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Drittes Kapitel

1

Wir sollten in unseren Reden und Schriften zurückkehren zur Simplizität unserer Vorfahren, jener himmlischen Chronisten des Wahren und Falschen, die über die Beweggründe ihres mit Fleiß und Geduld stilisierten Bemühens keinen Zweifel aufkommen ließen; deren bona voluntas, ins Werk gesetzt für Menschen, die eine bona fides ihnen entgegenbrachten, jene dreifache Frucht trug, die die Sache, den Autor und sein Publikum gleichzeitig förderte. Eure Rede sei Ja ja, Nein nein, alle Sophistik aber sei euch Ausflucht, Schwäche und Blendwerk. In einer Zeit, die, wie vielleicht keine vorher, aus der Ideologie demagogisches Werkzeug macht; in der jede politische, soziale und religiöse Äußerung der Eitelkeit und dem Interesse von Personen, Gesellschaften und Klassen zum Opfer fällt – kann die Autorität des geschriebenen und gesprochenen Wortes anders wiederhergestellt werden, als durch die äußerste Aufrichtigkeit?

Von der Ansprache eines apokalyptischen Herrn von Hohenzollern bis hinab zur Zeitungsannonce: welche Selbstsicherheit im Irreführen und Überlisten! Welcher Mangel an Redlichkeit, welch verschlagener Sinn im Mißbrauch naiven Vertrauens! Wessen Motive sind noch identisch mit dem Wort, das er schreibt oder spricht? Wer besitzt noch den Mut, einzustehen für seine Erlebnisse, sein Tun und seine Überzeugung? Das große Abdanken zum »Besten« des Vaterlands und der persönlichen Wohlfahrt – grassiert es nicht schlimmer als eine Seuche? Und ist es weniger verächtlich, weil heute mehr auf dem Spiele steht, weil die Gefahr größer ist?

Menschen, Geschöpfe derselben Mutter, durch Sonne, Mond und Sterne mit uns verwandt, kriechen mit hängenden Eingeweiden und zerrissenen Gliedern in wirrem Leichenhaufen, fressen spärliches Gras in Gefangenenlagern, verenden in Angst, Qual und Tortur verkoteter Gräben, Gefängnisse und Transporte. Ist es nicht an der Zeit, ihr meine Brüder, den Streit in die Heimat zu tragen statt in das »Feindesland«? Keinen Rücksichten mehr zu folgen als denen der Wahrheit und Gerechtigkeit?

Dieses Buch handelt von Freiheit und Heiligung; von den Prinzipien jener Heroen, denen die Wohlfahrt des deutschen Volkes identisch war oder hätte identisch sein müssen mit dem Wohle der Welt. Im Konvent von 1793 trat ein Deutscher auf namens Cloots und sprach: »Ich kämpfte mein Leben lang gegen die Herren der Erde und des Himmels. Es gibt nur einen Gott, die Natur, nur einen Herrn, das Menschengeschlecht, das göttliche Volk, durch die Vernunft zur allgemeinen Republik vereinigt. Ich stehe auf der Tribüne des Universums, ich wiederhole, das menschliche Geschlecht ist Gott – le Peuple Dieu!« Nach dem »Moniteur«, Nr. 120 vom Jahre 1793, mitgeteilt von Tim Klein, Sondernummer »Die deutschen Träumer«, der »Süddeutschen Monatshefte«, April 1918. Darüber läßt sich sprechen. Er träumte von einer Liga aller Menschen, in der die Nationen aufgehen sollten; er schlug den Franzosen vor, sich nicht mehr »Français«, sondern »Universel« zu nennen, und er war nicht einmal ein Agent provocateur, sondern Präsident des Jakobinerklubs. Schäbige Schreiberseelen, die sich seine Landsleute nennen, höhnten von diesem Vorkämpfer einer deutschen Zukunft, daß der Deutsche, wenn er verrückt wird, alle anderen Nationen an Verrücktheit überbietet, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß im Paris von 1793 vielleicht niemand die Universalität der großen Französischen Revolution stärker geahnt und empfunden hat als er.

Die intellektuellen Kämpfe des 19. Jahrhunderts sind die Exegese der großen Französischen Revolution von 1789 und 1793. Das Prinzip der Freiheit, das in den Zeiten der Renaissance und der Aufklärung eine Despotenfreiheit war, erhielt eine christlich-restaurative Wendung durch die ihm beigegebenen Begriffe der Gleichheit und Brüderlichkeit, und wenn auch alle die weltbeglückenden Ideen und Systeme, alle die Konspirationen der Dekabristen und Anarchisten, alle die utopischen Bemühungen christlicher Apologeten und sozialer Emanzipatoren sich wiederspruchsvoll und im Kampfe gegeneinander erwiesen, so wurden doch unverlierbarer Besitz: die Menschenrechte, die Rechte der Masse und jedes ihrer Individuen, die Rechte der Nation; und wurde Gewissensurgrund einer neuen Menschheit die Abschaffung aller knebelnden, hemmenden, despotischen Gewalten.

Wir Deutschen am wenigsten haben Veranlassung, uns verwirren zu lassen von Rabulisten der Reaktion, die mit der Karikatur die Idee widerlegen möchten, indem sie uns sagen, daß »Freiheiten nicht die Freiheit bedeuten«, »daß Freiheiten nicht einmal Freiheiten sind, sondern nur polizierte Interessen« und die uns für die politische Freiheit die »innere civitas dei« als Ersatz anbieten Vgl. Franz Blei, »Menschliche Betrachtungen zur Politik., München 1916.. Wir wissen, daß die Klassenpolitik die Brüderlichkeit nicht förderte, sondern verkümmern ließ in den Vereinsbruder, den Kegelbruder, den Parteibruder oder das Genossentum wirtschaftlicher Interessentengruppen. Wir wissen, daß die Brüderlichkeit »unmenschlich« wurde, indem sie sich partikularisierte in Zirkeln, Verbänden, Parteien. Aber das spricht nur gegen die Art der Verwirklichung, nicht gegen das Prinzip; nicht gegen die restlose Parteinahme, noch gegen den »unablässigen Kampf für die Befreiung von Armen und Köpfen zur glückhaften Anschauung und zur Betätigung der Güte«, wovon in früheren Zeiten René Schickele einmal sprach »Die Pflicht zur Demokratie«, III. Jahrgang der »Weißen Blätter«, November 1916.. Die Herren Naumann, Sombart, Scheler und Rathenau wissen viel Materielles und Unbrauchbares von der Französischen Revolution zu erzählen Es ist immer dasselbe Lied: Die bourgeoisen Freiheiten, die Krämerfreiheiten, die vermeintlichen, gottlosen, verfluchenden Freiheiten. Man vergißt dabei nur, daß die Entwicklung in den westlichen Demokratien beim Jahre 1830 nicht stehen blieb, sondern allmählich zur religiösen Durchdringung und Vertiefung jener »Freiheiten« führte. Wir kämpfen heute durchaus nicht mehr wie in den Zeiten der Heiligen Allianz als Verteidiger theologischer Heiligtümer gegen ein nationalistisches Heidentum, sondern umgekehrt: man macht uns den heiligen Krieg als aufgeklärten Satanisten und Antichristen, mehr als es selbst den politischen Führern der Entente zu Bewußtsein kommt. Aus der Fusion von Ideen Calvins und Rousseaus entsprang in großartiger Weise der Gedanke des Kreuzzugs gegen die deutsche Ideologie.. Vom Ideensturm haben sie nichts gefühlt. Es wäre ja auch verwunderlich.

Die neue Demokratie, an die wir glauben, und um deren Prinzipien heute die Welt kämpft, ist nicht in der Ansicht beschlossen, daß die »Freiheit in Gott« gleichzeitig bestehen kann mit der Unfreiheit im Gesetz, der Vergewaltigung im Staat und der Tyrannei im Absolutismus; nicht darin beschlossen, daß ein parlamentarisches System in Deutschland nach dem Muster der westlichen Demokratien die Lösung aller Konflikte bringt, die Deutschland heute trennen von der Welt. Es ist schlimmste deutsche Tradition, auf die politische Freiheit zu verzichten unter Hinweis auf die berühmte intelligible »Freiheit in Gott«, und die Revolution von 1793 zu verwerfen, weil sie zur Zeit ihres Ausbruchs »die Religion abschaffte«. Aber ebenso unsinnig wäre es, den heutigen deutschen Regierungs-Satanismus ohne die Freiheit in Gott bekämpfen zu wollen mit den demokratisch-liberalistischen Tendenzen, die in England, Frankreich, Amerika und Italien politische Errungenschaft geworden sind. Das kaiserliche Deutschland repräsentiert heute die ungeheuerlichste Akkumulation der reaktionären Methoden dreier Kaiserreiche und des Papsttums, und die Bekämpfung dieses antichristlichen Bollwerks, dessen Zentrale Berlin ist, führt notwendigerweise zu einer Prüfung gerade der revolutionärsten Gedanken des vorigen Jahrhunderts auf ihren Freiheitsgehalt. So nur bieten sich Hebel, die es ermöglichen, jene satanische Residenz aus den Angeln zu heben.

Frankreich hat den Gedanken des Kommunismus wiedergefunden, der seit den Tagen der Taboriten und Thomas Münzers verloren war. Babeuf hieß sein Entdecker, und auf dem Wege der Konspirationen Buonarottis kam er zu Weitling, der in der Schweiz ihn zum erstenmal offen wieder verkündigte. Brissot sprach bereits 1780 davon, daß Eigentum Diebstahl sei. In der erhabenen Gestalt Proudhons führte ein ebenso kühner wie weiser Idealismus zur Kritik des Eigentums und zur Anarchie, dem Verzicht auf den Staat. Karl Marx, ein Schüler Proudhons und Hegels, fand die Prinzipien einer neuen (proletarischen und materiellen) Geschichtsbetrachtung. Michael Bakunin und sein großer russischer Lehrer, der Dekabrist Pestel, stellten den Föderalismus und die Dezentralisation der Staaten für die Neuordnung der slawischen Welt und Europas auf. Mazzini aber und Lamennais, Weitling und Tolstoi versuchten die Freiheit unabhängig von der Kirche zu heiligen und schufen so, Thomas Münzer grüßend, den Begriff des christlichen Anarchisten, Demokraten, Republikaners und Revolutionärs.

