Honoré de Balzac
Ein Drama am Ufer des Meeres
Honoré de Balzac

Honoré de Balzac

Ein Drama am Ufer des Meeres

 

Die jungen Leute haben fast alle einen Zirkel, mit dem sie sich darin gefallen, die Zukunft zu messen; wenn ihr Wille sich mit der Kühnheit des Winkels vereint, den sie öffnen, so gehört ihnen die Welt. Aber diese Erscheinung des Seelenlebens gilt nur bis zu einem bestimmten Alter. Dieses Alter, das bei jedem Manne die Jahre zwischen zweiundzwanzig und achtundzwanzig umfaßt, ist das Alter der großen Gedanken, der ersten Konzeptionen, weil es das Alter der ungeheuren Wünsche ist, das Alter, in dem man an nichts zweifelt: wer zweifelt, bekennt seine Unfähigkeit. Nach diesem Alter, das so schnell wie die Saatzeit verläuft, kommt das der Erfüllung. Es gibt gewissermaßen zwei Jugendalter: die Jugend, in der man glaubt, und die Jugend, in der man handelt; bei den von der Natur begünstigten Menschen vereinigen sie sich oft, und das sind, wie Cäsar, Newton und Bonaparte, die größten unter den großen Menschen.

Ich berechnete, wie viel ein Gedanke an Zeit braucht, um sich zu entwickeln, und, meinen Zirkel in der Hand, auf einem Felsen stehend, hundert Klafter über dem Ozean, dessen Wellen in der Brandung spielten, maß ich meine Zukunft, indem ich sie mit Werken ausfüllte wie ein Ingenieur, der, auf einem leeren Feld, Befestigungen und Paläste absteckt. Das Meer war schön; ich hatte mich eben nach dem Schwimmen angezogen; ich erwartete Pauline, meinen Schutzengel, die in einem Granitbecken badete, der reizendsten Wanne, die die Natur für ihre Seenixen geschaffen hat. Wir befanden uns am äußersten Ende von le Croisic, einer lieblichen Halbinsel der Bretagne; wir waren weit vom Hafen, an einer Stelle, die der Fiskus für so unzugänglich gehalten hat, daß der Zollbeamte dort fast niemals vorbeikommt. In den Lüften zu schwimmen, nachdem man im Meer geschwommen hat! Ach, wer hätte nie in der Zukunft geschwommen? Warum dachte ich? Warum kommt ein Unglück? Wer weiß es? Die Gedanken überfallen dein Herz oder deinen Kopf, ohne dich zu befragen. Keine Kurtisane war je grillenhafter noch gebieterischer, als es die Konzeption für die Künstler ist; man muß sie im rechten Augenblick wie das Glück bei der Stirnlocke fassen. Hinaufgeklettert auf meinen Gedanken, wie Astolph auf seinen Hippogryph, ritt ich also durch die Luft, um dort ganz nach meinem Willen zu schalten. Als ich um mich her nach einem Vorzeichen suchen wollte für die kühnen Gebilde, die meine tolle Eingebung mir zu unternehmen riet, übertönte ein holder Schrei, der Schrei einer Frau, die uns in der Stille einer Einöde ruft, der Schrei einer Frau, die, belebt und fröhlich, aus dem Bade steigt, das Murmeln des unaufhörlich beweglichen Saumes, den Ebbe und Flut an den Buchten des Ufers abzeichneten. Als ich diese Seelenregung vernahm, glaubte ich zwischen den Felsen den Fuß eines Engels gesehen zu haben, der, seine Flügel ausbreitend, gerufen hatte: »Du wirst Erfolg haben!« Ich stieg hinab, strahlend, leicht; ich kletterte hüpfend wie ein Stein, der einen steilen Abhang hinunterrollt. Als sie mich sah, sagte sie: »Was hast du?« Ich antwortete nicht; meine Augen wurden feucht. Tags vorher hatte Pauline meine Schmerzen begriffen, so wie sie jetzt meine Freude begriff, mit der magischen Feinfühligkeit einer Harfe, die den Veränderungen der Atmosphäre unterworfen ist. Das menschliche Leben hat schöne Augenblicke! Wir gingen schweigend den Strand entlang. Der Himmel war ohne Wolken, das Meer ohne Furchen; andere hätten darin nichts gesehen als zwei blaue Steppen, eine über der anderen; aber wir, wir, die wir uns verstanden, ohne des Worts zu bedürfen, wir, die wir zwischen Himmel und Meer, diesen beiden Winkeln des Unendlichen, die Illusionen spielen lassen konnten, von denen man sich in der Jugend nährt, wir drückten uns die Hände bei der geringsten Bewegung, die sich zeigte, sei es auf der Wasserfläche, sei es in den Luftwellen. Wir nahmen diese flüchtigen Erscheinungen für den körperlichen Ausdruck unser beider Gedanken. Wer hat nie im Genuß den Augenblick unbegrenzter Freude gekostet, wo die Seele sich von den Fesseln des Fleisches gelöst zu haben scheint und sich gleichsam dem Weltall hingegeben fühlt, von dem sie gekommen ist? Der Genuß ist nicht unser einziger Führer in diesen Regionen. Gibt es nicht Stunden, wo die Gefühle sich ineinanderschlingen und dann losstürmen, wie zwei Kinder sich oft bei der Hand fassen und dann zu laufen anfangen, ohne zu wissen warum? Gingen auch wir so einher?

In dem Augenblick, wo die Dächer der Stadt am Horizont auftauchten, auf dem sie eine graue Linie abzeichneten, begegneten wir einem armen Fischer, der nach le Croisic zurückkehrte; er war barfuß; seine Leinwandhosen waren unten zerrissen, durchlöchert, schlecht geflickt; er trug ein Hemd aus Segelleinwand, zerfranste Hosenträger und einen Lumpen als Rock. Dieses Elend tat uns weh, gleich als wenn eine Dissonanz mitten in unsere Harmonien gedrungen wäre. Wir sahen uns an, um uns gegenseitig zu bedauern, daß wir in diesem Augenblick nicht die Kraft hatten, aus den Schätzen von Abulkaßim zu schöpfen. Wir bemerkten einen prächtigen Hummer und eine Seespinne, die an einer Schnur befestigt waren, welche der Fischer in seiner rechten Hand hin und her bewegte, während er in der andern sein Segel- und Fanggerät hielt. Wir gingen auf ihn zu, in der Absicht, ihm seinen Fisch abzukaufen, ein Gedanke, der uns beiden gleichzeitig kam, und der sich in Paulines Lächeln ausdrückte, auf das ich mit einem leichten Druck ihres Armes antwortete, den ich an meine Brust zog. Das sind Geringfügigkeiten, die hernach die Erinnerung zu einem Gedicht gestaltet, wenn wir uns, beim Schein des Feuers, der Stunde erinnern, wo dieses Nichts uns bewegt hat, des Orts, wo es sich zugetragen hat, und des Wahns, dessen Wirkungen noch nicht festgestellt sind, der sich aber oft aus den Dingen entwickelt, die uns umgeben, in den Augenblicken, wo das Leben leicht und unser Herz voll ist. Die schönsten Stätten sind unsere eigne Schöpfung. Welcher Mensch, der ein wenig Dichter ist, hat nicht in seiner Erinnerung ein Fleckchen Erde, das dort einen größeren Platz einnimmt als all' die berühmten Bilder aus fremden Ländern, die man nur unter hohen Kosten aufgesucht hat. Das ist die Stätte seiner stürmischsten Gedanken, seiner kühnsten Hoffnungen.

