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Dritter Teil

»Seine Exzellenz ist willkommen,« sagte der Konferenzrat, und seine Zunge lag fest in seinem Munde.

 

»Ich bin es,« sagte Seine Exzellenz und ging weiter ins Zimmer hinein.

»Ich sehe es,« sagte der Konferenzrat, der das gesunde Auge nicht vom Gesicht der Exzellenz entfernte, »du kommst wieder.«

Seine Exzellenz hatte die eine Hand geballt.

»Es eilt,« sagte er, »ich werde Geld brauchen.«

Der Konferenzrat schwieg, das Auge beständig auf ihn gerichtet.

»Ich muß verkaufen,« sagte Seine Exzellenz, und während er plötzlich den Kopf dem Gesicht des Konferenzrats zuwandte, dessen eines Auge fortwährend auf ihm ruhte, als wolle es die Schweißtropfen auf der Stirn der Exzellenz zählen, sagte er, und das Wasser sprang aus jeder Pore seines Leibes hervor, »denn es sind wohl Papiere vorhanden?«

Der Konferenzrat ließ die Worte verhallen.

»Wann willst du verkaufen?« sagte er.

»Sofort,« sagte Seine Exzellenz und hob, ohne es zu wissen, die linke Hand, um sich den Schweiß von den Schläfen zu trocknen.

»Heute?« sagte der Konferenzrat und rührte sich nicht.

Beim Klang seiner Stimme reckte Seine Exzellenz plötzlich den ganzen Körper, und die großen Adern auf seiner Stirn schwollen in einer riesenmäßigen Anspannung, und er sagte sehr schroff:

»Es sind also verkäufliche Papiere vorhanden?«

Seine Zunge hatte eine Sekunde vor dem Worte »verkäuflich« gestockt, doch seine Stimme klang wie immer: »Dann mußt du verkaufen,« sagte er.

»Für wieviel?«

Seine Exzellenz schwieg einen Augenblick.

»Für dreißigtausend,« sagte er und bewegte den Kopf.

Man hörte das Ticken der Uhr. Der Konferenzrat antwortete nicht, und Seine Exzellenz sagte, ohne ihn anzusehen: »Du mußt verstehen, es ist notwendig.«

Der Konferenzrat hob den rechten, gesunden Arm. »Dreißigtausend, das ist viel Geld,« sagte er, und mit einem Versuch zu lachen – es klang wie Vogelgekreisch – setzte er hinzu:

»Die Genies feilschen nicht.«

Seine Exzellenz hob den Kopf und ließ die blauweiße geballte Hand auf den mächtigen Tisch niederfallen.

»Glud,« rief er, und der Tisch erbebte unter dem Schlag der Hand, »gehört das Geld mir – – – oder nicht?«

Der Konferenzrat sah Seiner Exzellenz scharf ins Gesicht, und selbst das tote, hängende Auge schien für eine Sekunde ein wenig Glanz zu bekommen und sehen zu können, während seine Stimme plötzlich, vielleicht zum letztenmal, den Klang wiederbekam, dessen Hohn eines Tages, als die Banken wankten, einen Sturm auf seine Firma abgewehrt hatte, und er sagte:

»Du weißt doch, daß es dir gehört.«

Der Kopf der Exzellenz fiel auf die Brust herab.

Seine Lippen waren so weiß wie sein Bart.

»Und« – der Konferenzrat erhob sich fast in einem übermächtigen Triumphgefühl – »es kann sofort ausbezahlt werden.«

Er streckte die gesunde Hand nach einer Glocke auf dem Tisch aus, zog sie aber wieder zurück:

»Nein,« sagte er, und vielleicht wußte er selbst nicht einmal, ob er aus Mitleid handelte oder aus Grausamkeit, »nimm die Schlüssel selbst.«

Das Schlüsselbund fiel aus seiner gesunden Rechten in die Hand Seiner Exzellenz, die nur halb geöffnet war: »Da ist der Schlüssel zum Geldschrank. Das Scheckbuch liegt im Fach links.«

Die Hände Seiner Exzellenz waren so kalt wie das Eisen, das sie umfaßten, während er die Schranktür öffnete. Aber er fand sich zurecht in den Fächern, als hätten auch seine Hände Tag für Tag hier zu tun gehabt.

»Da,« sagte er und legte das Scheckbuch auf den Tisch.

Man hörte das Kratzen der Feder, während der Konferenzrat schrieb.

»Da,« sagte er und schob die Anweisung fort. »Willst du quittieren?«

Das Auge des Konferenzrats betrachtete die Exzellenz, während dieser auf dem vorgelegten Blatte schrieb.

»Danke,« sagte Seine Exzellenz und hob das Gesicht. Aber der Konferenzrat sah wohl die halb vorgestreckte Hand der Exzellenz nicht. Er betrachtete die Quittung, und ein Jucken wie eine Grimasse glitt über sein gelähmtes Gesicht.

»Deine Schrift ist so leicht nachzuahmen in letzter Zeit,« sagte er zu Seiner Exzellenz, der sich erhoben hatte, »willst du dein Siegel daruntersetzen?«

Ein Strom von Blut hatte sich über das Gesicht Seiner Exzellenz ergossen, aber er sagte nur ein Ja, das wie ein Stöhnen klang:

»Siegellack liegt im Schrank,« sagte der Konferenzrat, und sein Auge folgte unablässig Seiner Exzellenz, wie er den Lack aus dem Schrank holte und ein Licht anzünden und hintragen und den mächtigen Siegelring abziehen mußte, in dessen großem Edelstein das Wappen der Hvides eingraviert war.

Seine Exzellenz hielt den Lack etwas zu lange ins Licht, so daß zuviel Lack aufquoll – wie der erste Striemen Blut, der aus einer Wunde rinnt.

»Es ist gut,« sagte der Konferenzrat und betrachtete das Siegel.

Seine Exzellenz hatte den Ring wieder am Finger.

»Adieu,« sagte er.

»Adieu.«

Seine Exzellenz war draußen.

Der Konferenzrat schlug zweimal auf die Glocke auf seinem Tisch, und Herr Hansen kam zu der kleinen Paneeltür herein.

»Räumen Sie auf,« sagte er.

Herr Hansen schloß den Geldschrank, löschte das Licht und setzte es fort.

»Holen Sie die Mappe,« sagte der Konferenzrat.

Herr Hansen ging und brachte die Hvidesche Mappe.

»Öffnen Sie sie.«

Herr Hansen tat es.

»Danke.«

Der Konferenzrat nahm die Verschreibung Seiner Exzellenz und legte sie zuoberst auf den großen Haufen.

»Es ist gut,« sagte er und machte selbst zu.

Als Herr Hansen die Mappe nahm, hob der Konferenzrat sein Auge zu seinem Schreiber auf.

»Jetzt sollten Sie Ihre Forderungen eintreiben,« sagte er, »es ist Zeit.«

Herr Hansen bewegte bestürzt die bleichen Hände.

»Aber,« sagte der Konferenzrat, »Sie haben ja Pfänder.«

Herr Hansen antwortete nicht.

»Was haben Sie noch außer der Brosche des Kaisers?«

»Schmuck, Herr Konferenzrat.«

Der Konferenzrat wandte den Blick nicht von ihm ab.

»Was für Schmuck?« fragte er.

»Eine Brillantschnur.«

Der Konferenzrat wandte sein Auge ab.

»Geld ist besser,« sagte er, »solche Steine können im Wert sinken.«

»Ja, Herr Konferenzrat.«

Der Konferenzrat drehte den Kopf.

»Den Schirm,« sagte er.

Herr Hansen setzte den Schirm auf die Lampe.

»Sie können gehen.«

Die große Tür ging auf. Es war die Hofjägermeisterin, die eintrat und mitten im Zimmer stand.

»Was ist hier vorgegangen?«

Stechend blickte das Auge des Konferenzrats zu ihr hinüber.

»Was sollte hier vorgehen?« fragte er, und die Stimme wurde plötzlich wieder ganz dick im Munde.

»Wie du willst,« sagte die Tochter. »Aber dies muß ein Ende haben. Und« – die Hofjägermeisterin sah dem Vater ins Gesicht – »wir brauchen die Hvides nicht mehr.«

Der Konferenzrat antwortete nicht.

Die Hofjägermeisterin legte ihm die Kissen in den Rücken, und sie bemerkte, wie sein Körper zitterte.

»Und du solltest dich schonen,« sagte sie und setzte hinzu: »Der Alte sagte heute selber, du vertrügst keine Gemütsbewegungen.«

Der Konferenzrat hob das eine Auge.

»Hast du ihn vielleicht deshalb hereingelassen?« sagte er. »Überlaß mir das Meine.«

Die Hofjägermeisterin lächelte, während sie ihm das Plaid um die Beine legte, mit einem Lächeln, das der Konferenzrat nicht sah.

