen könnte ich schon gar nichts wegtragen.«

»Kind, Kind! Warum?«

Kantilener wurde vor Verlegenheit kunstgeschichtlich und umständlich. »Das ist so,« sagte er. »Da ist der Ildefonso-Altar, in Wien, von Rubens, auf drei Millionen Gulden geschätzt. Ja, und den verkauft man nicht und stiftet kein Krankenhaus dafür, und das ist in der Ordnung. Und der Rothschild hat der Wiener Kunstakademie eine Million für die Madonna des Lukas van Leyden geboten. Eine Million, das wären jährlich achtzig Stipendien, zu je fünfhundert Gulden für arme Teufel von Künstlern. Und doch darf das nicht sein. Denn die Krankheit hat ihren Raum und das Elend hat seinen Platz und die Schönheit hat ihr Recht in der Welt.«

Frau Else saß längst auf dem Diwan, griff mit der Hand in die Fransen und hörte auf den Klang seiner Stimme. Sie wußte gar nicht genau, was er sagte, nur daß es ihr wohl tat.

»Und das soll heißen?« fragte sie halblaut.

Kantilener wartete und sammelte Mut. »Das soll heißen,« brach er dann los, »daß man von einem Palmenbaum, der zum Staunen und zur Freude der ganzen Welt und unter ganz ungewöhnlich günstigen Umständen im Stadtpark gediehe, nicht Erde wegnehmen soll, um Kohl darin zu pflanzen, – daß, – – daß Frau Else, in Spitzen und Seide, geschmackvoll und königlich bleiben muß, schon damit wir anderen uns mit einem Blick auf ihr Glück den Mut holen, daß in dieser Welt noch nicht alles verloren ist, solange die wunderschönen Frauen gedeihen.«

Frau Else war ganz still. Seine Worte rieselten durch sie, wie der Bach durch den Wald, als einziges Leben in einem Mittagstraum: – – Solange die wunderschönen Frauen gedeihen. – – Und das war sie – –. Ihm war sie es.

Das Glücksgefühl eigener Vollkommenheit, da hieß es stille halten und kein Wort reden, damit es weben könne.

Der arme Othmar stand immer noch und sah sie an. Hatte er was Unrechtes gesagt? Aber nein. Sie spielte leise mit den Fransen und lächelte fast unmerkbar in sich hinein, den Blick zu Boden, ins Dunkle gewendet.

Nur einen Augenblick hob sie den Kopf ein wenig: »Setzen Sie sich,« und sank dann wieder in ihr Glück.

Kantilener setzte sich in die andere Ecke des Zimmers auf den härtesten Sessel; so fühlte er, daß man jetzt brav sein müsse. Aber ansehen mußte er sie doch und wünschen, ein Bild von ihr in diesem Augenblick zu haben, in diesem weichen, dunkeln, bebenden Augenblick. Sie aber blieb eine ganze Weile so. Da stand sie auf, trat zu ihm und stand bei ihm.

Gegenüber war ein Spiegel, da besah sie alle beide, sich und den Geliebten. Er fühlte ihre Kleider, und bald danach die Wärme, welche von ihr strömte. Und gleich darauf huschte, wie ein Lichtlein durchs Gezweig, ihr uneinfangbarer Duft an ihm vorüber. Er dachte an den Sommer, da er sich so sehr nach ihr gesehnt, und wie der Brief kam! Und jetzt! Ihm war es, als begänne in seinem Inneren ein Falter die Hülle seiner Körperlichkeit zu durchbrechen, so sehr rieselte es in ihm.

Es war nicht zu ertragen, und dennoch hielt er still; nur ganz leise drängte er sich gegen sie, um zu fühlen, ob sie noch da sei. Sie aber wußte, er werde sich nicht weiter rühren. Darum blieb sie an ihm, minutenlang.

Und das war beider Liebeserklärung – – –

Dann rückte sie ein wenig fort, und er stand auf. Mit heißen Augen schauten sie sich an, nur ein kurzes Ja! Ja! lang. Dann suchte sie seinen Hut, er ging, und sie selber ließ ihn hinaus; huschend, leise, geheim. Und während er vor der Türe aus lauter Herzklopfen noch ein Weilchen verzog, sperrte sie ihr Zimmer ab, rückte den Sitz, darauf er gesessen, an ihr Lager, setzte sich auf den Diwan und streckte sich dann aus, die Augen geschlossen, die Arme weit auseinander, mit langsamem Atemzug, und litt jeden Traum, der nur immer kommen wollte.

Er aber trat auf die Gasse mit dem ruhigen Glückstrotz der Schuld. Wieder sang die Amsel wie einst im März.

Die erste Amsel im Jahre, aber er hörte keine überirdischen Mahnungen mehr. Vergessen seine Armen, vergessen er selber, vergessen die heitere Liebe, die er noch vor Stunden war. Freudig und bewußt trat er aus seiner Welt in den Berg der Göttin, aus dem betörend die Unterirdischen singen. Er wußte, daß er versinke, und war selig, daß es geschah.

Noch ein kleineres Wunder widerfuhr ihm. Kurze Zeit nachher, am Jahrestage, da sie sich kennen gelernt, kam mit der Post ihr Bild; ihr Bild, wie sie auf dem Diwan saß, im Hauskleid, und zur Erde hinabschaute. Ganz in der Frühe war es gekommen, und als die vielen Mittagsglocken sangen, saß er immer noch auf seinem Bett, und seine Augen streichelten Zug um Zug längs der Linien des feinen, geneigten Antlitzes und des wunderschönen Körpers. Das blieb zart an ihrer Liebe, daß sie schon an dem Glücksgefühl, zu wissen, wie es stehe, ein reiches Genüge fand. Nicht einmal die Hände küßte Kantilener der geliebten Frau. Geschähe das, so zerrisse leichtlich die Hülle der Leidenschaft mit einem Male, und wohin die entfesselten Sinne ihn dann rissen, wer wußte das?

Dann entsann er sich doch wieder, was er seinen Kranken und Beladenen schuldig sei, und eilte, die Zeit einzuholen, welche er verträumt hatte.


Die Arbeiten am Heim der Genesung hatten wegen Geldmangel gestockt. Unter Dach und Verputz stand es; aber die Innendekoration war noch nicht recht gediehen, und eine der großen Wichtigkeiten, die Seelenapotheke, stand noch mit leeren Regalen, auf unsterbliche Werke wartend, da.

Die Bücherei! Seit das Haus gebaut wurde, arbeitete Kantilener an Zusammenstellung der köstlichsten Geschenke menschlichen Geistes. Denn selbst der Regenhimmel sollte leuchten und reich sein über dem Hause auf der Ries.

Viel wurde geschenkt, das ist wahr. Aber meist aus Händen, wie jener der Gesellschaft für ethische Kultur, der Freireligiösen, der Spiritualisten, der Vereine »Eden«, »Befreiung«, »Hilfe«, »Luft« und »Windharfe«. Es schenkten Bücher die »Friedenskrieger«, die »Frauenbündler«, die »Unterirdischen«, die »Überirdischen«, die »Irdischen« – Theosophen, Vegetarianer, und »die Enthaltsamen« sandten die Werke all ihrer Mitglieder. Wahrlich, in dieser Bibliothek hielten sie Frieden, die sich sonst weniger vertrugen als die gesamte andere, beladene und verderbte menschliche Gesellschaft. Hier zausten einander nicht, »die guten Willens waren«.

Wehmütig musterte Kantilener die dünnen Heftlein; rot, gelb, blau und grün eingeschlagene Notschreie moderner Menschheit. Viel Talent, unermeßlich viel guter Wille und noch mehr Torheit und Verblendung! Wie wertvoll, das zu überblicken. –

Wer da Zeit fände, alles zu sammeln; alles in hellem, gesundem Geiste zu prüfen und mit Redlichkeit die Reduktion, im Feuer heiligen Ernstes, vorzunehmen? Viel edles Metall bliebe dann aus wirrem Erfindsel. Wird er den Ordner machen, allen Autoren zu Undank und der Menschheit zum Besten?

Nach Durchsicht dieser gänseschnattrigen Apostelei empfand Othmar das innige Bedürfnis, große Ironisten in die Nachbarschaft des Regales »Neue Menschen« zu stellen. Jener seltene Mensch, welcher es in sich hatte, so hoch zu gelangen, der sollte gänzlich gesund im Genesungsheim werden. Und Othmar notierte den kleinen Lügenbold Tom Sawyer des Twain, und einiges vom lächelnden Dickens und vom mokanten Rabelais, vom groben Fischart, vom nebensachen-hauptsächlichen Jean Paul, dem breitbehaglichen Gottfried Keller – – – warum haben die Deutschen so wenig schmunzelnde Dichter?!

Daneben sollte dann das Fach »Gesunde« kommen. Gesunde –! Mein Gott, also Homer – – – Äschylos? Nein, der nicht; ist schwer beladen mit Mauersteinen, um in sonniger Welt düstere Heiligtümer zu bauen. Sophokles? Vielleicht Ödipus auf Kolonos. Euripides? Nein. Aristophanes gewiß, Holberg daneben. Und Molière, den Gesündesten? So gesund, daß er die Ärzte nicht leiden konnte … Dann Goethe: Die Reisen, Wilhelm Meister, Götz, – – – gar manches, lange nicht alles. Shakespeare: Die Falstaffkomödien, »Romeo«, und aber wieder »Sturm«; denn das andere kommt in das nächste Fach, wo der Faust obenan steht: Große Sehnsüchtige! Also ist Sehnsucht schon nicht mehr Gesundheit.

Ach Gott, das dauerte Wochen; es wäre eine lange Geschichte. – – – So sehr verlor sich Kantilener bei seinem Eifer, der süßen Frau reinster Geliebter zu bleiben, in sein Feuer, die Weltliteratur vom Standpunkt einer Bibliothek für Genesende zu betrachten, daß er vergaß, von dem Gebäude auf der Ries ihr, der Reichen, für deren Schmuck ihm alle Perlen des Meeres zu wenig gewesen wären, zu schweigen.

Wendelin Zimbal hatte ihn begleitet, vom Heim der Genesenden bis zu Frau Else. Zimbal lebte, da es beim Theater nur wenig Stellproben für ihn gab, ganz in der Rolle des treuen Beschützers ungesetzlich Liebender, und es wäre ihm durch das Herz gegangen, wenn seine treue Botschafterei nicht mit dem Glücke leuchtender Menschenaugen bezahlt worden wäre. Er selbst hatte noch nie eine Liebe gehabt; stets liebte er mit anderen; er, der ja ohnehin wie ein Schatten aussah!

Und als Kantilener in das Haus der schönen, reichen, leuchtenden Frau ging, blieb Zimbal zurück, um von der Seligkeit nur sehr unbequeme Vorstudien zu absolvieren.

Der gute Othmar aber erzählte drinnen! Erzählte obenan von seiner Bibliothek, klagte, fragte um Rat, verwirrte unter dem Blicke der klugen, süßen, glücklichen, verliebten, grauen Augen das Buch Sirach mit Ovids Ars amandi und schwieg zuletzt, schwieg ein ganzes Hohes Lied seligen Anschauens!

Glücklich duldete Frau Else dieses besiegte Verstummen des ideenvoll Gekommenen. Sie duldete es, bis ihr selber heiß und ängstlich wurde, – ängstlich bis zu jenem sehnsüchtigen Ausstrecken der beiden schlanken Arme, das sie sich immer wieder verbot!

Aber heute hatte er sich verraten. Und das war ein Glück, ihm Schrecken und eine Freude zu machen! Gab sie ihm denn nach kurzem, hastigem Kramen in einem zerwühlten Weiberschreibtisch, an dem geträumt, geweint, bespiegelt, still gelacht, nur nicht geschrieben wurde – ein großes Kuvert: für Herrn Doktor Urbans Sanatorium.

Streitend, traurig, gekränkt, aber gewissenhaft nahm es Kantilener mit. Es war wirklich das beste Mittel gewesen, ihn sicher zur Tür hinauszubringen und abzukühlen, sonst hätten sie beide sich vor Glück und Liebe nicht zu fassen gewußt und hätten sich aus dem Paradiese geküßt …

Und wie er in seinem ganzen Unglück an der Haustür stand, stürmte Zimbal auf ihn ein: »Was hat sie dir gegeben?«

Mit verhaltenem Schluchzen zog Othmar drei große Banknoten von erschütternder Ziffernmajestät am Ohr aus dem Kuvert.

Zimbal erstarrte. So weit also ging opfervolle Liebe? Bis zu jenen blauen Bildern, welche sonst nur Schauspieler wie Sonnenthal und Kainz einnehmen? Göttlich!

Man bedenke, daß Zimbal ein naives Gemüt war und also Geld zu den heiligsten Gütern der Menschheit rechnete.

Sein Leben hatte einen Wendestoß empfangen. Hinfort war der Tempel der Liebe in seinen Augen angefüllt mit Weihegeschenken und Präsenten. Er war, ohne es zu ahnen, zu den Erkenntnissen wissenschaftlich ausgebildeter Konservatoristen gekommen.

Durch die wuchtige Spende der in allem andern so zarten Frau vollendete sich das Haus der Genesung auf der Ries, wie von kleinen, unsichtbaren Geistern bedient.

Himmelblau war es angestrichen, im Giebel eine große, aufgehende, vergoldete Sonne. Von einer Seite blies, im Relief, ein pausbäckiger Wind, auf der anderen Seite sendete eine schöne, pralldicke Wolke Regenschauer herunter. So waren alle drei Naturheilmittel kinderfroh beisammen wie auf einem alten Bauernkalender.

Die Einweihung des Hauses war festlich und rührend. Der Verein Windharfe, gemischter Chor, sang wie Cherubim und Seraphim, und Doktor Urban hielt eine beweinenswert schöne Rede über die erste Burg des neuen geheiligten Menschentumes in deutschen Landen, mit dem Wunsche, daß auf vielen seligen Hügeln ähnliche Gralsburgen des einzigen Heiles entstehen möchten.

Die Rede, der Tag und die Gegend waren so schön, daß ein nicht einmal unvermögender Sonderling sich sofort bereit erklärte, als erster Patient einzuziehen. Das Haus sei im Ziegelrohbau über den Winter durchgefroren, also wage er es, im Vertrauen auf ein zugfreies und trockenes Zimmer.

Nach und nach meldeten sich sieben Gäste, alle als Mitglieder der beteiligten Vereine mit derart ermäßigten Preisen bevorzugt, daß schon mit ihnen ein idealistisches Defizit in die Sonnenhalle einzog.

Gewinnen tat nur einer: Zimbal. Der begeisterte Wendelin fand hier das erste Weib, welches an den Künstler in ihm glaubte, und zwar, was ihn besonders rührte, ohne ihn je auf der Bühne gesehen zu haben. Kunigunde Anatour. Sie gab ihm sogar, nachdem er ihr beim Weihgesang dicht am Ohr mit herzbezwingender zweiter Stimme gewaltige Gefühle wachgesungen hatte, einen silbernen Crayon von ihrer Uhrkette zum Andenken, mit einem falschen Rubin.

Wonnebebend nahm Zimbal das erste Zeichen beginnender Künstlerkarriere entgegen.

Kunigunde Anatour wurde seine Seelenfreundin, und da sie nicht ohne ein Erbteil war, so kleidete sie ihren Künstler verhältnismäßig elegant und bestritt die Kosten des Friseurs.

Zimbal begann, von jenem ersten Tage des erfolgreichen Selbstbewußtseins an, in sich den unbesieglichen Glauben zu treiben, daß er ein schöner Junge sei; und durch die Wunderkraft des Selbstkultus wurde er es nach und nach auch wirklich. Schon im Herbste gab man ihm bessere Rollen als die des letzten Ritters im Tannhäuser, und Schönheit und Künstlerschaft wuchsen derart mit ihm, daß er für Kunigunde Anatour zu gut wurde und eine körperlich gesegnetere, goldhältige Kreatur auswählte. Kunigunde Anatour wurde hiedurch in den innersten Hof der Wehmut eingeweiht, jedoch wurde sie nicht mannsflüchtig. – Sie war unverbesserlich. Zimbal aber hatte von allen am kürzesten dem wunderschönen Verein derer angehört, welche ihre Stunden verklärten.

Das Heim der Gesundheit stand, stand aber beinahe leer. Da zogen Liesegang und Petelin psalmsingend hinaus in die sommerheißen Lande, um Gäste zu werben für das neue Heil.

Von Dorf zu Dorf predigten sie, und abermals widerhallte die gutmütige Obersteiermark von ihren Segensflüchen: »Wehe denen, die das Licht scheuen, und die Luft und das Wasser. Denn ihnen ist versperrt das geistige Licht, die Luft leichtfroher Gedanken und das Wasser seelischer Öffnung!«

Und wenn Liesegang ausbeteuert hatte und den ganzen Katechismus leiblicher und seelischer Hygiene an den Tabaksqualm eines Dorfwirtshauses zu fünfzig Kreuzer Miete pro Vortrag verschwendet hatte, dann trat Petelin, das vegetarische Präparat in seiner feinsten Destillationsstufe, vor und sagte mit himmlischer Gläubigkeit: »Sehet mich! Ich wäre schon lange dahingeschwunden, und die groben Sinne des Fleischgenusses hätten mich ermordet, aber meine Nüsse und Äpfel tragen mich wie Engelsfittiche über diesen rauhen Erdboden.«

Worauf die Männer entwaffnet waren und die Weiber schluchzten.

So sehr wirkte die Attraktion Petelin, daß in Eisenerz, der unbezwingbar räucherfleischfrohen Heimat Scheggls, eine tiefgerührte Hausfrau an den kleinen Klaus mit der mutterherzlichen Bitte herankam, er möge nur vierzehn Tage bei ihr vorlieb nehmen, damit sie ihn wieder herausfüttern könne!

Petelin, die entsinnlichte Idee, wies sie mit einer wehmütig präraffaelitischen Gebärde in die Schranken: »Arme Verlorene! Erkannten Sie nicht, daß ich das Brot des Heiligen Geistes esse?«

Beschämt erinnerte sich die liebtreue Mutterfrau, daß einst der heilige Johannes sogar Heuschrecken verspeist habe. Sie kam sich wie eine Verführerin vor, erkannte das Verderbliche, Menschen zum Schmaus zu verleiten, die es nicht nötig hätten, und schied mit der unsicheren Bitte, Petelin möge wenigstens ein bißchen für sie beten.

»In meiner Weise gern,« versicherte Petelin wehmütig. Denn katholisch war er ganz und gar nicht.

Das sollte sich schwergriffig büßen.

Denn durch die Steiermark zogen sie ins obere Österreich … Solange noch in den feinsten Gefäßen der zuhörenden Menschenleiblichkeiten verborgenes Südslawenblut dichterneigungsvoll schwamm, solange tat man ihnen nichts, und sie sahen hellfreundliche Augen. Bis über die herrliche Eisenstadt Steyr, neben Eisenerz die wundervollste Totenklage altausgestorbenen Bürgertums, bis über diese ehedem so begnadete Stadt hinaus zogen sie in Fried und Freude.

Dann begann das Mostland der dicken Bauernköpfe.

Germanisches Land, ohne viel andere Verwickelungen, als daß der seelenvolle Anteil, der einst mit durchgeistigter Innigkeit seine Bibel selber las, durch die Gegenreformationen fast mit Stumpf und Stiel weggesäubert worden war.

Nun ist das Land dick katholisch und schwer an Alkohol und Gelddumpfheit, bis zum sommerlichen Fremdenwucher.

Die armen Jünger des heiligen Entsagungsgeistes ließ man ja zuerst als eine Art wunderlicher Sommerfrischler, die immerhin noch Geld bei sich führen könnten, einziehen.

Aber der Wirt verdiente nicht einmal alkoholfreien Bierabtropf an ihnen. Da umdüsterten sich die Gemüter.

An einem Regentag hielten sie dann irgendwo zwischen Traun- und Attergau eine Predigt vor neugierigen Dorfgeistern und einigen Frauenzimmern, welchen die härnen Kutten evangelische Ahnungen von himmlischem Ehemals und Dereinst erweckten.

Ihre Rede gegen den Alkohol erinnerte die Röcke an schwerwankende Sünden der Eheherrn. Ihr Preisen von Licht und Luft gemahnte an ihre unmodernen kleinen Fenster, hinter denen die zahlfähigen Sommerfrischler ungern wohnten. Die Weiber krakeelten nach beendetem Zuhören eilig nach Hause und machten Ehemann und militärpflichtigen Söhnen böse Stunden wegen der Wirtshausgängerei. So entstand bockstirniger Bauerngroll.

Das hätte doch nicht so bald bis zur Knallspannung geführt. Aber da kam ein Sonntag mit allerdurchlauchtigstem Himmel und überschwenglich schöner Seebläue. Die Kirchenglocken warben an, was dem Klingklanggloria zuläuft, und Wald und Wiese lagen im verlassenen Gottesgold.

Da stiegen Liesegang und das Petelinchen zu Berge und hielten auf dem Hügel über dem Dorfe ihren still ergriffenen Gottesdienst.

»Wie alles leuchtet, gottdurchdrungen und bebend vor eigener Größe und Allgewalt!«

Sie saßen und schauten und schauerten.

Vergeblich hatte sie Zimbal vor ihrem Auszug gewarnt: »Wir Schmierenschauspieler gingen Sonntags stets in die Kirche. Die jungen Weiber sahen uns scheu verliebt von der Seite an, und die Alten dachten: Wenn sie schon sonst nichts im Sack haben, ihren Herrgott haben sie wenigstens im Herzen.

Und wenn der Pfarrer auf der Kanzel war, rührten wir uns nicht vor lauter Tugend und Frommheit.

Kamen wir zum Herrn Pfarrer, kam der Herr Pfarrer zu uns. Er lachte über unsere Faxen, und das war ein gutes Beispiel. Wir verdienten bis zu siebzig Kreuzer per Kopf und Tag!«

Aber Liesegang und Petelin saßen in Gottes überschwenglichem Farbenglühen und verrannen anstaunend in ihre geliebte Natur.

Der Herr Pfarrer aber, der nicht begriff, daß die beiden nur von der anderen Seite, als er selber, an Gott heranwollten, sah nur den Trotz der abwesenden härnen Gewänder und das böse Beispiel.

Und er predigte von der Zeit des Antichrist, der in Antlitz, Gewand und Haltung kommen würde wie die Jünger des Herrn und sagen werde: Ich bin Christus, der euch erlöset!

Damit hatten die Bauern das Prügeldiplom in Händen.

Am Nachmittag tranken sie sich vorn in der Schenke hahnenrote Köpfe an, und hinten im Tanzsaal sangen Liesegang und Petelin vor beinahe leeren Bänken ahnungslos von der Lust am Licht, an reingewaschener Leiblichkeit, an Porenatmung und an einer seelenvoll sonneschauernden Menschenhaut.