In diesem Augenblick warf die Sonne, gleichgestimmt mit jenen Gedanken der Liebe oder der Sehnsucht, auf die fahlen Hänge des Felsens einen brennenden Schein; einige Gebirgsblumen zogen die Aufmerksamkeit auf sich; Ruhe und Schweigen steigerten noch den Eindruck dieser düsteren Kluft, die nur durch unsern Traum belebt wurde; wie schön wurde sie mit ihrer dürftigen Vegetation, ihren glühenden Kamillen, ihren haarigen, sammetartigen Blättern! Welch endloses Fest, prächtiger Schmuck, selige Steigerung der menschlichen Kräfte! Schon einmal hatte der See von Bienne, der Blick auf die Insel Saint-Pierre so zu mir gesprochen; der Felsen von le Croisic wird vielleicht die letzte dieser Freuden gewesen sein! Doch was wird dann aus Pauline werden?

»Sie haben heute morgen einen schönen Fang gemacht, mein Lieber?« sage ich zu dem Fischer.

»Ja, mein Herr«, antwortete er, indem er stehenblieb und uns das gebräunte Gesicht der Leute zeigte, die stundenlang den Rückstrahlungen der Sonne über dem Wasser ausgesetzt sind.

Dieses Gesicht kündigte eine tiefe Resignation an, die Geduld des Fischers und seine wilden Sitten. Dieser Mann hatte eine Stimme ohne Klang, gutmütige Lippen, keinerlei Ehrgeiz, irgend etwas Dürftiges, Armseliges. Jede andere Physiognomie hätte uns mißfallen.

»Wohin bringen Sie das zum Verkauf?

»Nach der Stadt.«

»Wieviel wird man Ihnen für den Hummer geben?«

»Fünfzehn Sous.«

»Für die Seespinne?«

»Zwanzig Sous.«

»Warum solch ein Unterschied zwischen der Hummer und der Seespinne?«

»Mein Herr, die Seespinne ist sehr viel feiner; und dann ist sie boshaft wie ein Affe und läßt sich nur selten fangen.«

»Wollen Sie uns das Ganze für hundert Sous lassen?« sagte Pauline.

Der Mann war wie versteinert.

»Du wirst es nicht dafür bekommen!« sagte ich lachend; »ich gebe zehn Frank. Man muß für seine Gemütsregungen zu zahlen wissen, was sie wert sind.«

»Nun gut!« antwortete sie, »ich werde es doch haben, ich gebe zehn Frank zwei Sous.

»Zehn Sous.«

»Zwölf Frank.«

»Fünfzehn Frank.«

»Fünfzehn Frank fünfzig Centimes«, sagte sie.

»Hundert Frank.«

»Hundert und fünfzig.«

Ich verneigte mich. Wir waren in diesem Augenblick nicht reich genug, um den Preis noch höher zu treiben. Unser guter Fischer wußte nicht, ob er sich über eine Täuschung ärgern oder sich freuen sollte; es gelang uns nur mit Mühe, ihm den Namen unserer Wirtin zu geben und ihm aufzutragen, den Hummer und die Seespinne zu ihr zu bringen.

»Verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?« fragte ich ihn, um zu erforschen, welcher Ursache sein Elend zuzuschreiben war.

»Mit viel Mühe und Not«, sagte er. »Der Fischfang vom Meeresufer aus ist für den, der weder Barke noch Netz hat und ihn nur mit Falle oder Angel betreiben kann, ein unsicherer Erwerb. Sehen Sie, man muß auf den Fisch oder die Muschel lauern, während die großen Fischer sie aus dem offenen Meere holen. Es ist so schwer, auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, daß ich der einzige bin, der an der Küste fischt. Ich verbringe ganze Tage, ohne etwas mitzubringen. Damit ich einen Fang machen kann, muß schon eine Seespinne verschlafen haben oder ein Hummer weit genug verschlagen sein, um zwischen den Felsen stecken zu bleiben. Manchmal kommen Lubinen hierher nach der Flut; dann fasse ich sie.«

»Nun, wieviel verdienen Sie im ganzen täglich?«

»Elf oder zwölf Sous. Ich würde damit durchkommen, wenn ich allein wäre; aber ich habe meinen Vater zu ernähren, und der arme Mann kann mir nicht helfen: er ist blind.«

Bei diesen Worten, die so schlicht gesprochen waren, sahen wir uns schweigend an, Pauline und ich.

»Sie haben eine Frau oder eine gute Freundin?«

Er warf uns einen der jammervollsten Blicke zu, den ich je gesehen habe, während er erwiderte: »Wenn ich eine Frau hätte, müßte ich doch meinen Vater im Stich lassen. Ich kann nicht ihn ernähren und noch Frau und Kinder dazu.«

»Nun gut, mein armer Kerl, warum versuchen Sie nicht damit Geld zu verdienen, daß Sie am Hafen Salz tragen oder in den Salzteichen arbeiten?«

»Ach, mein Herr, ich würde diese Arbeit nicht drei Monate aushalten. Ich bin nicht kräftig genug, und wenn ich stürbe, müßte mein Vater betteln gehn. Ich brauche einen Beruf, der nicht mehr verlangt als ein wenig Geschicklichkeit und viel Geduld.«

»Und wie bringen es zwei Personen fertig, mit zwölf Sous täglich zu leben?«

»Oh, mein Herr, wir essen Buchweizenkuchen und Entenmuscheln, die ich von den Klippen losmache.«

»Wie alt sind Sie denn?«

»Siebenunddreißig.«

»Waren Sie auch mal fort von hier?«

»Ich bin einmal nach Guérande gegangen, um mich zum Militär zu stellen, und habe mich nach Savenay begeben, um mich von Herren untersuchen zu lassen, die mich gemessen haben. Wenn ich einen Zoll mehr hatte, war ich Soldat. Ich wäre bei der ersten Strapaze krepiert, und mein armer Vater würde heute betteln.«

Ich habe viele Dramen ersonnen. Pauline war bei einem Menschen, der so litt wie ich, an starke Gemütsbewegungen gewöhnt; und dennoch! Noch niemals hatte weder sie noch ich Worte vernommen, die uns so bewegt hätten wie die des Fischers. Wir gingen einige Schritte schweigend, ermaßen beide die stumme Tiefe dieses unbekannten Lebens und bewunderten den Adel dieser Ergebenheit, die sich selbst nicht kannte; die Kraft dieser Schwäche setzte uns in Erstaunen; der sorglose Edelmut machte uns klein. Ich sah ganz instinktiv dieses arme Wesen an der Klippe geschmiedet, wie ein Galeerensklave an seine Kugel, und dort seit zwanzig Jahren auf Muscheln lauern, um sein Leben zu fristen, bestärkt in seiner Geduld durch ein einziges Gefühl. Wieviel Stunden wurden so verbracht in einem Winkel des Strandes! Wieviel Hoffnungen durch ein Körnchen, durch einen Wetterwechsel vernichtet! Er hing am Rande einer Granitplatte und hielt den Arm ausgestreckt wie ein indischer Fakir, während sein Vater, auf einem Schemel sitzend, in Stille und Dunkelheit darauf wartete, daß er die gemeinsten Muscheln und Brot bekam, wenn es dem Meer so beliebte.