»Das werde ich tun,« sagte sie und ging.

Der Konferenzrat saß allein vor seinem leeren Tisch. Das entstellte Haupt fiel plötzlich halb vornüber, als habe es seine Stütze verloren.

 

Als der Vater den Wagen Seiner Exzellenz heimkehren hörte, ging er selbst an die Tür ins Portal hinunter:

»Wie spät du kommst.«

»Die Pferde sind schuld,« sagte Seine Exzellenz, »der Mann fährt wie in einem Leichenzug.«

»Was ist mit den Pferden?« fragte der Vater heftig zu Johann hinauf, während Seine Exzellenz anfing, die Treppe emporzusteigen.

»Der Gaul will nicht mehr,« sagte Johann störrisch.

»Will nicht?« sagte der Vater rot vor Zorn, »das muß ein Ende haben.«

»Ja, das nimmt es auch,« sagte Johann wie vorher.

Der Vater folgte Seiner Exzellenz.

»Klingle, bitte, nach Georg,« sagte die Exzellenz, »ich muß mich umziehen.«

»Ja,« sagte der Vater und ging hinauf in sein Zimmer.

Die Mutter saß noch auf dem Stuhl vor ihrem Spiegel, während sie den Vater hin und her gehen und sich umkleiden hörte. Seit die Gesellschaftsdame gegangen war, hatte sie sich nicht gerührt. Nur hier und da öffnete sie die Augen und schloß sie wieder. Der Vater klopfte an ihre Tür.

»Ja, herein,« sagte sie.

Der Vater trat ein, im Frack und in ranker Haltung.

»Wollen wir hinuntergehn?« sagte er.

Die Mutter blieb auf ihrem Stuhl sitzen.

»Ich habe so viel nachgedacht heute,« sagte sie und ließ die gefalteten Hände auf den Tisch niedergleiten.

»Worüber?« sagte der Vater.

Die Lippen der Mutter zitterten einen Augenblick, und um ihren Mund kam ein Zug zum Vorschein, wie er oft bei Gefangenen zu sehen ist.

»Ich,« sagte sie, »habe viele Jahre lang nur an eins gedacht.«

Sie schwieg einen Augenblick.

»Und jetzt habe ich es zu Ende gedacht.«

Sie bewegte die beiden schönen Hände.

»Darum möchte ich gern mit dir sprechen.«

Der Vater hatte in dem Halbdunkel, in dem er stand, eine Bewegung mit der Hand gemacht.

»Du meinst, warum von Dingen sprechen, die so ganz vorbei und so lange her sind? Aber ich muß sprechen, Fritz« – und sie wandte ihm das bleiche Gesicht zu – »um mich zu verteidigen.«

»Dich zu verteidigen?«

»Ja, Fritz.«

Sie wandte das Gesicht wieder, und sie sprach halblaut und langsam, wie jemand, der seine Gedanken unwiderruflich geformt hat.

»Ich weiß jetzt, ich habe dir viel unrecht getan. Du bist nicht dafür geschaffen, Menschen gern zu haben. Es ist dir gegeben, einen Menschen zu lieben – und trotzdem hast du mich unendlich gern gehabt. Aber für den, der liebt, ist es so schwer, neben dem herzugehen, der nur gern hat. Darum konnte ich nicht einmal deine Güte entgegennehmen.«

Der Vater machte einen Schritt.

»Und noch eins. Die Menschen, Fritz, wenden die mitleidigen Augen immer dem zu, der am tiefsten gebeugt wird, wenn auch niemand weiß, wer von zwei Menschen am meisten gelitten hat.«

Sie hob ihr Gesicht.

»Ich bin selbstsüchtig gewesen, ich weiß es jetzt,« sagte sie, und es war, als spräche sie zu jemandem über sich, »aber ich werde es nicht länger sein, und die höchste Kraft deines Lebens soll nicht mehr brachliegen.«

Der Vater stand im Dunkeln.

»Was, willst du, soll ich dir antworten?«

Die Mutter schüttelte den Kopf.

»Du sollst mir nicht antworten,« sagte sie, »ich habe nicht gesprochen, um eine Antwort zu bekommen, sondern um gesprochen zu haben.«

Einen Augenblick war es still. Unmerklich preßte sie die schönen Hände auf dem Tisch, wo sie lagen, gegeneinander.

»Und jetzt,« sagte sie, »werden wir nie mehr miteinander reden – nicht einmal an dem Tage, wo wir sterben.«

Der Vater stand einen Augenblick da. Dann sagte er: »Und warum hast du gerade heute gesprochen?«

»Warum?«

Die Mutter führte die Hand an die Augen und ließ sie wieder sinken.

»Die großen Entschlüsse, Fritz, sind wohl immer die Frucht von langem Nachdenken und von Kleinigkeiten.«

Das Gesicht des Vaters zitterte.

»Und du?« sagte er, und seine Stimme war kaum vernehmbar, »kannst du nie froh werden?«

Die Mutter wandte ihm flüchtig das schöne Gesicht zu.

»Hättest du mich geliebt, wenn ich es könnte?« sagte sie.

Und der Vater ging.

Die Mutter erhob sich. Die Tränen wollten aus ihren Augen hervorbrechen. Aber sie bezwang sie. Und während sie ihre beiden Hände an dem schwarzen Seidenkleide hinabgleiten ließ, reckte sie den Körper wie unter einer Rüstung. Dann klopfte sie an die Tür des Vaters.

»Wollen wir hinuntergehen?« sagte sie.

... Ihre Gnaden war angekleidet.

Die Gesellschaftsdame befestigte vor dem Spiegel im Haar Ihrer Gnaden einen Schmuck aus oxydierten Silberblüten.

An die eine der Türen klopfte es.

»Wer ist da?« rief Ihre Gnaden und hatte schon den Jägermeister, ihren Sohn, die Tür öffnen sehen.

»Ich bin's,« sagte er.

»Sie können gehen,« sagte sie zu der Gesellschaftsdame, »lassen Sie anzünden.«

Ihre Gnaden beugte sich zu dem Jägermeister nieder, der bereits schluchzend in einen Stuhl gefallen war.

»Mein unglücklicher Junge,« sagte sie, »mein unglücklicher Junge, was hat er dir getan?«

Ihre Gnaden strich mit den Händen über sein Haar und über seinen Hals.

»Was ist geschehen? Was ist denn nur geschehen?«

Der Jägermeister schluchzte immer noch.

»Ich kann es nicht sagen.«

»Aber es ist in Ordnung?« fragte Ihre Gnaden und preßte die Hände zusammen.

»Ja,« sagte der Jägermeister und hob das Gesicht, während der gebückte Leib wieder zusammenfiel, »es ist in Ordnung.«

»Gott sei gelobt,« sagte Ihre Gnaden, und ihre Arme fielen über die Seitenlehnen des Stuhles herab.

»Aber wir müssen wohl hinein,« sagte der Jägermeister und stand auf. Seine Augen sahen noch ganz irr drein.

»Ja,« sagte Ihre Gnaden, »wasch dein Gesicht.«

Ihre Hände zitterten, während sie die Eau de Cologne in das große Waschbecken goß.

»So,« sagte sie, und der Jägermeister fuhr mit dem eingetauchten Handtuch über sein Gesicht hin.

»Leih es mir,« sagte sie, und sie führte das feuchte Tuch einen Augenblick an die eigenen Augenlider.

»So,« sagte sie, »gib mir deinen Arm.«

Sie gingen hinein. In allen Zimmern brannten schon die Kronleuchter.

»Sind die Blumen arrangiert?« fragte Ihre Gnaden den schlanken Diener, der sich in seinem schwarzen Festanzug mit der Hvideschen Schulterschleife verbeugte.

»Ja, Eure Gnaden.«

»Schön.

So öffnen Sie,« sagte Ihre Gnaden und nahm Platz.

»Ja, Eure Gnaden.«

Der Diener ging.

»Hast du ihn jetzt gesehen?« fragte Ihre Gnaden.

»Nein.«

»Dann bleib hier,« sagte Ihre Gnaden, und beide warteten unter den brennenden Kerzen.

Die Mutter war zu Seiner Exzellenz hineingegangen, auf dessen Brust Georg soeben das Großkreuz befestigte.

Als der Diener gegangen war, sagte die Mutter lächelnd:

»Wie fein du sein wirst!«

»Ja, wir putzen uns wohl alle.«

Die Mutter sah auf die Etuis mit all den Orden der Exzellenz, die noch auf dem Schreibtisch standen.

»Es sind viele,« sagte sie.

»Ja,« sagte Seine Exzellenz und warf die Etuis in eine Schublade, »sie sind gut gewesen fürs Geschäft.«

Als die Mutter die Tür zu den Wohnzimmern öffnete, rief Seine Exzellenz:

»Ist Hans da?«

»Ja,« erwiderte der Jägermeister.