»Fenster auf! Licht, Luft herein, und hinaus selbst in Gottes Regenschauer!«

Ach, die Fenster gingen auf, und durch jedes kam ein prügelschwingendes Bauerngetüm herein.

Der Anführer der Kirtagsheroen trug sogar eine Jubiläumsmedaille und trat die Türe ein. »Seid ihr die davongelaufenen Stadtleut, die uns Bauern aufbinden wollen, daß sie heilige Apostel sind?«

Liesegang – er war nun einmal Liesegang, die futtertrogernährte Kampfnatur, erschrak, faßte sich, sah, daß es einschlagen müsse, riß einem Sessel den Fuß aus und schrie begeistert: »Wir sind die Zungen der Geschenke Gottes. Wir rufen, solang wir Atem haben: Wascht euch rein und lüftet euch aus, ihr schmutzigen Bauernlackeln!«

Die Auseinandersetzung begann mit großer Begeisterung, und Liesegang schlug drein wie ein Makkabäer. Petelin machte nur abwehrende Handbewegungen, welche von den blutunterlaufenen Augen der halbtrunkenen Burschen mißverstanden wurden. Er lag im Augenblick am Boden und streckte vier flehende Extremitäten empor, aber nur sein tiefentsetzter Blick blieb Waffe. Der Bauernbursch mit der Medaille, der ihn prügeln wollte, sah die ganze Raufunfähigkeit in diesen angstvollen Kinderaugen. Er riß ihn empor.

»Komm heraus, du Krisperl,« schrie er ihn unwillig an; »sonst derschlagen sie dich ja!« Er zog ihn in eine Art Garten, wo in honigdunstiger Stille hinter dem Bretterverschlag der Notdurft allerlei Abfall, wesenlose Schubkarrenreste, kurz das ganze Jenseits eines Landgasthauses beisammenlag.

»Da sag mir jetzt. Was wollt's ihr denn eigentlich? Ich hab' doch beim Militär gedient, aber von solch einem Wunderbandel hab' ich noch nichts erhört.«

Und während draußen Petelin das neue Menschentum mit dem Kindeseifer des Ewigversöhnlichen in die erstaunten Ohren eines Burschen hineinredete, der fortwährend an die Stadt, ihre durchgeistigten Arbeiter und ihr unterirdisches Volksgären denken mußte, der Stadt, die ihm seit seiner Dienstzeit durch geheimnisvolles Nachhallen keine Ruhe mehr ließ, – während dieser Zeit schlug sich Liesegang drinnen im Tanzsaal glühend wie ein vergoldeter Erzengel mit einer ganzen Schar unhygienisch Erzeugter für die Idee reinen Menschentumes und wurde schließlich, koloriert mit den sieben Farben des Regenbogens, als Abfall der Menschheit durch ein Fenster auf eben denselben Kehricht geworfen, auf dem Petelin stand und einem breitköpfigen Bauernburschen zuredete, Halbgott zu werden.

Der Bursch wandte sich zu dem arg verbeulten Liesegang, der aussah wie getriebenes Kupferblech. »Wissen Sie,« sagte er, »Sie müssen schon entschuldigen. Wir Bauern brauchen eigentlich die Stadtleut nur wegen dem Geldhertragen. Sonst können die Leut euch ja doch net leiden und lachen euch hinterm Rücken aus. Warum kommt's ihr denn in Gotts Namen selber, wo ihr doch mit eure Zeitungen viel besser dran seid's? Wann unsereiner das vorlest, was ihr da sagt's, so glaubt er: Er selber sagt's den anderen. – Das schaut gleich ganz anders aus. Schreibt's euere Luftbaderei auf und schickt's es uns im Linzer katholischen Volksboten, aber kommt's nicht so kralawatschert in Bußröckeln daher wie die leibhaftige Teuerung und Hungersnot.

Ihr wollt's doch eine frohe Botschaft bringen!«

Aber Liesegang und Petelin zogen weiter durch das deutsche Land, voll innigen Glückes, die einzigen zu sein, welche den Havelock auf der nackten Haut trugen und Sandalen. Es ist beinahe anzunehmen, daß ihre Seligkeit dahin gewesen wäre, wenn sehr viele solcher Käuze mit ihnen den Staub der Wanderstraße aufgewirbelt hätten.

Man ließ sie friedvoll lächelnd durch, und überall blieb den Vernünftigen ein Körnlein von dem Körnlein Vernunft ihres Erdenwallens zurück.

Nur in Preußen trieb sie zu Ende September ein Schutzmann wie zwei Hammel ins Polizeigefängnis, wegen öffentlichen Ärgernisses. Eine Konsistorialratsgattin hatte Petelins seraphische Wadenstellen gesehen, weil der Herbstwind geweht und der Havelock ärgernisvoll geflattert hatte.

Sie wurden zu Arrest verurteilt und nahmen es beseligt hin.

Das war das einzige Glück, das ihnen im Preußenlande widerfuhr. Sonst hörte niemand auf sie. Sie waren eben nicht proper.


Am Tage nach der Einweihung des hellblauen Hauses der Gesundung auf der Ries bereitete sich auch Frau Karminell zur Abreise in die Traumstille ihres Weingartenhauses.

Othmar hatte ihr von allem, was auf der Ries geschehen war, berichtet. Aber als er sagte: »Ich will während des Sommers dort oben auf der wehenden Höhe bleiben und dem Doktor Urban helfen,« – da kam sie zögernd mit den Worten an ihn heran: »Othmar, ich hätte gehofft, Sie kämen auf einige Monate zu uns? Sie sind nicht mehr der alte. Sie wollen einen Mann aus sich schmieden und haben Ihre Erkenntnis zum Rotglühen zwischen zwei Feuer geworfen statt in eines.

Was ist mit Ihnen? Was wollen Sie? Philologe werden? Es wäre das Angemessenere für Sie, denn Sie sind Dichter. Ihr Werk über die altchristliche Kunst wird rührend schön werden.

Kommen Sie mit uns in die stillen Sommertage der Rebenhügel und in jene Nächte, die kaum zum Schlafen geschaffen sind, sondern zum Hinaufträumen nach dem Sternenhimmel. Wir werden tapfer und treu nebeneinander gehen und das große Rätsel überwinden, was aus Ihnen werden soll: Kunstgelehrter oder Arzt.«

Othmar sah die herrliche Frau voll Glück und Weh an. Sie hatte mehr Mut als er, der zu verzagen begann, ob sie beide im schwülen Versteck der Rebenlauben rein und stark bleiben könnten. Er sehnte sich mit Stahldrahtseilen in jene Weingärten und nach der Frau, welche ihm die erste war auf der ganzen Welt an Schönheit und Klugheit.

Aber er wußte auch: Dort in den Reben, dort in den Wäldern, dort in den klassisch naturnahen Auen, bis zu denen einst heitere Antike ohne Heimweh hinaufgegriffen hatte (denn ihre Heimat war, soweit die Edelkastanien wild gediehen), dort, wo heute noch Pan die betörende Rohrflöte bläst, dort würde sie das wilde, süße, heidenfreie Verlangen inniger Zeugungslust aneinanderziehen: Leib an Leib, sündlos jauchzend über die Entdeckung des Nackten.

Oft werden dort Mosaiken aus heidnischen Villen aufgedeckt, mit Bildern von glückseliger Verführungskraft. Wenn sie ein solches sahen und sich dann in die Augen schauten?

»Nein, nein;« sagte er, und jenes Wort war ein widerwillig bewegter Felsblock.

Sie aber stand abgewiesen, und die klugen, grauen Augen schwammen voll törichter Tränen.

Othmar verbrauchte seine letzte Kraft, um von diesem ihm gänzlich hingegebenen Weib, das vor ungenützter Schönheit und Liebe unklug geworden war, Abschied zu nehmen; einen bloßen langen Händedruck. Dann, auf der Straße, begann die neue, böse, verzehrende Zeit der Glücksferne.

In den verlassenen Baumwegen des Stadtparkes huschte ihm schon das Raunen der Sehnsucht über den Pfad.

Frau Else war fort, Frau Else war fort.

Die neben ihm gestanden und mit dem leisen Druck des biegsamen Körpers geflüstert hatte: Dies ist alles dein. Die sonst so ungetrübte Heiterkeit, die um ihn wie ein unvernünftiges Kind geweint hatte. Die Schlankheit, die ihn gerne umschlungen hätte und nicht sollte, die herrliche klare Klugheit, die für ihn heiß, fassungslos und verliebt sein wollte.

Und er hatte ohne das alles zu leben gedacht?

Da begann es in ihm zu brennen.

Zuerst besuchte er einen weichen Wiesenfleck unter einer Buche in den Bergen hinter Sankt Peters Dorf, auf dessen zartem Grase sie einst gelegen. Als sie aufgestanden war, hatte Kantilener bemerkt, daß eine süße Form in den nachgiebigen Halmbüschen abgedrückt geblieben war. Dort ging er hin und vergrub das Antlitz in das längst wieder aufgestandene Grün und suchte mit den Lippen nach der Formung, die einstmals hier gewesen war.

Damit hatte das Leiden begonnen.

Stundenlang saß er dann und schaute ihr Bild an, Zug um Zug, Linie nach Linie. Als ihn aber einstmals die wilde Inbrunst packte, sie genau abzuzeichnen, wie sie da saß, die Arme in weicher Versunkenheit niederfallend, den Blick ins Dunkle, – ganz stillhaltend vor Erwartung, als es ihn faßte, sie genau nach allen Linien abzuzeichnen, nur ohne Kleider, – da erkannte er, wie weit schon der Brand in ihm gefressen hatte, und er rang und kämpfte von neuem.

Er suchte das Heim der Gesundung auf. Aber das lag einsam und träumte im Sonnenschein des arbeitlosen Sommers. Wenige stille Menschen wohnten hier und bedurften kaum körperlicher Pflege.

Zu allem Unerleidbaren kam alle vierzehn Tage ein Brief von ihr mit den magischen Worten: Ich warte …

Er aber konnte nicht das Brot des Mannes essen, dessen Frau er liebte. Daß sie das nicht begriff!

So starb er vor Sehnsucht im stillen Sonnenschein des schweigenden Sommers jener baumumträumten Stadt. Und Bohnstock kam zu ihm und drang und fragte: »Ruft sie uns nicht? Warum ruft sie uns nicht!«

Was hätte er ihm sagen sollen? Daß durch seine wilde Sehnsucht der Jubel durchbrach, weil Frau Else niemand rief außer ihm, und lieber einsam blieb, als daß sie andere Männer neben sich litt?

Schweigend und gern aber ging er mit dem ahnungslosen Künstler wie einst die wehmütigen Wege der Urgeschichte ihrer Liebe, und die Birke mit dem geliebten Namen galt ihnen als vollwertiger Ausflugsort. Auch das war süß.

Da war doch einer, der litt heißeren Durst als er und war ganz ohne Hoffnung. Da war doch einer, der ihm Lieder sang in bösen Stunden wie einst David dem langsam verderbenden Saul; Lieder, bei denen er sich manchmal fassen mußte, um nicht in Zorn über ihre Wünsche emporzuschnellen und den Speer nach dem Sänger zu schleudern. Schön aber war es doch; aufregend schön.

Bohnstock nämlich, der war nicht hoffnungslos in Gedanken an die lichte Frau. Er hatte vor den Theaterferien seine Oper fertiggestellt und dem Direktor gegeben; und der hatte mit festlichem Handschlag versprochen: »Noch vor Weihnachten hören wir sie!«

Und Bohnstock hatte ein mächtiges, heißes Werk geschaffen; leidvoll schön in der Handlung, hinreißend in vielen seiner Töne. Wenn dann im fassungslosen Jubel der hingeschmetterten Zuhörer die Bühne dröhnte, was würde die leuchtende Frau in ihrer Loge empfinden?

Es galt doch alles nur ihr!

Das war es, was Kantilener quälte. Der Freund gab ein Kunstwerk, vielleicht ein unsterbliches, für seine Liebe. Und was konnte er selber geben?

Daß er sich, seine Ideen und seinen Wert verloren hatte, war doch sterbenstraurig. Bohnstock wuchs zum Künstler, er sank zum Beladenen, zum Unfreien herab. Er ward wie jene, welchen einst sein grollender Schmerz galt, und die er hätte heben und erleuchten mögen, damit sie glücklich seien wie er.

Das war nun glückliche Liebe? Sie zehrte an ihm mit hundert gierigen Wünschen, – eine Raupe, welche Tausende von Blüten und Früchten fressend zerstört, – um Schmetterling werden zu können; der farbenglühende, kurzlebige Falter dreier heißer Tage!

»Spiel mir dein Werk vor,« drang er in den Freund.

Und er führte ihn in seine helle Stube zu Geige und Klavier, wo sich täglich ein tapferes Leben in Tönen Reinheit erkämpfte. Beklommen ließ sich Kantilener nieder.

»Ich habe dennoch deine indische Fabel deutsch gemacht,« sagte Bohnstock, glücklich in den Partiturfetzen blätternd. »Der Orient, das war mir nur ein leise vorbeiwehender Jugendtraum, daß mein Kinderbett ja eigentlich in jüdischem Hause gestanden. Aber die Milch, die ich trank, der Boden, darin ich wuchs, der Sturm, der mich die Töne lehrte, die Seele, die mir geschenkt wurde in langen Kämpfen, die sind deutsch!

Und nun höre. Es ist die alte Geschichte vom Schelm von Bergen, nur daß sie tödlich endet.«

Er spielte, die Musik zischte und brodelte. Heimo, der Sohn des Henkers, muß das Richtschwert schleifen in der Nacht vor einer Hinrichtung. Er singt ein düsteres Lied: »Schwert, was alles könnte ich wirken mit dir!« Und er schleift die abgeschnittene Spitze des Henkerwerkzeuges scharf, so daß ein Ritterschwert entsteht. Damit flüchtet er in die Nacht hinaus.

Und dann seine Taten in Luthers Tagen zur Zeit der Bauernkriege. Und wie er den Herzog von Schwaben errettet, und als Edelmann dem Blutgericht zusehen muß, zu dem der Herzog Heimos Vater, den Henker, bestellte … Und so fort durch bangen Druck, durch die Angst der Abkunft, durch die Sehnsucht, edel, frei und groß sein zu dürfen, – bis ihn das Schicksal wieder zurückstößt in den Abgrund, aus dem er sich gerungen!

Mit jagendem Blut hörte Kantilener zu … Ein Erstlingswerk! Viel Erstaunliches und viel Musik, die in die Seele jenes Liedes von Not und Enterbung griff. Herrliche Laute; aber dann wieder Ringen und Mißlingen. Kaum wollte die goldene Ader an den Tag, kaum jubelten die Töne der Instinktmusik, des längstverschollenen Wunders innerlicher Charakteristik auf, wie Sonnenstrahlen, da fuhr die tückische Wolke nachwagnerscher Verstandmacherei darüber, und statt daß sich wie am Fronleichnamsmittage die geheimen Schätze von selber hoben und alle Tiefen offen lagen, überwältigend voll Reichtum, statt dessen ächzte der gequälte Spatenstich, die Pikenarbeit des Talentes. Mühsame Schatzgräberei mit technischem Werkzeug … O du verschüttete, deutsche Musik!

Auch hier war das Göttliche verschlackt. Traurig erhob sich Kantilener und nahm die Hand des von seinem Werke glühenden Freundes.

»Bomsel,« sagte er, »in deinem Opus rauscht zwar oft der alte Schloßbrunnen von Mirabell, aus dem Mozart die Wunder seiner Einfälle erlauschte, und manchmal dröhnt auch das Grollen des Zornes, das Beethoven sich aus den Wetterwolken holte.

Du bist deutsch unbewußt, und deutsch groß, wie es das zerrissene Vaterland vor Anno Siebzig war. – – – – Muß denn die deutschkleinliche Administration, die Ökonomie und Rechenwirtschaft nach Anno Siebzig unbedingt auch in die Musik hinein?«

»Ich verstehe dich nicht,« sagte Bohnstock beklommen. Und Kantilener erklärte: »Ich meine: eine Idee, an der man den Feilstrich der Denkarbeit nicht sieht, ist am gottnächsten. Klügelei und sogar Vernunft muß weit unter ihr liegen bleiben, wie Apparate, die den Luftball füllten, aber nicht mit aufsteigen dürfen. Wenn deine Musik das Knautschen des Schmiedeblasbalges hinter dem Lied eines Schwertfegers braucht, so muß dieses Fauchen Musik werden, nicht Geräusch bleiben. Höre doch, wie hübsch Wagners Spindeln durch das Holländerlied kurbeln!« Und er trat ans Klavier und versuchte das Ramseln der Spinnräder wiederzugeben.

Gedankenvoll blieb Bohnstock stehen. »Vielleicht gefällt uns die Technik zu gut,« dachte er nach. »Da hat neulich einer das Fagott als Onkel, die Klarinette als Tante und das Pikkolo als Baby erklärt. Vielleicht schätzen wir das Virtuose mehr als den geheimen Gehalt und den Instinkt

»Wie in jeder Verfallzeit,« sagte Kantilener.

Traurig blieb Bohnstock an seinem angezweifelten Werk zurück, griff da und dort Onomatopöien heraus und quälte sich … Kantilener aber ging fort, zum erstenmal befreit aus der betörenden, stets neu geträumten Umringung in Frau Elses schlanken Gliedern. Um so schwerer ging ihm die Not deutscher Musik zu Herzen. So starb einst auch die italienische bildende Kunst, klagte er. Sie wollten bewegter sein als Michelangelo und verrannten sich ins Flatterige, indem sie dem Steine aufzwangen, was nicht des Steines war, und in der Malerei waren sie nach Tizian überglücklich, nur technisch sein zu dürfen. Der Leib glaubt so leicht zu siegen, wenn keine ringende Seele in ihm klagt und verzweifelt.

Der halb mißlungene Aufflug des Freundes hatte ihm, durch schmerzliches Nachsinnen, wieder etwas vom Glück der Gedankenreinheit gegeben, und Kantilener arbeitete sich langsam in das verlassene, helle Luftreich zurück, aus dem er schon tief gesunken war.

Schwer nur, und mit heißen Rückfällen. Die bildende Kunst mußte er gänzlich meiden. Aus der schönsinnlichen Körperlichkeit rief es ihm doch nur zu, daß Frau Else noch viel schöner sei. Dagegen suchte er Vollrat um so häufiger auf, und wahrlich kühlt kein Eis die heiße Stirn eines Fiebernden so wohlig, wie gesunde, sichere Vernunft die erregten Sinne beruhigt. Schon der durchgearbeitete Vernunftstil der Sprache des ruhigen Vollrat tat ihm wohl.

»Arbeite,« riet ihm Vollrat und arbeitete selbst mit ihm. Die Gesundungsideen des Schwärmers fanden an der Wissenschaft des klugen, jungen Arztes ein ausgezeichnetes Probemittel; beide stritten, prüften, nahmen voneinander an und lernten. So kam Kantilener zwar seelisch wenig vorwärts; als Arzt aber lernte er mehr, als in so wenigen Monaten möglich schien. Damit verging der Sommer, und Kantilener verlor sich nicht in der Verwilderung aufgehetzter Sinnlichkeit wie einst O'Brien. Der tiefe Schmerz am Versagen des Talentes Bohnstocks war sein Glück gewesen. Die heilloseste aller Leidenschaften hatte diese glücklich abgewogene Menschennatur nicht gänzlich hinabreißen können. Langsam und fleißig arbeitete er sich wieder zu einem Nachhall der Ruhe zurück, die ihm ehedem so göttliche Heiterkeit geschenkt hatte. Er besaß das große Talent, einen quälenden Gedanken kurzweg abschütteln zu können, und so tat er jetzt oft, oft mit Frau Else. »Wir wollen nichts von ihr wissen, solange sie fort ist.«

In ihm aber saß dennoch ein Heimliches, das sich dachte: wehe aber, wenn sie kommt!


Wigram, der hatte zu Beginn dieses selben Jahres seine wunderbaren Briefe in furchtbarer Erregtheit und voll heißen Zornes weitergeschrieben. Auf die Märkerrede des Kaisers hatte er in einem grollenden Rügebrief gefragt: »Soll ein deutscher Kaiser im eigenen Land Leibwachen aufrufen, deren er einst nur in Welschland bedurfte?

Ist das Volk da, dem Willen des Kaisers zu dienen, oder der Kaiser dem Willen des Volkes? Wenn die deutsche Seele über dem Umsturz sänne, wozu diente das Haupt, als dieses Sinnen weise zu lenken? Das ist die Größe des Herrschers, daß er überwindet, was umdünkelte Erziehung der Höfe an ihm sündigte, daß er in das Volk horcht, um sich selber an diesem neu zu erziehen. Der Wille ist des Volkes, die Ausführung ist des Kaisers.

Wie die Seele des Genies war jene des deutschen Volkes von je. Niemals einig mit sich, stets neubildend, stets kämpfezerrissen, stets im Sturme das Gleichgewicht suchend. Unser Volk ist wie jenes von Babel, immer bereit, hundertzüngig nach allen Seiten auseinanderzugehen und die Erde zu besiedeln, weil seine Seele wie die Weltseele ist, voll tausendfältiger Möglichkeiten!

Kein Kaiser muß so groß sein wie jener, welcher diese Volksseele leiten soll; in ihm muß wahrlich das Göttliche sein, welches ist: Allverständnis.

Stamm- und Parteihäuptling, wer eine Leibwache braucht!«

Mit diesem Brief hatte Wigram den Rausch seiner Seele in verzehrenden Brand gewandelt.

Wie jene großen, französischen Troubadours erhob er sich gegen den irrenden König in kecken Rügeliedern, die bis zur Verdammung gingen. Nun würde er wohl nicht weiter im Verborgenen bleiben! Auf solche Briefe müßten sie ihn durch das Auswärtige Amt anklagen, wenn die Wahrheit ihnen weh täte. Es war eine Wonne, sich verfolgt zu fühlen.

Und, wunderbar genug! Im Vorfrühjahr, nicht eine Woche, nachdem jener Brief gewirkt haben mußte, gebrauchte wahrhaftig der Kaiser ein Wort, welches auch dem nüchternen Beobachter Verwunderung entrissen hätte.