Die Resultante aller dieser Prinzipien muß in unseren Köpfen und Händen neues Leben gewinnen, wenn wir das heutige deutsche Staatssystem nicht nur beschimpfen, sondern treffen und auflösen wollen. Enthusiastisch zu jedem Opfer bereit muß die deutsche Jugend sich verbünden mit dem Freiheitsgeist aller uns fürchtenden Völker, wenn sie nicht an der Zukunft ihrer Nation verzweifelnd, den Kampf aufgeben und sich zynisch verkriechen will. Rücksichtslos gilt es, die ganze Erbärmlichkeit des sogenannten deutschen Geisteslebens aufzudecken, und erst wenn wir dahintergekommen sind, wie viel hier gesündigt, versäumt und getäuscht worden ist; wenn Männer unter uns selbst den Mut finden, einzugestehen, daß wir in Sachen der Menschheit und Menschlichkeit die hinterhältigste, feigste und bequemste Nation der Welt gewesen sind, erst dann werden wir festen und sicheren Boden finden, an der Gerechtigkeit mitzubauen und uns dem Sumpf zu entwinden, wo man noch immer verkappte Servilität für Finesse und Tiefsinn hält, Religion, Kunst und Philosophie aber für eine Maske vor dem Tiergesicht.

Voraussetzung dieses Buches ist: daß das neudeutsche Regime, das mit gesegnetem Appetit heute Belgier und Franzosen, Italiener und Russen verschlingt; das allen Ernstes sich damit beschäftigt zeigt, den mittelalterlich-konföderierten Universalstaat der Hohenstaufen wieder erstehen zu lassen, stürzen muß, sei es durch eine Niederlage seiner Waffen, den Zusammenbruch seiner Wirtschaft oder die vereinte geistige Arbeit seiner Revolutionäre. Dieser Popanzen- und Götzenstaat, der die Zentralisation aller Kräfte eines großen, arbeitsamen Volkes und seiner mörderischen Bundesgenossen darstellt; dieser Staat, den der fahrlässige Optimismus oder Ehrgeiz seiner verantwortlichen Geistesgrößen mitbegründen half; der jegliche oppositionelle Bestrebung aufzusaugen oder unschädlich zu machen verstand; dieser Staat, der, hervorgegangen aus einem pietistischen Zwangsmilitarismus und einer despotischen Strafanstalt, nicht nur der eigenen Nation, sondern der Welt gegenüber sich zum moralischen Richter und Gesetz aufwarf, während er selbst sich herausnahm, Völkerrechte und Neutralitäten zu brechen, Krieg zu verhängen und Länderraub zu treiben; dieser Staat muß gerichtet und niedergeworfen werden, wenn es Garantien geben soll für den Wiederaufbau der Menschheit, für eine Weltrepublik, für die Friedensarbeit zum Heil der betroffenen Völker. An die Attila-Pose seines Herrschers, an die Säbelpolitik seiner Berater klammern sich alle lichtscheuen und zynischen Elemente der Welt, alle geheimen Großspekulanten und Obskuranten, nebst der jesuitischen Krebsgängerei kirchlicher Hofpolitik. Diese Gewalt wird und muß fallen, früher oder später, und die Aufgabe der verantwortlichen Intelligenz wird es sein, zu verhindern, daß innerhalb der prinzipienlosen Nation eine Schlächterei dann anhebt, die alle Entsetzlichkeiten des Krieges überbietet. Kein einzelner Charakter wird rein und groß genug sein, der zerstörenden Gewalt standzuhalten, die dann im eigenen Lande wüten wird, wie sie im fremden Land wütete. Kein einzelner wird, von welch mächtiger Konstitution seine moralischen und physischen Kräfte sein mögen, den Aufgaben und dem Jubel gewachsen sein, die dann aufs neue die Welt erschüttern. Das alles aber ist unausbleiblich, wenn das menschliche Dasein auf dieser Erde nicht zum Gespött der Tiere werden soll.

Und so gilt es: ein höchstes Prinzip der Freiheit zu suchen und aufzustellen, als hänge von uns das künftige Heil der Menschheit ab, wie wir sie in Elend, Trauer und Schutt gestürzt haben. So gilt es, die Konsequenzen dessen zu ziehen, was jeder unter uns weiß und empfindet. So gilt es, innerhalb unserer Nation im Vertrauen auf die Garantien, die eine erlöste Welt nicht verweigern wird, die große Scheidung vorzunehmen zwischen den überhündischen Sadisten, die am Werke sind, uns zu verderben, und den übermenschlichen Leiden derer, die seit nunmehr vier Jahren getäuscht und betrogen die »Ehre« der Nation verteidigen. Wir haben keine Feinde außer im eigenen Lande. Wir haben keine Hoffnung außer jenseits der Schützengräben. Im Jahre 1842 veröffentlichte Michael Bakunin in Ruges »Deutschen Jahrbüchern« einen Aufsatz, betitelt »Die Reaktion in Deutschland«. Der Schlußpassus lautete: »Lasset uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.«

2

Die Geschichte der christlichen Idee im 19. Jahrhundert müßte geschrieben sein, sollte die Isolation evident erscheinen, in die sich Deutschland, angeregt durch Friedrich und Napoleon, durch Hegels Wirklichkeitsphilosophie und Bismarcks Blut- und Eisenpolitik begab. Der Sizilianer Borgese hat das neue Ideal einer Ecclesia militans beschrieben, das mehr und mehr in das Gewissen der heute gegen Deutschland verbündeten Heere und Philosophien übergeht. »Un chant s'élève, inconscient de lui-même, comme ce discours de Malines (du Cardinal Mercier). Il est ardent comme de langage de Saint-Paul, pur comme celui de Pascal; il est sublime et modeste, sacré et profane, orthodoxe et rationnel, pieux et héroïque, européen et universel, aussi bon pour la béguine de Bruges que pour l'esprit cultivé.« G. A. Borgese, »L'Italie contre l'Allemagne«, S. 68. Die Geister, die im 20. Jahrhundert gegen einander streiten, heißen Napoleon und Christus, und der Napoleonismus als Leitmotiv bezeichnet die intellektuelle Entwicklung Deutschlands. »Mehr noch als das Europa von 1800 bis 1801, das im Sieger von Marengo den Muhamed einer neuen Epoche sah, den Vorläufer eines neuen Glaubens, studiert das heutige Deutschland den Napoleonismus und den Werken Treitschkes und Nietzsches. Der Korse hat den Galiläer besiegt.« Ebd., S. 55.

Wogegen nachzuweisen ist, daß Rußland, Frankreich und Italien, ja auch England und Amerika in ihren Quäkern und Pazifisten, indem sie die Emanzipation des Christentums aus der Orthodoxie vollzogen und das christliche Ideal in einem von Kirche und Dogma unabhängigen Sinne restituierten, sich tiefer von Deutschland trennten, als alle nationalen und politischen Unterschiede die Völker je trennen konnten.

Borgese wies auf den Nutzen hin, den in diesem Sinne noch heute die Lektüre von Tolstois »Krieg und Frieden« bietet. »Man sieht darin«, schreibt er, »wie ein Russe, der weder Konstrukteur eitler Ideensysteme, noch Chauvinist und Nationalist war, die Mission des russischen Volkes während der napoleonischen Kriege auffaßt, insbesondere während des Krieges von 1812, der das Scheitern des vielbewunderten Antichrist brachte.« Anna Pawlowna nennt Bonaparte von der ersten Seite des Buches an einen Antichristen. »Seht diese heidnischen Bestien!« schreit die wütende Menge, als die Franzosen Moskau räumen und sich an einem Leichnam vergreifen. Dem Idol der Gewalt und Energie in der Gestalt Napoleons stellt Tolstoi seinen Heiligen, Platon Karatajew gegenüber, den kleinen Bauernmärtyrer, und das ganze Buch stellt den Gegensatz zwischen dem christlichen Ideal und dem napoleonischen Natur-Götzentum dar Ebd., S. 71..

Die ernsthafte, wilde, blonde und schöne Bestie (Schlegel, Schiller, Nietzsche, Wedekind) findet bei den russischen Philosophen und Dichtern keinen Eingang. Im Gegenteil: Trauer und Klage, daß das entsetzliche Tier im Menschen noch immer nicht erstorben ist. Die Kultur der Kraft- und Halbgötter, jene epigonide Renaissance, die in Deutschland an Einfluß gewann, als sie anderwärts bereits in ihren letzten Ausläufern Napoleon und Stendhal überwunden war, konnten das russische Genie des 19. Jahrhunderts nicht bestechen Turgenjew!, ruft man mir zu. Aber Dostojewskij entgegnet: »Que nous ont-ils apporté ces Tourgénief, Herzen, Outine, Tschernischevsky? Au lieu de la beauté divine, dont ils se moquent, nous voyons chez eux une vanité affreuse, un orgueil frivole« (Serge Persky, »La vie et l'oeuvre de Dostojevsky«, Paris, 1918). Bjelinski!, ruft man. Und wieder Dostojewskij: »Cet homme n'était pas capable de se mettre lui-même et ceux qui conduiraient le peuple, à côté du Christ pour tirer de là une comparaison. Il ne remarqua pas combien il y avait en lui et en eux de vanté, de haine, d'impatience et surtout d'amour-propre. Il ne çest jamais demandé: Que mettons-nous à sa place? Est-ce nous mêmes qui sommes si dignes? Il n'était content que lorsqu'on trouvait de mauvais côtés chez les Russes.« (Ebd.), und es ist bezeichnend genug, daß die Ablehnung der Renaissance-Ideologie ihre Vorkämpfer gerade unter den Slawophilen (Danilewskij, Strachow u. a.) fand, die man in Deutschland als Vertreter aller expansiven Barbarei der Feindschaft gegen die »europäische Kultur« verdächtigte Die Analyse des deutschen Begriffs von »europäischer Kultur« ergibt, daß ein krasser Naturfetischismus gerade dort herrschte, wo man die »moskowitische Barbarei« am meisten fürchtete: in Deutschland. Die Identifikation des göttlichen mit dem menschlichen Denkprozeß, die Ableitung des Geistes aus der Materie, zwei Grundanschauungen der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, bedeuteten die Zerstörung der Idee und die Verherrlichung des Naturzustandes. Der Katholizismus hatte den Primat des Geistes allzu despotisch geschützt. Die Reformation aber und ihre Tochter, die Französische Revolution, hoben mit den Privilegien der Intelligenz, mit der Versklavung der Natur bedauerlicherweise zugleich auch den ewigen Widerspruch zwischen diesen beiden feindlichen Reichen auf: gerade die Germanen fanden ihr Genie in der Entfesselung und Bejahung der natürlichen Leidenschaften (Schiller, Kleist, Wagner, Nietzsche), während die Romanen und Slawen, kurz die katholischen Völker, im allgemeinen ihre geistige Arbeit der Sublimierung und Elevation, der Befreiung von den Geistes-, von den Körper- und Naturfesseln widmeten. Die unter dem Einfluß Napoleons entstandene anthropomorphe Schule der Herren Feuerbach, Stirner, Marx und Nietzsche, die so überzeugt ihre vereinten Katapulte gegen den »göttlichen Irrwahn« richtete, hatte keinerlei Veranlassung, Barbarei von draußen zu befürchten. Sie mag es sich von den Dostojewskij, Strachow, Danilewskij, Solowjew gesagt sein lassen, daß ihr menschlicher Größenwahn tausendmal schlimmer und der Aufklärung dringender bedürftig ist, als die »reaktionäre« Dogmatik einer wenigstens prinzipiell auf dem richtigen Wege haltenden Orthodoxie..