»Komm hier herein.«

Der Jägermeister durchschritt das Zimmer, während Ihre Gnaden ihm mit den Augen folgte.

»Da,« sagte seine Exzellenz, der am Schreibtisch stand, und reichte ihm die Anweisung, als sei es ein Rezept für ein paar Hustentropfen.

Dem Jägermeister war der Schweiß auf die Stirn getreten.

»Danke,« sagte er und ging.

Der schlanke Diener meldete die Geheimrätin Rappe, die eine tiefe Stimme hatte wie eine Mannsperson und sehr um Entschuldigung bat, weil sie ihren Seidenpudel mitbrächte.

»Aber ich wage bei Gott nicht, das Viehchen mit den Dienstboten allein zu lassen.«

Alle versammelten sich um das kleine Tier, das im Schoß der Geheimrätin seinen Platz fand.

»Das Tier ist krank,« sagte die Geheimrätin, es darf nichts anderes bekommen als Portwein und Chinin.«

Alle lachten, während die Geheimrätin zu Seiner Exzellenz, der gerade eintrat, sagte: »Guten Abend, alte Exzellenz, wie geht es mit Ihren Steinschmerzen?«

»Guten Abend, Augusta,« sagte er und schob die Brust vor, als werfe er eine Bürde von sich, »es tut wohl, einen Menschen zu sehen.«

»Aber Großpapa,« sagte die Mutter, »wofür rechnest du uns denn?«

»Offen gestanden,« sagte die Exzellenz, »ich weiß es nicht. Ihr gehört ja zur Familie.«

Der Diener meldete die Baronin und den Baron Rosenkrands, einen jungen Beamten im Ministerium des Äußern, einen Verwandten des Grafen Eck. Der Baron war mit seiner Gemahlin soeben aus Italien heimgekehrt, und Ihre Gnaden fragte die Baronin, die in Gelb und ausgeschnitten erschien, nach bekannten Gegenden und Städten, während die Baronin sagte, daß sie von allen Orten Florenz den Vorzug gebe.

»Uf, nein,« sagte sie, »Rom kann ich nicht ausstehn. Man fühlt sich so winzig, mitten in all dem.«

Seine Exzellenz sagte:

»Wie groß willst du sein?«

»Lieber Onkel Hvide, man mag doch am liebsten das Gefühl haben, als sei man von gewöhnlicher Größe.«

»Ich liebe nun Rom,« sagte die Geheimrätin mit ihrer tiefen Stimme, »ich liebe es, da unten umherzugehn und zu stöbern. Man lernt so gut einsehen, daß die von früher mindestens ebenso klug waren wie wir. Ja, Rom und meine Berge, die darf mir keiner schlecht machen. Aber,« sagte sie und versetzte dem Pudel einen kleinen Schlag, »Rom ist für die, die angefangen haben, den Schnabel nach unten zu kehren. Werde alt, Lydia, so wirst du schon dein Rom verstehen.«

Ihre Gnaden fand, nichts sei so schön wie die Messe im Vatikan.

Drüben an den Fenstern sagte Baron Rosenkrands, während die Marschallin eintrat, zu dem Jägermeister, es sei wunderbar schön in Neapel.

»Ja, es ist so lange her, daß ich da war,« sagte der Jägermeister und entfernte sich, um ins Speisezimmer zu gehen, wo er sich von dem schlanken Diener hastig ein Glas Madeira einschenken ließ, als die Tür zum Flur aufging und der junge Fritz eintrat.

»Bist du es,« sagte der Jägermeister und setzte das Glas hin.

»Ja, Papa,« sagte der junge Mann, der die Augen nicht von dem leeren Glase ließ.

»Warum gehst du nicht hinein?« sagte der Jägermeister.

»Ich gehe, Papa,« sagte der junge Mann und ging nicht, bis der Jägermeister vorangegangen war.

Der schlanke Diener hatte die blanken Augen zu seinem Herrn erhoben.

Alle im Wohnzimmer hatten die Marschallin begrüßt, während der Vater anfing, mit der Tischordnung umherzugehn, und es entstand ein erneuter Aufruhr, als Graf Eck eintrat, in Begleitung von Professor Berger.

»Guten Abend, Adam,« sagte Seine Exzellenz und ging dem Grafen Adam mit einem Handschlag entgegen, »nett, daß du gekommen bist.

Wie geht es mit der Gicht?«

»Sie ist ja nicht so schlimm, daß ich nicht reisen könnte,« sagte Graf Eck, der die kleine, zierliche Figur vor Ihrer Gnaden verneigte.

»Ich bin immer traurig, wenn Eck fortreist,« sagte die Geheimrätin mit ihrem Baß.

»Sehr liebenswürdig, Augusta.«

»Wir sind sowieso so wenige Menschen hier im Lande,« sagte sie.

»Zwei Millionen, Tante,« sagte Baron Rosenkrands.

»Was für welche?« sagte die Geheimrätin, während der Baron und die Mutter anfingen zu lachen, und die Marschallin, deren über den Boden schleifende Wiener Robe von der Baronin gemustert wurde, ging zu Professor Berger hin und wandte ihr Gesicht einem Leuchter zu.

»Was hat denn die Zeit aus Ihnen gemacht?« sagte sie.

»Ja, was?« sagte der Professor, ein Jugendfreund der Marschallin von der Zeit her, als er Amanuensis bei Seiner Exzellenz war.

»Hm,« sagte die Marschallin und ließ seine Schulter los, »Sie sehen aus, Berger, als seien Sie traurig aus Überzeugung ... was sagst du, Onkel Hvide?«

Seine Exzellenz, der unablässig seine Augen auf Ihre Gnaden gerichtet hatte, die sehr aufrecht mit den Silberblumen im Haar in ihrem Sessel saß, sagte:

»Er sieht aus, wie ein Mensch aussehen muß;« und Seine Exzellenz wandte sich zum Vater:

»Wollen wir essen?«

»Ja, wir warten nur auf Schulins,« sagte der Vater, als Schulins gerade kamen und die Gräfin sofort in der Tür sagte:

»Liebe Freunde, entschuldigen Sie, daß wir so spät kommen. Aber wir sind bei Brahes vorbeigefahren.«

Und zwei, drei Münder fragten zugleich nach Baronesse Emmely, während die Geheimrätin, alle andern übertäubend, zu Seiner Exzellenz hinüberrief:

»Ja, wie geht's ihr, alte Exzellenz?«

»Es ist noch nicht nach mir geschickt worden,« sagte Seine Exzellenz und sprach, während alle einen Moment schwiegen, ungefähr so laut, als hätte ein Glas geklirrt, bis die Marschallin ein paar Worte ins Leere sagte und Seine Exzellenz in die Hände schlug, da die Türen geöffnet wurden.

»Wollen wir nun zu Tisch gehen,« sagte er und führte, wie es bei Hvides Sitte war, die Mutter ins Speisezimmer.

Alle standen auf, während die Herren ihre Damen suchten, und die Geheimrätin sagte zu Graf Eck:

»Wir beide, Adam;« und überlieferte dem jungen Herrn Fritz den Pudel, der im Speisezimmer auf einem Teppich untergebracht werden sollte.

Die Marschallin lachte dem kläffenden Vieh zu. Aber die Geheimrätin drehte sich nach der Baronin Rosenkrands um, die mit Professor Berger hinter ihr herging, und sagte, indem sie den Ausschnitt der Baronin betrachtete:

»Was du zeigst, ist niedlich, Lydia. Aber ich hoffe, du packst dich gut ein, wenn du nach Hause fährst.«

Graf Eck und der Professor lachten, während alle ins Speisezimmer kamen – Ihre Gnaden mit dem Jägermeister als letztes Paar –, und es wurde mit den Stühlen gescharrt um den breiten Tisch herum, bis Ihre Gnaden Platz genommen hatte und alle sich setzten, während Georg die Suppe herumreichte und der schlanke Diener sich hinter der Mutter verneigte:

»Sherry oder Madeira?«

»Ach, die alten, schönen Sachen,« sagte die Marschallin und sah über den Tisch hin, während sie ein Glas von dem mit Aufsätzen besäten Tisch nahm und es im Licht glänzen ließ.

»Wie gut man sie kennt,« sagte sie.

»Ja, sie sind schön,« sagte die Geheimrätin.

Alle sprachen von den Gläsern.