»Trinken Sie manchmal Wein? fragte ich ihn.

»Drei- oder viermal im Jahr.

»Nun, dann sollen Sie heute welchen trinken, Sie und Ihr Vater, und wir werden Ihnen ein Weißbrot schicken.«

»Sie sind sehr gütig, mein Herr.«

»Wir werden Ihnen Mittagessen geben, wenn Sie uns am Meeresufer entlang bis nach Batz bringen wollen, wo wir uns den Turm ansehen werden, der das Wasserbecken und die Küste zwischen Batz und le Croisic beherrscht.«

»Mit Vergnügen«, sagte er zu uns. »Gehen Sie gradeaus weiter und folgen Sie dem Weg, auf dem Sie sich befinden; ich treffe Sie dort, nachdem ich mich meines Geräts und meines Fischfangs entledigt habe.«

Wir machten ein Zeichen des Einverständnisses, und er schritt lustig nach der Stadt zu. Diese Begegnung erhielt unsere seelische Erregung, aber sie hatte unsere Fröhlichkeit gedämpft.

»Armer Mann,« sagte Pauline in jenem Ton, der der Teilnahme einer Frau das Verletzende nimmt, was Mitleid haben kann, »schämt man sich nicht, sich glücklich zu fühlen angesichts dieses Elends?«

»Nichts ist schmerzlicher, als unerfüllbare Wünsche zu haben«, antwortete ich ihr. »Diese beiden armen Wesen, der Vater und der Sohn, sie werden nicht mehr davon wissen, wie stark unser Mitgefühl für sie war, als die Welt weiß, wie schön ihr Leben ist, denn sie sammeln Schätze im Himmel.«

»Armes Land!« sagte sie, indem sie auf ein Feld hinwies, das rings umgeben war von einer Mauer ausgedörrter Steine, von Kuhfladen, die symmetrisch aufgeschichtet waren. »Ich habe gefragt, was das wäre. Eine Bäuerin, die mit dem Aufschichten beschäftigt war, hat mir geantwortet, daß sie Holz mache. Stelle dir vor, mein Freund, daß, wenn diese Fladen getrocknet sein werden, die armen Leute sie sammeln, sie aufstapeln und damit einheizen. Im Winter verkauft man sie, wie man Lohkuchen verkauft. Was glaubst du wohl, wieviel die bestbezahlte Näherin verdient? Fünf Sous den Tag,« sagte sie nach einer Pause, »aber man gibt ihr zu essen.«

»Sieh nur, sage ich zu ihr, »die Seewinde dörren oder vernichten alles; es ist nicht ein Baum da; die Trümmer der außer Dienst gesetzten Fahrzeuge werden an die Reichen verkauft, denn die Transportkosten hindern die Leute ohne Zweifel daran, das Holz als Feuerung zu benutzen, an der es gerade der Bretagne mangelt. Dieses Land offenbart seine Schönheit nur den großen Seelen, gefühllose Menschen können darin nicht leben; es kann nur bewohnt werden von Dichtern oder von Teichmuscheln. Hat nicht der Salzspeicher auf diesen Felsen gesetzt werden müssen, damit er bewohnt wurde? Auf der einen Seite das Meer, hier Sand, darüber der Äther.«

Wir hatten die Stadt bereits hinter uns und befanden uns in einer Art Wüste, die le Croisic von Bourg de Batz trennt. Stellen Sie sich, mein teurer Onkel, eine Steppe von zwei Quadratmeilen vor, angefüllt von dem schimmernden Sand, der am Meeresufer zu finden ist. Hier und da erhoben einige Felsen ihre Häupter, und Sie hätten gemeint, gigantische Tiere vor sich zu haben, die sich in den Dünen lagerten. Längs des Meeres wurden einige Riffe sichtbar, um die das Wasser spielte, indem es ihnen das Aussehen großer weißer Rosen gab, die über der Wasserfläche dahinschweben und sich auf das Ufer setzen wollen. Beim Anblick dieser Savanne, die zur Rechten von dem Ozean begrenzt, zur Linken von dem großen See umsäumt wird, der sich aus dem Durchbruch des Meeres zwischen le Croisic und den sandigen Höhen von Guérande gebildet hat, an deren Fuße Salzteiche, entblößt von aller Vegetation, sich ausbreiten, bei diesem Anblick sah ich Pauline an und fragte sie, ob sie den Mut in sich fühle, der Sonnenhitze zu trotzen, und die Kraft, durch den Sand zu marschieren.

»Ich habe Schnürstiefel an, vorwärts,« sagte sie zu mir, indem sie auf den Turm von Batz zeigte, der die Sicht mit seinem gewaltigen Bau versperrte, welcher sich dort gleich einer Pyramide erhob, aber einer spindelförmigen, zierlich geschnittenen Pyramide, einer so phantastischen Pyramide, daß sie der Vorstellung erlaubte, die bedeutendste Ruine einer großen asiatischen Stadt vor sich zu sehen. Wir machten einige Schritte, um uns auf ein Stück Felsen zu setzen, das noch im Schatten lag; aber es war elf Uhr vormittags, und dieser Schatten, der bei unsern Füßen aufhörte, schwand reißend.