Die Russen aber wandten sich gegen das Antichristentum nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Die Raskolniken predigten, daß die orthodoxe Autokratie religiös unmöglich sei. Sie waren die ersten, die die russische Autokratie ein Reich des Antichrist nannten. Damit gelangten sie, als Vorläufer Tolstois, zur religiösen Anarchie. Der Katechismus der Dekabristen Pestel und Rylejew (1825) enthielt den Passus: »Was befiehlt nun Gottes Gesetz dem russischen Volke und der russischen Armee zu tun? Ihre lange Knechtschaft zu bereuen, sich gegen die Tyrannei und Gottlosigkeit zu erheben und zu schwören, daß es nur einen König auf Erden und im Himmel gibt, Jesum Christum.« Dmitri Mereschkowsky, »Der Zar und die Revolution«, München 1908.

Tschaadajew hielt die Orthodoxie für die größte Sünde. »Erst an dem Tage sind wir wirklich frei, wo sich unseren Lippen das Bekenntnis aller Sünden der Vergangenheit entreißen wird und unserer Brust ein mächtiger Schrei der Reue und des Schmerzes entfährt.« Ebd. Er war überzeugt, daß das Heil Rußlands weder in der Orthodoxie noch im Katholizismus, sondern in einer neuen, noch unbekannten Offenbarung neuer sozial-religiöser Grundlagen für die Kirche, für das Reich Gottes auf Erden zu suchen sei, die in der Lehre Christi wohl enthalten, aber von den Menschen noch nicht erfaßt worden seien. Tschaadajew, den Schelling für den »geistreichsten Mann in Rußland« hielt, wurde durch kaiserlichen Erlaß für verrückt erklärt, aber in seinem Werke »Nekropolis« begrub er das ganze orthodoxe und autokratische Rußland als in einer Totenstadt.

Dostojewskij in seinen Romanen gibt die genialste und gewaltigste Auseinandersetzung des Christentums mit dem Antichristentum. Der Marburger Professor Hermann Cohen, bekannt durch sein Eintreten für eine jüdische Universität in Deutschland, meinte zwar, erst dann werde »unser Sieg allmählich ein vollständiger werden«, wenn wir »alle diese falschen Literaturgrößen der Ausländerei in ihrer Differenz von uns erkannt und überwunden haben werden« Hermann Cohen, »Deutschtum und Judentum«, Gießen 1915. Wörtlich: »indessen erfordert nicht nur die aktuelle Not, sondern das Verhältnis unserer Zukunft zu Rußlands Imperialismus vor allem die Nennung des vielleicht gewaltigsten russischen Poeten Dostojewskij, der die ganze Gefahr des byzantinischen Christentums und des Fanatismus jener orientalischen Mystik in sich enthält, mit seiner Kraft sie entfaltend und verhüllend. Erst wenn wir alle diese falschen Literaturgrößen der Ausländerei (sic!) in ihrer Differenz von uns erkannt und überwunden haben werden, erst dann wird unser Sieg allmählich ein vollständiger werden« (S. 43)., und Julius Bab, ein kleinlauterer Literator, hat sich sogar bereitgefunden, die ganze Gottverschwärmtheit des hieratischen Rußland als eine romantische Angelegenheit auf die Indifferenzseite zu schieben, unseren »Realisten« und Rationalisten zuliebe Julius Bab, »Fortinbras oder der Kampf des 19. Jahrhunderts mit dem Geiste der Romantik«, Berlin 1914. Das Buch schließt: »In welche Farbe sind sie also gekleidet, die Bilder der neuen Geister, der Tatfrommen, Erdfrohen, der Überwinder der Romantik? Von Stahl ist die Rede, die Rede von Feuer, und von Kanonenschlag!« Fortinbras: »Geht, heißt die Truppen feuern!« (S. 208).. Daraus ergibt sich aber nur, daß es eine bedenkliche Sache ist, die Literatur für die Folge den Herren Bab, und die Philosophie den Herren Cohen zu überlassen.

Dostojewskijs Hauptgestalten von Raskolnikow bis Karamasow sind so real und unromantisch, als man sich denken kann; politische oder religiöse Rebellen, napoleonide Verbrecher und Atheisten von gestern, heute und morgen. »Die Empörung gegen die menschliche Ordnung ruft in ihnen auch eine Empörung gegen die göttliche Ordnung hervor«, sagt Mereschkowskij. »Der Haß gegen Religion und Christentum, gegen den Heiland wird nicht nur verneint, er führt ihn auch als der Versucher selbst bis zur Bejahung der Antireligion und des Antichristentums.« Am Ende aber hält er Rußland für den »Besessenen, der von Christus geheilt ist« und die atheistischen Revolutionäre für jene »vom Teufel besessenen Schweine, die in den Abgrund stürzen«. Seine Flucht in die Orthodoxie ist sein vorletztes Wort, sein letztes Wort aber die Erklärung dieser Flucht, eine Tagebuchnotiz, ehe er am 1. März 1881 starb. »Es naht das Ende der Welt, der Antichrist kommt.« Und ebenso sein Schüler Solowjew, der jenes Sterbewort in seiner »Geschichte des Antichrist« wiederholt; Solowjew, dessen Lehre darin besteht, daß die orthodoxe Autokratie, und nicht nur für die russische gilt das, sondern für die protestantisch-preußische noch viel mehr, einer der größten weltgeschichtlichen Wege zum Reiche des apokalyptischen Tieres ist Solowjews letztes Werk, »Die Rechtfertigung des Guten« (deutsch Jena 1897) war gegen den Antichristen Nietzsche gerichtet..

In Italien wurde der Kampf gegen Papst- und Königtum vom asketischen Geiste Giuseppe Mazzinis geführt. Die mit Garibaldis Waffenhilfe erzwungene Flucht des Papstes 1848 nach Gaëta war Mazzinis Werk, der als Präsident der römischen Republik die theologisch gestützte Autokratie im Bewußtsein des italienischen Volkes ein für allemal erschütterte. Mazzinis Idee eines unabhängigen Christentums und der religiösen Demokratie war in edelstem Fanatismus unerbittlich und streng. In seinem Hauptwerk »I doveri dell' uomo« bekämpfte er die aufgeklärte Vernunftmoral der Französischen Revolution, wie er im Kampfe gegen die atheistische und materialistische Arbeiter-Internationale und ihr Genuß-Philisterium, im Sinne Tolstois und Dostojewskijs das »höchste Glück im Opfer« forderte Dostojewskijs Testament (Tagebuch, 1881): »Le socialisme des Russes n'est ni le communisme, ni la possesion des forces méchaniques: ce peuple croit qu'il n'aura le Salut quer par l'union universelle en Christ: voilà ce qu'est le socialisme russe« (Persky, S. 454). Und Tolstoi: »Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen: Dies ist das einzige Mittel zur Erreichung der Ziele des Sozialismus« (Leo Tolstois Tagebuch 1895–1899, hrsg. von L. Rubiner, Zürich 1918, S. 163)..

Wie Mazzini sich gegen das Papsttum in Italien und den Atheismus des 19. Jahrhunderts gleichzeitig wandte, so wandte er sich, eine der suggestivsten und brennendsten Gestalten seiner Zeit, gegen die »Apostolische Majestät« auf dem habsburgischen Throne – »mein gefährlichster Feind«, sagte Metternich von ihm – und so hätte er sich, wäre er 1871 noch jung genug gewesen, auch gegen den protestantischen Papst zu Berlin gewandt. Die Menschenpflichten gegenüber den Menschenrechten hat niemand beredter und großartiger gefordert als er, und geriet er damit auch, wie Dostojewskij und Tschaadajew, in eine fatale Allianz mit der »schwarzen Seelenpolizei«, so mußte sein mächtigster Gegner, Michael Bakunin, doch anerkennen, daß er der »Großsiegelbewahrer des religiösen, metaphysischen und politischen Idealismus« blieb Michael Bakunin, »Réponse d'un International à Mazzini«, Oeuvres, Bd. VI, S. 110..

Im christlichen Streite wider die Theokratie fühlte Mazzini, »daß Italien bei seinem Auferstehen der Beginn eines neuen Lebens, der Beginn einer neuen gewaltigen Einheit für die europäischen Nationen sein werde«; empfand er, »daß in Europa eine Leere bestand, daß die Autorität, die wahre, die gute und heilige Autorität, in deren Erforschung noch immer das Geheimnis unseres Lebens liegt, ob wir es uns zugestehen oder nicht, von all denen unvernünftig verneint wird, die mit ihr ein Gespenst verwechseln, eine lügnerische Autorität, indem sie glauben, Gott zu leugnen, wenn sie nur die Götzen leugnen« Giuseppe Mazzini, Politische Schriften, Bd. I, »Erinnerungen aus dem Leben Mazzinis« (1861), übersetzt und eingeleitet von S. Flesch, Leipzig 1911, S. 28.. Er spricht von den Päpsten, »die einst so heilig waren, als sie heute verrucht sind«; und von den Revolutionen sagte er: »man muß sie mit Bildung vorbereiten; sie reifen mit der Vorsicht, vollziehen sich mit der Kraft und heiligen sich, indem man sie zum allgemeinen Guten leitet«. »Meine jungen Mitbrüder«, spricht er uns heutigen Republikanern zu, wie er zur Zeit Jungdeutschlands unseren Vätern zusprach, »fasset Mut und seid groß! Vertrauet auf Gott, auf euer Recht und auf uns! Erhebet diesen Ruf und vorwärts! Die Ereignisse werden uns zeigen, ob wir uns täuschten, wenn wir ausrufen: die Zukunft gehört uns.« Politische Schriften, Bd. I, »Vom jungen Italien« (1832), S. 155. Und an die Dichter des 19. Jahrhunderts (1832): »Die individuelle Welt, die Welt des Mittelalters ist vergangen. Die soziale Welt, die neue Zeit beginnt. Wer wird nach Napoleon den europäischen Despotismus versuchen; die Völker mit Eroberung beherrschen, den Gedanken der Kultur mit seinem eigenen ersetzen können? Eine Weltrepublik ist notwendig, und eine Weltrepublik wird sein!« Ebd., S. 256, 261.