Wie als eine stolze, kühle Abweisung der Worte Wigrams klang die Mahnung des Kaisers an die Darstellerin von »Seele, die Jungfrau« in der quäligen Magisterallegorie Willehalm, deren Probe der Kaiser beiwohnte: »Sie dürfen in dieser Rolle nicht lächeln. Die deutsche Seele ist tief ernst, – und sie ist aus einem Gusse. Das muß sich in Ihrer ganzen Haltung und sogar in Ihrem Gewande ausdrücken!«

»Hahahaha!« lachte Wigram verzweifelt auf und schlug auf die Zeitung, in welcher er gelesen hatte, so daß die Gäste des Kaffeehauses erschrocken, unwillig oder höhnisch nach ihm hinüberschauten. Er bemerkte es und zwang sich zur Ruhe, aber in seinem Inneren kochte es. In den wartenden Märzabend stürzte er hinaus.

»Soll ich ihn aufgeben? Soll ich verzweifeln?«

Es war wirklich wunderbar und konnte einen phantasieerhitzten Menschen bis zum vollen Wahn der Tatsächlichkeit reißen: wenige Tage später stiftete der Kaiser dem deutschen Heer die gemeinsame Kokarde, und bald darauf erklang es in der Anrede an die Studenten wie eine Kritik der Briefe des jungen Wigram, der vor kurzem selbst noch Student gewesen: »… sorgen Sie vor allem auch dafür, daß im Volk nicht so genörgelt werde, wie es jetzt leider so viel der Fall ist.«

War das nicht ihm gesagt?

In schweren Kämpfen ging er durch die großen ernsten Baumhallen seines geliebten Stadtgartens auf die einsame Bergklippe mitten im Brausen der Stadt, um zu denken: soll ich ihm noch schreiben? Was kann ich ihm sagen? Ist meine Welt nicht ein anderer Planet als jener, auf dem er atmen und wollen lernte?

Die Bäume standen in verzauberter Stille, und nur die Amseln jagten sich im braunen Blätterschlachtfeld des Vorjahres schäkernd und raschelnd; es schoß abermals die Liebe in die Natur ein. Feierlich und mild war der Tag, und seine sanfte, ernste Gestimmtheit erfüllte die willig offene Seele des Wanderers.

Dann schrieb er oben, in seiner Nische unter der alten Bastei.

»Mein letzter Brief ist es, Majestät. Ob Sie über meine Welt hinaussehen, ob Sie stark sein wollen, ohne weiter zu fragen, was außerhalb des Hauses wächst, das Sie sich selbst gebaut haben, – ich weiß es nicht. Aber mein Bekenntnis ist ausgesagt, und Sie sprechen das Ihre weiter.

Sie haben die Studenten angerufen als Helfer gegen ein nörgelndes Volk. Wehe, wenn die folgten, und wehe schon, daß sie sich anrufen ließen!

Denn der Jugend bestes Teil ist Widerstand; Widerstand gegen eine Welt, welche nicht sein soll, wie sie ist. Wer soll sie besser machen, wenn die Zukunft, das frohe Schmiedefeuer neuer Waffen, wenn der, dessen Ehrentitel zu deutsch heißt: der Lernende, wenn der wie der müde Gott am siebenten Tage um sich schaute und sagte: Alles ist gut!?

Ist es nicht schöner, eines trotzigen Volkes Kaiser zu sein als der Bauerngott willenloser Dumpfheit? Deutsches Kaiserdiadem, das war von je die Dornenkrone unausrottbaren Kampfes, das war der Segen: verzehre dich, reibe dich auf und lebe das höchste Mannesleben dieser Erde. Wie gewaltig! Wie erhaben und würdig ist es, eines Halbgottes zwölf Arbeiten zu verrichten!

Jedoch, es kann nur das eines kämpfenden Kaisers Los werden: entweder ist der ganze Besitz um ihn geschart, auch die Alternden von jenem, der sich geistig nennt, und abseits ballt sich in drohendem Harst die Jugend, um neue Besitztümer ohne oder gegen den Kaiser zu erkämpfen. Oder er ist ein Herzog der Jugend – dann hat er alle totgemästeten Ideale gegen sich, zusamt der Philisterei.

Will er mehr sein als das, will er dem Göttlichen nahe und des ganzen Volkes Wille sein, dann horche er nie auf Jubel und Hymnen: sie werden von je nur der Macht gesungen. Die Lästerung, den Spott, das geheime Gelächter des Volkes erlausche er, und fest presse er sich die Dornen dieses Diadems in die Stirn, damit sie sich bis in seine Gedanken bohren.

Das Fleisch der Heiligsten brauchte Kasteiung; wieviel mehr der Stolz eines Kaisers!

Sie ist nicht gut und schön, diese Welt! Kein anderes Zeichen aber ist ihr mehr gegeben als das des Propheten Jonas. Ihre Besten speit sie von sich, und nur jene können rufen: Seht, so ist diese Welt, welche außerhalb ihrer Ordnung stehen und nicht ihre Kinder sind, sondern Kinder Gottes.

Die Jugend steht noch außerhalb dieser Welt und erkennt keine Marktwerte. Heilig, was sie, die Grollende, ruft! Der Zorn der unbesitzenden Jugend und ihr Spott; sie sind die Stimmen der unbesieglichen Zukunft. Wer Ohren hat zu hören, der höre!«

Und diesmal unterschrieb er sich voll, mit Namen, Stand und Wohnort.

Als er diesen allerletzten Brief entsendet hatte, zwang sich Wigram zu stiller Resignation.

Aber wer hätte ohne Hoffnung leben können, der schon durch Jahre so sehr dem wahnvollen Reiz des Hinhorchens auf geheimnisvollen Widerhall verfallen war? Ein schmerzensvolles, heiliges Kämpfen war in Wigram gegen die eigene Hoffnung, und stets unterlag er ihr, von welcher er besessen war.

Aber die Stimmen aus der Ferne schwiegen. Nichts enttäuschte den Wahnbefangenen, und nichts regte ihn auf, was von außen kam. Der Kaiser schien stiller geworden, oder es fiel Wigram nicht mehr so sehr auf, was er sagte. So ging es durch den Frühling in den Hochsommer. Man schien ihn nicht gehört zu haben … er hätte ebensogut Briefe an den lieben Gott schreiben können. Vielleicht sogar wäre das besser … Es wäre doch ein philosophisches Werk daraus geworden.

Schön aber war es doch gewesen!


Da, mitten in das halb bittere, halb stolze Hinkämpfen zur Erkenntnis kam Nachricht, Antwort; berauschende Antwort!

Freilich, nur ein Geheimrat aus irgendeinem Ministerium schrieb! Aber man hatte gelesen! Man mußte ergriffen worden sein … es wäre ja auch unmöglich gewesen, anders!

 

Herr Doktor!

Die erprobte altpreußische Organisation hat es nie verschmäht, sich der Dienste von Männern aus aller Welt zu bedienen, wenn sie die Sache unseres Staates zu ihrer eigenen zu machen wußten.

Aus Ihren Briefen an die Person unserer allverehrten kaiserlichen Majestät spricht trotz aller Bizarrerie, trotz seltsamer und nur einem jugendlichen Schreiber zugute haltender Anschauungen so viel Liebe und Anhänglichkeit an die, allerdings mit seltenen Herrschertugenden begabte Person kaiserlicher und königlicher Majestät, daß die Hoffnung nicht ganz von der Hand zu weisen ist, Euer Wohlgeboren würden für die Dienste dieses Herrschers nicht nur Ihre gesamten Kräfte einsetzen, sondern auch das Maß weiser Unterordnung in den klug geregelten Apparat des Staates zu finden wissen.

Erfreulich in dieser Hinsicht war Ihr Versprechen, daß der etwas ungemessene Brief über die Opposition der Jugend, und wenn wir recht verstehen, auch gewisser satirischer Preßerzeugnisse, das letzte Unterfangen dieser Art sein soll, welche sich mit der hier geübten und zum Besten des Staates genugsam erprobten Disziplin allerdings nicht vereinigen ließe.

Wie man hierorts erwogen hat, wäre eine Dienstesverwendung Euer Wohlgeboren im Ministerium für Kultus und Unterricht in Betracht zu ziehen, wobei etwa bei Umgehung der untersten Dienstesstufe Euer Wohlgeboren durch gnadenweise Verleihung des Assessorranges der Beweis geliefert werden könnte, daß Seine Majestät auch eine gesinnungsvolle Opposition zu schätzen wissen.

Für den Fall einer ernstlichen Bewerbung Euer Wohlgeboren um Verwendung in oben angedeutetem Bereich wollen sich dieselben am achtundzwanzigsten August laufenden Jahres im Gebäude des genannten Ministeriums Zimmer Nummer … melden und Ihre Standesdokumente sowie sämtliche ausschlaggebende Prüfungs- und andere Zeugnisse behufs Vorlage mitbringen.

Berlin, am 15. August 1897.

 

Folgte der Name irgendeiner Exzellenz mit Amtsstempel.

Wigram ließ das Blatt sinken und schaute um sich. Er war in seinem Zimmer, in seinem puritanisch einfachen Zimmer mit den Eisenmöbeln und kahlen Wänden und träumte nicht. Also dennoch!

In seiner Art zwar, aber gehört hatte er ihn.

Wigram war ein Mensch, dem alles Großgedachte Poesie war: Selbst eine Eisenbahnbrücke, eine Maschine. Darum fand er nichts Ernüchterndes an dem Kanzleistück, das ja weit, weit über alles ging, was er jemals einer Beamtenfeder zugetraut hätte. Er rannte, und riß seine Konzepte an den Kaiser heraus. Wie im Fieber überflog er sie!

Unglaublich! Das hatten sie ihm hingehen lassen! Glaubten sogar, er sei für die Dienste jenes Staates brauchbar? Was für ein seltsamer Mann, dieser Kaiser! Wenn das nicht Größe war, erdrückende Größe …!

Jetzt, ah, jetzt! Wenn Frau Else hier wäre! Jetzt möchte er zu ihr, ihr zujauchzen: »Da! Ich war doch kein Wahnsinniger!« Sie aber war ferne, so daß er das unermeßliche Glück allein tragen mußte. Auf die Straße, ins Grüne also. Und nur sorgsam an sich halten, damit die Leute nichts ahnen! Wirklicher Geheimer Rat des mächtigen Kaisers der Deutschen! Aber sie werden es an deinen leuchtenden Zügen erkennen. Einsame Wege also. Und auf den stillsten Pfaden der sommerstillen Stadt rannte er wie ein Toller dahin. Nach Norden! Nach dem frischen, prachtvollen, herben Norden! Er wählte den Weg durch den Graben, erstieg den Rosenberg und schaute gegen Mitternacht. Verfluchte steirische Berge, die dem Blick in das weite Land der Verheißung entgegentrotzten! Wo wäre nur die Warte, von der man bis Preußen sehen könnte! Er hatte es doch geahnt. Für dieses lebenslustige, weiche, österreichische Volk war er zu hart, zu herb, zu strenge!

Für diese singenden, lachenden, helläugigen Steirer, für diese Traumstadt, für diese weiche Umgebung!

Wenn nur schon die vierzehn Tage herum wären!

Und dann fuhr er.

Fuhr wie im Traum. Wenn er die Augen schloß, vergaß er, daß er im Waggon letzter Klasse saß. Das Schlagen der Räder auf den Schienenstößen klang wie achtfach gedoppelter Hufschlag. In einer Goldkarosse mit vier Pferden fuhr er zu seinem Kaiser …

Aber je weiter er nach Norden kam, desto beengender wurde der Traum. Es war um die Mitte des reichen Monats August, und dennoch schien ihm die Gegend dürftig, wie zu Hause hoch oben auf den Bergen. In Steiermark war es ihm ein Wunder, daß die Bahn nicht im Humus versank; hier staunte er, daß man Schwellen unter die Schienen legte, so hart und knapp erschien ihm schon der mährische Boden mit seinen Gänseweiden. In Schlesien wurde es viel besser. Das reinliche Deutsch, die in Büsche hineingedichteten Dörfer, die Windmühlen, … es begann also dennoch das Land der Poesie. Aber nicht lange, – dann wurde die Gegend von neuem mager und karg.

Und mager und karg war, was er von den Menschen hörte, die einstiegen. Der Zug hielt und ging wie eine Präzisionsmaschine, die Beamten standen wie Automaten – wahrlich, ein sicheres, durchkonstruiertes Land! Aber ihm war eng, eng ums Herz.

Beim Umsteigen war er in eine höhere Wagenklasse geraten; nun sollte er sich die Zuschlagskarte lösen. Von Österreich her verwöhnt, gab er dem Schaffner das Geld mit einer guten Zutat: der solle ihm das besorgen.

Aber als ob man ihm eine glühende Kohle in die Hand gedrückt hätte, ließ der streng erzogene Mann die Münzen fallen, so daß sie weithin über den Boden rollten.

»Ich wollte Sie nicht bestechen,« rief Wigram unwillig. »Ein kleiner Dienst darf wohl bedankt werden. Liebenswürdig sind Sie nicht.«

»Zur Liebenswürdigkeit bin ich hier nicht bestellt,« schnarrte ihn der Bedienstete an.

Wahrhaftig, das waren sie alle nicht, die Menschen in diesem Lande. Befehl oder Bericht, Kommando oder Meldung, das waren die einzigen Laute im Bahndienst. Und erst, was man in den Fahrabteilen hörte: Klub; öffentliche Meinung; Rang; Beförderung … Und überall Uniformen. Sogar die Geister waren uniformiert, und die Frauenzimmer betonten stets mit einem fatalen Akzent das Wort und die Bedeutung: Dame. Auch eine Uniform.

Was mochte das nur sein? Dame! Es schien ihm eine Art Weib, aber von allen Seiten mit Schrauben und Verboten verwahrt und versichert.

Davon hatte er in Österreich selten gehört. Die Weiber gaben sich, wie sie waren; und war eine elegant, ruhig und graziös, so war es eben ihre Art; aber man machte kein System daraus, kein Schema.

Beredt wurden die Leute nur, wenn er sagte, daß er aus Österreich kam; dann erzählten sie ihm nämlich von Preußen. Österreich war eine Art Balkanstaat. Unschädlich, ohne Bedeutung. Das Volk ganz nett, soll früher für talentiert gegolten haben.

Und in Wigram zog sich ein leises Etwas zusammen. War das denn so? Kam es ihm nicht viel eher vor, als komme er aus dem verklärten Lande der freien, heiteren Einzelentwicklung in einen Bienenstaat, wo alle gleich tüchtig und gleich mittelmäßig waren?

Wo er hinfragte: Antworten, die voraus zu bestimmen gewesen wären; kein Wort, das einen Abweichenden verraten hätte. Überall Tüchtigkeit, Zucht, strenge Lebensführung. Überall peinliches Einzirkeln in Stand und Beruf. Diese Menschen fanden sich selbst infolge allgemeiner Geistesuniformierung bejaht und bestätigt, wo sie hinkamen. Daher eine Selbstüberschätzung, welche Wigram peinigend laut entgegentrat. Daheim dachte jeder für sich und jeder anders; es gab keine offizielle Staatsanschauung! Freilich ließ auch jeder des andern Meinung gelten, so daß in dem viel originelleren Menschenschlag Österreichs viel mehr Bescheidenheit und Achtung vor dem gänzlich verschiedenen Andern lebte.

Prahlerei! Das hätte er zu Hause nie für möglich gehalten. Er dachte, die Prahler seien ausgestorben; sogar in Frankreich; da es doch viel wirksamer war, zu schweigen und andere über sich streiten zu lassen. Die aber schrien hier ihren Kaiser, ihre Armee, ihre Beamten, ja um Gottes willen: ihre Kunst und ihren Geschmack, ihr Berlin und seine Bauten und Denkmäler aus, als wäre die Welt ein Jahrmarkt und Preußen eine Bude, die Zuschauer nötig hätte.

In banger Neugier betrat er dieses Berlin und suchte in den Straßen, die er durchschritt, nach Innerlichkeit. Er gab unendlich viel auf Architektur. Sie ist das Antlitz der Menschheit, in dem unerhört viel zu lesen steht. Schon in Graz hatte er regelmäßig ausgespuckt, so oft er an dem neuen Rathaus vorbeigekommen war.

Hier nun war alles auf Äußerlichkeit hinausgetrieben, wie wohl in den meisten Großstädten. Nun hatte es einmal einen wunderschönen Spruch gegeben, noch zur Zeit des Biedermeier:

Ich bau' für mich, sieh du für dich!

Und die Häuser waren behaglich, familiengerecht und einladend gewesen, wie stillbescheidene Gesichter. Jetzt hieß es: Ich bau' für dich. Du! Preise mich!

In Wien waren doch aus älteren Tagen noch gemütliche Häuser vorhanden; hier auch das nicht. Weil die Stadt neu ist? Ja; sie ist auch der Parvenu unter den großen Städten Europas und hatte nicht Zeit zur Entwicklung von still und stolz gewachsenen Geschlechtern.

Wird von hier aus Deutschlands Heil kommen? Und wenn: Wie wird es aussehen!?

Mit schon unwillig zusammengezogenem Herzen suchte er seinen Geheimrat auf … Da aber taute ihm, zum letztenmal in jenem Lande, die Seele!

Ein alter Herr, mit strengen Zügen. Kurz in Worten, karg mit dem Ausdruck, einfach bis zur Selbstbeherrschung auch in der Wärme. Aber Augen! Augen! Stahlgrau, ruhig, treu und von unendlich kluger Wärme. So könnte der alte Kaiser Wilhelm geblickt haben. Ein Herz, ein großes, reiches, verschwiegenes Herz, versteckt hinter lauter Klugheit und Nachdenklichkeit. Der alte Herr empfing ihn ernst, würdig und warm. Vor allem sah er Wigram lange Zeit an. »Ich bin zufrieden, daß ich Sie sehe,« sagte er kurz. »In Ihren Briefen galoppierte viel Temperament kreuz und quer durch alle Gedanken und überritt sie. Aber seit ich Sie sehe, glaube ich, daß Sie wissen, was Sie wollen.«

»Ich bin jung und noch hitzig, Exzellenz,« sagte Wigram. »Das wird täglich besser: ich habe keine Angst vor dem Älterwerden.«

»Sollen auch nicht,« sagte der alte Herr freundlich. »Angst vor dem Alter hat nur, was nicht reif werden kann.«

Die alte Exzellenz prüfte peinlich genau alle Zeugnisse; von jung auf.

»Sie waren stets ein Dickkopf,« sagte er ernst. »Hm, hm. Es hat eine Zeit gegeben, wo das nicht geschadet hätte. Ob Sie aber jetzt Karriere machen werden …«

Das sagte er in sich selbst hinein; vielleicht wäre es ihm sehr unangenehm gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Wigram es gehört hatte.

»Sonst sind die Zeugnisse schön. Ich denke, wenn Seine Majestät zurückgekehrt, daß sie gnädig gestimmt sein wird, Sie mit Nachsicht des Examens anzunehmen.«

»Ich kann den Kaiser nicht sehen?« rief Wigram.

»Sind zurzeit in Koblenz.«

Wigram stockte. »Ich möchte ihn nur von ferne sehen, ehe ich mich entscheide, ihm zu dienen. Es ist hier so vieles anders, als ich mir gedacht hatte. Ich habe zu sehr die Zeiten vor fünfundzwanzig und vierzig Jahren studiert und mir daraus leider ein Bild des ehemaligen Preußen gemacht; dem ich dienen zu können glaubte …«

Die alte Exzellenz sah Wigram ernst und strafend an. »Das Leben,« sagte sie, »wechselt; und anpassen muß sich können, was die Kraft haben soll, zu leben.«

»Verzeihen mir Exzellenz gnädigst,« erwiderte Wigram, »ich glaubte, noch auf Schritt und Tritt die stille Tüchtigkeit des alten Herrn zu finden.«

»… Die stille Tüchtigkeit des alten Herrn,« wiederholte der greise Beamte leise; dann stand er jäh auf. Es kämpfte in ihm. Rührung, Groll, Strenge. »Sie kommen hierher und kritteln schon,« sagte er herb. »Es ist gut. Sehen Sie sich hier um, ehe wir Ihr Gesuch einreichen. Sie sollen auch unseres jungen Kaisers Majestät sehen und, wie ich hoffe, verehren lernen. Bis dahin wollen wir warten. Können Sie uns mit vollem Herzen dienen, dann werden wir diese Papiere hier wieder brauchen.«

Er gab Wigram seine Zeugnisse zurück.

»Sie wollen doch nicht der Majestät nach Koblenz nachfahren?« fragte er dabei.

»Gewiß will ich das, ich brenne vor Sehnsucht, den Kaiser zu sehen … und zu hören.«

Der alte Herr forschte mit scharfen Augen, ob da nicht Ironie laure. Aber Wigram blieb ernst und traurig, eigentlich schon resigniert.

»Gut,« sagte der alte Herr endlich. »Ich will Ihnen eine Empfehlung verschaffen. Zur Parade oder zur Galerie beim Festmahl; wie es geht. Herr von Plenow!«

Eine schöne, junge Mannesfigur trat ein.

Die Exzellenz stellte vor. »Herr Doktor Wigram aus Graz, Herr Regierungsassessor von Plenow.«

Um den Mund des Herrn von Plenow zuckte ein Lächeln.

»Könnten wir nicht vom Grafen Wallrode eine Empfehlung für Herrn Wigram nach Koblenz haben? Fürs Exerzierfeld oder den Bankettsaal, Tribüne, Galerie oder so was; möchte Seine Majestät sehen und hören …«

»Exerzierplatz wird schlecht gehen,« sagte Herr von Plenow, »wegen Andrang von Uniformen. Orden wird Herr Doktor Wigram auch keine haben.«

»Nein,« sagte Wigram.

»Bankettsaal also eher,« fuhr Plenow fort. »Aber der Herr Graf hat Besuch.«

»Wen denn?«

»Oberst Trattner.«

»Na, den kenne ich; gehe selbst. Warten Sie gefälligst hier, Herr Doktor?«

»Gern,« sagte Wigram, und der alte Herr ging.

»Na,« sagte Herr von Plenow, als sie allein waren. »Sie sind also der dolle Student gewesen?! Hören Sie mal, Sie hätten wir uns auch anders vorgestellt. Wissen Sie, also so 'ne Art von Lockenschwung, so 'n jungen Schillerbengel, Karlsschüler, oder so was!«

»Ich verstehe,« lächelte Wigram finster.

»So 'ne Art von Deklamator,« fuhr Herr von Plenow fort. »Aber doch properer. Wissen Sie, der Österreicher, wenn er nu sonst auch gar nischt vorstellt, ist doch 'n netter, gemütlicher Kerl; schick, hübsche Frisur, achtungswerte Weste, tanzgebügelte Hose. Na, – will nichts gesagt haben.« Er schwieg und sah flüchtig an Wigram hinunter, der allerdings aussah wie Bruder Straubinger in Allerhöchster Audienz.

»Wird der alte Herr lange ausbleiben,« fragte Wigram.