»Ja,« sagte die Mutter zu Graf Schulin, der links von ihr saß, »sie wurden vom Großvater meines Schwiegervaters gekauft ... sie sollen sich von der Regentschaft herschreiben ...«

Die Marschallin, die noch immer mit dem Glase in der Hand dasaß, sagte zur Exzellenz hinüber:

»Ich entsinne mich der Gläser noch aus meiner Kindheit, Onkel Hvide.«

Seine Exzellenz, der wohl ihre Worte nicht gehört hatte, sagte:

»Ja, sie sind noch hier;« während plötzlich ein Zucken über das Gesicht des Jägermeisters ging und der schlanke Diener, der jetzt hinter dem Stuhl des jungen Fritz Hvide stand, die blanken Augen zum Gesicht seines Herrn aufschlug:

»Sherry oder Madeira?«

»Und nur meine Lieblingsblumen auf dem Tisch,« sagte Graf Eck und neigte den kleinen, vornehmen Kopf vor Ihrer Gnaden.

Er hatte eine der tausend Stiefmütterchen vom Tisch im Knopfloch befestigt, in dem die Rosette fehlte. Er trug wie seine Exzellenz nur das Großkreuz.

Ihre Gnaden sagte: »Hvide denkt plötzlich immer an all diese Dinge.«

»Ja,« sagte Graf Eck, »das ist eins von seinen Talenten.«

Seine Exzellenz, der es gehört hatte wie alles, wovon Ihre Gnaden sprach, sagte:

»Ein Talent? ... Der Tag ist lang, guter Adam; derlei Dinge sitzen irgendwo und melden sich, wenn es Zeit ist.«

»Ob sie nicht im Herzen sitzen, Großpapa?« sagte die Mutter, die sich ein Bukett von den Stiefmütterchen, die auf dem Tuch verstreut lagen, gesammelt und an ihrer Brust befestigt hatte.

»Davon bin ich nicht überzeugt,« antwortete Seine Exzellenz.

»Es ist eine traurige Blume,« sagte Graf Schulin und betrachtete das Brustbukett der Mutter. Die Mutter schwieg einen Augenblick und strich mit der Hand über die Stiefmütterchen.

»Das ist für die Erinnerung, Schulin,« sagte sie, etwas leiser; »wissen Sie nicht, Ophelia sagt es.«

Der Graf nahm einen Mundvoll Fisch.

»So?« sagte er, »es ist so lange her, seit das Stück gespielt wurde.«

»Gott sei Dank,« sagte Seine Exzellenz, »all die Verstümmelungen der Gaukler müßten verboten werden.«

Oben am Tischende Seiner Exzellenz lachte man, während die Mutter sagte:

»Großpapas Haß gegen das Theater ist ohnegleichen.«

Die Geheimrätin sagte:

»Er hat recht. Man hätte niemals Blaataarn niederreißen sollen.«

Aber die Exzellenz sagte:

»Mögen sie mit den übrigen Affen ihre Affereien treiben, soviel sie wollen. Aber von den großen Gedanken sollten sie lieber die Finger lassen und sie nicht mit ihren dicken, dummen Zungen verfälschen. Hätte ein einziger von ihnen Hamlet verstanden, er würde nie wagen, ihn zu spielen, aus Furcht vor den faulen Äpfeln. Goethe war klüger. Er schrieb seine Schauspiele so, daß keiner sie spielen mag.«

»Aber liest sie jemand?« fragte Graf Eck.

»Ja, Adam,« sagte die Exzellenz, »seine Anverwandten, und die werden nicht so schnell aussterben.«

Die Gräfin sagte, sie habe einmal während eines Aufenthaltes in London Booth gesehen; und die Baronin Rosenkrands, der die Konversation ziemliche Mühe machte, griff das Wort London auf, um Professor Berger wieder von ihrer Reise zu erzählen.

Die Baronin blieb dabei stehen, daß Rom wirklich zuviel sei.

»Was ist zuviel?« sagte der Professor und lächelte.

»Uh ja,« sagte die Baronin, während das Reden über Reisen plötzlich weitere Kreise zog und man ringsumher über halb Europa sprach, »so wie Michelangelo ... – Das ist doch zuviel ... Und dann sind's ein paar Verrenkungen,« schloß die Baronin ihre Ansichten über Michelangelo.

»Verrenkungen,« sagte plötzlich Seine Exzellenz, »das ist richtig, Lydia. Das wollte der Mann. Er kannte die Ketten der Menschen und wußte, wo sie geknüpft waren.«

Das Gesicht Ihrer Gnaden wurde bei den Worten Seiner Exzellenz steif wie eine Maske; doch sie bog hastig den Kopf nieder und sagte – am Tischende Ihrer Gnaden war aus dem Gespräch über Reisen eine Konversation über den Katholizismus geworden –:

»Ich finde doch immer, die Katholiken können ihr Haupt so ruhig hinlegen.«

Professor Berger hob den Kopf von seinem Teller.

»Wenn sie sich erst zum Hinlegen gezwungen haben. Eure Gnaden,« sagte er.

»Man erzieht sie vielleicht dazu, Professor,« sagte Graf Eck.

Gräfin Schulin ging vom Katholizismus zu ihrem eigenen Gutspfarrer über, der neu im Amte war.

»Denken Sie,« sagte die Gräfin, »er ist einer von denen, die mit der Pfeife im Munde und im Schlapphut zur Kirche kommen. Ich höre ihn natürlich nie,« sagte sie, »aber jetzt entgehen wir wohl auch der Volkshochschule und dergleichen Dingen nicht.«

Allgemein begann man vom Grundtvigianismus zu reden.

»Na,« sagte die Geheimrätin, »die Grundtvigianer sind nicht die schlimmsten. Sie singen so lange, bis sie starke Lungen bekommen. Diese Leute wagen es, hol's der Teufel, ihrem Herrgott in die Augen zu sehen.«

Die Marschallin ließ die Hände auf den Tisch sinken und sagte:

»Tante Augusta flucht noch immer.«

»Ja, mein Kind,« sagte die Geheimrätin, »und das werde ich tun, solange ich lebe.«

Seine Exzellenz, der aus seinem Glase Wasser trank, sagte im Gedanken an den Grundtvigianismus:

»Ja, mein Herr Halbvetter war verrückt, aber er hatte seine lichten Augenblicke: er machte die ›Sünde‹ zur Freude und die Freude zu einem Sakrament. Er ließ den Himmel die Erde überspannen – und das ist schwierig.«

Der Jägermeister, der über seine geleerten Gläser wegsah, sagte halblaut:

»Papa wird schließlich der einzige Kluge im Lande sein.«

Die Geheimrätin, die die Konversation über Reisen wiederaufnahm, sprach von den Karpathen und sagte zu Frau Harriette:

»Du bist wohl auch da gewesen?«

»Nein, Tante Augusta, ich habe nicht die Beine dafür;« während Gräfin Schulin lachend sagte:

»Mit der Geheimrätin haben sich zehn Gesellschaftsdamen die Seele aus dem Leibe gelaufen. Und was wollen Sie eigentlich da oben, Geheimrätin?«

Das Gesicht der Geheimrätin änderte den Ausdruck, und sie sagte:

»Kommt man ein bißchen hoch hinauf, so ist man allein, Beste. Und die Welt, die bekommt auch ein andres Gesicht.«

»Was für eins?« fragte die Marschallin über den Tisch herüber.

»Ein größeres.«

Und vielleicht, um sich selbst zu unterbrechen, sagte die Geheimrätin plötzlich zu dem jungen Fritz Hvide:

»Ach, Fritz, willst du für das Tier sorgen. Es ist Zeit, daß es seine Arznei bekommt.«

Herr Fritz erhob sich, und während alle lachten, goß er ein Viertel von einem Glase Portwein auf eine Untertasse und setzte sie dem Vieh vor, das auf einem Teppich vor dem Ofen plaziert war.

»Ein Viertel, ein Viertel,« rief die Geheimrätin, und während alle noch lachten, sagte sie:

»Aber man hat es doch hübsch, so unter Freunden.«

»Ja,« sagte die Marschallin und sah im Fluge den Vater an, dessen Augen vor Festesglanz und Licht leuchteten.

»Auf die Zeiten, die gewesen sind,« sagte sie und stieß plötzlich mit dem Vater an, während ihr Gesicht einen Augenblick so bleich wurde wie die Perlen an ihrem Halse.

»Freunde,« sagte die Exzellenz, »glaubst du das wirklich, Augusta?«

»Ja.«

Seine Exzellenz lachte, aber Graf Eck sagte mit seiner sanftmütigen Stimme:

»Bevor wir angefangen haben zu leben, und wenn wir einmal damit aufgehört haben, dann, glaube ich, haben wir Zeit, Freunde zu haben.«

»Glückliche Leute können Freunde haben,« sagte Ihre Gnaden, die vor sich hinstarrte.

»Und die unglücklichen?«

»Haben ihre Leiden,« sagte Ihre Gnaden und senkte den Kopf, während der Jägermeister sie ansah.

»Mama,« sagte er ganz leise und stieß mit ihr an.