»Wie ist diese Stille schön,« sagte sie zu mir, »und welche Tiefe gewinnt sie durch das gleichmäßige Rauschen des Meeres an dieser Küste!«

»Wenn du dein Augenmerk«, antwortete ich ihr, »auf die drei Unermeßlichkeiten richten willst, die uns umgeben, Wasser, Luft und Sand, und lauschst ausschließlich dem Klang, den Ebbe und Flut immer wieder hervorbringen, – du erträgst diese Sprache nicht, du glaubst einen Gedanken zu erfassen, der dich zu Boden drückt. Gestern, bei Sonnenuntergang, erlebte ich diese Sensation; sie hat mich niedergeschmettert.«

»O ja! sprechen wir«, sagte sie nach einer langen Pause. »Schweigen ist unerträglich. Ich glaube den Ursprung der Harmonien zu erfassen, die uns umgeben«, begann sie wieder. »Diese Landschaft, die nur drei scharf abgegrenzte Farben hat: das strahlende Gelb des Sandes, das Blau des Himmels und das gleichmäßige Grün des Meeres, ist groß, aber nicht wild, ist unendlich, aber nicht öde; sie ist monoton, aber nicht ermüdend; sie hat nur drei Elemente und ist doch mannigfach.«

»Nur die Frauen verstehen ihre Eindrücke so wiederzugeben,« erwiderte ich, »du würdest einen Dichter zur Verzweiflung bringen, teure Seele, die ich so wohl begriffen habe!«

»Die übermäßige Mittagshitze legt über jene drei Ausdrucksformen des Unendlichen eine verzehrende Farbe«, begann Pauline wieder. »Ich begreife hier die Dichtungen und die Leidenschaften des Orients.«

»Und ich begreife hier die Verzweiflung.«

»Ja,« sagte sie, »diese Düne ist ein erhabenes Kloster.«

Wir hörten den eiligen Schritt unseres Führers; er hatte Sonntagskleider angezogen. Wir richteten einige Worte an ihn; er glaubte zu bemerken, daß unsere Seelenverfassung sich geändert habe; und mit jener Zurückhaltung, die das Unglück verleiht, beobachtete er Stillschweigen. Obgleich wir uns von Zeit zu Zeit die Hand drückten, um uns unsere beiderseitigen Gedanken und Eindrücke mitzuteilen, schritten wir während einer halben Stunde schweigend einher, sei es, daß wir von der Hitze niedergedrückt waren, die in leuchtenden Wellen aus der Mitte der Sandwüste ausstrahlte, sei es, daß die Schwierigkeit des Marsches unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Wir gingen Hand in Hand wie zwei Kinder; wir hätten nicht zwölf Schritte machen können, wenn wir uns den Arm gegeben hätten. Der Weg, der nach Bourg de Batz führt, war nicht abgesteckt; es genügte ein Windstoß, um die Spuren zu verwischen, die Pferdehufe oder Karrenräder zurückließen; aber das geübte Auge unseres Führers erkannte an etwas tierischem Kot, an ein paar Stückchen Pferdemist unsern Weg, der bald zum Meere hinablief, bald zur Höhe der Hänge hinanstieg oder um die Felsen herumführte. Zu Mittag hatten wir nicht mehr als den halben Weg zurückgelegt.

»Wir wollen uns dort unten ausruhen,« sage ich, indem ich auf ein aus Felsen gebildetes Vorgebirge zeige, hoch genug, um vermuten zu lassen, daß wir dort eine Grotte finden würden.

Als er mich dies vorschlagen hörte, schüttelte der Fischer, der der Richtung meines Fingers gefolgt war, den Kopf und sagte zu mir: »Da ist jemand. Alle die von Bourg de Batz nach le Croisic gehen oder von le Croisic nach Bourg de Batz, machen einen Umweg, um dort nicht vorbeizukommen.« Die Worte dieses Mannes waren halblaut gesprochen und ließen ein Geheimnis ahnen.

»Ist es denn ein Dieb, ein Mörder?«

Unser Führer antwortete uns nur durch ein tiefes Atemholen, das unsere Neugierde verdoppelte.

»Aber wenn wir da vorbeigehen, wird uns ein Unglück zustoßen?«

»O nein!«

»Gehen Sie mit uns dort lang?«

»Nein, mein Herr.«

»Wir werden dennoch hingehen, wenn Sie uns versichern, daß keine Gefahr für uns damit verbunden ist.«

»Das sage ich nicht«, antwortete der Fischer lebhaft. »Ich sage nur, daß der, der dort anzutreffen ist, Ihnen nichts sagen und Ihnen nichts Böses antun wird. O mein Gott! er wird sich nicht einmal von seinem Platze rühren.

»Wer ist es denn?«

»Ein Mensch!«

Niemals sind zwei Silben so tragisch ausgesprochen worden.

In diesem Augenblick hatten wir uns auf zwanzig Schritt jenem Riff genähert, über das das Meer hinwegspülte; unser Führer schlug den Weg ein, der um die Felsen herumführte; wir gingen geradeaus weiter; aber Pauline faßte mich unter den Arm. Unser Führer beschleunigte seine Schritte, um zur gleichen Zeit mit uns die Stelle zu erreichen, wo die beiden Wege sich wieder vereinigten. Er nahm ohne Zweifel an, daß wir, nachdem wir den Menschen gesehen hätten, in beschleunigtem Schritt weitergehen würden. Dieser Umstand reizte unsere Neugierde, die nun so stark wurde, daß unsere Herzen klopften, als wenn uns ein Gefühl von Furcht befallen hätte. Trotz der Hitze des Tages und der Müdigkeit, die uns der Marsch durch den Sand verursacht hatte, waren unsere Seelen noch befangen in der unaussprechlichen Wollust eines harmonischen Entzückens; sie waren voll von jener reinen Freude, die man nicht anders wiedergeben kann als durch den Vergleich mit dem, was man beim Anhören einer lieblichen Musik empfindet, dem ›Andiamo mio ben‹ von Mozart. Zwei echte Empfindungen, die sich miteinander vereinen, gleichen sie nicht zwei schönen Singstimmen? Um die Bewegung richtig würdigen zu können, die uns ergriffen hatte, muß man den halb wollüstigen Zustand mitempfinden, in den uns die Ereignisse dieses Vormittags versetzt hatten. Betrachte bewundernd eine Weile lang eine hübsch gefärbte Turteltaube, die auf einem biegsamen Zweige sitzt, nahe einer Quelle, und du wirst einen Schmerzensschrei ausstoßen, wenn du einen Sperber auf sie herabstoßen siehst, der ihr seine stählernen Krallen bis ins Herz gräbt und sie mit der mörderischen Geschwindigkeit davonträgt, die das Pulver der Kugel mitteilt. Als wir einen Schritt innerhalb des Raumes getan hatten, der sich vor der Grotte befand, eines freien Platzes, hundert Fuß über dem Ozean und geschützt gegen sein Toben durch einen Wasserfall abgebröckelter Felsen, da durchzuckte uns ein Schauder, fast wie wenn ein plötzlicher Lärm mitten in einer stillen Nacht uns aufschreckt. Auf einem Granitstück sitzend hatten wir einen Mann gesehen, der uns anblickte. Sein Blick, dem Feuer einer Kanone gleichend, kam aus zwei blutunterlaufenen Augen, und seine stoische Unbeweglichkeit war nur zu vergleichen mit der unveränderlichen Stellung der Granithaufen, die ihn umgaben. Seine Augen machten eine langsame Bewegung, sein Körper blieb starr, als wäre er versteinert; und dann, nachdem er jenen Blick auf uns geworfen hatte, der uns lebhaft erschütterte, wandte er seine Augen zurück zur Weite des Ozeans, sah unverwandt daraufhin, trotz des Lichts, das daraus hervorstrahlte, so wie man sagt, daß die Adler in die Sonne sehen, ohne ihre Augenlider zu senken, und behielt sie fest darauf gerichtet. Versuchen Sie, mein teurer Onkel, sich einen jener alten Eichbaumstümpfe in Erinnerung zu rufen, deren knotiger Stamm, gestern vom Sturm seiner Äste beraubt, sich phantastisch an einem einsamen Weg erhebt, und Sie werden ein Bild jenes Menschen haben. Das waren die zerrütteten Formen eines Herkules, das Antlitz eines olympischen Jupiters, aber zerstört vom Alter, von der harten Arbeit des Seemanns, von Kummer, von grober Kost und wie von einem Blitzschlag geschwärzt. Als ich seine behaarten und schwieligen Hände ansah, erblickte ich Nerven, die eisernen Venen glichen. Alles an ihm kündigte eine starke Konstitution an. In einem Winkel der Grotte bemerkte ich einen Haufen Moos und auf einer grob behauenen Platte ein rundes angebrochenes Brot, das auf einer Steinkruke wie ein Deckel lag. Noch niemals, wenn meine Vorstellung mich zu den Wüsteneien trug, wo die ersten Anachoreten der Christenheit lebten, hat sie mir eine Gestalt von so gewaltiger Religiosität oder so schrecklicher Bußfertigkeit gezeigt, wie es bei diesem Menschen der Fall war. Sie, mein teurer Onkel, der Sie oft den Beichtstuhl versorgt haben, Sie haben vielleicht niemals eine so herrliche Gewissensqual gesehen, aber diese Gewissensqual war ertränkt in den Fluten des Gebets, des Gebets, das in stumme Verzweiflung übergeht. Dieser Fischer, dieser Seemann, dieser plumpe Bretone war geadelt durch ein unbekanntes Gefühl. Hatten diese Augen denn geweint? Diese Hand einer grob gehauenen Statue, hatte sie geschlagen? Diese rauhe Stirn mit dem Ausdruck einer spröden Redlichkeit, auf der die Kraft dennoch die Spuren jener Güte zurückgelassen hatte, die die Mitgift aller wahren Stärke ist, diese runzelndurchzogene Stirn, stand sie in Harmonie mit einem großen Herzen? Warum lebte dieser Mensch zwischen den Granitfelsen? Eine ganze Welt von Gedanken stieg uns zu Kopf. Wie es unser Führer angenommen hatte, gingen wir schweigend vorbei, in Eile, und er sah uns von Schrecken ergriffen oder von Erstaunen erfüllt wieder, aber er berief sich uns gegenüber mit keinem Wort auf die Richtigkeit seiner Voraussage.