Italien ist das klassische Land der politischen und religiösen Konspiration. Wo gab es außer in Rußland eine ähnliche Macht gegen die Theokratie und ihre Jesuiten, wie im Italien der Carbonari und der Freimaurerorden? Wer kann es wissen, ob nicht in unseren Tagen noch der Palazzo Giustiniani in Rom triumphiert über den Vatikan; die Menschheit und Menschlichkeit über den theologischen Cäsar des Abendlandes, wie sie in Rußland triumphierte über den Cäsar des Orients? Das Papsttum beseitigt zu haben, die letzte regenerative Stütze der Kaiserthrone von Habsburg und Hohenzollern, mag einst der unsterbliche Ruhm Italiens sein!

3

Es ist interessant genug, nach einem Kampf gegen die religiöse Despotie in den deutschen Ländern zu fragen. Das Problem ist hier kaum bewußt. Es gibt eine »Apostolische Majestät« deutscher Zunge zu Wien und einen protestantischen »Summus Episcopus« zu Berlin, außerdem aber eine Entente théologique beider theokratischen Systeme mit der päpstlichen Kurie zu Rom. Diese furchtbare und gewaltige doktrinäre Macht antichristlicher Tendenz ist gerade infolge ihrer Dreifaltigkeit und einer mitunter verfeindeten, dann wieder verbündeten jesuitischen Politik schwer zu fassen; es scheint, daß sie nur durch den universalen bewaffneten Aufstand im Bündnis mit der interessierten Intelligenz aller christlichen Völker, den Kreuzzug, zu Bewußtsein gebracht und gebrochen werden kann.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente, Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf Nietzsches »Wille zur Macht. ist eine Art Exegese und Anwendung des Begriffs Napoleon auf die Philosophie. »Die zwei großen Tentativen, die gemacht worden sind, das 18. Jahrhundert zu überwinden: Napoleon, indem er den Mann, den Soldaten, den großen Kampf um Macht wieder aufweckte« etc. (»Der Wille zur Macht«, Aphorism. 104). Und Bakunin nannte Napoleon, »diesen vermeintlichen Bezähmer des Demokratismus« einen »würdigen Sohn der Revolution, der ihre nivellierenden Prinzipien in ganz Europa mit siegender Hand verbreitet hat«. (»Die Reaktion in Deutschland«, in Ruges »Deutschen Jahrbüchern«, Dresden 1842.). Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renaissance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum war, daß er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und französischen Geiste Von den Gegnern Nietzsches nenne ich den Franzosen André Suarès (»Nous et eux«), den Italiener G. A. Borgese (»Italia e Germania« und »La guerra dell'Idee«), den Russen Wladimir Solowjew (»Die Rechtfertigung des Guten«).. Und ebenso setzte Bakunin sich in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz Genannt seien Mazzini und Dostojewskij. Der erstere trat gegen Bakunin zuerst in einem Artikel der Halbmonatsschrift »La Roma del Popolo« auf, indem er von politisch-religiösem Standpunkt aus die Commune angriff (Lugano, Frühjahr 1871); dann, als sich die weltberühmte Polemik entspann, auch sein Freund Aurelio Saffi in dem mazzinistischen Journal »L'Unità italiana« (Milano, September 1871). Dostojewskij suchte Bakunin und dessen Freund Netschajew mit den Figuren des Schigalew und Werkowensky in den »Besessenen« zu treffen. »Chigalev expose son utopique projet de l'organisation de l'humanité« schreibt Persky, »Dostojevsky souligne le fait que ce projet doit annuler tous les systèmes de Plato, de Rousseau, de Fourier, applicables selon Chigalev à des moineaux et non à une société humaine d'un caractère purement rational«., indem er seinen Sturmanlauf gegen den theologischen Staat ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus Bakunins Hauptargumente lauteten: »Toute autorité temporelle ou humaine procède directement de l'autorité spirituelle ou divine. Mais l'autorité c'est la négation de la liberté. Dieu, ou plutôt la fiction de Dieu est donc la consécration et la cause intellectuelle et morale de tout esclavage sur la terre, et la liberté de l'homme ne sera complète que lorsqu'elle aura complètement anéanti la fiction néfaste d'un maître céleste.« (»Dieu et l'Etat«, Oeuvres, Bd. I, Paris, 1895, S. 283.) Und: »Sous la bannière de Dieu qui se trouve maintenant? Depuis Napoléon III jusqu'à Bismarck; depuis l'impératrice Eugénie jusqu'à la reine Isabelle et entre elles le pape avec sa rose mystique que galamment il présente, tour à tour, à l'une et à l'autre: ce sont tous les empereurs, tous les rois, tout le monde officiel, officieux, nobiliaire et autrement privilégié de l'Europe, soigneusement nomenclature dans l'almanach de Gotha; ce sont toutes les grosses sangsues de l'industrie, du commerce, de la banque, les professeurs patentés et tous les fonctionnaires des Etats; la haute et la basse police, les gendarmes, les geôliers, les bourreaux, sans oublier les prêtres constituant aujourd'hui la police noire des âmes au profit des Etats; ce sont les généraux, ces humains défenseurs de l'ordre public et les rédacteurs de la presse vendue, représentants si purs de toutes les vertus officielles. Voilà l'armée de Dieu.« (»Réponse d'un International à Mazzini«, Oeuvres, Bd. VI, Paris 1913, S. 110 f.) Aber er traf damit nicht die Armee Gottes, sondern die Armee des Teufels, der wir heute noch einige andere Elemente hinzuzurechnen haben, als da sind: materialistische Staatssozialisten, nationalistische »Aufklärer«, Propheten des gesunden Menschenverstandes, die wahren Jakobs der sozialdemokratischen Ausruferei, kommunistische Geldfetischisten und Generalgleichmacher des Göttlichen mit der Gemeinheit.. Beide suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszurotten und trieben, indem sie Götzen und Götter bekämpften, dem Abgrund zu.

In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen Folgen gehabt, die er in Deutschland haben mußte, wenn er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen ließ. Als echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Mißbrauch, die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die Staatsomnipotenz Seine Freigeisterei kam nur Bismarck und dessen Nachfolgern zustatten. Allerhand Sottisen gegen die Religion vorbringen zu dürfen, war in Preußen seit Friedrich II. gerne erlaubt. Dieser Umstand allein hätte genügen sollen, gegen die Freigeisterei und den Atheismus skeptisch zu stimmen. Es charakterisiert die Freiheit, daß sie zur Sklaverei führt, wenn sie sich gegen die Gottesidee richtet.. Und auch Bakunins konsequenter Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten wollte, am Ende zur Stärkung des nationalistischen Staats- und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines abenteuerlichen Leben, seine russische Seele und die apostolische Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte. Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben infolge einer von deutschen Sozialpatrioten großzügig inszenierten Verleumdungs- und Unterdrückungskampagne Protektor dieser Kampagne war Karl Marx., gerade dort unbekannt, wo sie hätten wirken sollen, in Deutschland, und so kann man auch von Bakunins Atheismus sagen, daß er nur dem Pangermanismus zustatten kam, indem er nämlich durch Marx auf die romanische Internationale und Rußland lokalisiert blieb, und dort zur Schwächung der Resistenz beitrug Vgl. die beiden von Marx verfaßten und klandestin verbreiteten Schriften »Confidentielle Mitteilung International Working Men's Association entral Council London« nebst Brief an Kugelmann vom 28. März 1870 (mitgeteilt und in ihrem unerhörten Inhalt glossiert von Fritz Brupbacher, »Marx und Bakunin«. München, S. 79 ff.) und »Angebliche Spaltungen in der Internationale« (Mai 1872), deren Richtigstellung und Kommentar James Guillaume in seinen Erinnerungen gegeben hat. Vgl. auch James Guillaume, »Karl Marx Pangermaniste et l'Association Internationale des Travailleurs de 1864 à 1870«, Paris 1915. »Um sich eine rechte Vorstellung zu machen«, schreibt Brupbacher von der zweiten Schrift, »lese man die ›Konfidentielle Mitteilung‹ nochmals nach und erhebe sie in die zehnte Potenz.« . Die Voltairesche Geißel schwang in Deutschland erst Nietzsche. Die Originalität der von ihm vorgebrachten Argumente verblaßt jedoch bedenklich nach der Lektüre von Bakunins Schriften »Antithéologisme« (1867) und »Dieu et l'état« (1871), deren letztere, publiziert 1882 von Cafiero und Elisée Reclus, Nietzsche vielleicht sogar vorlag Es ist sehr naheliegend anzunehmen, daß Nietzsche beide Schriften Bakunins gekannt hat. In »Féderalisme, Socialisme et Antithéologisme« (1867) finden sich Gedankengänge zur Genealogie der Moral, die fast wörtlich bei Nietzsche wiederkehren. Und die Lektüre von »Dieu et l'Etat« kann Nietzsche durch eine gemeinsame Freundin, Malwida von Meysenbug, vermittelt worden sein. »Dieu et l'Etat« wurde nach der ersten Veröffentlichung (1882) in fast alle wichtigeren Sprachen übersetzt.. Beide Schriften gingen hervor aus der toskanischen Freimaurerei, mit der Bakunin durch ihren Großmeister Dolfi in Verbindung trat Im Jahre 1864. Die ersten Aufzeichnungen zu »Antithéologisme« und »Dieu et l'Etat« entstanden als Antwort auf einen päpstlichen Syllabus vom Winter 1864. Gerade die toskanische Freimaurerei, an die Bakunin Empfehlungen von Mazzini hatte, führte damals einen heftigen Kampf gegen das Papsttum..