»Na, vor allem wird bei denen drüben an der Ähnlichkeit der Handschriften geprüft werden, ob Sie auch der Autor der drolligen Briefe sind. Wissen Sie, Vorsicht tut not. Da kommt aus dem Ausland allerlei Revolvervolk, dem das Leben unserer Majestät nicht recht genehm ist.«

Wigram erschrak. »Meine Briefe sind also nicht beim Kaiser?« rief er stotternd. »Er hat sie gar nicht gelesen!?«

»Ach wo,« schnodderte Herr von Plenow lachend. »Seine Maj'stät haben wichtigere Dinge zu tun, als derlei Amüsements zu lesen. Da wird das Ressort draufgeschrieben: Kultus, Volkshygiene, Unterricht, Kunst und dergleichen, und wandert in die Ministerien zur Prüfung. Ja, Herr Wigram, zur Prüfung; so ernsthaft nimmt man in Preußen alles, was auch nur nicht gänzlich noch Holunder duftet!

Na, und da hat 'n Kollege, wissen Sie, so 'n Spaßvogel, Ihren ersten Brief in 'ner fidelen Stunde unserer Exzellenz vorgelegt, zusammen mit einer rotangestrichenen Simplizissimusnummer. Alle Tollheiten muß unser alter Herr auf ihr Körnchen Ernst prüfen. Kränkt sich ohnehin genug über den Spott von den Kerls in München.

Exzellenz hat also auch Ihre Sache falsch aufgefaßt, wenn ich überhaupt berechtigt wäre, Exzellenz zu kritisieren, und hat 'nen Narren an Ihnen gefressen und befohlen, wenn wieder Briefe kommen, die sollten ihm nur vorgelegt werden.

So ist's gekommen, daß Herr Doktor Wigram heute, statt im Papierkorb« … Herr von Plenow richtete sich auf und betonte jedes Wort stark »… leibhaftig hier im königlich preußischen Ministerium für Kultus und Unterricht empfangen und ernst genommen zu werden die Ehre hat.«

Dem phantastischen Wigram wirbelte im Kopf. »Gar nicht gelesen? Mit Witzen und Hohn in den Bureaus umhergetragen! Nur durch den Ernst eines würdigen Mannes aus dem Schmutz gezogen und …!«

Die alte Exzellenz trat ein. »Hier ist ein Empfehlungsbrief,« sagte er kurz … »Vielleicht sehen wir uns dennoch wieder. Ich habe die Ehre, Herr Doktor.«

Wigram nahm das Schreiben, stammelte einen Dank, verbeugte sich und schied, – im Antlitz, in Lippen, Händen und über den ganzen Leib das Ameisenlaufen der Totheit aller Glieder.

Er war geistig vollkommen gelähmt. Verwundert, betrübt und ernst sah ihm der alte Herr nach, belustigt und verächtlich sein Sekretär: das alte und das junge Preußen.

Was nun folgte, sah der schon resignierte Wigram nur mehr als Epilog an, dessen Text er bereits wußte.

Er fuhr nach Koblenz, er sah den straff uniformierten Selbstbewußten und hörte ihn von dem verstorbenen, alten Herrn reden, der ihm heute, ganz anders als vor zwei Jahren, als der »Kaiser« erschien, den er sich ersehnt hätte!

»… uns Fürsten hat er ein Kleinod wieder emporgehoben, welches wir hoch und heilig halten mögen: das ist das Königtum von Gottes Gnaden … mit seiner furchtbaren Verantwortung vor dem Schöpfer allein, von der kein Mensch, kein Minister, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Fürsten entbinden kann.«

Wigram fuhr schweigend bis in die Seele nach Österreich zurück; alle Muskeln gespannt vor Grübeln: wie werde ich jetzt wieder gesund?

Hinter ihm war ein Tor zugefallen. Das Tor der Gralsburg, in welcher er das geistige Heil gesucht und die Freiheit der Seele. Und in welcher er bloß einen, seit Jahrhunderten bekannten und geübten Ritus gefunden, gut für jene, welche an ihn glaubten, unfruchtbar dem einsam Denkenden.

Die Erkenntnis dieser Tage hätte ihn zerbrochen und vielleicht in Wahnsinn gestürzt, wenn nicht schon die geheime Angst, diesem fremden Volke zu dienen, ihn vorbereitet hätte, und wenn nicht das Schicksal ihm für das, was es ihm genommen, das Geschenk der Erkenntnis gegeben hätte, daß er längst seine Wurzeln geschlagen habe.

Er fuhr nach Süden. Schon im Schwäbischen weitete sich sein Herz, ganz schüchtern aus der Totenstarre auflebend. Er sah Städte süddeutscher Bürgerkraft, wie im Norden kaum das reiche Meer sie so stolz beschenken konnte. Er fühlte, was alles in der deutschen Seele klingt, wenn sie an der Sonne gedeiht. Nach der Sonne zog es sie ja doch alle, um dort das Staunen eines Erdballes zu werden: Goten, Franken, Longobarden … Bayern.

Wann blühst du wieder, südliches, sonniges Deutschland? Du hast lange geruht …

Und als er nach Österreich kam, da war er nicht mehr todkrank. Hier wuchsen die Blumen nach eigener Kraft, hier webte das Leben nach der Ordnung der Natur, wie im Walde. Gott sei Dank, in dem Bienenstaate dort wäre er erstickt. Diese Erkenntnis rettete ihn vor dem Zusammenbruch. In der Fremde erhielt er erst seine Heimat geschenkt.

Selber sein! Für sich zuerst, und damit für den Staat leben. Eine freie, kecke Moral, aber eine freudige und menschliche Moral! Kein Massenvolk, Menschen nach eigener Schöpfung. Das ist das höhere Glück, das an der Sonne gedeiht und bis ins Deutsche Reich hinein im Volke steckt, soweit der Wein reift, und weiter noch. Darum also der geheime Zauber Österreichs bei allen Süddeutschen!

Fast schon gesund, in wehmütiger Freude, kam Wigram in Graz an und warf sich zur Ausheilung mit tausend neuen Gedanken an das Herz der reichwebenden Natur. Und er sah den stillruinenhaften Berg mitten in der Stadt, und diese Baumgänge, sie alle Mitarbeiter an einem Torentraum, der nur in Graz wunderschön war! Wie leuchteten ihm diese Höhen zu, wie öffneten sich ihm lächelnd die Täler! So schrieb er dann einen Brief voll Verehrung und Dank an den alten, strammen Exzellenzherrn in Berlin, einen Brief, der eine einzige Erklärung reuiger Liebe für sein schlechtes, zerfahrenes und doch so herrlich reiches Österreich war: »Sterben hätte ich dort draußen müssen.«

Und als Frau Else zurückkam, staunte sie, wie froh und stark er war. Nun bekannte er der nachdenklichen Frau alles, wie er ein großdeutsches Reich geträumt und was er dem Kaiser zum Gaudium eines königlich preußischen Bureaus angeraten hatte, und wie er draußen, mitten in der erfolgreichen Organisation Uniform-Deutschlands die stille, lichte Größe der innerlich freien Heimat entdeckte!

Dann erschreckte er die schon erheiterte Frau mit dem Ergebnis der Philosophie, die ihn seit vierzehn gedankenheißen Tagen in den Bergen der Heimat besessen hatte:

»Der wahre Anarchist ist auch der einzig wahre Mensch!«

»Um Gottes willen!« rief sie, »da haben Sie sich was Schönes errungen.«

Wigram aber lachte. »Anarchist für sich, Anarchist nach innen,« beruhigte er sie. »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und seid alles, was der Staat verlangt, als ganze Männer! Nach innen aber kein Gesetz als das eigene. Nichts glauben und alles prüfen. Jeder Gedanke, den ich aufnehme, muß mir fortab die eigene Punze tragen, und unumschränkter Herrscher will ich sein im Reich der mir zuwandernden Ideen. Das ist keine Philosophie für alle, und Gott verhüte, daß solche sie üben würden, die nicht bis in ihren Kern reif, gesund und geistesfroh sind. Für die Seltenen aber sei das Seltene Gesetz.«

Und danach lebte er fortab.

Er war Bibliothekar geworden; eine große Gnade für diesen Menschen. Seinen Beruf erfüllte er mit stiller Freudigkeit. Er bediente jedes Besuchers Verlangen, als ob es die eigene Sache gälte, und war universal im Verständnis und in der Auswahl des neuen Zuwachses an Literatur. Auf solch eine Stelle gehört wahrlich ein Mann, der warmherzig alles begreift; selbst den Irrtum, den Haß und die Krankheit.

Aber dann in der freien Natur, da war er sich selbst gewidmet. Das Leben dieses Menschen war umdrängt von Gedanken. Es wurde immer gewaltiger, und wie seine Bibliothek umfaßte es alle Welt und alles Streben. Er arbeitete an der Faustidee weiter, betrieb Medizin und erfand eine rücksichtslose Roßkur zur Heilung der Tuberkulose, welche mit Blasrohrschießen begann und bis ins Flügelhornblasen weiterschritt, um mit vernunftgemäßer Lungengymnastik neue, gesunde Partien der von den meisten Menschen nur zum Teil benutzten Lunge zu kräftigen und zu erschließen. Zur Konkurrenz um das neue Stadttheater legte er einen prachtvoll originellen Bauplan vor, welcher viele Bewunderer fand. Er stellte neue Grundlagen des musikalischen Unterrichtes her, wodurch Kinder das Spiel im Spielen lernen und ein Ohr für die jedem Instrument eigene Gesangsfarbe erhalten sollten. Er trieb Sozialpolitik und Geologie und brachte es bis zum Erstaunlichen in allen Arten der Künste; ausgenommen die Poesie, die sich ihm versagte, so heiß er um sie rang. Denn ihm fehlte die lustvoll lebendige Anschaulichkeit der Menschenzeichnung. Er lebte zu sehr in Ideen; Ideen blieben also auch seine Menschen.

Das Naturallgefühl war in ihm durch die Freudefahrten des kleinen Vereins derer, welche dem Leben eine Widmung gaben, so sehr vertieft worden, daß er die schwerste Probe des Philosophen bestand, wie Gold im Feuer: Einer harten, quälenden, boshaften Krankheit, welche ihn nahe am Tode vorbeiführte, sah er lächelnd zu, wie sie sich an dem zufälligen Zusammenfindsel seines Ich abmühte.

Dieser scheinbar düsterste all der Zwölf hatte die reiche Heiterkeit des Unzerstörbaren in sich. Wie ihn selbst der arge Fausthieb des höhnenden Schicksals in seine Kaisertraumwelt, ohne Nachzittern der Nerven, aufatmend die andere Welt suchen lehrte, die er bisher vergessen, so warf ihn auch die Krankheit nicht seelisch zu Boden. Er überwand sie und gesundete wieder.

Allein, von allen den Zwölfen, stand er zuletzt noch an der Seite der Frau Karminell, welche durch ein tiefes Schicksal noch tiefer nachdenklich geworden war und für bessere und hoffnungsreichere Dinge lebte, da ihr bisheriger Beruf nur gewesen war, mit sich selbst ein herrliches Kunstwerk der gütigen Schöpfung zu vollenden.

Die zwingende und reiche Neigung, die ihn zu dieser blühenden Frau hinriß, hielt er mit starkem Verstande unterirdisch gefangen, und nie erlaubte er sich auch nur einen heißen Blick. Ja, wenn dieses herrliche Weib gestorben wäre, er hätte ihr zum ewigen Abschied, wie Michelangelo der Viktoria Colonna, wohl die Hände, nicht aber Stirn und Augen geküßt.

Darum bleibt ihr Freundschaftsverhältnis heute und weiter fort unzerstörbar bis an die Zerstörung eines der beiden Leben.


In jener naturzurückverlorenen Stadt der Gärten, welche die eigentliche Heldin dieser Geschichte ist, bedeuten die Jahreszeiten neunmal mehr als in steinernen Städten und dreimal mehr als auf dem Lande, wo wenige sie beachten.

In Graz wird das Herantasten des Frühjahres, das volle, reiche Rauschen des Sommers von tausend feinfühligen Menschen mit der Innigkeit beobachtet wie sonst nur Nachgeborene den Werdegang eines Genies verfolgen. Ein Schritt vor die Tür, und die täglich gesehene Baumwand schaut den, der sie liebt, mit immer neuen Gesichtszügen an; die Wiesenflächen antworten freudig oder verweint dem Himmelsauge, der greise Hochwald wacht blitzefordernd zu den Wolken empor, und das entsetzte Gewitterkämpfen der Bäume braust dem Wanderer bis ins Zimmer nach.

So leben sie in der naturumarmten, der grünträumenden Stadt. Keine ist mehr wie sie.

Stets ist dort der Herbst ein Ereignis. Nicht bloß, weil er, wie in anderen Städten, seine Früchte über alle Märkte schüttet, nein.

Da greift im August eine goldfarbene Hand gespenstig aus einem Kastanienbaum heraus, oder eines Morgens lächelt eine wilde Rebenranke ihr wehmütig lichtes Rot. »Da ist er schon,« sagen die Leute.

Hierhin setzte er sich und dorthin, der Herbst. Und alles wird von den langsam wandelnden Menschen kopfnickend bemerkt und mit der würdigen Wichtigkeit besprochen, welche solchen wehmütigen Kalenderblättern des Lebens gebührt. Denn nur dreißig, nur fünfzig, nur siebzig solcher Blätter sind uns beschert, und mit Gedanken voller Innigkeit sollen wir das Bilderbuch Gottes betrachten, das uns so schnell, so jähe vor den wünschenden Augen zugeschlagen wird!

Das erstemal, stets im August, ruft der Herbst von den rauhen Waldbergen des Nordens ins Land: »Bald komme ich!« Sein Ruf fährt im Sturm mit herbem Duft, mit Bergreifluft grollend in die schönen Gärten, und Laub und Vögel fliegen auf, wenn rauschend die Bäume sich biegen.

Da erleben viele den leise poetischen Schauer des wiederkehrenden warmen Gewandes. Um die hellen Sommerkleider schlägt flatternd der graue Regenüberwurf: Kragen oder Mantel. Schon im August frösteln die Menschen leise und schauen ihre Bäume an, ob ihrer viele schon das rote und goldfarbene Ja sagen.

Aber dann weht von Süden aus dem Sonnenlande der Reben das milde, heilandlächelnde: »Nein, o nein. Noch nicht! Freut euch von neuem!«

Und die Gärten leuchten überirdisch in Pracht und Sonnenschein, schwere Wagen führen die Früchte des Sommers; die Kornmandeln stehen in Reihen auf den straffblonden Feldern, geduckt wie knieende Dankbeter.

Alle Seelen aber sind weit geöffnet wie die Tore der Scheuern, um einzulassen, was an Segen noch einkehren will. Denn wieder und wieder bläst der Herbst den Sturmhornton ins Land: »Ich komme!«

Da wechseln die Bäume ihr Kleid, und selbst die sonnenverklärtesten Septembertage beginnen schon das leise Lied zu summen, dessen Reime sind: Scheiden, leiden, meiden. Schon die Minnesänger haben sie einst aus den goldgelben Blättern gepflückt.

Wieviel Glück für sehnsüchtige Liebe, langsam durch solche Ewigkeitsbilder zu schreiten. Kantilener! Nie hätte der sich gänzlich an die seelenfressende Leidenschaft verlieren können, solange die Gottheit des blauen Himmels und der goldenen Blätter, des frostigen Todesrauschens und des ambrosischen Südhauches ihm beruhigend mit den tausend Stimmen des Allgefühles zusang: »Mein Kind, mein Kind!«

Sogar Wigram hatte die große Weichheit dieses Abscheidens zu weicher Größe gestimmt; wie er, umflüstert vom Geraune des goldenen Abschiedsfestes der Sommergeister, seine ganzen Gedankenräume zu bürgerlich stolzer Schlichtheit umbaute, das lasen wir. Begütigt waren alle.

In Wehmut saß nur Doktor Urban mit Liesegang und dem kleinen Klaus auf der leuchtenden Ries, wo ihr Gesundungsheim den ganzen Sommer fast leer gestanden. »Nun geht unsere Protektorin Sonne mit unserer Gründerin, der lauen stärkenden Luft, von uns,« klagten sie, »und wir haben fast niemand in das Glück der Gesundung zurückgebracht.«

Ihr Genesungsheim war nicht vom Erfolg überschüttet worden. Ein paar aus dem Verein der neuen Menschen hatten dort fast kostenlos geweilt. Die einen waren gesundet, die anderen krank geblieben, Friede und Ruhe waren unberührt im neuen Licht- und Luftheim gelassen worden; nur zu unberührt. Denn die Leidenden außerhalb des Vereines der neuen Menschen waren ausgeblieben. Mißtrauische, eifersüchtige Ärzte hatten es leicht gehabt, das von so vielen Laien beeinflußte einfache Heilverfahren als bedenklich auszurufen, und die Fanatiker des Naturheilglaubens machten den Zwist nicht besser; sie rissen und schnitten gehässig an dem Spalt zwischen sich und der Medizin, und der edle Urban hatte mehr Feinde unter den Kollegen, als er sich verdient hätte; aus lauter Freundesarbeit.

Hier brach ein bitter begrüßter Herbst herein. Guten Ruf verloren, Geld verloren, und viel, viel Hoffnung und frohen Glauben.

Das wenige Kapital war verzehrt; Doktor Urban konnte nicht noch mehr opfern, wenn er nur das stillste, bescheidenste Leben fristen wollte. Kantilener hatte alles verloren; sein Vermögen war dahin. Die anderen waren verschreckt, das schön ersonnene Unternehmen in einem kurzen Sommer gescheitert.

Kantilener, der von allen am meisten hingegeben hatte, ging mit Doktor Urban durch den Stadtpark und erfuhr, daß nichts, gar nichts geblieben sei von dem herrlichen Sonnenglauben, als der Fachwerkbau des himmelblauen Hauses auf der Ries, wie Kantilener das bescheidene Gesundungsheim immer noch lächelnd nannte. So schön blickte es jetzt aus den goldenen Bäumen herab, und niemand war, der sich des Bildes freute.

»Weiß Gott, wieviel Geld dafür herausgeschlagen wird,« seufzte Doktor Urban.

»Gleichgültig,« lächelte Kantilener. »Es war ein wunderschöner Traum. Daß er zu schön für diese Erde war, erhebt uns doch nur. Mir ist nicht leid um den Verlust. Ich habe das meine hingegeben, nach dem Rate des Herrn der seligen Armut, und freue mich, daß ich's tat. So viel an Geldwert auf mich fällt, nehmt Ihr als Hypothek auf das Haus. Auf eine Rückerstattung verzichte ich, und nächstes Frühjahr fangen wir mit Gottes Sonne wieder an.«

Doktor Urban drückte dem seltsam befreiten, jungen Menschen die Hand, seine Augen leuchteten vor Freude. »Ein großes Geschenk, welches du mir machst,« sagte er. »Nicht dein Vermögen, das ich nicht annehme, aber dein Opfer, welches gar kein Opfer ist, so gottleicht gibst du es hin: das stärkt mir den Glauben an die Menschen, und dessen bedurfte ich sehr!«

Erhoben und getröstet ging er fort nach seinem seligen, goldenen, einsamen Höhenzug, und Kantilener schritt weiter durch die besonnten Birkenreihen und schaute auf die Kastanienwände, welche wie angelaufene Bronze irisierten, und auf die roten Buchen und die trostreich grünen Fichten, und sah, wie die Lindenblätter fielen, tanzten und spielten.

»Wie reich bin ich, solang ich euch am Herzen habe, still mitwachsende Brüder und Schwestern Bäume, und ihr anderen Erscheinungen dieser schönen Zeitlichkeit!«

Sein heller, froher Gleichmut war nicht umzubringen.


Und dennoch. Als der Herbst den letzten Hauptsturm auf die verklärte Stadt der Gärten machte; mit dem Schluß des Oktobers, da zerriß er viele von den blühenden Ranken, welche einst die Zwölfe aneinander gefesselt hatten, da riß er nieder, was nicht tief gewurzelt, und zerbrach, was nicht ewigkeitgeweiht war!

Wigram hatte sein bitteres Aufwachen, sein Sehendwerden im schönsten Sommer durchkämpft und überstanden. Jetzt, im Monat des Abschiedes, rechnete ein anderer mit seinem Schicksal ab, der nicht lebenszäh wie der Bauernsohn von der Koralpe war.

Der unglückliche Amadé Helbig ging heim … nach Graz.

Wie das kam?

Er hatte zu Wien wie täglich in seinem Bureau gearbeitet. Freudlos, dumpf, gleichgültig. Dann ging er durch die gehaßten Gassen heim in sein Zimmer bei Leuten, die ihn mit sehr viel weniger Liebe betrachteten als Bauersleute das Stück Nutzvieh, das sie im Stall haben. Erwerbsvermieter, die ihm Licht, Holz und anderen Bedarf mit hohen Prozenten anrechneten, die heimlich seine Wäsche gebrauchten, seine Laden durchwühlten, seine Schriften in stumpfer Neugier und dumpfem Haß gegen den Kerl lasen, dem es nicht bei ihnen gefiel. Sollte er es nur sagen!

Die Vermietersleute hatten einen Sohn; ihren Poldi, welcher arbeitsscheu und praterlustig war. Ihr Luxusstück, für das sie der andern Welt Geld abnahmen. Der wieder an ihnen zehrte; der mit der instinktiven Unersättlichkeit des Krebsgeschwüres am eigenen Fleische fraß und kalt und mitleidslos den Alten aus dem Hause trug, was sie hatten; er wußte Lade und Versteck und brach auf, was ihm versperrt wurde. Sein war die Welt, wie sie der Raupe gehört.

Als er sah, daß der Quartiergast still, krank und freudlos war, zog er dessen Zimmer mit in seine Habhaftsbegriffe. Erst, indem er auf dem Diwan während der Kanzleistunden des Helbig faulenzte und den Schuft verwünschte, der ihm zur Bosheit nicht rauche. Nie war Tabak im Hause!

Dann kleidete er sich in Helbigs Wäsche. Zuletzt prüfte er den Kleiderschrank und suchte sich eine Sonntagshose aus.

Helbig hatte es bemerkt und schwieg. Er fühlte es als einen Gruß der Großstadt an seine Person. Haß gegen Haß; was vermochte er gegen den Koloß!

Heute, da er heimkam, war Montag. Der Poldi war betrunken gewesen und hatte dann seit Morgen auf Helbigs Sofa den übelschmeckenden Katzenjammer zu Tode rauchen wollen. Als Helbig in stiller Verdrossenheit zurückkam, war Poldi mit diesem Kampf stupiden Hinwegqualmens gegen das stets aufsteigende Übelbefinden noch nicht fertig; – aber die ganze Stube stank und brütete im Qualm von Fusel und dichtem Tabaksbrodem.