»Sie haben ihn gesehen?« sagte er.

»Wer ist dieser Mann?« sage ich.

»Man nennt ihn den ›Mann des Gelübdes‹.«

Stellen Sie sich vor, mit welcher Bewegung sich bei diesem Worte unsere beiden Köpfe nach dem Fischer wandten! Er war ein einfacher Mann; er verstand unsere stumme Frage, und nun erzählte er uns in seiner Sprache, deren Volkstümlichkeit ich zu erhalten versuche.

»Gnädige Frau, die Leute von le Croisic wie die von Batz glauben, daß dieser Mann irgendeine Schuld trägt und daß er eine Buße tut, die ihm von einem berühmten Pfarrer auferlegt ist, zu dem er beichten gegangen ist, noch weiter als bis Nantes. Andere glauben, daß Cambremer, so ist sein Name, ein Unglückspilz sei, und daß er jeden anstecke, der ihm in die Nähe kommt. Noch andere beobachten, bevor sie um seinen Felsen herumgehen, woher der Wind kommt! Wenn es Nordwestwind ist, würden sie ihren Weg nicht fortsetzen, und wenn es gälte, ein Stück des heiligen Kreuzes zu holen; sie kehren um, sie haben Furcht. Andere, die Reichen von le Croisic, sagen, daß Cambremer ein Gelübde getan hat, daher sein Name ›Mann des Gelübdes‹. Er ist dort Tag und Nacht, ohne jemals fortzugehen. Diese Gerüchte haben etwas Vernünftiges an sich. – Sehen Sie«, sagte er, während er sich umwandte, um uns etwas zu zeigen, was wir nicht bemerkt hatten, »er hat dort links ein Holzkreuz errichtet, um anzukündigen, daß er sich unter den Schutz Gottes, der heiligen Jungfrau und der Heiligen begeben hat. Er hat noch kein Wort gesprochen, seitdem er sich unter freiem Himmel eingeschlossen hat; er lebt von Brot und Wasser, welches ihm jeden Morgen die Tochter seines Bruders bringt, ein kleiner Knirps von zwölf Jahren, der er sein Hab und Gut vermacht hat und die ein reizendes Geschöpf ist, zart wie ein Lamm, ein allerliebstes, sehr drolliges Mädel. Sie hat Ihnen«, sagte er, indem er seinen Daumen zeigte, »blaue Augen so groß und darüber einen Engelschopf. Wenn man sie fragt: ›Sag doch, Pérotte (das will bei uns soviel heißen wie Pierrette; Sankt Peter ist ihr Schutzheiliger, Cambremer heißt Peter, er ist ihr Pate gewesen) – sag doch, Pérotte, was sagt dir denn dein Onkel?‹ – ›Er sagt mir nix,‹ antwortet sie, ›gar nix, nix.‹– ›Scho gut! Was macht er dir?‹ – ›Er küßt mir am Sonntag die Stirn.‹ – ›Du hast keine Furcht?‹ – ›A wa,‹ sagt sie, ›er ist mein Pate.‹ Er hat niemand anders haben wollen, der ihm zu essen bringen soll. Pérotte behauptet, daß er lächelt, wenn sie kommt; sie ist der Sonnenstrahl in seiner Düsternis.‹

»Aber Sie reizen«, sage ich, »unsere Neugierde, ohne sie zu befriedigen. Wissen Sie, was ihn dorthin geführt hat? Ist es der Kummer, ist es die Reue, ist es eine Manie, ist es ein Verbrechen, ist es . . .«

»Ach, mein Herr, es gibt niemand außer meinem Vater und mir, die die Wahrheit dieser Sache wissen. Meine verstorbene Mutter war im Dienst bei einem Gerichtsbeamten, dem Cambremer auf Geheiß des Priesters alles gesagt hat, welcher ihm nur unter dieser Bedingung Absolution erteilen wollte, nach dem, was die Leute im Hafen sagen. Meine arme Mutter hat Cambremer belauscht, ohne es zu wollen; weil die Küche des Gerichtsherrn neben dem Saal lag, hat sie mitgehört! Sie ist tot; der Richter, der ihn verhört hat, ist ebenfalls verstorben. Meine Mutter hat uns das Versprechen abgenommen, meinem Vater und mir, den Leuten hier im Lande nichts zu verraten, aber das kann ich Ihnen sagen, daß an dem Abend, wo unsere Mutter uns das erzählt hat, mir die Haare zu Berge standen.