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist es allein die einsam überragende Persönlichkeit Franz von Baaders, die in Deutschland bewußt und mit mächtigen Argumenten für das Christentum und die Einheit des Göttlichen eintritt gegen die antichristlichen Philosophien. »Εν Χριστω εισι παντες οι θησαυροι της σοφιας και της γνωσεως αποκρυφοι«: mit diesem Satze der philosophia occulta kämpft er gegen die pantheistischen und rationalistischen Allerweltshumanisten und Schwärmer; gegen Kant, Hegel gleicherweise wie gegen Schelling, dessen Naturphilosophie ihm nur ein »Ragout mit allerhand, auch christlichen Ingredienzien« ist. Jenseits von Systemkonstruktion und patentiertem Sittenkodex stellt er eine unabhängige christliche Moral als »höhere Physik des Geistes« auf. »Aller Mißbrauch der Kraft«, schreibt er in seinen Tagebüchern, »alle Usurpation muß schlechterdings aufhören. Sie muß in Trümmer gehen oder eine neue Organisation empfangen. Die meisten Menschen seufzen durch unsere widersinnige Politik unter diesem elenden Selbstbetruge und schrumpfen zu kümmerlichen Tieren ein.« »Die gütige Natur oder vielmehr Gott hat jedem Menschen ein Ideal, Vorbild von Güte und Größe eingegraben, dem er sein ganzes Leben durch nachleben und sich ihm nachbilden soll, das sich aber in dem Verhältnisse, in dem er sich ihm nähert, erweitert und vergrößert: denn wer hienieden hat wohl sich selbst erreicht?« »Franz von Baader als Begründer der Philosophie der Zukunft«, hrsg. von Franz Hoffmann, Leipzig 1856, S. 12, 18. Er glaubt, »daß das sicherste Verhinderungsmittel alles Bösen nicht die Steinernen Tafeln allein, sondern ein lebendiger Enthusiasmus fürs Gute ist«. Er lebt nach der Maxime »wo immer ein Wesen meiner Art sich mir nähert, erkenne ich dasselbe Prinzip in ihm, dieselbe Natur; und die (erkannte) Vernunftsympathie (und keine bloß gefühlte) sei das Schibboleth, an dem sich Menschen und Menschen unter den übrigen Naturwesen suchen, finden, erkennen, vereinen und lieben« Ebd., S. 17, 19..

So kommt er zu seinem Fahneneid auf die Wahrheit, »fernher den Gedanken des Allmächtigen nachzudenken, mich seiner, der himmlischen Vernunft, zu fügen« Ebd., S. 13.. Und so türmen sich in einem Impetus philosophicus für das Weihnachtsfest die herrlichen Sätze: »Was zanken doch unsere großen Chaldäer, Sternseher, Wahrsager und Zeichendeuter um diesen göttlichen Friedensfürsten, den sie doch nicht haben. Er ist zu Bethlehem und nicht zu Babel«, er ist »im zerknirschten, demütigen Geist und zerbrochenen Herzen, nicht aber in ihrem Gehirn, Büchern und hohen Schulen« Wo diese Worte sich in Baaders Werken finden, weiß ich nicht. Sie wurden mir von einer Schwester des Ordo Templi Orientalis (O. T. O.) mitgeteilt und für diese Arbeit zur Verfügung gestellt..

Tiefe Heiligkeit verbindet ihn mit Thomas von Aquin und Franziskus, mit den großen Mystikern des Mittelalters und Jakob Böhme. Aber auch mit Pascal und d'Aurevilly und den Slawophilen Samarin und Chomjakow »Die Abhängigkeit der Slawophilen von der deutschen Philosophie«, schreibt Masaryk (»Rußland und Europa«, Studien über die geistigen Strömungen in Rußland, Bd. I, S. 250 f.), »erscheint immer größer. Baader hat mit Rußland längere Zeit eine intime Verbindung gehabt; in einer Denkschrift an den Kaiser Alexander I., an den Kaiser von Österreich und den König von Preußen hat er 1814 die Grundlinien der Heiligen Allianz vorgearbeitet und wahrscheinlich die Begründung derselben gefördert. Die Denkschrift (›Über das durch die französische Revolution herbeigeführte Bedürfnis einer neuen und innigeren Verbindung der Religion mit der Politik‹) war dem Fürsten Golizyn, dem Freunde Alexanders I. und damaligen Minister für geistliche Angelegenheiten, gewidmet, und er erhielt längere Zeit eine ansehnliche monatliche Remuneration dafür (140 Rubel). Alexander I. beauftragte Baader 1815, ein religiöses Werk für den russischen Klerus zu verfassen. Baader wollte in Petersburg eine theologische Akademie gründen, durch welche er die innigere Verbindung von Religion, Wissenschaft und Kunst und auch die Aussöhnung der drei Kirchen fördern wollte. Er begab sich 1822 nach Rußland, mußte aber vor Riga umkehren, weil sein enthusiastischer Gönner und Reisebegleiter, Baron Yxküll, Benjamin Constant besucht hatte und in Ungnade fiel. Diese Unvorsichtigkeit kostete Baader auch seine Remuneration.« Um Baaders Entwurf für die Heilige Allianz nicht mit den reaktionären und knebelnden Maßnahmen zu verwechseln, die Metternich später praktizierte, muß man den Inhalt dieses Entwurfs kennen. »Der von den drei Monarchen von Rußland, Preußen und Österreich persönlich geschlossene Bund setzt in der Urkunde vom 26. September 1815 fest, daß sich die Monarchen nur von den Vorschriften der christlichen Religion, nämlich der Gerechtigkeit, der christlichen Liebe und des Friedens werden leiten lassen; sie wollen, weil nach der Heiligen Schrift alle Menschen Brüder sind, künftig als Brüder handeln, ihre Untertanen sollen sich als Glieder einer Nation betrachten: die Monarchen sehen sich nur als Bevollmächtigte der göttlichen Vorsehung an, um die drei Zweige derselben Familie zu regieren, und erkennen keinen anderen Souverän an, als Gott, Christus, das Lebenswort des Allerhöchsten.« (»Rußland und Europa«, Bd. I, S. 80.) Barbey d'Aurevilly sympathisierte mit diesem Entwurf (»Les prophètes du Passé«, S. 171) und Metternich war es, der sich über den Vorschlag Alexanders lustig machte, indem er Geschäftsrücksichten geltend machte. Übrigens mußte auch er bekennen: »Die Heilige Allianz war nicht eine Stiftung zur Niederhaltung der Volksrechte, zur Beförderung des Absolutismus und irgendeiner Tyrannei. Sie war lediglich der Ausfluß einer pietistischen Stimmung des Kaisers Alexander und eine Anwendung der Grundlagen des Christentums auf die Politik. Aus einer Verbindung religiöser und politisch-liberaler Elemente hat sich unter dem Einfluß der Frau von Krüdener und des Herrn von Bergasse die Idee der Heiligen Allianz entwickelt. Niemand ist genauer als ich in der Kenntnis aller auf dieses ›lauttönende Nichts‹ bezüglicher Verhältnisse.« (Fürst von Metternich, Nachgelassene Papiere, I, S. 214.) . Er ist der einzige christliche Philosoph großen Stiles, den Deutschland gehabt hat, doch ersetzt er – die Neuausgabe seiner Schriften wird es zeigen – ganze Schulen und Generationen. Er kann, wenn nur die Jugend ihn verstehen will, zum Magnetberg werden, der einem ganzen Volke das Eisen aus den Händen windet. In Gott sah er die Ursozietät. Er verwarf – unter Deutschen ein Unikum – weder die Tradition noch die Schrift, weder die guten Werke noch den Glauben.

Die Denkkräfte sind nicht das Letzte, was wir heiligen müssen. Die zentrifugale Richtung der ganzen modernen, von Gott abgekehrten Philosophie, den Abfall der Geister, hat niemand so klar erkannt und umfassend bezeichnet wie Baader. »Liebe«, heißt sein schönstes Wort, »ist das allgemeine Band, das alle Wesen im Universum an und ineinander bindet und verwebt. Ohne Affinität kein Ganzes, keine Welt, nicht einmal denkbar; unser Erdball ein wüstes, ewig totes Chaos.« »Satan trennt«, schreibt er anderswo, »er ist Mörder von Anfang. Christus trennt, um zu vereinen«; und ein Wahn ist es ihm, »daß man das Christentum aufgeben müsse, um die intellektuelle und soziale Freiheit zu gewinnen, oder letztere aufgeben, um das Christentum aufrecht zu erhalten« »Franz von Baader als Begründer der Philosophie der Zukunft«, S. 104. Hier auch seine Meinung über Kommunismus und Sozietät: »Eine wahrhafte Gemeine können die Menschen nur dann bilden, wenn sie mit Gott verbunden sind. Im bloß äußerlich aggregierten Leben des modernen Staates hat jeder seine eigene (schlechte, weil abstrakte) Selbständigkeit, die er sogar den übrigen entgegensetzt und die damit nicht bloß Gleichgültigkeit, sondern versteckte Feindschaft ist. Das große Reich Gottes hat keinen anderen Sinn, als die Menschen in eine wahrhaft organische Innung zu bringen, und zwar, weil nur in dieser lebendigen Gemeinschaft Gott Alles in Allem geworden ist, als der eine und derselbe Lebensgeist, der sich in jedem auf einzige Weise manifestiert. Und deshalb bedarf jeder aller Andern, um die Totalität der Manifestation Gottes zu bewerkstelligen. Jeder ist unentbehrlich, denn jeder hat eine andere Gabe. Auf diesem Geheimnis der Verteilung der Manifestation beruht die conjunctio in solidum der Menschheit.« (Sämtl. Werke, Bd. II, S. 73.) . Gegen den Klerus aber sind heftigere Worte nie geschrieben worden als die folgenden: »Auch in deiner Bude war ich, du Priester, der du die Schriften zwar noch hast, aber sie sind dir nur ein siebenfach verschlossen Schloß und den Schlüssel dazu hast du verloren. Mit elendem Sklavensinn klebst du am Buchstaben! Dein Abgott ist eine Mumie, woran nur noch die Form gut ist. Also diese und jene, und alle öffentlichen Buden des Marktes der großen Babel sind leer und darinnen ist weiter nichts als Theer und Schmiere zu holen, die Schnellfahrt jüngster Literatur zu befördern!« »Tagebücher«, Sämtl. Werke, Bd. XI, S. 193 (Ende Nov. 1789).

Das war Baader. Wo aber sind seine Nachfolger? Wer außer ihm und den großen Mystikern und Musikern hat sonst noch in Deutschland eine Apologie Christi geschrieben und den Antichristen bekämpft? Auch Hegel glaubte, eine Theodizee geschrieben zu haben in Übereinstimmung mit dem Christentum. Er war aber nur in Übereinstimmung mit dem Protestantismus und dem absolutistischen Preußentum. Durch die Staats- und Rechtslehre seiner platten Servilität war er Lutheraner und Napoleonist, ohne Ahnung des Göttlichen, das er verhöhnte.