»Ich,« sagte die Exzellenz, »Adam, habe von den Pferden, die an derselben Last ziehen, gehört, daß sie zuzeiten einander belecken. Andere Freundschaft habe ich nie gesehn.«

Graf Schulin fing an zu lachen, daß seine Serviette zitterte, während die Geheimrätin sagte:

»Ja, Sie sind unmöglich, alte Exzellenz,« und der Vater der auch lachte, sagte:

»Man sollte nicht glauben, daß Papa nur Wasser trinkt.«

»Gerade,« sagte Seine Exzellenz und führte das mächtige Kristallglas mit dem mecklenburgischen Wappen und der alten wendischen Krone, ein Andenken von Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Mariane, zum Munde, »darum bin ich nüchtern.«

Und indem er den Blick den Tisch hinabschweifen ließ, sagte er:

»Der Jägermeister trinkt für mich.«

In der Stille, die eine halbe Minute lang folgte, hörte man, während das Gesicht Ihrer Gnaden graubleich geworden war, den Baron Rosenkrands, der vom türkischen Kriege sprach, sagen:

»Ja, Onkel Eck, es ist Tatsache, der Sultan wollte neulich wirklich reisen, aber er blieb, da alle Haremsdamen zu schreien anfingen.«

Ihre Gnaden hatte unter dem Tisch die Hand des Jägermeisters ergriffen, die heiß war wie Feuer, während die Baronin Rosenkrands, die die Brust über den Tisch vorschob, sagte:

»Gott, es muß doch eine fürchterliche Eifersucht in so einem Harem herrschen.«

»Die dummen Frauenzimmer,« sagte die Geheimrätin.

Der Diener schenkte Champagner ein, und auf einmal fingen sie alle an, über Eifersucht zu reden und über eine Kusine der Baronin Rosenkrands, die vor acht Tagen ihrem Mann fortgelaufen war.

»Aber warum ist sie davongelaufen?« sagte Frau Schulin und legte ihren Fächer auf den Tisch. Die Baronin wußte es nicht, und jeder gab seinen Grund hinzu.

»Ich meine,« sagte die Geheimrätin, »es ist ganz einfach. Ich könnte mir auch nichts Fürchterlicheres denken, Lydia, als von einem Manne geliebt zu werden, den ich nicht liebte.«

Gräfin Schulin brach in ein schallendes Lachen aus, während auf den Wangen Ihrer Gnaden zwei rote Flecke zum Vorschein kamen und die Mutter halbleise zu Seiner Exzellenz sagte:

»Bist du müde?«

Aber die Marschallin rief, während alle durcheinanderredeten, durch den Lärm hinein der Mutter zu:

»Stella, bist du nie eifersüchtig gewesen?«

»Eifersüchtig?« sagte die Mutter: »Nein. Um eifersüchtig zu sein, meine ich, müßte man sich mit den andern vergleichen.«

Die Marschallin lachte wieder:

»Und das ist dir nie eingefallen?«

Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Mutter.

»Nein, nie,« sagte sie.

Die Marschallin sah noch einen Augenblick in das schöne Gesicht der Mutter. Dann sagte sie zu dem Vater:

»Stella ist wunderbar.«

»Ja,« sagte der Vater, während seine Mundwinkel ein ganz klein wenig zitterten.

Seine Exzellenz hatte sich wieder in seinem Stuhl aufgerichtet und hatte die Mutter betrachtet, als er plötzlich leise oder eher stöhnend, mit einer Stimme, die sie nicht kannte, und mit einem Blick in den Augen, den sie noch nie gesehen hatte, sagte:

»Du bist also doch glücklich?«

»Großpapa,« sagte sie und fand nicht mehr Worte, während sie ihm in die Augen starrte – es war, als hätte ihr ein einziger Blitz tausend Dinge erhellt.

Ihre Hände sanken auf den Tisch. Doch Seine Exzellenz hatte sein Gesicht abgewandt. Rings am Tisch lachten und schwatzten sie, während die Marschallin, die im Gespräch zurückgriff, zu dem Vater sagte:

»Ich bin übrigens im Harem gewesen.«

»Ich auch,« sagte die Geheimrätin und entfaltete einen großen Fächer vor ihrem wettergebräunten Gesicht, »es war nicht viel daran.«

Graf Eck war nur einmal beim Sultan gewesen in den Jahren, als er sich in Athen aufhielt, um dem jungen König zur Seite zu sein.

Ihre Gnaden, die Georg einen Befehl erteilt hatte, drehte wieder den Kopf über dem Sammetbande mit Brillanten, das ihr Kleid einfaßte, und sagte:

»Ja, als Frau Jerichau mich malte, erzählte sie mir viel von Konstantinopel.«

In einer seltsamen Gedankenverbindung – vielleicht zwischen den Damen des Serails und Schmucksachen – fing die Marschallin auf einmal an, von der Etatsrätin und ihrem Dauphin zu erzählen, während sie sich vor Lachen auf dem Stuhl zurückwarf.

»Mouritzen hat die Papiere,« sagte sie und ahmte den Tonfall der Etatsrätin nach, »aber wir haben es aus Frankfurt.«

Die Mutter und Frau Schulin lachten mit, während die Geheimrätin sagte:

»Ich glaube wirklich, daß diese Rothschilds einen Hinterladen mit derlei Sachen haben.«

»Ja, natürlich haben sie ein Leihamt,« sagte Baron Rosenkrands. »Und es herrscht ja auch Not in vielen alten Familien.«

Die Augen der Marschallin streiften unwillkürlich das Brillantband um den Hals Ihrer Gnaden, während der Vater sich ein wenig hastig auf ihre Schulter niederbeugte und sagte:

»Wie herrlich die Perlen sind, Harriette.«

»Ja,« sagte die Marschallin und nahm das Kollier auf, »es ist auch historisch. Es soll der Madame Dubarry gehört haben.«

Gräfin Schulin war auf die fortgelaufene Kusine der Frau Rosenkrands zurückgekommen und schloß ihre Bemerkungen mit den Worten:

»Ach Gott, ja, es ist gut, daß man seine Kinder hat. Nicht wahr, Tante Hvide?« sagte sie und nickte Ihrer Gnaden zu, die über ihrer leuchtenden Halsschnur lächelte.

»Ja, sagte Frau Rosenkrands und trocknete den kleinen Kirschmund mit der Serviette, »es mag schon sein, daß nicht viel am Leben ist.«

»Herrje, Baronin,« sagte die Marschallin und lachte, und indem sie sich plötzlich an den Grafen von Eck wandte, sagte sie:

»Ja, Graf Eck, was hält nun eigentlich so ein kluger alter Mann wie Sie vom Leben?«

Graf Eck senkte den kleinen, vornehmen Kopf.

»Ich interessiere mich ... nicht so sehr für das Leben,« sagte er.

»Aber trotzdem?«

Der alte Diplomat, der immer sehr langsam sprach, sagte und lächelte halb:

»Ich seh es in der Hauptsache für Schatten an ... Schatten auf einem aufgehängten Laken.«

Die Marschallin, die die Stirn gerunzelt hatte, sagte:

»Aber, Eck, wer dirigiert sie denn, die Schatten auf dem Laken?«

Seine Exzellenz hatte die Hand nach dem schlanken Diener ausgestreckt.

»Ein Glas,« sagte er.

Seine Exzellenz bekam ein Glas Champagner und leerte es in einem Zug.

»Wird nicht alles Schattenspiel,« sagte er, »von einem ausgestreckten Finger dirigiert?«

Während die Geheimrätin lachte, hörte man Professor Berger in die Stille hinein sagen – die Herren hatten rote Köpfe bekommen –:

»Das Hauptziel bleibt wohl immer, die Schmerzen der Patienten zu lindern.«

Die Mutter, die ein paar Minuten lang nicht gesprochen hatte, fuhr bei den Worten Seiner Exzellenz zusammen und hörte den Grafen Schulin, der sich hauptsächlich mit dem Seidenvieh am Ofen beschäftigte, sagen:

»Das Tier ist wahrhaftig betrunken.«

Die Mutter lächelte und sagte:

»Das Tier ist klug.«

»Ja, wahrhaftig,« sagte Schulin und leerte selbst ein Glas zum Rehziemer.

Die Marschallin, die immer noch mit Graf Eck sprach, fragte ihn über eine leitende politische Persönlichkeit, einen Volksführer, aus.

»Man versteht die Dinge nie richtig,« sagte sie, »wenn man so jahrelang im Ausland sitzt. Aber,« sagte sie in bezug auf den Volksführer, »meinen Sie denn wirklich, daß er selber an seine eigenen Worte glaubt?«

»Zuweilen. Und,« fuhr Herr Eck fort, »er glaubt immer daran, daß er der Mittelpunkt der Welt ist.«

»Beneide ihn drum,« rief Seine Exzellenz, »den Glauben darf niemand verlieren.«

Und leiser, daß nur die Mutter und die Geheimrätin ihn hörten, sagte er:

»An dem Tag, wo man den verliert, beginnt der Sandflug ...«

»Der Sandflug, Großpapa?«

»Ja, der Sandflug durch die Wüste. Und,« die Stimme Seiner Exzellenz klang leise wie vorher, und einen Augenblick sahen seine Augen aus, als werde er von einem unmäßigen und bis auf den Grund gehenden Schmerz übermannt –, »wer, glaubst du wohl, Mädel, bedeutet mehr als das Sandkorn in der heißen Wolke?«

»Wovon sprecht ihr?« sagte er plötzlich wieder laut zu Eck und der Marschallin.