»Nun gut! Erzähl' uns das, mein Freund wir werden darüber mit niemandem sprechen.«

Der Fischer sah uns an und fuhr also fort: »Peter Cambremer, den Sie da gesehen haben, ist der Älteste der Cambremers, die, Väter und Söhne, alle Seeleute sind; ihr Name sagt es, das Meer hat immer unter ihnen geduckt. Dieser, den Sie gesehen haben, war Bootsfischer geworden. Er hatte also Barken, ging auf Sardellenfang, er betrieb auch die Hochseefischerei für die Händler. Er würde ein Schiff ausgerüstet und den Kabeljaufang betrieben haben, wenn er nicht seine Frau so sehr geliebt hätte, die eine schöne Frau war, eine Brouin aus Guérande, ein prächtiges Mädchen, die auch ein gutes Herz hatte. Sie liebte Cambremer so, daß sie niemals wollte, daß ihr Mann sie länger verließ, als es für den Sardellenfang nötig war. Sie wohnten dort unten, sehen Sie!« sagte der Fischer, indem er auf eine Anhöhe stieg, um uns ein Inselchen in dem kleinen Binnenmeer zu zeigen, das sich zwischen den Dünen, über die wir gingen, und den Salzteichen von Guérande befindet, »sehen Sie dieses Haus? Es gehörte ihm. Jaquette Brouin und Cambremer hatten nur ein Kind, einen Jungen, den sie geliebt haben . . . wie soll ich sagen? Ja, wie man eben das einzige Kind liebt; sie waren ganz vernarrt in ihn. Ihr kleiner Jacques hätte, mit Verlaub, in den Kochtopf machen können, und sie hätten es für Zucker gehalten. Wieviel Male haben wir sie doch gesehen, auf dem Markt, wenn sie das schönste Spielzeug für ihn kauften. Das war Unvernunft, alle Welt sagte es ihnen. Als der kleine Cambremer sah, daß ihm alles erlaubt war, wurde er ein sehr böses Kind. Wenn man zum Vater Cambremer sagte: ›Ihr Sohn hätte beinahe den kleinen Soundso getötet!‹ dann lachte er und sprach: ›Bah, das wird ein mutiger Seemann! Er wird die Flotten des Königs befehligen.‹ Oder: ›Peter Cambremer, wissen Sie, daß Ihr Junge der kleinen Pougaud ein Auge ausgestochen hat?‹ ›Er wird die Mädchen lieben‹, antwortete Peter dann. Er fand alles gut. Nun, als der Bengel zehn Jahr alt war, prügelte er sich mit aller Welt und amüsierte sich damit, den Hühnern den Hals abzuschneiden, er schlitzte den Schweinen den Bauch auf und sielte sich dann in dem Blute rum wie ein Steinmarder. ›Das wird ein glänzender Soldat,‹ sprach Cambremer, ›er mag gern Blut sehn.‹ Sehen Sie, was mich betrifft, ich habe mich alles dessen erinnert,« sagte der Fischer. »Und Cambremer auch«, fügte er nach einer Pause hinzu. »Mit fünfzehn oder sechzehn Jahren war Jacques Cambremer . . . was? ein Raubtier, ein Haifisch. Er ging nach Guérande, um sich zu amüsieren, oder nach Savenay, um zu poussieren. Dann begann er seine Mutter zu bestehlen, die ihrem Manne nichts zu sagen wagte. Cambremer war ein Mann, der imstande war, zwanzig Meilen zu machen, um jemandem zwei Sous zurückzugeben, die man ihm auf eine Rechnung zuviel bezahlt hatte. Nun, eines Tages wurde die Mutter vollständig ausgeraubt. Während sein Vater auf Fischfang war, trug der Sohn das Büfett weg, die Schüsseln, die Wollsachen, die Wäsche, er ließ nichts zurück als die vier Wände. Er hatte alles verkauft, um davon in Nantes zu schlemmen. Die arme Frau hat darüber Tag und Nacht geweint. Sie hätte es dem Vater bei seiner Rückkehr sagen müssen, sie fürchtete den Vater, nicht ihretwegen, keineswegs! Als Peter Cambremer wiederkam und sein Haus mit Möbeln eingerichtet sah, die man seiner Frau geliehen hatte, sagte er: ›Was soll denn das sein?‹ Die arme Frau war mehr tot als lebendig, sie sprach: ›Wir sind bestohlen worden.‹ ›Wo ist denn Jacques?‹ ›Jacques ist angeheitert. Niemand wußte, wo der Kauz hin ist.‹ ›Er amüsiert sich zuviel!‹ sagte Peter. Sechs Monate später erfuhr der arme Vater, daß sein Sohn von der Justiz in Nantes gefaßt worden war. Er macht den Weg zu Fuß dorthin, kommt schneller hin als zu Wasser, nimmt seinen Sohn in Gewahrsam und bringt ihn her. Er fragt ihn nicht: ›Was hast du gemacht?‹ Er sagt zu ihm: ›Wenn du hier nicht zwei Jahre vernünftig mit deiner Mutter und mit mir zusammenlebst, zum Fischen gehst und dich wie ein anständiger Mensch benimmst, bekommst du es mit mir zu tun.‹ Der Rasende, der auf die Dummheit seiner Eltern baute, hat ihm ein Gesicht geschnitten. Darauf versetzt ihm Peter eine Maulschelle, die den Jacques sechs Monate aufs Bett geworfen hat. Die arme Mutter war halbtot vor Kummer. Eines Abends schläft sie friedlich an der Seite ihres Mannes, da hört sie einen Lärm, erhebt sich und bekommt einen Messerstich in den Arm. Sie schreit, man sucht nach Licht. Peter Cambremer sieht seine Frau verwundet; er glaubt, daß es ein Dieb ist, als wenn es hier zu Lande Diebe gäbe, wo man ohne Furcht zehntausend Franken in Gold von le Croisic nach Saint-Nazaire bringen kann, ohne daß einen die Leute fragen, was man unterm Arme trägt. Peter sucht Jacques, er kann seinen Sohn nicht finden. Am nächsten Morgen, hat dieses Ungeheuer nicht noch die Stirn, zurückzukommen, mit der Erklärung, daß er nach Batz gegangen wäre! Brauche ich Ihnen zu sagen, daß seine Mutter nicht wußte, wo sie ihr Geld verstecken sollte? Cambremer seinerseits brachte das seine zu Herrn Dupotet in le Croisic. Die Streiche ihres Sohnes hatten sie Hunderte von Talern, Hunderte von Franken und Goldstücken gekostet, sie waren gewissermaßen ruiniert, und das war hart für Leute, die ungefähr zwölftausend Franken hatten, einschließlich ihrer Insel. Niemand weiß, wieviel Cambremer in Nantes gegeben hat, um seinen Sohn wieder zu bekommen. Das Unglück richtete die Familie zugrunde. Der Bruder von Cambremer hatte Pech gehabt. Um ihn zu trösten, erzählte ihm Peter, daß Jacques und Pérotte (die Tochter des jüngsten Cambremer) sich heiraten würden. Dann beschäftigte er ihn, um ihm seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, bei seinem Fischfang; denn Joseph Cambremer war darauf angewiesen, von seiner Hände Arbeit zu leben. Seine Frau war vom Fieber dahingerafft worden; es mußten die Nährmonate für Pérotte bezahlt werden. Die Frau von Peter Cambremer schuldete eine Summe von hundert Franken verschiedenen Personen für diese Kleine, für Wäsche, Sachen, und zwei oder drei Monatsgelder der großen Frelu, die ein Kind von Simon Gaudry hatte und Pérotte nährte. Die Cambremer hatte ein spanisches Goldstück in die Matratze eingenäht und drauf gestickt: ›Für Pérotte‹. Sie hatte eine gute Erziehung genossen, sie schrieb wie ein Kanzlist, und sie hat ihren Sohn lesen gelehrt, das ist es, was ihn zugrunde gerichtet hat. Niemand hat gewußt, wie das zuging, aber dieser Lumpen-Jacques hatte das Gold gerochen, hatte es gegriffen und war nach le Croisic schmausen gegangen. Der gute Cambremer kam eigens mit seiner Barke nach Hause. Beim Aussteigen sieht er ein Stück Papier flattern, greift es, bringt es seiner Frau, die auf den Rücken fällt, als sie ihre eigenen Schriftzüge wieder erkennt. Cambremer sagt nichts, geht nach le Croisic, erfährt dort, daß sein Sohn beim Billard ist; alsdann läßt er die gute Frau, die das Café hat, rufen und sagt zu ihr: ›Ich habe Jacques geheißen, nicht ein Goldstück für seine Zeche bei Ihnen auszugeben; geben Sie es mir wieder, ich warte an der Tür, und werde Ihnen gutes Silber dafür geben.