Machiavellisten wurden sie alle. Friedrich II. war Machiavellist, und Fichte »legte sich auf das Studium Machiavells« Als Fichte seinen »Macchiavell« schrieb, war er Professor an der preußischen Universität Erlangen. Nach der mißlichen Oktober-Schlacht 1806 hielt er es nicht für »mit seinem Gewissen vereinbar«, in dem vom Feinde besetzten Berlin zu bleiben, sondern flüchtete über Pommern nach Königsberg. Er blieb zur Verfügung des Königs und wurde am 20. Dezember 1808 »von jetzt an bis zu hergestellter Ruhe an der hiesigen Universität als ordentlicher Professor angestellt«. Dazu heißt es in seinem Ernennungspatent: »Ihm wird zugleich die Zensur der hiesigen Zeitungen aufgetragen und deshalb zur Pflicht gemacht, dabei zu sehen, daß die Nachrichten von den Kriegs- und anderen öffentlichen Begebenheiten nicht in einem verführerischen, den Patriotismus niederschlagenden Tone erzählt, gegenteilig alle Anlässe, und den Mut der Untertanen zu beleben, gehörig benützt werden. – (Mitgeteilt von Robert Prutz, »J. G. Fichte in Königsberg«, Beilage Nr. 181 zur »Allgemeinen Zeitung«, München 1893.) »Nach beiden Richtungen«, schreibt der Herausgeber seines »Macchiavell«, »war er nun tätig; er hielt Vorlesungen, solange er Hörer hatte, und waltete als Zensor, bis ihm dieses Amt abgenommen wurde.« (J. G. Fichtes »Macchiavell«, nebst einem Briefe des Generals von Clausewitz an Fichte, Kritische Ausgabe von H. Schultz, Leipzig 1918, S. VII.) . Hegel wollte »gleichsam der Machiavell Deutschlands« werden. Treitschke und Bismarck haben den Machiavellismus »erweitert«. Nietzsche war Machiavellist, und Machiavellist ist heute Herr Rathenau. Oberster Grundsatz ist der individuelle und Staatsvorteil als Direktive der Moral. Das Philosophie- und Kulturideal hält zum Staate, indem es eine Idee als Abstraktum aufstellt oder verhängt und Subordination verlangt. Der Staat wird auf der lüsternen Willfährigkeit der Untertanen errichtet. Der Wille zur Macht, der im Grunde nur identisch mit der Ohnmacht ist, bedient sich der Lüge, der Hinterlist und jeder Methode der Treulosigkeit, um zu Erfolg und zum Ziel zu gelangen. Das ist die machiavellistische Konspiration der preußisch-deutschen Philosophie von Kant bis zu Nietzsche. Alle zusammen aber sind theoretische Epigonen der Renaissance, jener Epoche glanzvollen Rückfalls ins Heidentum; alle zusammen arbeiten sie der Despotie in die Hände, begünstigen sie das Reich des verschlagenen apokalyptischen Tieres, mögen sie im Wappen selbst die Freiheit und Emanzipation, die Revolte und das Übermenschentum auf den Fahnen tragen.

Noch Solowjew und Lecky sprechen von der »Überlegenheit der Deutschen« auf dem Gebiete der rationalen Philosophie. Solowjew im Kampfe gegen den slawophilen Chauvinismus, den er zu demütigen hoffte »Rußland und Europa«, Jena 1917. Solowjew ist hier sehr ungerecht gegen seine Landsleute und der Verlag hat die Schrift, die die Nichtigkeit der russischen Literatur und die »Sünden Rußlands« beweisen soll, wohl nur aus chauvinistischen Gründen als Separatdruck erscheinen lassen.; Lecky in seiner »Geschichte der Aufklärung«, die im übrigen eines der schönsten Dokumente christlicher Gesinnung ist. Was ist das aber für eine traurige Überlegenheit, die Gott zum Menschen erniedrigt, um sich selbst zu erhöhen; die überall zur Enttäuschung und Katastrophe führt, weil sie ihr Maß verkennt, und die deshalb überall in die Bevormundung, die Staatsmaschinerie und ein zynisches Zwangssystem mündet! Solange wir nicht, anschließend an die menschlich reine Tradition unserer wahrhaft Großen, uns der Irrationalität unseres eigensten Wesens entsinnen, werden wir nur Spreu im Winde sein, und solange wir die Irrationalität nicht im Widerspruch des Menschen mit Gott; das Unlogische aller menschlichen Existenz nicht im Widerspruch des Ideals mit der Wirklichkeit empfinden; – solange werden uns die edelsten Errungenschaften des europäischen Geistes und aller Menschlichkeit im Götzenglauben an unsere rohe Überlegenheit verschlossen bleiben; solange werden wir nichts von alledem verstehen, was man gegen uns vorbringt; solange werden wir Barbaren bleiben trotz aller Anstrengung und Tüchtigkeit.

Man berufe sich doch nicht länger auf die »Göttin Vernunft«, die Abschaffung der Religion und des Gottesglaubens durch die Ereignisse von 1793! Die Prinzipien der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die weiterwirkten, sind tief christlich und göttlich. Die Sklavenbefreiung und der Kommunismus, die in dieser Revolution wieder auflebten, gerade sie sind christlich. Die Evangelisten und die Apostel, die Kirchenväter und Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer und teilweise die Mönche, die Quäker, die russischen Sektierer, gerade sie sind Sozialisten Alexander Herzen wies schon 1849 in einem Briefe darauf hin. »Die sozialen Ideen treten, wenn man will, gleichzeitig nicht allein mit der politischen Ökonomie auf, sondern selbst mit der allgemeinen Geschichte. Jeder Protest gegen die ungerechte Verteilung der Arbeitsmittel, gegen den Wucher, gegen den Mißbrauch des Eigentums – ist Sozialismus. Das Evangelium und die Apostel – um hier nur von der neuen Welt zu reden – predigen Kommunismus. Campanella, Thomas Münzer, die Wiedertäufer, teilweise die Mönche, die Quäker, die mährischen Brüder, der größere Teil der russischen Schismatiker sind Sozialisten.« (»Die Feinde des Sozialismus«, »Aktion«, Nr. 41/42, Berlin 1917.) .

Der christliche Sinn der Französischen Revolution konnte Europa und dem französischen Geiste nicht lange verborgen bleiben, wenn auch die Aufklärung es war, die den ersten Anstoß zur Revolution gab. Hat man 1793 die Religion abgeschafft, so wurde sie 1801 bereits wieder eingeführt, und über die Hälfte der französischen Nation wurde streng römisch-katholisch. Und war durch die Französische Revolution auch ein für allemal das ekklesiastische Dogma erschüttert, so ist doch die ganze intellektuelle Entwicklung Frankreichs von 1801 an ein immer bewußteres Sichwiederbesinnen auf die christliche Tradition, ein immer tieferes Erfassen und Ausgestalten hoher christlicher Werte. Ich spreche nicht vom Parade-Katholizismus und Prokatholikentum der Geister zweiter und dritter Ordnung. Ich spreche von jenem mächtigen Kathedralenbau einer christlichen Apologie, die Frankreich von Chateaubriand, de Maistre und Lamennais bis zu Charles Péguy, André Suarès und der Pascal-Schule Boutroux', unabhängig von der Kirche zu immer menschlicherer und tieferer Symbolik führte, zu stets luzideren und umfassenderen Gebilden, und zuletzt zu einem nationalen Jeanne-d'Arc-Kult von zartester Sublimität Aus einem 1916 erschienenen Buch des André Suarès über Charles Péguy möchte ich folgenden charakteristischen Passus zitieren, den ich Oktober 1916 für die »Weißen Blätter« übersetzte: »Man bilde sich nicht ein, Jeanne d'Arc sei für Péguy ein literarisches Sujet. Jeanne d'Arc ist sein Lebenswerk, seine Aufgabe, seine Mission. Er betrachtete sich gesandt und geboren für Jeanne d'Arc wie Joinville für den heiligen Ludwig. Sein erstes Buch, mit 25 Jahren, ist eine Jeanne d'Arc. Er gestand mir, daß er sein ganzes Leben über Jeanne d'Arc zu schreiben gedenke, sollte er hundert Jahre alt werden. Zwanzig und selbst dreißig weitere Bände schreckten ihn nicht. Er widmete alles insgeheim Jeanne d'Arc. Er übersetzte alles in Jeanne d'Arc, steigerte es in eine höhere Realität. Jeanne d'Arc war für Péguy zuletzt das passionierte Frankreich in seiner höchsten Gegenwart. Der wahre Christ lebt unaufhörlich in der Passion Jesu Christi. Péguy ward nicht müde zu leben in der Passion unserer lieben streitbaren Frau von Orléans. Alle seine Werke, seine Pamphlete, Abhandlungen, seine Reden an und über sich selbst, sind nur die Kämpfe und Scharmützel der heiligen Jeanne im 20. Jahrhundert.«.

Sollte Kardinal Mercier Gegenpapst werden und eine Kirche der christlichen Intelligenz begründen: – eine seiner ersten Maßnahmen müßte sein, ein der neuen Zeit entsprechendes Übersetzungskollegium de propaganda fide einzusetzen, dessen Aufgabe darin bestünde, die Universität der christlichen Renaissance ad oculos zu demonstrieren und die in Bereitschaft stehende orientalische Kirche mit der occidentalen wieder zu vereinen »Le pape aurait toute la puissance«, sagte Suarès (»Remarques IV«, Nouvelle Revue Française, November 1917), »s'il ne gardait pas le regret et la superstition de la force temporelle. Fût-il seul, fît-il sans ville, sans Vatican et sans armée, il aurait l'autorité, qui est l'âme du pouvoir. Mais quoi? il ne serait pas seul; pour armée il aurait toutes les foules catholiques, et alles mêmes qui ne vont pas à la messe: pour ville, toute 1'Occident; pour Vatican le monde entier. Faites en l'essai: allez-vous en, pape Benoît, et laissez la tiare au cardinal Mercier.«. Die Zeiten sind reif. Ein gemeinsamer Glaube lebt auf.

Und um auch davon zu sprechen: jede Theodizee, die die Bestialität dieses Krieges als »Grimm Gottes« zu defaitistischen und fatalistischen Zwecken benützt und damit einerseits die Rebellion verhindern, anderseits eine Philosophie des Irrationalen glaubt begründen zu können, ist Mystifikation, nicht Mystik; sie anerkennt den Antichristen, sie spricht ihm sogar Göttlichkeit zu und läßt Messen lesen zu seiner Besänftigung, statt ihn abzuschaffen. Solche Theodizee versucht heute Frühjahr 1918 nach der italienischen Isonzoniederlage. das germanophile Papsttum, doch sie scheint nur in Deutschland Schule zu machen, wo nichts so absurd sein kann, um nicht Beifall zu finden und das Dekorum einer fruchtlosen Intelligenz zu fristen Vgl. das Buch des Marburger Theologen und Religionsphilosophen Rudolf Otto, »Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen«, Breslau 1917. Schon Jakob Böhme verlegte den »Grimm«, das alttestamentarisch-teutonische Pathos, in das Wesen des Göttlichen und ließ alle seine weiteren Manifestationen aus dieser »Uroffenbarung« hervorgehen. So findet Rudolf Otto, vom Alten Testament und Luther ausgehend, den dunklen, grausigen, und von den Evangelien ausgehend den hellen, faszinierenden Grund bei seiner Analyse des Heiligen und des Gottgefühls. Die Irrationalität entsteht hier nur aus dem Bewußtseinswiderspruch in der Heiligen Schrift..