Als nun Helbig eintrat, sah sich der Bursche unwillig um, erhob sich dann träge vom Faulbett und wollte zur Türe hinaus, in welcher Helbig stand.

Der arme Amadé, dem es ohnehin arg in der geschwächten Lunge aussehen mochte, haßte nun nichts mehr als die Gewohnheit des Tabakrauchens. Schon auf der Gasse begriff er nie, wie ein anderer Mensch sich das Recht nehmen könne, die holde, allgemeine, wehende Luft für die Spätergehenden zu verstänkern.

Daß nun dieses Laster bis in sein Zimmer mit gehässiger, breiter Rechtsverletzung gedrungen war, ließ ihm den langverhaltenen Zorn gegen seine Ausbeuter und Beleidiger aufschießen.

Fest stand er in der Türe; nur seine Nasenflügel zitterten vor Wut.

»Machen S' net bald Platz?« fragte ihn aber der Eindringling in lässiger Verachtung und zog einen der herabfallenden Pantoffel zurecht. »I will eh furt.«

»Erst entschuldigen Sie sich,« sagte Helbig.

»Fallt ma net ein.«

Pause, Stellung zum Kampf. Helbig war entschlossen, seiner grenzenlosen Wut alle Türen aufzureißen, und wenn er raufen, balgen, beißen sollte wie ein Bauernvieh. Hier stand ihm die Verkörperung dessen, was ihm Wien war! So blind hatte ihn die fertig mitgebrachte Abneigung gemacht.

»Hausdieb! Du entschuldigst dich!«

Der erste Griff Poldis war der gewohnte; in die Tasche, nach dem Messer. Aber er hatte es im Rausch in der gestohlenen Sonntagshose vergessen. Er blickte um sich; kein feindseliger Gegenstand in der Nähe? Eine leere Bierflasche, die griff er auf, da rannte ihn Helbig schon an, und im Augenblick lagen beide wüst verbalgt auf der Erde. Der feingebildete, hysterische Doktor und das verworfene, verzogene Kind der rohesten Unbildung hieben, stampften aufeinander los, kratzten sich und beschimpften sich; arbeitende, keuchende Brunnen, welche Schmutz über Schmutz aus sich hoben und sprudelten.

Der tobende Lärm der Wütenden hatte die Quartiergeber in jagendem Alarm herbeigeweht. Wie eine böse Sau warf sich die Frau gegen Helbig, fauchend und quiekend; oder wie ein schmutziger Lappen, dem ein lachender Hexenmeister eine Weibsseele angezaubert hat, die zu ihm passen sollte; so grotesk und unheimlich flog das Schlampstück auf den halb bewußtlosen Helbig zu, welcher in einem Höllentraum zu wirbeln glaubte. Erst unter ihren Schlägen erwachte er wieder.

Der Alte riß inzwischen seinen wüsten Leopold vom Boden empor: »Hat er dir was getan?« Der aber schäumte von neuem auf Helbig los: »Wart, du Lump, du elender, miserabler, du Jammerg'stell, das zünd' i dir amal ham. I erstich 'n, den Lausbuam, den …«

Helbig erwachte. »Später, später meinethalben!« rief er ironisch. »Wenn er aus dem Zuchthaus zurückkommt!«

»Aus dem Zuchthaus! Poldi!« kreischte die Frau.

»In das ich ihn, den Dieb, hineinbringen werde!« schrie Helbig außer sich. »Bestohlen hat er mich. Er, ihr! Seit Monaten beobachte ich alles!«

Damit war die Hölle los. Die schmierige Bande fühlte, daß jetzt nur allergrößte, unfaßbarste Frechheit die beste Hilfe sei, und sie schrieen und lärmten das ganze Haus zusammen. Zeugen! Untersuchung! Polizei! Ehrenbeleidigung!

Kein böser Traum kann so viel wüste, schmutzlumpige, graue, fletschende, schrillende und menschenunähnliche Gestalten um den Fiebernden hexen, wie die aufgeregte Zinskaserne einer Großstadt auszuspeien vermag. Auf die Beschwörungspfiffe der alten Vettel flog ein Schwarm über die Stiegen und in die Wohnung wie der lebendig gewordene Inhalt einer Hadernstampfe. Alle haßten sie den blassen, mißvergnügt schweigsamen Menschen, der sich selber aus ihrer Welt ausgeschlossen hatte und sie seit über Jahresfrist gänzlich übersah.

Vor dem Andrang des Misthaufens von Volk, der sich in sein Zimmer entlud, wich Helbig bis an das Fenster zurück, das er aufriß, um Hilfe anzurufen. Denn eine furchtbare Welle von Bedrängnis war in seiner Brust aufgeschwollen und drängte sich zum Halse hinauf. Ein Schrei, – Hustenstöße, – und das hellrote Blut sprengte heraus.

Der Anblick des schwer Leidenden, das blutbefleckte Antlitz, brachte die Menschlicheren der wüsten Bande zur Besinnung. Sie drängten die Wütenden zurück, zur Türe hinaus.

»Aber laßt ihn doch in Ruh'! Der ist ja krank! Der gehört ins Spital!«

Ein paar Buben rannten um den Arzt, Helbig wies jede andere Hilfe mit raschem Winken ab; – das Zimmer war leer, der Spuk verbrodelt, ihm selber war leicht, schwach und wohl.

Der Arzt kam. »Nun, nun,« nickte er. »Der Bluterguß war ja sehr viel spärlicher, als die Zeugen mir vormachten. Das ist doch kein Blutsturz, lieber Herr. Aber es könnte einmal zu solchem kommen. Ich kann Sie nicht abklopfen, – nur ein wenig abhorchen – ganz ruhig atmen … Na ja. Nicht husten! Es ist ein Gefäß geplatzt; und Ihre Lunge, die seufzt nach dem Süden.«

»Mein Herz auch,« lächelte Helbig schwach.

»Können Sie den Winter über Urlaub bekommen?«

»Kaum.«

»Es muß doch sein. Jetzt brauchen Sie Ruhe. Kommt in Tagen oder Wochen kein Blut mehr, dann vorsichtig reisen; aber fort müssen Sie; – hier hätte die ›Wiener Krankheit‹ leichte Arbeit.

Und wie Sie wohnen! Sie müssen Sonne haben, viel Sonne!«

Dann schied der Arzt.

Sonne!

Helbig dachte an die wunderschönen steirischen Herbsttage, wo die blutroten Kirschbäume, die gelben Birken und Linden, die bronzeschillernden Kastanien seine Augen mit Schönheit gefüllt hatten; leuchtend vor Sonne!

Warum er nicht im Sommer hingegangen war, in Doktor Urbans Sonnenheim auf der goldenen Ries? Die steirischen Wälder hätten gerauscht und hätten um sein heimwehkrankes Herz das Wiegenlied gesungen; – das Zauberlied, welches gesund macht …

Vor Erschöpfung schlief er ein.

Niemand bekümmerte sich um ihn. Der Arzt hatte den Quartiergebern aufgetragen, Eis zu holen und dem Kranken Umschläge zu machen. Das Eis holte die Vettel, machte die Türe auf, setzte den Kübel drinnen hart auf den Boden und ging wieder hinaus.

»Der soll sich selber helfen!«

Helbig schlief auf seinem Bett halbangekleidet bis zum nächsten Morgen. Dann wachte er auf, mit dem Gefühl des Angegriffenen, aber Gesunden. Erst nach einer Weile besann er sich auf das, was geschehen.

»Nun käme also das Siechtum. Zwei, drei, vier Jahre? Mit durchscheinend gelben Ohren, dünnem Hals, wankenden Knien und versagendem Odem.«

»Was wäre mein Leben, wenn ich auch gesund wäre? Seit die Freunde fort sind, seit die Heimat ferne ist, seit die Jugend hinter mir liegt, was bin ich denn noch? Ein Unbrauchbarer; einer der nicht leben kann. ›Der geniale Helbig‹ sagten sie einst, und es war nur die Teufelsschönheit der zwanzigjährigen Jünglingsseele.«

»Ich wurde nur geboren, um schöne, leuchtende Jugend zu leben. Dann war meine Bestimmung zu Ende.«

Das war Helbigs zweite fixe Idee. Die eine ging zum Fanatismus an der Heimat und sah außerhalb ihrer keine Möglichkeit zu leben. Die zweite raunte ihm stets zu: Jung warst du alles; nun die dreißig kommen, bist du nichts mehr.

Und da stand der an Geist und Körper kranke Mensch langsam auf und hob wie ein heiligstes Sakrament der Erlösung den Entschluß zum Himmel: »Abschied nehmen am Rande der Jugend, der Schönheit. Sterben in der Blütezeit.«

Von diesem Entschluß an war das alte, sanfte Glücksgefühl, das Genie des Wohlklangs über ihm.

Er träumte sich ein wunderschönes Ende zurecht und eine Vermählung mit der Natur.

Mit dem treuen, eisern zuverlässigen Arbold hatte er stets in Briefwechsel gestanden und traurig zeigte Arbold diese Rufe der Verzweiflung und der unglücklichen Liebe zur Heimat der klugen Frau Else, die dem Helbig gerne den Kopf zurechtgesetzt hätte. Aber ihr schrieb er nichts.

Nun mahnte Helbig den Freund an seinen Handschlag, schrieb ihm aber vorläufig nur, daß er hoffnungslos lungenkrank sei. Ob Arbold dereinst, wie er geschworen, seine Asche für die weite Heimatnatur retten wolle?

Dann schlenderte er im milden Oktobersonnenschein durch die Straßen Wiens über den Ring bis zu einem Laden, in dem er oft schöne, schwere Steinurnen gesehen. Er kaufte eine und ließ sich ein Piedestal aus ganz dem gleichen Granit dazu geben. Dann suchte er einen Steinmetz auf, der ihm die Urne gänzlich ausbohren und mit einem Schraubboden versehen sollte. Es war ein langes Wandern. Ein Dienstmann keuchte mit dem Gefäß des Todes hinter ihm bis an die Linie, und dort hatte Helbig viel Not und Kopfschütteln zu überwinden, bis ihm ein findiger Italiener versprach, das seltsame Ding zu machen.

Er aber folgte seiner geliebten Wahnidee unerschütterlich und richtete alles. Die Geldsumme für sein Begräbnis, – für Gotha und für Arbolds Reise beschaffte er, setzte beim Notar seine letztwilligen Verfügungen auf und sprach sogar beim Verein »Flamme« vor, um von seinen Hinterbliebenen die gewünschte Bestattungsart zu ertrotzen, wenn die sich dagegen stemmen sollten.

All das geschah mit leichter, lichter, leise singender Seele. Er war wie verklärt.

Dann fuhr er der Heimat zu.

Im Weichbild der Stadt Wien sah er sich noch einmal um: »Die Erde und die Berge wie gelber, die Häuser und der Himmel wie grauer Lehm. Auf 300 Meter dicke, träge Gleichgültigkeit ist diese Stadt gebaut.

Die Bäume haben nicht einmal die Energie, in einem leuchtenden Herbstfest zu verbrennen, – – – – wie wir es daheim tun …« Er sagte schon: wir. Für sich und die Bäume.

Als der Zug durch den Semmeringstunnel fuhr und auf den geliebten steirischen Boden rollte, zwang es ihm die bittern Freudetränen in die Augen.

Und dann, dann hämmerten und sangen die Räder auf den Schienen: Heimgang! Heimgang! Und die steirische Landschaft flog ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen, winkte, grüßte und blieb zurück, weil neue Grüße kamen.

Dann endlich hielt der Zug vor der Stadt mit dem waldigen Berge und der alten Festung in ihrer Mitte.

Und sie versagte ihm nichts.

In einem der ländlichen Einkehrgasthäuser am Gries wohnte er wie ein Fremder, und jeden Schritt in den geliebten Straßen kostete er wie einen langersehnten Kuß. Drei Tage wollte er noch so im Paradiese leben.

Der erste Tag.

Früh an einem überirdisch durchleuchteten Morgen ging er in die Au. Beim Kreuzwirt in Liebenau war ein Wein, stark, duftend und jung wie seine besten Lebenstage gewesen waren. Ein Wein, den er selten getrunken, weil er einen Gulden kostete. Jetzt trank er ihn dem überirdisch schönen Herbsttage zu, und durch alle Adern rieselte der Feuergruß des Abschiedfestes.

Dann auf dem Rückgang im Münzgraben sah er das erste, befreundete Antlitz.

In inniger Träumerei über seine geliebte Frau Else kam der junge Kantilener, flaumig und gelockt wie ehemals, und in einem braunen, armseligen Dichterröcklein daher, als ob all die Jahre ihn umsonst zu Klugheit und Modegeschmack erzogen hätten. Helbig blieb stehen und ließ das ganze Schifflein voll Lyrik bis nahe an sich streichen; und erst als es in eine kleine Seitengasse abbog, wo Helbig wußte, daß stets um diese Zeit ein ganzer Ausbruch von Reseden, Georginen und Astern vor einem Gartenhäuschen stattfand, da rief er in heißem Glück, weil in Graz doch alles so gleich lieb und still geblieben sei: »Othmar! Nimm mich mit!«

Kantilener blieb stehen wie unter einem Geisteranrufe und schaute nach dem Freund. Irrend suchte er mit großen Augen in dem hager gewordenen, einst so jugendschönen Antlitz, in welches jede Sehnsucht einen tiefen Strich gezogen hatte, wie ein geiziger Wirt: Auf Rechnung des Lebens.

Es half alles Suchen nach der harmonischen Schönheit des Amadé von einstmals nichts. Kantilener mußte ihn anerkennen wie er war, und tat es mit zwei argdicken Tränen. »Helbig! Mein Helbig! An dir hat die Fremde sich schwer versündigt. – –«

Die zwei hielten sich an den Händen, um das ganze glücklich wehmütige Wiederbeben des seligen Einstmals zu Ende zu fühlen.

»Du bist jung geblieben, Othmar! Blondlockig jung!«

»Ich bin im Glück,« sagte Kantilener; in leiser Scheu, daß er davon sprach.

»Du bist in Graz,« betonte Helbig und das klang ihm wie ein Reim.

Dann gingen sie nebeneinander fort wie geweiht. Am liebsten hätten sie sich untergefaßt und wären, jeder den Arm um den Leib des Bruders, weitergezogen. Aber beide waren berührungsscheue Naturen.

»Was machen die Freunde?«

»Alle, alle wohl und froh. Scheggl hat geheiratet und ist mit seiner jungen Familie nach Eisenerz. O'Brien ist Offizier und wird wohl in der Romantik seiner niemals ausgeführten Entwürfe weiter glücklich sein. Vollrat ist ein wenig abgerückt von uns, denn er ist der Arzt reicher Leute geworden. Aber verloren ist er uns nicht. Sonst sind alle was sie waren, auch als Doktores.«

»Arbold?«

»Ein bemoostes Haupt, aber zuverlässig und treu. Er sieht das als erste, deutsche Pflicht an. Doktor wird er kaum werden; – Fecht- und Turnlehrer ist er schon bei allerlei völkischen Vereinen.«

»Willst du mir auf morgen ihn, Wigram, Semljaritsch und Bohnstock bestellen? In die italienische Osteria zum Krebsenkeller in der Sackstraße.«

»Gern; bleibst du denn nur kurze Zeit?«

»Nur drei Tage; gerade genug, um Abschied zu nehmen.«

»Armer Freund!«

»Nicht arm. Ich bin dabei, mir den Frieden zu erringen.«

Den ganzen Tag durchstreiften Helbig und Kantilener die alte Stadt und ihre Gärten. Helbig hatte ein kindlich inniges Vergnügen, im gefallenen Herbstlaub der farbenbrennenden Alleen mit den Füßen zu schlurfen.

»Ich habe das so lange nicht mehr getan. Wie das rauscht. Als ob man im Gold wühle.«

Am Schloßberg waren sie auch. »Was macht die wunderschöne Frau von Karminell?« fragte Helbig oben auf dem Plateau erinnerungsbang.

Kantilener errötete tief: »Sie ist, wie nur sie allein sein kann. Wechselvoll und doch immer sie selbst. Wie die Ewigkeit.«

In wehmütigem Neid verloren sah Helbig den Freund an. »Selig die Ihr um sie sein könnt, um sie zu lieben. Auch mir leuchtet sie im Herzen.« Er drückte Othmar die Hand.

In der Nacht plätscherte Regen. Tieflauschend lag Helbig und dachte daran, daß er bald Sturm und Regen nicht mehr zu hören begnadet sein werde.

»Einerlei. Ich weiß, wie sie rauschen und werde bei ihnen sein und mit ihnen wehen – – – –«

Der zweite Tag.

Zerreißende, treibende Wolken. Vorüberlächelnde Sonnenblauheit. Wie eines bewegten Menschenantlitzes wechselnde Gedanken.

Nachmittags kamen dann die Freunde zu Helbig und zogen ihn in ihren Kreis. »Fliegen wir doch wieder einmal nach alter Weise aus,« rief Kantilener.

Er hatte die Freunde gebeten, dem tief sehnsüchtigen, unglücklichen Freunde beizustehen und ihm ganz und gar die Glückstage, wie sie einstmals waren, vorzuzaubern.

Sie gingen auf den Plabutsch, und aus den Wäldern stieg der weiße Rauch der vergangenen Regennacht in den sich verklärenden Himmel, an dem die feuchten Wolken forthasteten wie ungeschickte Theaterdiener von der Bühne; da doch der Vorhang aufgehen müsse.

»Die Wälder rauchen Opferdank« … sagte Helbig. Und sie standen und schauten über die unendliche Menge der Fichtenberge im Westen, über die Hügel voll Korn und Frucht im Osten, über die südenleuchtende Ebene mit ihren Welschkornfeldern, und nach den Linien der Mittagsberge, über denen eben jetzt Weinlese jubelte.

Dann sangen sie oben auf der grauen, runden Felswarte des stillsten aller Berge die alten, glückseligen Lieder.

Und Helbig sang wie ein sterbender Schwan mit und sang seine ganze Seele in die Weite hinaus, der er bald gehören sollte:

Sonne du holde,
Scheidest du schon?
Wolken von Golde
Ziehen davon,
Ziehn mich in Leide
Mit in ihr Glühn,
Schwimmen ins Weite –
Wohin! Wohin?
Körperverloren
Schaue ich zu:
Seele des Toren,
Zum Scheiden geboren – – –
Wann fliegst auch du?

Als der Schluß dieses, von Kantilener kommenden Liedes, welches zum geliebten heimlichen Sang Helbigs geworden war, in wundervollem Frageakkord über die Waldwipfel davonschwamm, schluchzte Helbig wildleidvoll auf.

»Nie mehr kann ich singen!«

Angebangt sahen die Freunde auf ihn und Wigram faßte, als sie den Talweg antraten, mit ernster Philosophie seinen Arm. Er sprach ihm vom Leben und der Kraft zu leben.

»Es ist böse,« sagte Wigram, »wenn der Mensch seinen Schwerpunkt so gänzlich außerhalb seiner selbst hat, wie du. Ist es aber schon so, dann suche ihn, erobere ihn und klammere dich an ihn fest, gegen den Willen aller Welt. Besser der wüsteste Verdruß als Herzeleid und Siechtum.«

»Da ergeht es mir umgekehrt,« sagte Helbig leise. – Ihm half keine Philosophie. Die Jugend fort, die Todeskrankheit da, er mußte eilen, ins Ewige zu gelangen.

Am Abend in der italienischen Kneipe war er heiter und laut. Allen Freunden trank er Abschied zu: »Ich liebte euch wie meine Jugend! Bleibt ewig so jung und habt euch gerne, wie ich euch liebte! Glück und langes Leben!«

Heimgehend ließ ihn Arbold, der Treue, in leiser Sorge nicht los. Aber Helbig blieb heiter und angesonnt auch in der Nacht! Vor dem Wirtshaus küßte er den wilden Ostgoten: »Arbold, du Treuester! Halte mir Wort!«

»Wozu! Sollte es denn schon so weit sein? Amadé! Was willst du tun?«

»Ich habe einen Blutsturz gehabt und gehe – – nach Süden. Aber ich komme nicht mehr lebend zurück. Du wirst sehen.«

Tief traurig ging Arbold heim.

Am dritten Tage dann ging Helbig zu Frau von Karminell. Das Schönste hatte er sich für zuletzt behalten.

Frau Else saß in Verlangen und Träumerei. Othmar war lange, lange Zeit nicht bei ihr gewesen. Er mied sie, und sie wußte warum. Er hatte Angst, weil sie zu schön war; und sie drückte sich die Süßigkeit dieses Meidegrundes an das unruhige Herz, fest, fest.

Als die Klingel schrillte, glaubte sie, nun käme er doch.

Statt des lebenlachenden Othmar aber trat ernst, geweiht, feierlich und wie mit einem leuchtenden Schein um die hager gewordene Stirne Helbig herein.

Fremd und bang sah sie ihn an, in Staunen über ihn tiefatmend.

»Herr Doktor Helbig? Sie haben sich wahrlich verändert.«

Er lächelte: »Das war die Jugend! Sie ging von mir; nun blieb was Sie sehen. Als die Dreißig kamen, erschrak ich tief, als ob mein Leben zu Ende wäre. Ich wußte wohl, warum.«

»Ging die Jugend, so mußte das Glück nicht mit gehen,« mahnte Frau Else zagend. Sie standen beide. Keiner dachte daran sich zu setzen.

»Das Glück, das war die Heimat,« erwiderte Helbig. »Sie drängte mich fort, denn selbst das Vaterhaus hatte keine Gegenliebe für meine heiße Liebe.«

»Was werden Sie nun tun? Warum sind Sie gekommen?«

»Ich gehe nach Süden und kam Abschied zu nehmen.«

»Sie sind krank?«

»Sehr,« sagte Helbig.

»O Sie Ärmster! Wie denn? Wo denn? Setzen Sie sich!«

Das heiße Mitleid hatte Frau Else von dem bangen Druck befreit, der sie befallen, seit Helbig eingetreten war.

Helbig antwortete: »Davon ist einer glücklich schönen Frau nicht gut reden; ich täte Unrecht damit. Nur von meinem kranken Herzen darf ich erzählen, da es mit zu dem Abschied gehört, den ich nehme.

Alles, was ich hatte, war Gesundheit, Jugend und Wohllaut.

Alles, was mich erhob, waren die Freunde.

Alles, in dem ich lebte, war diese Stadt.