‹ Die gute Frau brachte ihm das Goldstück. Cambremer nimmt es und sagt: ›Ist gut!‹ und kehrt nach Hause zurück. Die ganze Stadt hat das zu wissen bekommen. Aber jetzt kommt das, was ich allein weiß und worüber die anderen nur eine ungefähre Vermutung haben. Er sagt seiner Frau, sie solle ihr Zimmer, das unten liegt, in Ordnung bringen; er macht Feuer im Kamin, zündet zwei Lichter an, stellt zwei Stühle auf die eine Seite des Herdes und einen Schemel auf die andere, heißt seine Frau, ihm seinen Hochzeitsanzug reichen, und befiehlt ihr, sich auch fein zu machen. Er kleidet sich an. Als er fertig ist, holt er seinen Bruder und trägt ihm auf, vor dem Hause Wache zu stehn, um ihm zu melden, wenn er an einem der beiden Ufer Lärm hört, dem hier und dem an den Sümpfen von Guérande. Er kommt zurück, als er glaubt, daß seine Frau angezogen ist, er lädt ein Gewehr und versteckt es in der Kaminecke. Da kommt Jacques; er kommt spät; er hatte bis zehn Uhr gezecht und gespielt; er hatte den Weg über die Landzunge von Carnouf genommen. Sein Onkel hört ihn rufen, holt ihn vom Teichufer und bringt ihn rüber, ohne ein Wort zu sprechen. Wie er eintritt, sagt sein Vater zu ihm: ›Setz dich dahin‹, wobei er auf den Schemel weist. ›Du stehst‹, sagt er, ›vor deinem Vater und deiner Mutter, gegen die du dich vergangen hast, und die über dich zu richten haben.‹ Jacques begann zu schreien, weil das Gesicht Cambremers seltsam verzerrt war. Die Mutter saß stocksteif da. ›Wenn du schreist, wenn du dich rührst, wenn du nicht wie ein Mast auf deinem Schemel sitzt,‹ sagte Peter, indem er sein Gewehr auf ihn richtete, ›schieße ich dich wie einen Hund nieder.‹ Der Sohn wurde stumm wie ein Fisch; die Mutter hat nichts gesprochen. ›Hier ist ein Stück Papier,‹ sagte Peter zu seinem Sohn, ›in das ein Goldstück eingewickelt war; das Goldstück war im Bett deiner Mutter; deine Mutter allein wußte den Platz, wo sie es hingelegt hatte; ich habe das Papier am Wasser gefunden, als ich hier an Land ging; heute abend hast du dies Goldstück der Mutter Fleurant gegeben, und deine Mutter hat ihr Goldstück nicht mehr in ihrem Bett gesehen. Erkläre dich.‹ Jacques sagte, daß er das Goldstück seiner Mutter nicht weggenommen, daß er dieses Stück noch von Nantes her habe. ›Um so besser‹, sagte Peter. ›Wie kannst du uns das beweisen?‹ ›Ich hab' es gehabt.‹ ›Du hast das nicht von deiner Mutter genommen?‹ ›Nein.‹ ›Kannst du das bei deiner ewigen Seligkeit beschwören?‹ Er wollte schwören; seine Mutter richtete ihre Augen auf ihn und sagte zu ihm: ›Jacques, mein Kind, nimm dich in acht, schwöre nicht, wenn das nicht wahr ist; du kannst dich bessern, kannst bereuen; noch ist es Zeit.‹ Und sie weinte. ›Ihr zwei beiden seid es,‹ sagte er zu ihr, ›die immer mein Verderben gewollt haben.‹ Cambremer erbleichte und sprach: ›Das, was du eben zu deiner Mutter gesagt hast, macht deine Rechnung voll. Kommen wir zur Sache. Schwörst du?‹ ›Ja.‹ ›Sieh mal an‹, sagte er, ›war auf deinem Goldstück dieses Kreuz, daß der Sardellenhändler, der es mir gegeben hat, auf das unsere gesetzt hat?‹ Jacques wurde nüchtern und begann zu weinen. ›Genug geschwätzt‹, sagte Peter. ›Ich spreche dir nicht davon, was du vordem gemacht hast, ich will nicht, daß ein Cambremer dazu bestimmt sein soll, auf dem Platz von le Croisic zu sterben. Sprich dein Gebet, und beeilen wir uns! Es wird ein Priester kommen, um dir die Beichte abzunehmen.‹ Die Mutter war rausgegangen, um nicht die Aburteilung ihres Sohnes mit anzuhören. Als sie draußen war, kam der Onkel Cambremer mit dem Rektor von Piriac, dem Jacques nichts sagen wollte. Er war schlau, er kannte seinen Vater genug, um zu wissen, daß er ihn nicht ohne Beichte töten würde. ›Danke sehr, mein Herr, entschuldigen Sie uns‹, sagte Cambremer zu dem Priester, als er den Starrsinn Jacques sah. ›Ich wollte meinem Sohn eine Lektion erteilen, und wollte Sie bitten, darüber nicht zu sprechen. Du‹, sagte er zu Jacques, ›wenn du dich nicht besserst, dann mache ich ohne Beichte ein Ende mit dir.‹ Er schickte ihn zu Bett. Das Kind glaubte ihm und bildete sich ein, daß es sich mit seinem Vater wieder aussöhnen könne. Er schlief ein. Der Vater blieb auf. Als er sah, daß sein Sohn in tiefstem Schlafe lag, bedeckte er ihm den Mund mit Hanf, band ihn mit einem Stück Schleier fest zu; dann fesselte er ihm die Hände und Füße. Er raste, er schwitzte Blut, wie Cambremer dem Gerichtsbeamten später gesagt hat. Was soll ich Ihnen sagen? Die Mutter warf sich dem Vater zu Füßen. – ›Er ist gerichtet,‹ sprach er, ›du wirst mir ihn in die Barke bringen helfen.‹ Sie weigerte sich. Cambremer brachte ihn allein hinein, warf ihn auf den Boden, band ihm einen Stein um den Hals, dann verließ er die Bucht, ging auf die See hinaus und kam zur Höhe des Felsens, wo er sich jetzt aufhält. Als dann die gute Mutter sich hierher von ihrem Schwager hatte bringen lassen, da hatte sie gut um Gnade rufen! Das war so viel, als wenn man mit einem Stein nach einem Wolf wirft. Es war Mondschein, sie hat es gesehen, wie der Vater ihr Herzenskind ins Meer warf, und da kein Lüftchen wehte, hat sie es aufklatschen hören. Dann Stille, keine Welle, keine Furche; das Meer wacht gut! Cambremer ging an Land, um seine wimmernde Frau zum Schweigen zu bringen, er fand sie wie tot, es war den beiden Brüdern unmöglich, sie zu tragen, man mußte sie in die Barke bringen, die soeben den Sohn getragen hatte, und dann fuhren sie sie über le Croisic nach Hause. Ah, ja! Die schöne Brouin, wie man sie nannte, hat keine acht Tage mehr gemacht; als sie im Sterben lag, bat sie ihren Mann, die verfluchte Barke zu verbrennen. Er hat es getan. Und er, er ist ganz wirr geworden, er wußte nicht mehr, was er wollte; er schwankte beim Gehen wie ein Mann, der keinen Wein vertragen kann. Dann hat er eine Reise von zehn Tagen gemacht und ist heimgekehrt zu jenem Platze, wo Sie ihn gesehen haben, und seitdem er dort ist, hat er kein Wort gesprochen.«