4

Die hohle Großsprecherei, die im Gefolge Napoleons überall ihren Einzug hielt, fand nirgends so lebhafte Bewunderung wie in Deutschland, und nirgends einen so treulichen Niederschlag wie in der Philosophie Hegels und seiner Nachfolger. Wirklichkeitsfetischismus und Erfolgsmoral, Bejahung von Karriere, Ehrgeiz und Leidenschaft noch in der zweifelhaftesten Ausprägung; Überlegenheitspose und Mangel an Selbstkritik –: das sind die Motive, die den Bewußtseinsinhalt des Atheismus ausmachen.

Doch so wenig der Osten, so wenig ließ sich der Westen vom Hegelianismus bestechen. Jene Sekte russischer Hegelianer in Moskau, der Stankjewitsch, Bjelinskij, Ogarjow und Bakunin angehörten, zerstreute sich rasch und erlangte keineswegs eine Bedeutung, die die weitwirkende Produktivität der deutschen Philosophie beweisen könnte Solowjew (»Rußland und Europa«, Jena 1917, S. 20) bestätigt: »Das Geistesleben dieser Zeit war zweifellos durch ein rein philosophisches Gepräge ausgezeichnet, aber es kam in keinem philosophischen Werke zum Ausdruck. Vollkommen ausgeprägte Erinnerungsdenkmäler hat uns diese Zeit nicht geschenkt, außer einigen zusammenhanglosen Inschriften, will sagen Aufsätzen, die teilweise von der Weltanschauung westlicher Philosophen inspiriert, zum Teil gegen sie gerichtet waren.«. Stankjewitsch starb früh. Bjelinskij und Herzen gingen begeistert zur Theorie des französischen Sozialismus über. Und auch Bakunin hatte nach seinem eigenen Geständnis bereits 1842 die Hegelsche Philosophie durchschaut und »in sich beiseite gebracht« Vgl. die autobiographischen Äußerungen Bakunins zu Richard Wagner während des Dresdner Maiaufstandes 1849. (R. Wagner, »Mein Leben«, München 1911.). In »Anarchie und Staatstum« (1873) wandte er sich sogar gegen die radikalsten Junghegelianer mit den Worten: »An der Spitze dieser Partei stand Ludwig Feuerbach, den die logische Konsequenz nicht nur zur Leugnung jeder göttlichen Welt, sondern auch zur Leugnung der Metaphysik selbst führte. Weiter konnte er nicht gehen. Er selbst blieb trotz alledem ein Metaphysiker. Er mußte seinen gesetzlichen Liquidatoren, den Vertretern der Schule der Materialisten oder Realisten weichen, deren größter Teil übrigens, wie die Herren Büchner, Marx und andere mehr, nicht verstanden und nicht verstehen, sich von der Herrschaft des metaphysischen, abstrakten Gedankens zu befreienNoch heute hat man in Deutschland nicht verstanden, sich von der Herrschaft des metaphysischen, abstrakten Gedankens völlig zu befreien. Die intellektualistischen Werke unserer jüngsten Philosophen beweisen es. In Zeiten, die mehr wie je die Identifikation des Autors mit dem geschriebenen Wort verlangen, ist das besonders schlimm. In Deutschland kam zur umschweifigen Bonhommie und Inkonsequenz des Denkens die talmudistische Freude am Räsonnement. Selbst der hervorragendste russische Hegelianer also, der Geister wie Tschaadajew und Proudhon in die Hegelsche »Phänomenologie« einführte Alexander Herzen berichtet in seinen »Erinnerungen« von »endlosen Gesprächen über Phänomenologie«, die Bakunin 1847 in Paris mit Proudhon über Hegel führte. »Bakunin wohnte damals bei Adolph Reichel, in einer äußerst bescheidenen Wohnung jenseits der Seine, in der Rue de Bourgogne. Proudhon pflegte öfters hinzugehen, um Reichels Beethoven und Bakunins Hegel zu hören, doch dauerten die philosophischen Debatten länger als die Symphonien. Sie erinnerten an den berühmten ›Abendgottesdienst‹, den Bakunin mit Chomjakow bei Tschaadajew und der Jelagina im Gespräche über denselben Hegel nächtelang abzuhalten pflegte.«, kam von seinem Glauben an die deutsche »Geistesüberlegenheit« bald zurück. Jener »germanische philosophische Idealismus«, den Solowjew rühmt, – gerade in Bakunin fand er später einen prinzipiellen Gegner In einem Manuskript gegen den religiösen Dogmatismus Mazzinis (1871) schrieb er: »Hier, was uns in jungen Jahren so sehr revoltierte und was der Grund war, weshalb wir alle mehr oder weniger Idealisten waren. Wir fühlten uns, dank unserer jugendlichen Phantasie und dem jugendlich hitzigen Blute, das in unsern Adern glühte, so unendlich, daß selbst die Unendlichkeit der sichtbaren Welt uns zu eng erschien. Wir sahen mit Verachtung auf sie herab und flogen sehr hoch. Wohin? In die Leere der Abstraktion, ins Nichts. Ja, unsere Unendlichkeit war das Nichts, das ›absolute Nichts‹, das wir eifrigst mit phantasmagorischen Gebilden, mit den Träumen unserer Delirien-Einbildung zu erfüllen suchten. Als wir aber diese Gebilde näher betrachteten, sahen wir, daß unsere Phantasien und Träume, anscheinend so unendlich und reich, nichts als bleiche Reproduktionen und monströse Übertreibungen derselben wirklichen Welt waren, die wir mit soviel Verachtung behandelten. Und begriffen schließlich, daß wir, wenn wir uns so hoch, bis ins Leere, erhoben, nicht reicher, sondern im Gegenteil an Herz und Geist ärmer wurden; nicht mächtiger, sondern im Gegenteil ohnmächtig. Sahen schließlich ein, daß wir mit unserm kindlichen Vergnügen, träumend die unermeßliche Leere, Gott, das von unserer eigenen Abstraktions- oder Negationskraft geschaffene Nichts zu beleben – daß wir, sage ich, die Gesellschaft, uns selbst, unsere ganze reale Existenz im Stiche ließen und dafür Propheten, Träumer, religiöse, politische und ökonomische Exploiteure der ›göttlichen Idee von der Welt‹ wurden. Und daß wir, auf der Suche nach einer ideellen Freiheit außerhalb der Bedingungen der wirklichen Welt, uns selbst zur traurigsten und schändlichsten Abhängigkeit verurteilten. Wir begriffen, daß wir, um unser Erdengeschick zu erfüllen, jeden unserer Gedanken und unsere Anstrengungen einzig auf die Emanzipation der menschlichen Gesellschaft auf dieser Erde zu richten hätten.« (Max Nettlau, »Michael Bakunin, Eine Biographie«, hektographiertes Manuskript, Bd. I, S. 37, London 1900.).

Im Westen stießen die Junghegelianer mit ihrem Selbstbewußtsein und ihrer Wirklichkeitsdoktrin auf denselben Widerstand des religiösen Geistes, auf den der Napoleonismus und Rationalismus in Rußland stieß Dostojewskij führte den Kampf gegen das aufgeklärte Westlertum der Bjelinksy, Herzen, Turgenjew, Tschernischewskij etc. unerbittlich. Das große Denkmal dieses Kampfes gegen die »selbstbewußten Rebellen« sind die »Besessenen«. »Pour Dostojevsky«, schreibt Persky, »le parti révolutionnaire est avant tout un groupe de coquins à qui manque l'intuiton de la vérité et qui ont été saisis et emportés par le vent du libéralisme occidental. Tous sont des déracinés du sol populaire, des démons, des possédés.« Er erhoffte eine Transformation aller Klassen mit Hilfe der religiösen Idee und drohte den Apologeten des Atheismus mit der Gegenrevolution und dem Untergang ihres apokalyptischen Babylon.. Im Herbst 1843 siedelten Arnold Ruge und Karl Marx nach Frankreich über, um nach dem Eingehen der »Deutschen Jahrbücher« die »Deutsch-französischen Jahrbücher« in Paris herauszugeben. Bei deren Gründung ereignete sich, was sich immer ereignet, wenn Deutsche von der Zensur gezwungen werden, im Auslande zu publizieren. Die Verbreitung in der Heimat stößt man dann auf »unüberbrückbare Hindernisse« und die Finanzen versagen. Noch heute zieht man daraus nicht den Schluß, daß nur ein resoluter Bruch mit der patriotischen Clique und der Verzicht auf jegliche Zweideutigkeit eine neue Basis zu schaffen vermag und den Gedanken erweitert. Der jungdeutschen Emigration von 1843 gelang es so wenig, die Franzosen von der deutschen Überlegenheit zu überzeugen, wie es der neudeutschen von 1914/18 gelang, die europäische Idee zu exaltieren und neue Prinzipien dem eigenen Lande zuzuführen Die während des Krieges in der Schweiz erschienenen deutschen Zeitschriften »Die weißen Blätter« (Herausgeber René Schickele) und »Zeitecho« (Herausgeber Ludwig Rubiner) versuchten wohl das internationale Verständnis zu fördern. Beide konnten sich jedoch nicht entschließen, völlig mit den deutschen Vorurteilen zu brechen, und so blieb ihre Wirkung sowohl nach Deutschland wie nach dem Auslande auf jene Kreise beschränkt, die noch heute den Sinn dieses Krieges, die Einordnung einer gegen die Sozietät rebellierenden Nation, nicht zugeben wollen.. Die Herausgeber der »Deutsch-französischen Jahrbücher«, an denen Heine, Herwegh, Jacoby, Marx, Engels und Ruge mitarbeiteten, erfuhren von seiten der französischen Intellektuellen eine Ablehnung.