Die Jugend ist dahin. Was bleibt? Ein todkranker, bedrückter, unbrauchbarer Hagestolz. Jugend vorbei, alles vorbei! Die Freunde teilten sich und jeder geht einsam, weil er sein eigenes Gewicht hat. Ja! Könnte ich voll ewiger Welt- und Menschenliebe sein wie Othmar! Gedankenwälzend gleich Wigram! So aber lebte ich nur durch den Reichtum der Freunde! Und auch diese Stadt hat sich mir verboten. Meine eigenen Eltern zürnten unversöhnlich, weil ich hier das Leben und das Glück der Innerlichkeit zu sehr liebte und in meiner Laufbahn nicht von der Stelle kam, wie sie meinten.

Alles, was ich am Leben besaß, war außer mir. Ich schwebte, weil mich Engel trugen. Sie ließen mich fallen und ich habe keine Fittiche.

Bloß Pflanze war ich! Im Heimatboden! Und da sie mich entwurzelten, verdorrte ich. Sie aber, Frau Else, Sie Schöne, Anmutvolle, Sie in den ewig wechselnden entzückenden Kleidern habe ich noch einmal sehen wollen. Sie sind alles, was diese Stadt ist! Mit den kleinen Launen und der großen Ruhigzügigkeit, unendlich klug und dennoch jeder Torheit zulächelnd, lebensfroh und dennoch stillhinhorchend, Sie sind allein wert, einem Künstler als der Genius meiner launenvollen traumheißen Heimatstadt zu gelten.

Wenn ich von Ihnen Abschied nehme, so tue ich es von allem, was ich liebte! Allerschönste Frau!«

Er warf sich vor ihr zu Boden und küßte der tiefbewegten Frau in heißer Liebe beide herrlichen Hände und schlang die Arme um die bebenden Knie.

Dann raffte er sich empor und ging.

Ging zu den, seit Jahren nur in verlangenden Träumen gesehenen Wundern verborgener Lieblichkeit, auf den Ruckerlberg, und von dort taldurchquerend auf die Ries.

Hier, im unsäglich schönen Licht- und Farbenfest des Oktobers ruhte er an der schönsten Stelle, wo man zwanzig Meilen Steiermark und zwölfhundert Berge überblickt, und übersah noch einmal mit schwindelnden Blicken alles, als wollte er diese Welt in einem tiefen, tiefen Zug hinuntertrinken; und alles war gut und schön.

Dann erschoß er sich und wurde versinkend Eins mit dieser seligen Weite.

Rollend lief der Schußton längs der Waldhänge entlang und dreißigfältig antworteten ihm nachrufend die Gelände, welche der Sterbende so innig geliebt. Alle sprachen sie im Traume empor: Helbig kam zu uns! Helbig! Helbig!

Menschen bemerkten nicht, was hier auf der Ries geschehen.

Ein Schuß im Herbst! Was will das sagen?

Weinlese, Jagd …

Im Tal ging ein Mädchen mit dem Geliebten, das sagte: Wie schön! Wie gehört der Knall und sein Nachgrollen in diese Landschaft des Abscheidens! Wie stimmungsvoll!

Am andern Morgen fanden ihn dann Marktfahrer, starr, vom Tau bereift, blaß und zufrieden.

Sie trugen ihn nach dem Heim der Genesung, das ganz nahe lag und riefen Doktor Urban.

Der erkannte tieferschüttert den einst so harmonischen jungen Freund, der nun ein Stillgesättigter war.

Die Briefe, die man bei ihm fand, wurden gewissenhaft abgesandt; einer ging an Arbold. Und der treue Ostgote begann mit eiserner Zuverlässigkeit als heiliges Werk den Wunsch des Freundes Punkt für Punkt zu erfüllen.

Nach vier Tagen ging von Gotha eine Urne mit schlechter Knochenasche an Helbigs grollende Eltern. Den teuren Staub des Freundes aber brachte er insgeheim nach Graz.

Dort rief er zusammen, was Freunde gewesen waren. Kantilener, Wigram, Bohnstock, Liesegang, Semljaritsch, Petelin, Vollrat und Zimbal. Ihnen zeigte er die Asche und alle schwiegen.

Nur Frau Else durfte erfahren, wo Helbig war … Sie sandte Blumen über Blumen zur seltsamen Bestattung.

Die fand vor den letzten Tagen des Oktober statt.

Auf den Plabutsch waren die Freunde gestiegen, weil zu ihrem Tun Einsamkeit als Pate stehen mußte. Arbold trug die Asche des armen Helbig, der zu einem Leben außerhalb der Heimat zu schwach gewesen und nicht einmal so sehr aus der Furcht des Siechtums, als aus unglücklicher Liebe zu seiner geliebten Stadt ein wertloses Dasein von sich abgetan hatte.

Oben auf dem Berge sauste der Herbststurm. Kämpfend lehnten sich die neun Trauernden gegen seinen Druck. Die düsterbrauigen Wolken flogen dicht über ihnen hinweg und schauten aus Gottesnähe ernst auf ihr Tun.

Sie standen auf dem Gipfel und Arbold nahm den großen, ländlichen Krug, in dem alles lag, was das Feuer am Freunde nicht in die Luft entführt hatte. Man sah ihn kaum, vor der Üppigkeit schwerroter Rosen, die ihn gänzlich umschlangen … die Rosen der süßen Frau Else, welche leidenschaftlich dufteten.

Dann zerschlug Arbold den Krug. Die weiße, klare, leichte Asche des Freundes rieselte auf den rauhen Felsen des düstern Waldberges.

Ernst und in allen Tiefen bebend standen die Freunde, und die weichen Gemüter, Petelin, Kantilener, Bohnstock, Zimbal kämpften gegen das fast unwiderstehbar laute Weinen mit aller Kraft dieser schwer ernsten Stunde.

Der Weststurm aber riß und fauchte über den reinen, lichten Staub, und wirbelte ihn hoch über die Baumwipfel fort. Mit den Wolken vermischt flog er stadtwärts und nach den Hügeln, gegen Sonnenaufgang.

Das war Amadé Helbigs innig ersehnte Vereinigung mit dem All. – Nur unter die Erde hatte er nicht wollen; sein Staub sollte der ewig neuen Formung gehören.

Tief still warteten die Freunde, bis der rauhe Oktoberwind sein Bestattungswerk vollendet hatte. Und als des Staubes Himmelfahrt zu Ende war, gaben sie die Rosen der Frau Else entblätternd dem Wind. Weit, weit flogen die roten Schmetterlinge den düsteren, reißenden Nebelgestalten der bergstreifenden Wolken nach.

Amadé Helbig war dem ewigen Leben wiedergegeben.

»Er war zu zart für diese Welt,« sagte Vollrat.

»Wie die Edelraute zu zart für das Tiefland ist,« fügte Wigram ernst hinzu. »Auch die Menschen haben seltene Arten, denen Anpassung unmöglich ist. Sehr seltene Arten, denn sie sterben aus, weil die Menschen Würfel geworden sind für das Glückspiel der Verhältnisse.«

In wuchtender Gedankenumdrängtheit stiegen sie zu Tale.


Helbigs seltsames Ende hatte Frau Else aus aller Fassung und allem Gleichgewicht gestoßen.

»Was bin denn ich, wenn ich einst nicht mehr jung und schön bin? O Himmel, was bleibt denn mir?

Wenn mich nicht mehr lieben, die mich sehen. Wenn mich nicht mehr wie eine frohe Offenbarung der schönen Lebensleichtigkeit anstaunen, die am Glück verzweifeln, und als ein Kunstwerk, welche in des Schöpfers Handwerksstube lernen?

Helbig starb, weil er dreißig wurde! Ich bin sechsunddreißig!

Wie lange noch, und Frau Else wird sich scheu umgangen fühlen, aus Angst vor dem frivolen Gott, welcher seine eigenen Werke durch die unerträgliche Pointe des Alters verhöhnt.

Sterben! Sterben wie Helbig am Rande der Schönheit, solange noch die Welt vor Weh über solche Zerstörung aufschreit; solange sie noch nicht darüber lacht!«


Der Selbstmord eines geliebten Nahestehenden, wenn dieser Selbstmord nicht das Schlechte verzweifelnd zernichtete, sondern das bessere Schicksal wehmütig suchte, hat eine Gewalt von seelenbetörender Anziehung.

Helbig, begütigt lächelnd im Herbsttau, umgeben von den stillen Geliebten, vom Kreis der tiefäugigen Feld- und Waldhügel, mitten im leuchtenden Herbst sozusagen hinweggeküßt aus diesem Leben, der war ein gefährlicher Werber für die Rückkehr in die heitere Ewigkeit.

»Sterben will auch ich,« fieberte die in all ihren feinen, beweglichen Nerven ergriffene Frau, »aber vorher will ich alles leben, was ich mir töricht verboten habe.

Helbig hatte sein Schwergewicht außer sich selbst, sagte er? Wo habe denn ich das meine? In meiner Jugend, in meiner Schönheit, worin sonst! Die will ich verschenken, solange sie den einen, sehnsüchtigen Trinker immer durstiger machen, und wenn er am glücklichsten ist, dann will ich dich in die Luft greifen lassen, mein Othmar. Dann sollst du nichts mehr haben als das Andenken an eine unsterblich schöne Frau!

Es währt wohl noch bis zum Mai? Dann will ich in Naturzurückversunkenheit enden wie der verklärte Amadé.«

Als Kantilener kam, fand er sie in lautlosem Weinen.

Er erzählte ihr, wie der Wind die Asche des Freundes weithin über die herbstwehmütige Mutter Erde vertragen hatte.

Sie weinte immer noch; da sagte er bittend: ›Liebe, schöne Frau Else‹, und trat nahe an sie. Das aber war sinnverwirrend. Denn ihre Schultern zitterten bei diesem bitterlichen, fassungslosen Kinderweinen genau so lieblich erschüttert, wie zu anderen glücklicheren Zeiten, wenn sie gelacht hatte, und dieselbe selige Brust, die seit so langer Zeit ihm gehörte und die er voll Entsagung kaum anzusehen wagte, bebte so lieblich, daß er die heißen Wangen daran pressen mußte.

Da war es nun geschehen. Sie rangen die Arme umeinander. Nach der unsagbar schweren Entbehrung geschah das mit der unbändigen Werdelust einer ganzen Welt! Kein Fleckchen Körper, das nicht dem andern küssend sagen hätte mögen, wie heiß die lange, stille, heimliche Liebe gebrannt hätte.

»Else, komm mit mir, zu mir!«

»Nicht jetzt. – – Heute Nacht. – –«

In allen jungen Gliedern bebend hielt der beglückte Othmar das Wunder dieses schönsten Weibes auf Erden umrungen.

»Heute Nacht!!

Wie die Königin unserer Sage? Die zu dem armen Todgeweihten kommt! O komm auch du in all deiner leuchtenden Pracht, in deinen schönen, weichen, reichen Kleidern. Ja? Damit der Zauber vollständig sei!«

»Ja! Ja!«


Und dann, am sturmgerüttelten Oktoberabend hatte der junge Kantilener die Lampe entzündet, kaum daß die Sonne unten war; wie einst der sehnsüchtige Goethe in Rom, um sich von dem flüsterroten Schein erzählen zu lassen, daß es schon Nacht sei.

So stand er, selbst in Gluten mit dem heimlichen Lichte brennend, und horchte, was das Flämmchen knisterte. Draußen heulte der Sturm und unablässig haderte die anwerfende Wolkenbrut mit zerfließendem Schnee gegen das Fenster, welches ein glühend erwartetes Glück abschloß. Lauschend stand der Student. Arme, schöne Frau! Darf sie durch solche Sturmnacht gehen?

Die Uhr in der Dachstube am Gries schlich auf neun und rückte auf zehn. Kalt geschüttelt schauerte der aufgewühlte Junge im Fieber des Wartens. »Sie kann in diesem entsetzlichen Wetter nicht kommen.«

Er wußte nicht, was für ein glückseliges Wetter das für geheim Liebende war. Keine Seele auf den Gassen.

Und dann, als das ganze Haus im Sturm sich rüttelte, knackte die Klinke. Kantilener sprang hin; vielleicht hatte bloß der Fauchwind die lose Schnalle gesprengt. Da ging die Türe auf und ein tieferregtes, schönes Frauenantlitz schaute aus dem dunkeln Flur. In einem langen Mantel voll lauter Nässe, Schnee und wehend frisch kalter Luft!

Dann flog der schwere Mantel zur Erde und Frau Else stand wie eine lichte Erscheinung in seiner lampenstillen Dachstube.

Strahlend vor Samt und Seide! In einem wunderbaren Kleide, welches die Frauen einer ganzen Stadt in Aufruhr hätte bringen mögen, welches aber dazu in dieser Stube ein Mirakel war; als ob man dort am letzten Oktobertage einen Christbaum angezündet hätte.

Ein loser, flüchtig süßer Duft und ein ausstrahlendes Leuchten von Reichtum und unerhörtem Glück gingen samt einer Menge frischer Luft von der bewegt Hingegebenen aus; und wie vor Staunen knackte ein Möbel nach dem andern längs aller Wände durch die Stube hin.

Die schönste Frau ist wahrhaftig gekommen!

Aber der arme Bursch stand wie vor einer wetterleuchtenden Wolke, tiefatmend, und wagte das Ereignis nicht anzurühren.

Da machte Frau Else die Türe zu und ging sehr verlegen an ihm vorbei und bewunderte die dachschiefen Wände des Zimmers, und die kleinen, weißen Fenster voll nassem Sturmschnee, und die Bibliothek, welche auf Brettern stand. Sie bewunderte lächelnd seinen Dichterschreibtisch, welcher ein unergründliches Altvaterkastenmöbel war und bewunderte lachend den Waschtisch, welcher war ein Stockerl mit zwei Abteilen. Alles sah sie sich an, nur nicht das Bett. Und lachte.

Und mitten in solchem errötenden Lachen rang ihr geliebter Narr endlich die zitternden Arme um diese leise schüttelnden Schultern.

Während der ganzen, langen, wildbrausenden Oktobernacht lag die entzückende Frau Else bei dem armen, jungen Studenten in der Dachstube am Gries und war so töricht und süß, daß es bei der klugen Frau zum hellen Verwundern war.

Othmar aber staunte und jubelte über ihre Schönheit wie ein Schüler und sagte ihr fünfzigmal in der einen Nacht, wie ähnlich sie den griechischen Göttinnen sehe; der mediceischen und der neapolitanischen Venus, und, und – auch der von Syrakus …

Sie aber küßte ihm alle diese Torheiten vom Munde weg und hielt ihn in den wunderschönen, begehrten, nackten Armen, als wäre der beflaumte Junge ihr letztes Glück auf dieser Erde!

Dann, um vier Uhr in der verdüsterten Frühe wehten Sturm und Schnee müder; da mußten sie scheiden.

Mit drei eisernen Ringen um das unendlich bange Herz: Entbehrung, Geheimnis und Angst, ob sie wohl wiederkäme, gab er ihr das Geleite durch die stillschlafenden Gassen, in denen vor dem ausgrollenden Wind die seltenen Laternenlichter bläulich fauchten.

Und über den Griesplatz zur Brückenkopfgasse und über die Brücke hin liefen gegen den Stadtpark und das vornehme Viertel, durch den einsamen Schnee ein paar verliebte Spuren, auf den ersten Wintergruß geschrieben.

Tripp, trapp.

Wer alle diese Geschichten lesen könnte, welche das leichtfertige Leben in den Schnee schreibt, besonders später, im Fasching!

Und der aufgeheiterte, liebe Gott besah sich die verräterischen Stapfen nachdenklich, dann flockte er von neuem rieselnden Schnee darüber, ganz wie ein Mensch, der wunderliche Gedanken auf eine Tafel geschrieben hat und sie dann lächelnd abwischt, damit niemand sie sehe …

In einem tief verdunkelten Gassenwinkelchen abseits von ihren Wegen nahmen sie dann Abschied.

Zum letztenmal warf sich ihm Frau Else an die Brust. Sie weinte leise.

»Kommst du wieder?« fragte Kantilener.

»Frage nicht, dränge nicht,« bat sie. »Ja oder nein, das wird geschehen, bis ich erkenne, ob ich leben darf oder nicht. Deine Geliebte bleibe ich ja doch für alle Zeiten – auch ohne das. Frag mir nicht nach! Laß mir Zeit. Muß es sein, so wird es sein.

Leb' wohl, du Verklärter.«

Nach scheuem Umblick küßte sie ihn langsam zweimal, dreimal, viermal. Langsam und kostbar.

Dann huschte sie davon. Die tiefgraue Allerheiligenfrühe umschlug sie mit Fledermausflügeln … das Wunder dieser Nacht war zu Ende.

Fröstelnd und an allen Gliedern vor tiefer Erregung, Dankbarkeit und schon wieder neuer Sehnsucht bebend stand Kantilener mit seinen drei eisernen Ringen um das schwer überladene Herz.

Zehn Schritte ging er dann. Wo war er nur? Dort beleuchtete eine Laterne die Straßentafel: Mondscheingasse. Ein Name wie in einem mittelalterlichen Städtchen. Zerstreut und tiefbang zugleich ging er heim.


Auch Frau Else war nach Hause gekommen. Mit beiden Händen hob sie ihr kostbares, feuchtbesäumtes Kleid und arbeitete sich die Treppe hinauf, unbeholfen wie sonst nie. Gut, daß niemand sie sah. Es war der einzige ungraziöse Augenblick ihres Lebens, als sie stolperte und hilflos und rührend war.

Dann warf sie sich auf ihr Bett und seufzte und kämpfte mit der Entsagung.

»Wir könnten doch niemals unsere Liebe ungesehen halten wie das Grundwasser!

Wir würden immer rasender nacheinander verlangen.

Wie, wenn ich die Kraft hätte, ihm nichts mehr zu schenken! Sein Leben lang müßte er hungern und dürsten nach mir! Ach, das wäre schön! Denn ich würde sterben, wenn er an mir satt wäre …«

Und Kantilener saß am nächsten Abend in dem Studentenstüblein am Gries unter dem Dach und wartete. Aber kein Wind umsang die alten Giebel und keine Türklinke klappte mehr. Es war eine schwülsehnliche Nacht.

Andere Nächte folgten der einen. Alle bang und schwer beladen von kummervoll verlangender Liebe, und Frau Elses Sonnenkind wartete umsonst. Die viel zu schöne Nacht auf Allerheiligen blieb die einzige. Aber die Erregung, das Wunder solcher Gewährung hallte in ihm übermachtvoll nach und überschüttete ihn wie eine Lawine. Erdrückt lag er darunter. Seine sonst so frohwechselnde, schnellkräftige Phantasie vermochte nichts anderes mehr, als jene Nacht zu malen. Es war klar; er starb noch an ihr. Über all seinen Gedanken stand in entsetzlicher, wüstenartig einsamer Gewalt immer nur der gleiche: Die eine Nacht!

Der gequälte junge Mensch lief Abende und halbe Nächte in der Gasse auf und ab, in welcher die Frau wohnte, nach der all seine Blutstropfen begehrten, und brannte in heimlicher Lohe zu ihren Fenstern empor, die einmal erleuchtet, dann wieder dunkel wurden. Es gab Leben, süßes Leben, weichschlurfendes Leben dort oben, – – nur nicht mehr für ihn.

Und dennoch waren diese fröstelnden, verzehrend durchlittenen Herbstnächte in der gartenreichen Gasse noch schön! So reich ist Liebe, daß sie selbst das Unglück selig macht.

Das welke Laub fiel flüsternd, und Kantileners Tritt rauschte tief furchend in der gehäuften Todesernte des Herbstes. Er dachte daran, wie vor wenigen Tagen der selig geschiedene Helbig in diesen Laubschütten geschwelgt hatte. Nun ging er bis über die Knöchel in den Platanenblättern und dem Abwurf der Linden und dachte, ob sie ihn dort unten ruhelos rauschen höre?

Und er betete inbrünstig, tollheiße, todsündenvolle Gebete zu den Fenstern hinauf, aus denen kalt, ungerührt und sterbestill das blinde Auge der Nacht zu ihm heruntersah.

»O du, die du zu mir kamst im Sturm wie ein verwehter Vogel aus dem Paradies. Muß denn wieder Sturm sein wie in jener Nacht, um dich mir entgegenzureißen?

O du, vor deren Schönheit ich auf den Knien lag, komm wieder, damit ich dir gebe, was dein ist, was du bei mir ließest und was mir nutzlos ist, mein Leben. Wenn der unselige Morgen naht, will ich dann enden wie der Freund, mitten in unertragbar schmerzlichem Abschied, aber auch mitten in Schönheit und Freude.

Eines wurde keinem Sterblichen und keinem Gott alter Sagen verliehen: Tot hinzusinken im Ausströmen der unzähmbaren Leidenschaft am Weibe. Muß ich denn langsam sterben an dir?«

Aber lang ausgestreckt stand das Nachtschweigen und sagte nichts. Da ging er sterbekrank heim.

Ihr Haus betrat er nie. Es war auch das Haus des Mannes, den er betrogen hatte und in das er nur eingedrungen wäre, um abermals zu betrügen. Er litt und verblutete vor offenen Türen.

Dann, in einer solchen Frostnacht, erkältete er sich. Als er nach Hause kam und nach einem wärmenden Trank suchte, fiel ihm ein Spitzentüchlein in die Hand, das die Beseligende bei ihm vergessen; – und der geliebte, lose, schalkhafte Duft überfiel ihn mit solcher Gewalt der Erregung, daß er ohnmächtig hinstürzte. Als er erwachte, versagte ihm der Atem vor Schmerz. Er war erkrankt, und bald schritten wie gewaltige Mähder schwere Fieberschauer durch die verwüsteten Gärten seiner Phantasie.

Die Freunde pflegten den, der mit dem Tode rang. Petelin saß mit der Angst eines Liebenden am Bette des Fieberheißen und Vollrat kam lange Stunden als Arzt. Wigram wachte und sorgte für ihn, und auch die anderen kamen, so oft es ihnen bange um den hellgrauäugigen Freund war.

Da erfuhren durch die fiebernden Rufe des Kranken Vollrat und Wigram, was den ewig Heiteren hingeworfen hatte wie ein schwaches Herbstblatt. Ernst schauten sie sich in die Augen; ernst und mit leisem Neid.

»Er stirbt an der Liebe dieser Frau,« sagte Wigram. »Wir alle würden daran sterben …«

Aber Kantilener starb nicht. Nach acht Tagen, als die Krise vorbei war, lag er als ein leise lächelnder Genesender im Bette, drückte Wigram die Hand und schlief wieder ein.

Wir könnten ihn schnell gesund machen, dachte Wigram mit halblauter Stimme. Sie weiß noch nicht, daß er krank war. Wenn sie zu ihm käme?