Der Fischer hatte nur ein paar Augenblicke gebraucht, um uns diese Geschichte zu erzählen, und er hat sie noch viel einfacher gesagt, als ich sie niedergeschrieben habe. Die Leute aus dem Volke überlegen wenig, wenn sie etwas erzählen; sie nennen das Ding beim Namen, das auf sie Eindruck gemacht hat, und geben es so wieder, wie sie es empfinden.

»Ich gehe nicht mehr nach Batz«, sagte Pauline, als wir den oberen Rand des Sees erreicht hatten. Wir kehrten über die Salzteiche nach le Croisic zurück, durch das Labyrinth hindurch, aus dem uns der Fischer hinausführte, der selbst schweigsam wie wir geworden war. Unsere Seelenverfassung hatte sich gewandelt. Wir waren alle beide in finstre Gedanken versunken, erschüttert von diesem Drama, welches die plötzliche Ahnung erklärte, die uns beim Anblick Cambremers befallen hatte. Wir wußten die eine wie der andere genügend von der Welt, um von diesem Leben zu dritt alles zu erraten, was uns unser Führer davon verschwiegen hatte. Das Unglück dieser drei Wesen hellte sich uns vor Augen, als wenn wir sie in den Szenen eines Dramas gesehen hätten, das dieser Vater durch die Sühne seines notgedrungenen Verbrechens krönte. Wir wagten nicht zu dem Felsen zurückzublicken, wo sich der unglückliche Mensch befand, der einem ganzen Lande Furcht einflößte. Wolken verhüllten den Himmel; am Horizont stieg Dampf empor, wir gingen inmitten der allerdüstersten Natur, die ich jemals angetroffen habe. Wir schritten durch eine Landschaft, die leidend, krankhaft erschien; Salzsümpfe, die man mit vollem Recht die Skrofeln der Erde nennen könnte. Dort ist der Boden in ungleiche Vierecke eingeteilt, die alle von gewaltigen Böschungen aus grauer Erde eingerahmt werden, und die mit einem brackigen Wasser angefüllt sind, auf dessen Oberfläche das Salz erscheint. Diese Schluchten, von Menschenhand hergerichtet, sind innen in Streifen eingeteilt, längs deren mit langen Rechen ausgerüstete Arbeiter schreiten, um damit diese Salzlake abzuschäumen und das Salz, wenn es zu Haufen geschüttet werden kann, auf runde Schwellen zu bringen, die in Abständen angebracht sind. Zwei Stunden schritten wir an diesem traurigen Schachbrett entlang, wo das Salz mit seinem Überfluß die Vegetation erstickt und wo wir dann und wann einige »Paludiers« bemerkten, wie man die Leute, die das Salz fördern, genannt hat. Diese Leute, oder vielmehr dieser Stamm von Bretonen, trägt eine besondere Kleidung, eine weiße Jacke, ganz ähnlich der der Bierbrauer. Sie heiraten untereinander. Es gibt kein Beispiel dafür, daß eine Tochter dieses Stammes einen anderen Mann als einen Paludier geheiratet hätte. Der fürchterliche Anblick dieser Sümpfe mit ihrem gleichmäßig abgetragenen Schlamm und dieser grauen Erde, der Schrecken der bretonischen Flora, stand im Einklang mit der Trauer unserer Seele. Als wir die Gegend erreicht hatten, wo man den Meeresarm überschreitet, der von dem Einbruch des Wassers in diesen Grund gebildet wird und von dem ohne Zweifel die Salzsümpfe gespeist werden, bemerkten wir mit Vergnügen die spärliche Vegetation, die der Küstensand trägt. Bei der Überfahrt sahen wir mitten im See die Insel liegen, wo einst die Cambremer wohnten; wir wandten den Kopf weg.

Als wir nach unserm Gasthaus kamen, bemerkten wir ein Billard, das in einem kleinen Saal stand, und als wir erfuhren, daß dies das einzige öffentliche Billard war, das es in le Croisic gab, trafen wir in der Nacht unsere Reisevorbereitungen; am nächsten Tag waren wir in Guérande. Pauline war noch in trauriger Stimmung, während ich bereits das Herannahen jenes Feuers fühlte, das jetzt in meinem Hirn brennt. Ich wurde von den Visionen, die ich von diesen drei Wesen hatte, so grausam gemartert, daß Pauline zu mir sagte: »Louis, schreibe das nieder, dann wirst du das Fieber überwinden.

So habe ich Ihnen denn dieses Abenteuer beschrieben, mein teurer Onkel; aber es hat mich schon um die Ruhe gebracht, die ich meinen Bädern und unserm Aufenthalt hier verdankte.

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