»Von Politik,« sagte die Marschallin.

»Politik,« sagte Seine Exzellenz, der seine Gestalt wieder aufgerichtet hatte und mit den Händen gegen den Tisch gestützt dasaß, »hierzulande haben wir keine Politik. Politik bedeutet Handeln, und einer, der hierzulande handeln wollte, würde gleich mit der Stirn gegen die Rednerstühle rennen. Und« – Seine Exzellenz lachte – »wer es wagen wollte, die Rednerstühle niederzuhauen, würde geköpft werden. Von wem hat Anders Sandöe Dank erfahren, oder von wem Bluhme? Der Bischof von Ny Seeland verstand es, ihnen um den Bart zu gehen und sie zum Danewerk zu führen.«

Die Geheimrätin fing an, ihr Männerlachen zu lachen. Hans Christian Örsted fiel ihr ein, und sie lachte immer noch.

»Wie der Mann auf seinen Beinen ging,« sagte sie.

Seine Exzellenz saß eine Weile, bis er sagte:

»Ja, er war Anders Sandöes Bruder. Und doch rollte unter Hans Christians Fingern der Ariadnefaden auf.«

»Der Ariadnefaden?« sagte die Marschallin von unten her.

»Ja,« sagte Seine Exzellenz, »von dem Tage an kann man, wenn man mag, sich zu dem hintappen, was Leben ist, und wo das Leben sitzt.«

Sie hörten alle zu, während Graf Eck aus einer Ideenverbindung heraus sagte:

»Das Interessanteste, was mir je passiert ist, war, Charles Darwin in London zu sehen.«

Seine Exzellenz sagte:

»Was er glaubt, haben all die Großen geglaubt. Der Mann, der kopfüber in den Ätna hineinsprang, war der erste, der verstand, und er wußte, daß er verstanden hatte.«

Die Marschallin, die den Philosophen vom Ätna nicht kannte und immer noch in ihre eigene Stimmung vertieft dasaß, hob die Augen und sah sich unwillkürlich im Zimmer um.

»Ja,« sagte sie, »wie viele Männer doch eigentlich in diesen Zimmern aus- und eingegangen sind.«

»Ja,« sagte Seine Exzellenz und maß selbst den Raum mit langem Blick, »viele. Und was ist übrig geblieben von ihnen? Die Stakete um ihre Gräber.«

Einen Augenblick war es still im Zimmer. Dann sagte Graf von Eck:

»Und die Telegraphenpfähle über der Erde.«

»Ja,« sagte Seine Exzellenz, »zur Vermehrung der menschlichen Lügen.«

Seine Exzellenz nahm einen Löffel Eis vom Teller der Mutter.

Das Gespräch stockte beinahe ganz, und die Gräfin Schulin beugte sich zu Professor Berger hinab, der beim Essen seine sehr vornehmen Hände fast frauenhaft bewegte.

»Was ist nur mit Onkel Hvide passiert?« sagte sie, »ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als ob der Boden schaukle.«

»Wie meinen Frau Gräfin?« fragte der Professor, der entweder nicht verstanden hatte oder nicht hatte verstehen wollen.

»Nichts!« und Frau Schulin schlug ihren Fächer auseinander, »es ist so warm hier.«

Fast zugleich begannen sie und die Marschallin und die Mutter wieder zu sprechen, während alle einfielen, und sie sprachen von den Gütern und dem Hof und von Ihrer Majestät der Königinwitwe, die leider krank war.

»Sie hat Magenschmerzen,« sagte Seine Exzellenz.

Während alle weitersprachen, sagte Graf Eck, der lange dagesessen und den jungen Mann betrachtet hatte, plötzlich zu Herrn Fritz Hvide hinüber:

»Woran denken eigentlich Sie?«

Der junge Mann hob das blasse Gesicht.

»Herr Graf richten eine Gewissensfrage an mich,« sagte er.

»Die Sie nicht beantworten,« sagte lachend der Graf.

Der junge Mann antwortete nicht weiter, sondern senkte nur den Kopf.

Der schlanke Diener brachte auf einem Kristalltablett vierzehn sehr kleine, gravierte Gläser herein, die er mit einer Verbeugung als erstem dem Grafen Eck präsentierte.

»Das ist der Tokaier,« sagte Graf Eck, der ein Glas ergriffen hatte.

»Ja,« sagte Seine Exzellenz.

Es war ein uralter Wein, von dem achtzehn Flaschen im Besitz des Hauses gewesen waren, ein Geschenk eines verstorbenen Prinzen von Philippsthal.

»War das die letzte Flasche?« fragte Seine Exzellenz, zu Georg gewendet.

»Ja, Exzellenz, die letzte,« antwortete Georg, sich verneigend.

Alle betrachteten den Wein und hielten die Gläser hoch, in denen das eingravierte Hvidesche Wappen leuchtete.

Die Mutter saß und starrte auf ihr Glas:

»Wie wenige eigentlich jemals den Wein geschmeckt haben.«

»Ja,« sagte Seine Exzellenz, »die wenigsten.«

Die kleine Baronin, die auch dasaß und ihr erhobenes Glas betrachtete, sagte:

»Er ist wie Blut.«

»Wie Feuer und Blut, mein Kind,« sagte Seine Exzellenz und stieß mit der Geheimrätin an, die Wein sehr liebte und die in all den Jahren mit dabei gewesen war, zu allen achtzehn Flaschen.

»Ja,« sagte die Baronin.

Und mit dem Glase an den Lippen sagte sie halblaut zu ihrem Manne hinüber:

»Du.«

»Dja,« sagte der Mann – Dja war sein Kosename für Lydia –, und sie tranken und sahen sich dabei tief in die Augen.

In demselben Moment hatte die Mutter sich vorgebeugt, als ob sie mit jemandem anstoßen wollte. Doch hastig setzte sie das Glas wieder auf den Tisch und wandte den Kopf fort.

Der junge Hvide hatte den Wein nicht angerührt. Stumm starrte er auf sein Glas, dessen Wappenschild blutbesprengt schien auf dem Grunde des Weins.

»Prosit, Hans,« sagte die Marschallin und trank dem Jägermeister unten am Tisch zu.

»Prosit,« antwortete er. Und um etwas zu sagen, sagte die Marschallin:

»Ich muß doch auch einmal sehen, daß ich nach Thorsholm komme.«

Der Jägermeister antwortete und sah auf:

»Dann mußt du dich sputen. Eh das Dach einstürzt.«

»Wie du doch sprichst, Hans,« sagte Ihre Gnaden.

»Ich spreche die Wahrheit,« sagte der Jägermeister, während Seine Exzellenz aufgestanden war, das erhobene Glas in der Hand.

»Dein Wohl,« sagte er, zu Ihrer Gnaden gewendet, und während alle sich erhoben, leerten sie den letzten Tropfen des roten Weins auf das Wohl Ihrer Gnaden.

Georg schlug die Türen zurück, und alle gingen hinein, Ihre Gnaden voran am Arm des Jägermeisters.

Als die Tür wieder geschlossen war, war der schlanke Diener allein.

Er sah sich auf dem Tisch um, und sein Auge fiel auf das unberührte Glas des jungen Hvide.

Der junge Mann leerte es hastig, ehe Georg zurückkehrte.

»Den Kaffee,« sagte Georg.

Der Schlanke antwortete ihm nicht, sondern ging, um den Kaffee zu holen.

Als Georg allein war, machte er sich selbst daran, die Reste alle durcheinander zu leeren.

Der Kaffee war getrunken, und der Spieltisch war in dem mittleren Wohnraum aufgeschlagen, wo Seine Exzellenz sich zusammen mit Graf Eck, Schulin und dem Professor zum Spiel niederließ.

»Nun werd' ich mein Schläfchen halten, mein Kind,« sagte die Geheimrätin, die, wo sie auch sein mochte, immer nach dem Kaffee eine Viertelstunde schlief.

»Ja, Tante Auguste,« sagte die Baronin und erhob sich vom Sofa, wo die Geheimrätin ein Taschentuch über ihr breites Gesicht legte und eine Minute darauf eingeschlafen war.

Die Marschallin, die mit der Mutter drüben in der andern Ecke saß, fing an zu lachen. »Tante Augusta hat immer den Schlaf der Gerechten gehabt,« sagte sie.

»Ja,« sagte die Mutter.