»Nein, Wigram«; entgegnete Vollrat ernst. »Was soll hier weiter werden? Untreue, Betrug und der ganze traurige Roman erstohlenen Glückes, das sich im Genuß als ein giftiges Bittersüß erweist, mit fadem Nachgeschmack, oft zum Erbrechen?

Diese Krankheit hat ihm geholfen zu überwinden; du wirst es erleben.«

»Was willst du ihm an Stelle dieser Frau schenken?« fragte Wigram kummervoll, »wenn er sich selber nichts zu geben weiß?«

»Das wird er wohl vermögen,« tröstete Vollrat.

Dann erwachte Kantilener wieder und bat den jungen Freund Arzt um Arbeit.

»Das darf doch nicht sein,« lächelte Vollrat.

»Wenn ich nur wüßte, was ich in den letzten Wochen in meiner Dissertation über die altchristliche Kunst zusammengeschrieben habe.«

Da nahm Wigram das Manuskript und las ihm vor. Ernst, klar und schwer tönte die kapitale lateinische Sprache durch das kleine, schneehelle Zimmer.

Dann sprachen die drei über das alte Christentum mit Kantilener, und alle drei entdeckten sie, daß ihn der Geist jener haßfreien, demütigen und darum als schwach und schmutzig verachteten Herzensurwelt tiefer bewegte, als die armseligen Malereien der schönheitsverachtenden Kunsthandwerker jener Sekte.

Daran knüpften sie Zukunftspläne.

Alle drei aber mieden sie stets scheu und zart den Namen der Frau, deren Liebe hier nahezu getötet hätte.


Frau von Karminell litt anders und genas anders als Othmar; denn ihre Art von Glück war äußerlicher, aber freigebiger wie das des ringenden jungen Studenten.

Zuerst, ja freilich; da erging es ihr hart, steinhart. Wenige Tage, nachdem sie, aus Angst vor entweichender Jugend und aus Sehnsucht inniger Liebe lächelnd und glücklich gefehlt hatte, war ihr fünfzehnjähriger Hochzeitstag.

Am Morgen kam ihr Gatte, brachte ein kostbares Perlenhalsband und ließ sie dann wieder allein.

Sie nahm trotzig das reiche Geschenk in die leise bebenden Hände. »Lege ich es an, wenn ich die nächste Nacht im Bett meines Geliebten liege?!«

Sie dachte daran, wie sie zu ihrem Mann gekommen.

Eine Tochter aus dem blendend reichen Hause eines Großindustriellen! Schön, umworben und so klug, so klug, daß sie alle Werber durchschaute!

Nur in die kleine, große Welt der armen Idealisten hatte sie niemals geschaut; bis an den Tag heran, da sie den Verein jener kennen lernte, welche nicht vergessen konnten, daß sie lebten.

Denn bis dahin, wer kam zu ihr? Was kannte sie an Männern, die um sie warben?

Die Frauen unserer Großindustriellen gedeihen in jenem üppigen Boden, aus welchem einst bei Adel und Kaufherrtum eine Diva Beatrix, eine Mona Lisa, eine Simonetta, eine Welserstochter erblühte. Die besten dieser Frauen übertreffen heute den Adel; sie sind die alte Märchenzeit, sind Renaissance oder Rokoko, – wie es ihnen beliebt. Sie haben sich die Festlichkeit der leuchtenden Erscheinung erobert und haben genügend freie Zeit, um sich durch tiefe Nachdenklichkeit zu adeln.

Während die Industriellen, samt ihren reichen oder bloß für den Reichtum erzogenen Söhnen fast niemals die Erscheinungen verfeinerter Geadeltheit ausstrahlen!

Nur eines der Großherrenhäuser von Graz hatte einmal in Ahnung der herrlichen Pflichten des Reichtums eine Mediceertat begangen: Es schirmte und stützte einen Dichter. Aber welche dieser Familien dächte daran, daß sie auf solchem Weg eine geistige Dynastie zu werden vermöchte wie einst die Geldwechsler unsterblichen Angedenkens, die Mediceer?

Solches war überdies schon seit langem geschehen, und als Frau Else Mädchen war, litten die Söhne aller Familien von Reichtum oder Rang an dem bedauerlichen Irrwahn, nicht Erben des Adels zu sein, wie er ehemals entstand, sondern Nachtreter des Verfalles sein zu müssen, welcher heute dem Adel seine Prägung gibt. Mangel an Originalbewußtsein bannte sie wie ihre Vorbilder an Sport und Hasard, Roß und Tänzerin, Kraftwagen und englische Mode.

Sie wollten nach oben gelten; nicht nach unten. Aus dem Boden aber wachsen die Bäume, und was hängt, wird welk.

Das alles durchschaute Frau Else und keiner war, der ihr durch verinnerlichte Lebensführung als echt erschienen wäre. Es waren alles Nachahmungen nach Vorbildern, die selbst nicht der Kopie wert waren.

So wurde das allzu kluge Mädchen über zwanzig Jahre alt, mußte schwere Vorwürfe ihrer Eltern ob romantischer Heikelkeit hören und machte sich selbst ähnliche.

Dann kam der vielversprechende, tadellose Dozent von Karminell, welchen wenigstens der heilige Anhauch der Wissenschaft verklärte. Und den hatte sie genommen und tadellos neben ihm residiert. Sie waren innerlich ›per Sie‹ geblieben.

Als nun am Abend dieses fünfzehnten Hochzeitstages nach gemeinsam eingenommenem Spätmahl durch die Wirkung des Champagners Herr von Karminell sich erinnert hatte, daß er eine schöne Frau besitze und nicht alles zwischen ihnen beim alten blieb, da weinte sie bitterlich und herzbrechend wie ein verkauftes Mädchen, und weinte noch lange nachher, als der Professor längst schlief, – – nach der Dachstube!

Mit dem grauen Morgen erhob sie sich und lief fassungslos wie ein Kind nach dem Gries bis zu dem altbürgerlichen Häuschen, wo eben das dürre Gras in der Dachrinne unter dem geliebten Fenster wehte, und machte dem Studenten eine innig verliebte Fensterpromonade. Sie sehnte und sehnte sich und gedachte ihn durch hypnotische Kraft zu zwingen, aus dem Fenster zu schauen, damit er sie hole und all das Widerfahrene mit heißer Liebe aus ihrem Gedächtnis brenne!

Er aber lag oben sterbenskrank und fieberte von ihr, der Unbarmherzigen und von der einen, einzigen Nacht.

Wieder einige Tage später jedoch hatte sie Gelegenheit, tief zu erschrecken. Was war mit ihr vorgegangen? Es konnte doch unmöglich das unfruchtbare Alter seine Anzeichen vorausschicken? Sie war ja noch jung, schön und so heiß …!

Oder lächelte ihr jene eine, unvergeßliche Nacht mit Erinnerung nach? Mit Folgen?

Sie stürmte aus dem Hause in unbeschreiblich süßer, banger Erregung. Zuerst in einem fassungslosen Hinlaufen zum Geliebten, um ihm mit ausgebreiteten Armen schluchzend zu danken! Dann blieb sie stehen, kehrte um und ging in die Kirche, wo sie freudeweinend auf den Knien die Madonna anlächelte.

Dann kaufte sie ein Buch: Die junge Mutter, lief nach Hause, trank ein Glas Wein und spielte auf dem Klavier lachend così fan tutte:

›Ja nur aus Eitelkeit, ja nur zum Trotz!‹

Die jubelnden Laute hallten in ihr eine ganze Weile nach. Zurückgelehnt saß sie, und über ihr zogen in träumenden kinderhellen Wolkenzügen kleine pausbäckige Engel … sie prüfte, wählte sich den schönsten aus und lachte und weinte.

Dann suchte sie ihren weitesten Schlafrock hervor, zog den an und stellte sich vor den Spiegel, und dann warf sie ihn weg, stürmte ganz fassungslos vor Glück und Unruhe in den Stadtpark hinaus, der im Leuchten eines warmen Föhntages warmschaudernd seine allerletzten, seltenen Blätter herniedertanzen ließ und rannte gegen eine Bank, auf der Wigram saß!

An ihn klammerte sie sich.

»Gott sei Dank!« rief sie. »Ich wollte mir einen Band Schopenhauer kaufen, nun habe ich den lebenden Philosophen. Sagen Sie mir: Glauben Sie, daß Liebe schuldig machen kann?«

Wigram sah sie seltsam an: »Nicht, wenn diese Liebe die einzige ist.«

Frau Else dachte nach. »Das haben Sie hübsch gesagt,« sagte sie dann, voll und warm aufschauend.

»Christus verzieh sogar darüber hinaus; Sie wissen: ›Ihr wird viel vergeben werden, denn sie hat viel geliebt‹ …«

»Ach nein, das wollen wir nicht!« rief sie hastig und grollend.

»Übrigens,« schloß Wigram, »Glück ist alles, auch in der Schuld. Gnade ist mehr als Reue. Wer begnadigt ist, fühlt, er sei auch der Schuld frei.«

»Herzlichen Dank,« sagte sie lächelnd und ging langsam nach Hause.

Drei Tage lang rang sie nun, ob sie nicht stolz und frei ihrem Manne alles sagen sollte. Und nur, weil er voll nie gekannter Unruhe in sie drang, warum sie so seltsam sei und soviel weine, nur weil er es ihr abpressen wollte, darum kämpfte sie noch. Endlich sagte sie sich: Wenn er mich davonjagt, so macht er mich glücklich. Und trat vor ihn hin.

»Else?« fragte er.

Da begann sie, blaß vor innerster Erregung: »Ich glaube, daß ich Mutter werde …«

Unmöglich, ein Wort mehr zu sagen!

Denn der sonst so ängstlich würdenhafte Mann schrie laut heraus, und über sein langweiliges Antlitz flammte ein Triumph und eine Freude, als hätte er nun endlich eine wirkliche, große Berufstat erfüllt.

Er blieb nach dem ersten Aufjauchzen schweigsam, aber durch all seine angenommene Würde rieselte das Zittern verhaltnen Stolzes. Frau Else war erschüttert, weil sie noch keinen Menschen sich so hatte freuen sehen, und es überwältigte die kluge und herzliche Frau dermaßen, daß das Verbrechen, ihm das Herzeleid der Wahrheit anzutun, ihr zehnmal größer schien, als jenes, das sie aus inniger Liebe begangen!

Sie sagte ihm nichts weiter, aber sein Glück und das ihrige, welches noch nach Heiligung verlangte, waren so übermächtig stark, daß sie sich in tiefster, ernster Seele vornahm, aus Buße gegen diesen Mann, in dem eine so heiße Vaterseele schwieg, treu zu bleiben.

Ihr Glück hatte sie nun ja doch ertrotzt. Was tat es nun, wenn das Alter kam!?

Überglücklich wollte der Professor wieder den Champagner kommen lassen, von dem er glaubte, daß der schuld an dem Ereignis sei, und drängte sie: »Trink auch du!«

Aber Frau Else dachte an ihren Othmar, den sie von jetzt ab ganz in das geheimste Kämmerlein ihres Herzens sperren mußte, und, indem sie seinen Tonfall nachahmte, sagte sie zwischen Lachen und Ernst:

»Er soll vor zwanzig Jahren keinen Alkohol kennen.«

Sie war fest überzeugt, daß ein Junge kommen müsse. Denn alles geht auf drei aus und das Röslein vom Gries und Mali waren ihr beide mit der gleichen Außerehelichkeit vorausgegangen. Ihr Professor aber drängte sie, mit ihm durch das Zimmer zu wandeln. Er umschlang und stützte sie, als fiele ihr jetzt schon das Gehen schwer.

Um den Tisch, am Klavier vorbei, und Frau Else grüßte sich im Spiegel und grüßte zärtlich Kantileners Bild, das auf der Bibliothek stand.

Dann ging ihr Mann fort, um die überglückliche Sache einem medizinischen Freunde ganz im engsten Geheimnis vorzutragen. Der ließ ihm ebenfalls seine Freude gelten und versprach ihm, zu gelegener Zeit der gesegneten Frau beizustehen.

Frau Else aber sah ihren Mann vom Fenster auf die Straße nach. »Nein!« dachte sie. »Die Freude, die ich ihm da gemacht habe!«

Freilich: eine Schuld, eine schwere Schuld blieb es dennoch. Was aber gälte ein Leben, das nicht tragkräftig genug wäre, auch mit der Bürde einer Schuld aufrecht zu bleiben? Für ein tüchtiges Leben ist sie der richtige Ballast: das allzuleichte Schifflein wird inhaltsreich; es fährt langsamer, nachdenklicher, beschwerter, aber auch aufrechter und ohne Übermut seinen Weg.

»Glück ist alles, auch in der Schuld. Gnade ist mehr als Reue,« sagte sie in tiefer Nachdenklichkeit vor sich hin. »Wie herzlich und gescheit doch dieser Wigram ist!«

Und sie dachte hoffend und träumend an den Knaben, der ihr bestimmt war. Sie wußte, wieviel naive Harmonie in seinem jungen Vater klang, und sie kannte das heitere, ruhigzügige Ebenmaß ihrer eigenen Seele. Vielleicht wird der einst der Wiedererwecker deutscher Musik, der wunderbarsten Kunst, welche jemals Menschen beglückte, und welche wir eben zu Grabe tragen sahen … Vielleicht wird er der große, neue, geniale Meister der Instinktmusik, nach dem sich die zwölf Freunde vergeblich zergrämt hatten.


… Am Bette des genesenden Othmar standen zu gleicher Zeit wie zwei Gewalten Vollrat und Wigram, um dem Freunde zu neuem Leben zu raten.

»Nicht alle von uns Zwölfen hatten den Schwerpunkt ihres Glückes in sich selber,« begann Wigram von seinem zehnmal wiederholten Lieblingsthema. »Du Kantilener, hast ein einziges Mal versucht, dein Glück außer dich selbst, auf ein schönes Weib zu legen und wärest fast zerbrochen, so hinschmetternd bist du gestürzt.

Bohnstock hat seinen deutschen Traum, und wenn ihm von mutwilliger Bosheit da hineingegriffen wird, so bleibt ein Sprung in diesem Gefäß der Sehnsucht.

Helbig brauchte den Boden seiner Stadt, seiner Freunde und Jugend; er hatte auf allzu viele Fundamente gebaut und zerstürzte.

Liesegang ist eine echte Lehrernatur, die alles von andern, wenig aus sich gelernt hat und nur freudig sein kann, wenn sie weitergibt. Er braucht Schüler.

Und Petelin brauchte einen Meister. Anlehnen muß er sich können. Jedoch sind diese beiden mit ihrem Glück innerlich, und können niemals beraubt werden.

Scheggl mußte seine Familie haben und O'Brien wird großer Kraft bedürfen, um seine Phantasien mit in das Alter hinüber zu nehmen, oder in Krankheit, und nicht zu verzweifeln.

Arbold hat sein deutsches Volk und Semljaritsch seine heimliche slawische Liebe. Von Zimbal reden wir nicht mehr. In ihm war nur das Innerlichkeitssehnen der zwanzig Jahre.

Vollrat ist schon unruhig, weil er aus unserer Welt in jene andere übergetreten ist, welche wir die beladene nennen; … nein, nein, Vollrat; antwortet, wenn ich ausgeredet habe. Ganz ohne Bedürfnis, von der Welt außer uns etwas zu empfangen, lebten nur Kantilener und ich, … und selbst von uns hatte jeder einen törichten Wahn nach außen zu überwinden …

Nun will ich dir, Othmar, ernstlich sagen, was für dein Leben allein not tut: Diene niemand, als dem Gott in dir! Bleib ein Philosoph.«

Vollrat lächelte und sagte: »Mir scheint das Glück im Bezwingen zu liegen, im Erringen und Erobern. Mein Motto wäre: Beherrsche alles und alle. Ich selbst wurde ein beliebter Arzt, nicht weil ich Kranke, sondern vornehmlich, weil ich Menschen zu behandeln verstehe. Kantilener sollte Arzt werden.«

Der blasse Othmar aber richtete sich im Lager auf: »Ich werde tun, was euch beide einigt. Ich werde, unter den Blicken meines Gottes, den Menschen dienen.

Ihr wißt, wie ich niemals die Liebe zur Kunst von mir lassen konnte. Als ich aber die Seele meiner alten Christen nach dem Künstlerischen durchforschte, da ging es mir wie dem Nachforscher einer Wüstenquelle. Das Belebende verbarg sich, je weiter das Christentum schritt, so daß ich fragen mußte: Wer war der letzte Christ nach innen, wer war der erste nach außen? Ich ging mit den Aposteln und begleitete Petrus und Paulus, – – bei dem zweiten, der den Herrn nicht mehr erlebte, stockte ich schon und bei Linus begann das langsame Versiegen.

Da erwachte in mir eine unendliche Sehnsucht, die Quelle wieder zu öffnen: Die Quelle reinen Menschentums ohne Gesetze!«

»Die Anarchie,« lächelte Wigram bedeutungsvoll.

»Lange glaubte ich, wie ihr wißt, daß man diese neuen Menschen vereinigen und sammeln könne. Wigram widersprach mir. Da jedoch keine Gesellschaft ohne Regelung leben kann, so durchschaute ich, wie ich die Hilflosigkeit des Vereins der neuen Menschen sah, den ersten Fehler des Christentums: Organisation.

Niemals dürften die geistig Freien, die einzelnen sich sammeln und rotten! Ihr ganzes Leben beginnt und stürzt mit ihrer Einsamkeit.

Auch der Gedanke, daß der Künstler durch Läuterung des Verstandes sich eine hochbeglückte Gemeinde ziehe, wie Bohnstock predigte, ist mir darum zu Boden gefallen. Denn selbst im Kunstgenuß verkleinert sich der Einsame, sobald er sich mit anderen gesellt.

Einsame Menschen will ich aber dennoch anwerben für die neue Idee des stets wachen Lebens; für das neue, und so alte Glück, den Tag zu ergreifen. Denn wenn ich das herrliche Mittel nicht weitergeben soll, wozu habe ich es denn gefunden?

Da ist mir in meine Stunde der Genesung ein heißer Erkenntnisschreck gefallen, ein tiefer Blick ins Menschliche:

Von allen Menschen, die da leben, steht die Seele des Leidenden, Geschwächten und Kranken der Ewigkeit sowohl wie der Schönheit am weitesten offen, und die Seele ist am befruchtungsfähigsten, wenn es um den alten Sünderleib unvollkommen und elend steht.

Liebe, Sanftmut, Reue, Sehnsucht, Dankbarkeit, Aufmerksamkeit und Tiefe wohnt da in jeglichem Menschenkind, und keines ist verstockt.

Wißt ihr, warum die alten Priester so übermächtig dastanden? Weil sie zugleich Ärzte des Leibes waren! Sie hielten den ganzen Menschen fest.

Arzt will ich werden, um das Geheimnis des Glücks in offenstehende Herzen auszustreuen. Arzt, weil ich tätiger Geist und tätiges Mitleid zugleich sein muß!«

Und so geschah es.

Vollrat ebnete dem Freund die Wege, und zwar, wie er gar nicht anders konnte, auch mit zu seinem eigenen Vorteil.

Er brachte das hellblaue Haus der Genesung käuflich an sich und nannte es: Doktor Vollrats Sanatorium für Licht-, Luft- und Wassertherapie. Von der veraltetsten Heilmethode bis zur naturgemäßen konnte hier jeglicher nach seinem eigenen Vertrauen finden, was der kluge Vollrat ihm verschrieb. Der gescheite Geschäftsmann hatte bald zu wenig Raum für Aufnahmheischende.

Kantileners Vermögen blieb als Hypothek auf dem Hause, wogegen er als Assistent Vollrats eintrat, nachdem er den Doktorgrad der Medizin erreicht.

Aber niemals vergaß Kantilener seine kleinen, armen Häuser voll Not auf dem Münzgraben, am Gries und der Lend. Wurde Vollrat ein Arzt der Reichen, so wurde er ein solcher der Armen.

Doppelte Heilung brachte er in die dumpfgedrückten Stuben jener Kranken, welche den Priester nicht mehr kennen wollten und welche den Trost der Weltliebe noch nicht kannten, den durch die Sozialdemokratie in allen Tiefen aufgewühlten Gemütern, in denen offene, wunde, schmerzliche Furchen saatlos dalagen.

Hier tat er, was er konnte, um zur wiederkehrenden Gesundheit auch helle, freundliche Augen zu schaffen. Bei den Berufenen gelang es ihm. Das war unsägliches Glück!

Von Liesegang war schon gesagt, daß er Doktor Urbans Sohn längst war, bevor er Gemahl der schönen Linde wurde. Der heitere alte Doktor hielt Liesegang mit sanfter Gewalt in Freundschaft mit dem (wie Liesegang schalt) verschändeten hellblauen Hause der Gesundheit, durch den lächelnden Einspruch: Sind wir froh, so viel erreicht zu haben, daß die Medizin auf uns hört und von uns lernt.

Vollrat nahm sie stets gastlich auf, und namentlich der kleine Klaus mußte oft dem hellblauen Hause dienen, da ihn Vollrat manch einem reichen, griesgrämigen Kranken als Vorleser und Ungeduldableiter beigesellte.

Im Vegetarismus jedoch blieb Petelinchen unverbesserlich. Von Monat zu Monat ging er mehr ein und zuletzt schien er wie ein seliger Geist. Die Vegetabilien verzehrten ihn, und nicht er sie.

Bald war er nur mehr ein Diapositiv. Gottes liebe Sonne schien fraisefarbig durch den kleinen Klaus, und undurchsichtig war er nur mehr bei trübem Wetter und Nebel.

Dennoch brachte er durch drei Jahre das bemerkenswerte Wunder zuwege, sich noch immer mehr zu verflüchtigen, bis er endlich in einer lauen Märznacht dahinschwand, wie ein letztes, langverstecktes Schneeflöckchen am Wiesenrain, an dessen Stelle plötzlich feuchte Veilchen stehen, die unter ihm gewartet hatten wie ein lebendes Bild von hübschen Mädchen hinter einem Vorhang.

So erkannten tiefergriffen die Freunde des kleinen Klaus erst nach dessen Tode, wie gottesunendlich viel Poesie eigentlich hinter der stillen Jüngernatur versteckt gewesen war.

So viel Seele, welche so wenig Körper bedurfte, war nicht erhört gewesen, weder vor, noch nach ihm. Er war dahingegangen, wie ein wanderndes Sommerwölkchen, welches dem blauen Äther als ein Stückchen Zucker im Munde zerschmilzt. Und daß nicht vierundzwanzig kleine Engel dazu, um sein Überbliebenes geschart, sangen, das war das einzig Ärgerliche an seinem Ende, denn es hätte sich gehört. –


Wir müssen noch zweier Freunde gedenken, deren Schicksal sich in denselben Novembertagen erledigte, als Kantilener von seiner todschweren Liebeslast gesundete, um die lichtgoldene, geliebte Frau fortab ganz so allerinnerlichst im Herzen versperrt zu halten, wie sie ihn.