Ihre Gnaden und die Gräfin Schulin sprachen mitten im Zimmer von Wohnungen, die wirklich schwer zu bekommen seien.

»Aber Hvide will ja nicht umziehen,« sagte Ihre Gnaden.

Das Gespräch stockte hier und da, und aus dem andern Zimmer hörte man die Karten fallen.

Die Mutter hob den Kopf ein wenig und sagte:

»Wie seltsam dieser Tag für dich gewesen sein muß, Harriette.«

»Wieso?« sagte die Marschallin und drehte ihr das Gesicht zu.

»Uns alle wiederzusehen ... nach einer so langen Zeit.«

»Ja,« sagte die Marschallin, »nach fast zwanzig Jahren. Und,« fügte sie hinzu, »ich reise bald wieder.«

»Du reist?« sagte die Mutter.

»Ja,« sagte Frau Harriette, und ihre Stimme zitterte seltsam, »nun hab ich euch ja gesehen.«

Die Mutter antwortete nicht, und wieder hörten sie die Karten fallen. Dann sagte die Mutter, als sähe sie nach etwas hin, was unendlich weit fort war:

»Du reistest damals gerade vor meiner Hochzeit.«

Die Marschallin hatte über ihrem Knie die Hände gefaltet.

»Ja,« sagte sie, »es war gerade vor deiner Hochzeit.«

Und nachdem es einen Augenblick still gewesen war, setzte sie hinzu:

»Alle können wir ja nicht im Lande bleiben.«

Der Vater trat zu ihnen:

»Wovon sprecht ihr zwei?«

»Wir sprachen von diesem und dachten an jenes,« antwortete die Marschallin.

»Woran denn?«

Alle drei Gesichter sah man zusammen im Schein der Stehlampe.

»Ach,« sagte Frau Harriette, »ich wenigstens saß und dachte an das Glück und an den Lauf des Lebens.«

Der Vater antwortete nicht. Doch die Marschallin sagte:

»Ich bin zu der tiefen Überzeugung gekommen, daß alle Aufopferung unnütz ist.«

Gräfin Schulin hatte sich drüben in einer Fensternische bei der Baronin Rosenkrands niedergelassen.

»Es muß doch,« sagte sie, »seltsam für Harriette sein, nach Hause gekommen zu sein und nun alles dies zu sehn.«

»Wieso alles dies?«

»Nun,« sagte die Gräfin, und nach einer Weile fuhr sie fort wie jemand, der an etwas denkt, was sehr weit zurückliegt:

»Harriette hatte doch wohl immer Fritz geliebt. Sie haben sich ja von Kind auf gekannt. Aber dann verliebte Fritz sich ja in Stella – und dann reiste Harriette zu der Tante in Wien und heiratete den Marschall.«

Gräfin Schulin schwieg einen Augenblick.

»Und jetzt kommt sie zurück und sieht, wie alles geworden ist.«

»Wie ist es denn geworden?« sagte die Baronin, die, ohne zu verstehen, den Oberkörper ganz vorgebeugt hatte.

»Ach,« sagte Gräfin Schulin und strich sich mit der einen Hand über die Augen, »Sie sind ein Kind. Aber,« sagte sie und betrachtete einen Augenblick Schulin, der drinnen beim Spiel saß, breit und stark, wie jemand, der nichts von seinem guten Appetit die Jahre hindurch eingebüßt hat, »Sie werden noch viel vom Leben lernen.«

Die Baronin Rosenkrands schob den Kirschenmund vor.

»Ja, das werd ich wohl,« sagte sie und seufzte, ohne zu wissen, warum.

»Wollen wir fahren?« fragte sie den Baron, der hinzukam.

»Ja, mein Kind,« sagte der Baron; und der Baron und die Baronin Rosenkrands, die zu einer Gesellschaft beim englischen Gesandten geladen waren, gingen herum und verabschiedeten sich.

Georg kam vom Flur durch die Zimmer hereingestürzt, auf Seine Exzellenz zu.

»Exzellenz,« sagte er und sprach flüsternd weiter.

Seine Exzellenz hatte sich sofort erhoben.

»Ist der Wagen da?« rief er.

»Ja, Exzellenz.«

In beiden Zimmern hatten sich alle erhoben – mit Ausnahme Ihrer Gnaden.

»Was ist denn?« sagte die Geheimrätin, die aufgewacht war.

»Meinen Pelz,« sagte Seine Exzellenz und ging durch die Zimmer.

»Was ist denn?« fragte die Marschallin, das Gesicht der Exzellenz zugewandt.

»Ich muß zu Brahes;« und zum Vater gewandt, sagte er: »Nimm meine Karten.«

Seine Exzellenz ging hinaus.

An der Tür zur Treppe wartete der Brahesche Lakai, bleich, den Kopf über den breiten Kragen geneigt.

»Es eilt, Exzellenz,« sagte er.

»Ich weiß es,« sagte Seine Exzellenz und stieg ein.

»Vorwärts.«

Die Braheschen Pferde schlugen mit den Hufen Funken aus dem hartgefrorenen Schnee. Das Brahesche Tor wurde vor den dampfenden Tieren aufgerissen. Der Pförtner lief hinzu und wäre beinahe über das hinterste Rad des Wagens gestolpert, während seine Frau auf der Kellertreppe stand, an die Wand gelehnt, die Schürze über den Kopf gezogen, und weinte, daß es im Portal widerhallte.

»Es ist die höchste Zeit, Exzellenz, es ist die höchste Zeit,« sagte sie.

»Ich weiß es,« sagte Seine Exzellenz wieder.

An der geöffneten Tür wartete der Kammerdiener.

»Guten Abend, Exzellenz,« sagte er, und seine Stimme zitterte. Er hatte zwanzig Jahre im Hause gedient.

»Nehmen Sie den Pelz,« sagte Seine Exzellenz.

Und er riß ihn sich selber vom Leibe, daß er wie ein schwerer Sack zu Boden fiel, ehe der Diener ihn nehmen konnte.

»Hängen Sie ihn auf,« sagte Seine Exzellenz.

Er öffnete die Tür, und Baron Brahe, der auf einem Stuhl saß, wandte das vom Weinen geschwollne Gesicht – er war's nicht gewohnt, zu weinen – der Exzellenz zu:

»Ich danke dir,« sagte er und erhob sich.

Die Baronin kam gelaufen und schlang ihre Arme um den Hals der Exzellenz.

»O, Onkel Hvide, o, Onkel Hvide,« schluchzte sie.

Seine Exzellenz löste ihren Arm von seinem Halse.

»Ihr holt mich spät,« sagte er.

Es war, als ob die barsche Bestimmtheit seine Gestalt ummeißelte zu der eines Riesen, »laßt mich sie sehen.«

»Ja,« sagte die Baronin und ging ihm voran, sich auf die Möbel stützend, durch die Zimmer, wo kein Mensch war. Einmal blieb sie stehen und lehnte sich an einen Stuhlrücken.

»Wie sie leidet,« sagte sie und wandte ihr Gesicht Seiner Exzellenz zu.

Er antwortete nicht.

Graf Preben saß im hintersten Wohnzimmer auf einem Stuhl, auf den er zufällig hingeraten war. Unablässig führte er die Rückseite seiner linken Hand zum Munde, als täten ihm seine Lippen weh.

»Onkel Hvide ist da,« sagte der Baron.

»So,« sagte Preben und erhob sich, ohne verstanden zu haben.

In den langen Gang hatten die beiden Schwestern zwei Lehnstühle gebracht, und darauf saßen sie vor Emmelys Türe, bang und zusammengekauert, ohne weinen zu können, während eine Kammerjungfer weiter hinten im Halbdunkel wie ein Schatten hin und her ging.

»Onkel Hvide ist da,« sagte der Baron wieder.

»Guten Abend, Kinder,« sagte Seine Exzellenz.

Der Baron ließ die Tür los, und nur Seine Exzellenz und die Baronin gingen ins Zimmer hinein, wo die Krankenpflegerin sich lautlos erhob.

Seine Exzellenz war vor dem Fußende von Emmelys Bett stehen geblieben. In dem matten Schein trat die Nase über den eingefallenen Wangen hervor, während man den keuchenden Laut der arbeitenden Brust vernahm.

»Nimm den Schirm ab,« sagte Seine Exzellenz.

Die Baronin streckte stöhnend die Hand nach der Lampe aus, aber sie brach zusammen.

»Wollen Sie so gut sein?« sagte sie.

Die Krankenpflegerin hob den Schirm ab, so daß das Licht über Emmelys Gesicht hinfloß, während Seine Exzellenz, ohne sich zu rühren, am Fußende des Bettes vor der jungen Sterbenden stehen blieb.

»Setzen Sie den Schirm auf,« sagte er und hatte sich nicht gerührt. Die Krankenpflegerin tat es. Es wurde von neuem dunkel. Es war, als erwache die Sterbende, und sie suchte die Hand von der Decke zu heben.

»Wer ist da?« flüsterte sie.

»Ich,« sagte Seine Exzellenz und faßte ihre Hand.

Fast ging ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie versuchte zu nicken.

»Wo ist Preben?« flüsterte sie wieder, während sie die Augen wandte, die vielleicht kaum noch sehen konnten.

»Jetzt muß Preben kommen,« sagte Seine Exzellenz plötzlich sehr leise, und er ging.

Die Baronin hatte sich nicht erhoben.

Seine Exzellenz war in die Wohnräume gegangen, wo der Baron wartete.

Die beiden Schwestern waren ihm gefolgt, lautlos wie zwei Schatten.

»Gebt ihr Champagner,« sagte Seine Exzellenz, der mitten im Zimmer stand.

»Ja,« sagte der Baron.

»Sooft ihr könnt,« sagte Seine Exzellenz.

»Ja,« sagte der Baron.

Keiner rührte sich.

»Wo ist Preben?« fragte Seine Exzellenz.

Preben erhob sich von einem Stuhl.

»Gehn Sie hinein, lieber Preben; aber sitzen Sie still.«

Seine Exzellenz schwieg einen Augenblick, während Preben durch das Zimmer ging, unsicher wie einer, der getrunken hat.

»Gute Nacht, Kinder,« sagte Seine Exzellenz und sah einen Augenblick von Gesicht zu Gesicht, bevor er ging.

Der Baron war ihm gefolgt und konnte beinahe nicht gehen.

»Wie steht es?« sagte er, als sie zur Tür kamen.

Der starke Mann zitterte wie Laub.

»Es ist das Ende,« sagte Seine Exzellenz und hatte die Hand des Barons gepackt mit einem Griff, der weh tat.

Der Baron griff in die Luft, als die Exzellenz losließ.

»Gute Nacht,« sagte Seine Exzellenz wieder, und die Tür fiel zu.

»Vorwärts,« sagte er und stieg ein.

Und der Wagen fuhr fort.

 

In den Zimmern bei Hvides war kaum gesprochen worden, unablässig ging die Marschallin mit gekreuzten Armen auf und ab, während die vier Herren am Spieltisch schweigend spielten, ohne ein Wort, mechanisch, wie Figuren, die aufgezogen waren. Nur hier und da sagte die Mutter oder die Geheimrätin einen Satz ins Zimmer hinaus, und sie schwiegen wieder, so daß es wieder still wurde und nichts mehr zu hören war als das Fallen der Karten. Die Geheimrätin sagte:

»Warum sollten auch sie gerade glücklich werden?«

Gräfin Schulin hatte einen Schal umgenommen und saß da, als fröre sie.

»Das Leben ist so neidisch,« sagte die Geheimrätin wieder mit ihrer tiefen Stimme.

»Ja,« sagte die Marschallin und blieb plötzlich stehen.

Alle schwiegen wieder, bis die Marschallin sagte:

»Wie alt war sie eigentlich?«

»Zwanzig Jahre,« antwortete die Mutter von ihrem Platz her.

»Zwanzig Jahre,« wiederholte die Marschallin.

Und die Geheimrätin sagte aus ihrer Ecke zu ihnen hinüber:

»Ja, alles hier in der Welt ist blind – auch der Tod.«

Man hörte einen Wagen auf der Straße, und die Marschallin schob die Gardine beiseite. Aber es war nicht der, den sie erwartete.

»Wo ist Hans?« fragte Ihre Gnaden.

Der junge Hvide hob das Gesicht von einem Buch:

»Papa ist im Speisezimmer.«

»Hole ihn,« sagte Ihre Gnaden.

Doch der junge Hvide rührte sich nicht.

»Gehst du?« sagte Ihre Gnaden.

»Ja, Großmama.«

Der junge Hvide ging ins Speisezimmer hinein, wo er in der Fensternische den Jägermeister über ein Glas Kognak mit Wasser gebeugt fand.

»Großmama wünscht dich zu sprechen.«

»So?« Der Jägermeister versuchte aufzustehen.

»Stütz dich auf mich,« sagte der Sohn.

»Was soll ich?« sagte der Jägermeister, und seine trunknen Augen flammten auf.

»Du kannst nicht auf deinen Beinen stehn, Papa,« sagte der junge Hvide und ließ den Vater wie einen toten Klumpen in seinen Stuhl zurückfallen.

Als der Sohn gegangen war, stand der Jägermeister auf und taumelte durch das Zimmer. Draußen in dem langen Gange stieß er mit dem Ellbogen eine Tür auf und tastete sich zu einem Bett hin, auf das er sich niederwarf, um einen Augenblick darauf laut zu schnarchen. Es war das Bett Seiner Exzellenz.

Der junge Hvide war in das Wohnzimmer zurückgekehrt.

»Papa war gegangen,« sagte er und nahm seinen Platz wieder ein.

Die Marschallin ging noch immer im Zimmer hin und her, während alle warteten.

»Da ist er,« sagte sie und schob die Gardine abermals zur Seite.

»Ja,« sagte die Mutter und stand auf.

Der Wagen fuhr ein. Es wurde nicht gesprochen, bis Seine Exzellenz eintrat und die Geheimrätin sein Gesicht gesehen hatte.

»Es war also der Tod?« sagte sie.

Die vier Herren hatten aufgehört zu spielen.

Seine Exzellenz nickte, ohne zu sprechen.

»Leidet sie?« fragte die Marschallin mit einer Stimme, die man beinahe nicht hören konnte.

»Ich gebe ihnen Wein,« sagte Seine Exzellenz, und er trat an den Spieltisch.

»Wie hast du mit meinen Karten gespielt?« sagte er zu dem Vater, und Seine Exzellenz setzte sich, um den Robber zu Ende zu spielen.

 

Die Gäste waren aufgebrochen. In dem mittleren Wohnzimmer saß Ihre Gnaden und schlummerte in ihrem Stuhl. Die Brillantschnur leuchtete so seltsam an ihrem Halse in dem vielen Licht von den fast heruntergebrannten Kronleuchtern. Die Mutter und Seine Exzellenz saßen drinnen im Zimmer Seiner Exzellenz, wo es dunkel war.

»Bist du da, mein Kind?« sagte er.

»Ja, Großpapa.«

Der Schein der Straßenlaternen fiel ins Zimmer hinein und huschte über die Wände hin, wo die Bilder der Männer des Jahrhunderts in einem unsichern Licht auftauchten und wieder verschwanden. Die Mutter sagte, ins Dunkel hinein:

»Großpapa, du solltest die Praxis nicht behalten.«

Er drehte den Kopf.

»Warum nicht?« und plötzlich lachte er.

»Laß sie mich ruhig dafür bezahlen, daß ich ihnen ihre Totenscheine ausstelle,« sagte er.

Es war lange still, dann sagte die Mutter:

»Weißt du, Großpapa, wenn wir beide hier sitzen, dann ist mir, als säßen wir und hätten ein und dasselbe vor Augen.«

»Was?«

»Ein Wrack.«

Er antwortete nicht, und wieder war es eine Weile still.

Dann sagte Seine Exzellenz:

»Sitzt sie noch drüben?«

»Wer? Meinst du Elsbeth, Großpapa? Ja,« sagte die Mutter, »sie sitzt und wartet noch.«

Es war einen Augenblick still im Dunkel. Dann sagte Seine Exzellenz:

»Es ist nichts da, worauf man warten könnte,« und er fuhr fort: »ein Loch in der Erde ist so viele Gedanken nicht wert.«

Wieder schwieg er, bis seine Stimme von neuem ertönte:

»Und das, wovor uns trotz alledem bangt, kommt zeitig genug.«

Die Mutter hatte den Kopf geneigt.

»Vielleicht nicht für alle,« sagte sie ganz leise.

Es wurde wieder still. Seine Exzellenz schlummerte vielleicht. Die Mutter hob im Dunkeln das bleiche, schöne Gesicht, und, halb ohne es zu wissen, sang sie ganz leise vor sich hin:

Wie die Pflanze welket,
Weil ihre Wurzel ohne Nahrung ist,
Wie die Blume verblaßt,
Weil sie die Sonne nicht erreicht;
So verwelke ich und so verblasse ich,
Denn du hast mich nicht lieb.

»Singst du, mein Kind?« sagte Seine Exzellenz plötzlich aus dem Dunkel.

Die Mutter fuhr zusammen.

»Nein, Großpapa,« sagte sie, »ich seufzte nur.«

Georg öffnete die Tür zu dem erhellten Zimmer und verbeugte sich auf der Schwelle:

»Ihre Gnaden läßt bitten zum Tee,« sagte er.

»Wir kommen,« sagte Seine Exzellenz.

Und sie erhoben sich.


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