Die beiden Freunde waren Bohnstock und Semljaritsch und sie verloren ihr Liebstes in einem schweren, eisernen Gewitter; dem Gewitter des deutschrücksichtslosen Graz, das wir bisher noch kaum kannten.


Es ist wunderbar, wie die alten Völker ihre Naturgottheiten zu beseelen verstanden! Pan und Faune, Waldschratt und Neck, – überall die wunderlich geniale Launenhaftigkeit des Elementes. Weich und zärtlich und schnell zur Bosheit verändert; tieffühlend schwermütig – und dann wieder gewaltig roh; Schalmeientöne und abgelassene Bergstürze; reiches Geschenk oder unheimliche Rachsucht; göttlich heitere Liebe und Sinnlichkeit; – es liegt alles in ihnen.

Und da ist nun eine Stadt, ganz in die Natur hineingewachsen! Eine Stadt, welche wahrlich ihre eigene Seele, ihren Hausgeist hat. Ist es ein Wunder, wenn der sich zu gebärden vermag, wie jene alten, aus wunderkräftigem Dichtervolksgefühl geborenen Wesenheiten der Berghalde, des Waldes und Wasserfalls?

Im November des Jahres, von dem wir reden, verzog sich das im Schlummer lächelnde Antlitz der traumvergessensten aller Städte jäh, wie ein überschwenglich schöner Sommerhimmel zum Wetter.

In düstere, drohende Falten!

Das Gebiet deutscher, geliebter Sprache war bedroht – irgendwo weit in Böhmen. Aber die grauen steirischen Straßen mit den trotzigen Bürgerhäusern füllten sich mit Volkserregung, durch die herbstlaubüberfallenen, kahlästigen Baumgänge brüllte die deutsche Wut.

Die Behörde schlug mit der brennenden Geißel des Waffenaufgebotes in den Höllenbrodel und gebrauchte südslawische Truppen, um den Aufruhr zu ersticken. Es ist nicht Aufgabe dieser ernstheiteren Erzählung, zu berichten, wie der sylvanenhafte Stadtgeist beinahe jahrzehntelang in bösartigem Grollen verstockt, giftig und unversöhnlich den militärischen Behörden und den Offizieren die grüne, stille Stadt zum Feindesland machte und den einen, beißenden Rutenstreich durch siebentausend Nadelstiche rächte.

Für die Freunde blies jener Novembersturm wie in elf Blätter, welche der Frühling an einem jungen Bäumchen herausgeküßt.

An einem einzigen Abend geschah es.

Denn neune waren von den elf Überlebenden in einer Straße.

Das Militär stand schweigend, in langen Reihen am Marktplatze, düster, grollend und verhöhnt. Vom Gries her rasselten in hastigem Anmarsch die bosnischen Kompagnien, mit denen O'Brien als Offizier kam.

Vollrat, Petelin und Liesegang waren herbeigeflogen, um den Verwundeten zu helfen, die der Straßenkampf reichlich zur Erde schleuderte. Aber Liesegang vergaß den Vorsatz, denn die Erregung des deutschen Kampfes erweckte den Fanatiker in ihm. Er rannte zu denen, die wider das Militär standen, und bei denen sogar Zimbal tobte, der in seiner Freude am großen Drama mitspielen mußte, – auf irgend einer Seite, gleichviel welcher, aber da ganz!

Arbold war heilfroh. Zum erstenmal schien diese geborne Schlägernatur das Leben lebenswert zu finden. Er stürzte auf den Platz bei der ersten Nachricht, Militär sei angerückt und wünschte in brennender Sehnsucht, der Kampf möchte losbrennen. Aber die ernsten Kärntnertruppen, welche dort standen, ließen Hohn und Herausforderung ihrer tollgewordenen deutschen Landsleute im Bewußtsein ihrer eignen schweren Übermacht an sich herunterrieseln wie Sandkörnlein aus Kinderhand.

Sogar Wigram stand in der Volksmenge. Lernen, schauen und dann in seligem Hinaufschwingen zu den überlegenen Gedanken glücklich sein über aller Not des Tages! Er schaute nach den Truppen und nach den drohend geballten Volksmengen ihnen gegenüber, welche bald in tiefergriffener Andacht sangen, bald tobten, schrien und schmähten, und sein Herz zuckte vor Liebe, Hohn und Erregung der Gedanken: Das waren doch seine Süddeutschen! »Toll und heilig! Diese Stadt vermag Torheit und Ideenglut zu vermengen wie einstmals Athen und Florenz. Würde Graz die dritte große Stadt der menschlichen Kontraste werden?«

Es war Abend. In der Albrechtsgasse wüster Lärm. Sie stürmten das Lokal einer klerikalen Zeitschrift. Bohnstock half mit lustigen Studenten das Schild abnehmen und wie ein verzückter Cherub sang seine ganze Seele bei der törichten Handlung: Deutschland, Deutschland über alles!

Er war überglücklich. Nun durfte er kämpfen … Bluten vielleicht für das Volk, das ihm heilig war und durch dieses vergossene Blut echt werden. Mit geweihter Begeisterung schlug er gerade vier oder fünf Fenster ein, als einige Männer mit der schreienden, rennenden Nachricht über den Franziskanerplatz trampelten, die bosnischen Soldaten kämen über die Murbrücke.

Da ließ kaum einer der zornig Aufschreienden das heitere Werk so schnell fahren, als der jüdische Musiker –, um sich der Gefahr entgegenzuwerfen. Was galt es ihm, daß es Torheit war? Daß er schwache Arme und keine Waffen hatte? Deutsch wollte er sich beweisen. Vor sich selber wollte er deutsch sein und wenn auch der Gedanke nur seine letzte Stunde verklären sollte: Du bist eins mit dem Volke, das die Welt mit seinem Samen erneute und nie größer war, als wenn es in fernen Landen zu nichts verrann! Du bist wie Teja in der Schlacht am Vesuv …

Es ist kaum zu glauben: Diese Hitzköpfe rannten waffenlos gegen die Bajonette der vordringenden Truppe. Vom Hauptplatz kamen Bürger, Studenten in lichten Haufen. Junge, magere Stimmen und grauköpfige Schimpf- und Gebärdenschleuderer, wütende Greise, Kaufleute – die in diesem Augenblick ihren Laden angezündet hätten, um nur den Feind halb zu schädigen wie sich selber! Alles, was zu Kampf, Zorn, Haß und Rauflust ein Restchen des alten, trunkenen Vorahnenfurors in den Adern fühlte, lief in groteskem Hauf zusammen, grotesk, weil sie in diesem Augenblick den ganzen heiligen Kampf des Germanen gegen verrottetes Balkanslawentum fühlten und nur leere Hände und wütige Schimpfworte drohend und machtlos schwingen konnten.

Arbold rannte gegen den Offizier der anrückenden Truppe, welche langsam, die ganze Breite der Murbrücke einnehmend, heranklirrte. Dicht vor ihm blieb er stehen, die Hand zum Schlag erhoben und erstarrte.

»O'Brien? Pfui Teufel!« Und er spie ihn an.

Lachend aber hob der Offizier den Säbel.

O'Brien hatte sich gewöhnt, die ganze Welt, welche sich um Geld drehte, für Gesindel, und die Welt, welche um Kunst und Wissen ihre Menuett schlang, für Schwindelvolk zu halten. Nichts reizte ihn, nichts erzürnte ihn seither, als die Trägheit des Soldatenstandes, der sich nicht nach römischem Muster lachend vor Hohn diese ganze Welt unterwarf. Er war Offizier geworden mit dem geheimen Vorsatz, zu warten … Die Zeit sei faul und die Staatenwirtschaft furchtsam geworden. Wenn ihm das Schicksal nur drei, vier Chancen nacheinander in die Hand gab – – für solchen Fall hätte er Napoleons Karriere nicht nur studiert, er hätte auch Talent und Laune, es auf sich zu nehmen, diesem ganzen Staat einen ungeheuren Streich zu spielen.

O'Briens waren einst trotzige Könige in Irland gewesen, dann als Soldatenblut in Österreich bis zur Weltverachtung weitergediehen. Die Welt, das Glück sind rund. Lange genug waren sie unter dem Rade. Warum soll Tom O'Brien nicht einmal Kaiser werden? In seinem Innern weiß er ohnehin schon, wie sich die Welt von oben ansieht.

Und lachend schlug er den fassungslosen Studenten über Kappe und Schädel. Taumelnd stürzte Arbold nieder. Bohnstock hatte Ansatz gemacht, sich wie einstmals Winkelried in die Eisenspitzen zu werfen; nun aber fing er den wankenden Freund auf und zerrte ihn zurück, da einige der Soldaten aus Reih' und Glied bedenklich nach dem frechen Beleidiger ihres Offiziers vorschnellten.

»Halt!« kommandierte O'Brien mitten in Wut und Hohn der entgegenbrodelnden Volksmasse.

Schande! Bosniaken gegen Österreicher! Slawen gegen Deutsche! schrie und tobte es ihm entgegen.

O'Brien wies höhnisch mit der Spitze des Säbels auf Arbold, der sich an der schwachen Stütze des langen Musikers aufrichtete, um augenblicklich wieder anzurennen. Immer noch lachte er: »Da seht ihr eure heilige deutsche Kraft symbolisch! Von jüdischen Armen gestützt!«

O'Brien kannte Arbold. Er kannte all seine Freunde und Feinde. Aufraffend stieß Arbold mit beiden Armen gegen Bohnstocks Brust: »Was brauch' ich dich! Was bringst du mir Schande? Laß mich los, Saujud!«

»Heil!« schrillten ein paar Jungen auf! »Weg mit dem Juden – im Kampf zwischen Deutschen und Slawen!« Und der Ruf stieg weiter zurück, bis in die tiefen, grollenden Männerstimmen der Masse: Weg mit dem Juden! Und während die Volksmenge sich immer dichter anrannte, während eilfertig Steine herzugetragen wurden und die ersten Wurfgeschosse gegen das Militär flogen, wankte Bohnstock, in Grimm und Schande ausgestoßen, verzetert von Feind und Freund, weggejagt wie ein Hund aus dem Hause des in den Tod geliebten Herren, davon, davon.

Durch die alten, engen Gäßchen nach dem unglaublich verwinkelten und verwölbten Franziskanerplatz. An einem Schusterladen blieb er stehen. Oft war er dort gestanden, die alte gotische Kirche, den gewölbten Laden, Giebelhäuser und Winkelei in Liebe beisammen, und im Herzen der entzückte Ausruf: Hans Sachs!

Jetzt starrte er auf einen geschlossenen eisernen Rolladen. Ganz wirrdenkend:

Die alte kleine Schusterstube mit einem modernen Rolladen geschlossen. Ein moderner Rolladen. Ausgestoßen! Was blieb ihm? Er war kein freudiger Jude wie die stumpfgierige Handeljudenschaft. Mußjude. Und alle edlen intelligenten Juden mit ihm?

O, o!

Und an den gotischen Kirchenpfeiler lehnte er sich und schrie: Christengott, Christengott, der du Liebe sein sollst! Gib mir zu weinen!

Aber es kamen keine Tränen. Gänzlich zerstört lehnte er. Verstoßen! Ausgesperrt. Wandre, wandre, Ahasver! Du sollst nicht Ruhe finden auf Erden!

Drüben in der Murgasse blies eine Trompete: Fronträumen.

Klar und höhnisch schallte O'Briens Kommando durch das enge, nächtige Gassengeduck: Fertig! An!

Eine Salve zuckte auf. Dröhnend ratterte das Echo im trotzigen Bürgergewirr der Altstadtwinkelei umher. Und Wutschreie, Laufen flüchtiger Trupps, Nachricht und Hilferuf stob nach allen Seiten der Stadt auseinander. Nur einer wandelte langsam fort, ohne Furcht, ohne Zorn, ohne Teilnahme.

»… Wir haben zusammen den Messias gekreuzigt; die deutschen Romsöldner von der Judäalegion und wir Priesterknechte Judas. Wir haben zusammen die Welt übersiedelt und sind in alle Völker ausgesamt.

Die deutsche Saat mußte verschwinden in Spanien und England, und in der Lombardei. In Sizilien, in Frankreich und der Berberei. Warum muß der ausgesäte Jude immer noch rot stehen wie die Mohnblume mitten im goldenen Feld?

Muß ich schandroter Mohn sein, so will ich es sein. In Schönheit und roter brennender Kraft will ich blühen!«

Zwei Tage nachher schlugen sich Bohnstock und Arbold im Saale des Turnvereins mit schweren Säbeln, und der flinke, starke Arbold unterlag dem langen Gegner, der sinnlos dreinhieb mit jener zerrissenen Verzweiflung, die von einst bis heute von allen Völkern nur der Punier und der Jude bewies.

Arbold hatte eine lange, schwere Kopfwunde. Das Blut lief ihm über die Augen, welche vor Wut und Scham wie die eines angeschossenen Adlers funkelten. Er wollte weiter schlagen, aber Vollrat trat als Arzt dazwischen.

»Du kannst durch das Blut, das dir in die Augen läuft, nicht sehen,« entschied er.

Symbolisch, dachte Bohnstock zum zweiten Male.

Auch Bohnstock hatte zwei Hiebe. Einen heißbrennenden flachen, der als roter Striem über Brust und Flanke ging, und einen schmerzlosen scharfen am Unterarm.

»Sind da Muskeln durchschnitten zum Klavierspiel oder zur Violine?« fragte er Vollrat.

Der rüttelte ihm kopfschüttelnd seinen Unwillen zu. »Nein! Unschädlich!«

Nach angelegtem Verbande führten ihn seine Sekundanten hinaus. Arbold hatte ihm die versöhnende Hand verweigert. Ein jüdischer Student und Semljaritsch waren Bohnstocks Begleiter.

Schweigsam und grollend ging der Südslawe neben den beiden Fremden, mit denen er gehalten hatte gegen den deutschen Feind. In der frischen Luft der Gassen überfiel Bohnstock der Rausch des glücklichen Kampfes mit Freuden: »Ich will mich schlagen für unser verhöhntes Volk, bis ich erschlagen werde oder alle Gegner besiegt habe,« rief er mit glühenden Wangen. In den letzten Tagen hatte er die Lust des Raufens erfahren, und daß Gefahr und Schmerz lachenswert klein zusammenschwänden im jubelnden Trotz des kampfheißen Mannes.

»Ein Raufer und Händelsucher will ich werden gegen diese schwarzrotgoldnen Prahlhänse.«

Und der andere Student erzählte ihm von Wien, von den jüdischen Burschenschaften und dem Zionismus! National müssen wir werden! – – –

Da ging Semljaritsch einsam fort!

Die ganze Stadt dampfte rotglühend im Slavenhaß, und wo er ging, hörte er Schimpf und Hohn gegen die schwerblütigen, vielbemakelten, aber auch reichbegabten Völker südlich der Drau. Die kleinen Winkelwitzblätter hatten an seinen armen Slowenen reiche Spaltenfüllung für Wochen geerntet. »Falschheit, Feigheit, Schmutz und Wasserscheu, Bestechlichkeit, Schmeichelei, Dieberei und Bosheit – – – ist das denn wahr?«

Und jeder Spott drang als Giftpfeil in sein Herz. Den Pfeil riß er aus, das Gift blieb: Haß gegen den Spötter.

Seine Prüfungen waren beendet. Nur noch die Formalität des Doktors. Vor ihm lagen Anträge, schöne Rufe, dahin und dorthin. Aber es gab nur einen mehr für ihn: Als Lehrer an's slowenische Gymnasium nach Laibach.

In tiefster Seele hatte er mit der deutschen, herrlichen Kultur gerungen und war schon auf den Knien gelegen vor ihr. Voll deutschem Sang und Klang, voll deutschernster Nachdenklichkeit war er geworden, nahe, nahe am überzeugten Renegatentum, ein im tiefsten Herzen wunder Verzweiflungskämpfer gegen das eigene Volk.

Goethe und Gottfried Keller und Hans Sachs, Dürer und Holbein, Beethoven und Wagner hatten ihn übermächtig zu dem reichen, herrlichen Volk gerissen. – Die Ungerechtigkeit und der blinde Haß des Knüppeldeutschtums aber stießen ihn wieder zurück.

Er ging zu seinem Volk. »Ist es so elend, so verworfen und trübselig, wie unsere übermütigen Feinde sagen, so brauchte es gegen Not und Tod befreite, sanfttröstende, liebende Männer. Wir wollen die unkrautbewucherte slawische Seele reinigen und herrliche Gärten bauen. Wir wollen das Volk aufrichten und solange streben, ihm als große Männer zu gehören, bis es seine großen Männer hat und durch sie eine unbezwingliche Herzensmacht geworden ist.«

Da kehrte er zu den Strohhütten des weithügeligen Rebenlandes zurück und brachte Erweckung, Mut, Trost und starkes Vertrauen einem schwerträumenden Volk. In Laibach fand er dann werdenden Wohlstand, aufkeimende Hochbildung und glaubte an sich und die kleine Nation zwischen dem rauhgewaltigen Nordvolk und dem feinbewegten Süden.

Bei den Deutschen hatte er gelernt, für die Deutschen war er verloren – –


Bohnstock aber kämpfte noch immer. Die Kunst hielt ihn fest. Seine Oper freilich verschwand ungesehen. Wie hätte das Theater in den politisch erregten Zeitläuften die Oper des jüdischen Konzertmeisters aufführen sollen, der durch seinen Zweikampf mit einem Studenten mißbillig geworden war.

Dem treuen Nachsinner deutscher Volksseele hatten sich die Herzen der Freunde geöffnet. Vor dem Makkabäer verschloß sich hart und weich. Sogar Frau von Karminell, der er, ihr allein auf der ganzen Welt, in wildem Schmerz seine Kämpfe klagte, warnte ihn. »Das aggressive Judentum ist ein Unding. Schon die zähe Stammgemeinschaft der unintelligenten Orthodoxen erweckt den dumpfen Groll der umlebenden Völker, und der einzige Schutz des gelobten Volkes ist, daß es unerschöpflich seine Intelligenzen an die große Weltbürgerschaft abgibt. Wie einst das Opfer seines schönsten Mädchens an den Perserkönig seine Rettung war, so muß es heute Blüten über Blüten in fremde Gärten schenken, als Tribut, daß es fremd unter Fremden bleiben will. Das ist euer Leben und eure Kraft. Wie kann die Schlingpflanze stammlos in die Luft wachsen wollen?«

Und sie überlegte klug, wie sie den gefährlichen Verfall des Talentes, dem der Boden entzogen ward, begegnen könnte. Da fiel ihr Wien ein; Wien, die Stadt der Völkermischung. Und sie schrieb und bat und lobte an mächtige Freunde, bis der talentvolle Musiker in das Orchester der Hofoper gerufen wurde.

Dann atmete sie tief in Erlösung und es geschah, was sie vorausgesehen hatte. Dort, in der Weltstadt, wo über dem dumpfen Haß des unteren Volksgrundes die breite Schicht derer alle Stöße abschwächt, welche, oft selbst aus dem Völkergemisch entstanden, gleichmütig gegen die Zufälligkeit der Sprache und des Stammes sind, dort fand er, was ihn versöhnte.

Er riß sich aus der deutschen Erde wie Semljaritsch, und er ging fort wie dieser, aber viel weiter fort; in das unermeßliche Reich derer, welche keine Nation haben und dennoch eine stille Nation sind über den ganzen Erdboden hin.

Die, welche sich bis zu dem tiefen Gefühl neigten, Gäste und Wanderer zu sein für dreißig, fünfzig, siebzig sonnige oder trübe Jahre … was lohnt es, die Gaststätte wegen kleiner Ungleichheiten mit einem Kampf zu erschüttern, als ob dies ewige Dinge wären?

Glücklich wurde Bohnstock nicht, denn es war ihm allzuviel von der wunderschönen Ausstattung und Mitgift seines Glücks zerschlagen worden; – selbst den Becher, aus dem er sich seligsten Rausch getrunken, hatten sie ihm höhnend aus der Hand geschlagen: Sein Kunstwerk!

Aber auch unglücklich war er nicht. Er wurde es nicht, durch die Gnade des Wohllauts seiner Geige und seiner Seele. In leise schmerzlichem Vibrieren seiner Nerven lebte dieser feine, tiefgestörte Mensch dahin, außer wenn allabendlich die geliebten Akkorde Auflösung brachten.

An das Süßeste in seinem Leben, an die helle Erscheinung der Frau von Karminell dachte er in reiner Trauer. Sie hatte ihn aus dem Hades des Völkerhasses mit kühlen, schönen, milden Händen emporgehoben und ihm schweigend den Weg nach der Asphodeloswiese der Weltgäste gezeigt, auf der es nicht Jubel gibt, noch Trauer. Er kam sich wahrhaftig wie ein Abgeschiedener vor.

Was blieb ihm aber auch übrig trotz der Stadt der Lieder, in der er lebte, als stille Resignation?

Graz stand in seinem Herzen nur mehr als eine Erinnerung, welche wehtut.

Stadt und Frau, – er litt an ihnen, und sah sie dennoch niemals wieder.

O'Brien blieb, wie er bisher geblieben war. Reichblühend und beglückt durch hundert prächtige romantische Träume und Vorsätze, von denen er kaum einen jemals ausführte.

Auch Kaiser wurde er nicht.

Dagegen machte ihn das Alter nur noch wunderlicher und grilliger, weil er da auch immer noch wie eine arme, verdammte Seele nach dem poetischen Leben suchte.

So waren glücklich durch sich selber und aufmerksam auf jede wehende Stunde nur Wigram und Kantilener geblieben, beide mit der gleichen Erkenntnis innerer, ewig lernender Freiheit.

Nur, daß Wigram sich in sein Glück einschloß, Kantilener aber sich mitteilte. So gedieh Wigrams Leben zu trotzigem Ernst, Kantileners Leben zu quellender Heiterkeit und Menschenliebe.

Beide aber blieben beruhigt und ohne Störung von der Menschenwirrnis durch die Gunst einer Stadt, so naturverloren, so still, so aufhorchend und doch voll leiser Eindringlichkeit wie keine zweite.

Sie, die Grüne, die Baumrauschende, die vor allen großen Städten Naturbeseelte, blieb ihnen Göttin, Geliebte und Kind. Sie ist auch die Heldin dieser Geschichte ohne Helden gewesen, von der jedes Blatt ein Votivgeschenk der Erinnerung und des Heimwehs nach ihr ist.

 


 << zurück