Franz Mehring, der zwar ein großer Marxist, aber auch ein großer Patriot ist, hat sich darüber bitter geäußert »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«, Bd. I, S. 157 f., Stuttgart 1903.. »Lamennais hielt den Herausgebern einen zweistündigen Vortrag über seine religiösen Mucken und erklärte dann, er werde ihre Taten abwarten, ehe er sich daran beteilige.« Louis Blanc, »dieser ängstliche Kleinbürger, konnte nicht von der süßen Gewohnheit lassen, sich die Kämpfe des praktischen Lebens in irgendeiner Religion zu verhimmeln und sich dadurch ihr erschöpfendes Verständnis zu verrammeln« Diese Stelle ist doppelt amüsant deshalb, weil Marx gerade bei Louis Blanc reichliche Anleihen machte für das »Kommunistische Manifest«, während umgekehrt von Anleihen Louis Blancs für sein 1847 erschienenes Werk »Organisation du travail« nichts bekannt geworden ist. Bereits 1833 begann Louis Blanc in seiner Zeitschrift »Revue du Progrès« mit der Veröffentlichung seines Systems des Staatssozialismus. (Vgl. Wladimir Tscherkessow, »Blätter aus der Geschichte des Sozialismus; die Lehren und Handlungen der Sozialdemokratie«, 1893; vgl. auch Anton Labriola, »Die Urheberschaft des kommunistischen Manifestes«, Berlin 1906, worin die Feststellungen Tscherkessows bestätigt werden, und Pierre Ramus, »Marx und Engels als Plagiatoren« in der »Freien Generation«, Heft 4, 6, 8, 1906/07.) Selbst Kautsky mußte zugeben, daß die grundlegenden Ideen des »Kommunistischen Manifestes« nicht original und keine großen Entdeckungen von Karl Marx und Friedrich Engels waren, wie dies bis dahin Kautsky, Bebel u. a. behauptet hatten. (Kautsky, »Das Kommunistische Manifest ein Plagiat« in der »Neuen Zeit«, Stuttgart, Nr. 47, 18. August 1906, S. 693–702.) Marx selbst gestand 1857, daß er 1842 weder Ökonomik noch Sozialismus gekannt habe. Das Studium der Ökonomie habe er in Paris (also 1843) begonnen. (»Zur Kritik der politischen Ökonomie«, Vorrede.). »Einige hatten zugesagt (Lamartine z. B.), aber nichts geliefert, andere sagten in manchmal nicht erfreulicher Weise ab.« Mehring verkennt aber in krasser Weise und ungerecht wie alle Marxisten und gerade die überzeugtesten sind, die damalige intellektuelle Situation. Er spricht von Lamennais' »religiösen Mucken«. Sollte er den großartigen prinzipiellen Kampf nicht kennen, den Lamennais gerade damals mit der Kirche ausfocht? Haben die Marxisten so sehr die Wahrheit und die Methode gepachtet, daß sie nur noch für Marx-Zitate empfänglich sind? »Wir hoffen«, schrieb Lamennais, »das Reich der Gewalt zu Boden zu schmettern und an seine Stelle das Reich der Gerechtigkeit und der Liebe zu setzen, welches zwischen den Gliedern der großen Menschenfamilie jene Einigkeit erzeugt, in der jedes Individuum als Teil des Ganzen gilt und am allgemeinen Wohl teil hat« In seiner Zeitschrift »L'Avenir«. In seinem »Versuch über die Gleichgültigkeit gegen religiöse Dinge«, 1817, der den Herren Sozialdemokraten übrigens noch heute zu empfehlen ist, betonte er: »Die durch die Sünde verderbte spekulative Vernunft ist an sich nicht imstande, die Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit ist vielmehr durch göttliche Offenbarung gegeben, die Vernunft hat also diese als einzige, untrügliche Richtschnur anzuerkennen.« Aber von Sünde, Schuld, Sühne, und wie dergleichen unangenehme Dinge mehr heißen, will ja die höchst selbst- und klassenbewußte deutsche Führer- und Verführerschaft des Proletariats nichts wissen. Wie viel weniger von Offenbarung, es handle sich denn um ihre eigene platte Doktrin.. Sind das religiöse Mucken? Der Atheismus der Enzyklopädisten hatte ihn abgestoßen, wie ihn die Megalomanie und der Atheismus der Junghegelianer abstieß. Er suchte die Emanzipation der Menschheit in der Macht religiösen Brüderbewußtseins und er brach, als er die Freiheit nicht fand, kühn und konsequent mit der Kirche und demselben Papst Gregor, der ihn einen neuen Bossuet und den letzten der Kirchenväter hatte rühmen lassen. Sind die Kapitel IV, XIII, XX, XXXV und XXXVI der »Paroles d'un Croyant« religiöse Mucken oder aktuellste Prophetie, und haben wir in unserer sozialistischen Literatur diesem großen Vorläufer Charles Péguys auch nur etwas Ähnliches an die Seite zu stellen Hier ein Passus aus den »Paroles d'un Croyant«, der einer jungen deutschen Republik gewidmet sei: »Laßt euch von eitlen Worten nicht täuschen. Viele werden euch zu überreden suchen, daß ihr wahrhaft frei seid, weil sie auf ein Blatt Papier das Wort Freiheit geschrieben und es an allen Straßen angeheftet haben. Die Freiheit ist keine Ankündigung, die man an den Straßenecken liest. Sie ist eine lebendige Macht, die man in sich und um sich fühlt, der Schutzgeist des häuslichen Herdes, die Bürgschaft der geselligen Rechte. Hütet euch also vor denen, die sagen: Freiheit, Freiheit, und sie durch ihre Werke zerstören.« ? Es wäre wohl an der Zeit, sich daran zu erinnern, daß Ludwig Börne, den Mehring freilich ebenso als Spießer abtun wird, wie Heine ihn abtat, diese »Paroles d'un Croyant« 1834 ins Deutsche übertrug, weil er es für möglich hielt, »durch ein Bündnis zwischen politischem und religiösem Radikalismus« eher als mittels rationaler Philosophie »dem heillosen und infamen Treiben der deutschen Regierungen ein Ende zu machen«!

Und Louis Blanc, der ängstliche Kleinbürger: – hatte er Unrecht, wenn er die deutsche Jugend »zwar beglückwünschte, daß sie anfange, ihre Aufmerksamkeit auf die Praxis des Lebens zu richten«, aber sie vor dem Atheismus warnte, »da der Atheismus in der Philosophie die Anarchie in der Politik zur notwendigen Folge habe«? Wenn er sie darauf aufmerksam machte, daß sie als Junghegelianer durch ihr Bekenntnis zu Diderot, Holbach und den französischen Materialisten um fast ein Jahrhundert zu spät kamen? Verhimmeln sich die Marxisten nicht die intellektuellen Kämpfe des praktischen Lebens heute viel ärgerlicher und blinder in ihrem famosen Klassenkampf? Wo wagt denn einer mit der päpstlichen Kirche des Marxismus zu brechen und einen geläuterten Sozialismus zu restituieren Gustav Landauer ausgenommen, von dessen menschlich freiem »Aufruf zum Sozialismus« (Berlin 1912) ich hier gerne gestehe, daß seine Bedeutung nach 1914 meine Einsicht übertraf.? Was ist denn Marx den Vertretern des damaligen Westens gewesen? Zunächst ein schlechter Charakter, und es ist nicht erhört worden, daß man unter Franzosen, Engländern oder Russen ein großer Mann bleiben und doch ein schlechter Charakter könne gewesen sein.

Ob Marx und sein Kreis sich in Paris, Brüssel oder London präsentierten, immer sind es dieselben Klagen über perfides, spießerhaftes und verleumderisches Wesen, die sich in den Briefen und Memoiren der damaligen Führer finden, und man fälscht die Geschichte, wenn man die Gründe hierfür aus Chauvinismus den andern zuschiebt, statt sie bei sich zu Hause zu suchen. Bakunin über Marx (Brüssel, Dezember 1847, an Georg Herwegh): »Die deutschen Handwerker, Bornstädt, Marx und Engels, vor allem Marx, treiben hier ihr gewöhnliches Unheil. Eitelkeit, Gehässigkeit, Klatscherei, theoretischer Hochmut und praktische Kleinmütigkeit; Reflektieren auf Leben, Tun und Einfachheit, literarische und diskutierende Handwerker und ekliges Liebäugeln mit ihnen, ›Feuerbach ist ein Bourgeois‹, und das Wort Bourgeois zu einem bis zum Überdruß wiederholten Stichwort geworden, alle selbst aber vom Kopf bis zu Füßen durch und durch kleinstädtische Bourgeois... ich halte mich fern von ihnen und habe ganz entschieden erklärt, ich gehe in ihren kommunistischen Handwerkerverein nicht und will mit ihm nichts zu tun haben.« Nettlau, »Michael Bakunin«, Bd. I, S. 78. Alexander Herzen über die Marxisten in London: »... Die Bande verkannter deutscher Staatsmänner, die das Genie erster Größe, Marx, umgaben. Sie bildeten aus seinem mißlungenen Patriotismus und seiner fürchterlichen Prätention eine Art Hochschule der Verleumdung und Verdächtigung aller Leute, die mit größerem Erfolge als sie selbst aufgetreten waren.« »Nachgelassene Schriften«, Die Deutschen in der Emigration. Und Proudhon zum »Libell eines Doctor Marx« über seine »Philosophie des Elends«: »ein Gewebe von Grobheiten, Verleumdungen, Fälschungen und Plagiaten« Proudhon, Correspondance, Paris 1875, II, S. 198. Das »Libell eines Doctor Marx« ist Karl Marxens »Misère de la philosophie. Réponse à la philosophie de la misère de M. Proudhon«, Brüssel-Paris 1847, dt. von Ed. Bernstein und Karl Kautsky, 1892..

Ich habe die Zeugnisse dreier führender Geister des damaligen Westens nebeneinander gestellt. Sie zeigen eine merkwürdige Übereinstimmung und erklären zur Genüge die Abneigung, die man Marx und seinem Kreise nach kurzer Bekanntschaft überall entgegenbrachte. Das kam daher: die Deutschen fühlten sich als Vertreter des »auserwählten Volkes in der Philosophie«, als Verkörperer des Weltgeistes und der Weltseele. Ihr hohes doktrinäres Selbstbewußtsein ließ sie keinen Augenblick an ihrer inneren Überlegenheit zweifeln. In den großen runden Flaschen ihrer Köpfe trugen sie den Spiritus der absoluten Idee. Ihre Rechthaberei machte sie zu unerfreulichen Räsoneuren, und wo sie von ihrer Gottähnlichkeit stillere Geister nicht zu überzeugen vermochten, dort schimpften sie »Bourgeois, Spießer, Utopist«.

Was hat die marxistische Sozialdemokratie mit ihrem Schlagwort der Utopie nicht alles totgeschlagen! Die reiche Literatur der französischen und englischen Sozialisten des beginnenden 19. Jahrhunderts, ohne die der Marxismus überhaupt nicht existieren würde, – durch die despotische Eifersucht der orthodoxen Marxisten blieb sie von Deutschland entfernt und verfemt. Die Diktatur Marxens und das Aposteltum seiner Epigonen verstanden es, nicht nur die Anfänge des Sozialismus zu diskreditieren, sie verhinderten auch, daß Ideenkonflikte von so außerordentlicher prinzipieller Bedeutung wie die der ersten Internationale anders als in ganz bewußter Entstellung nach Deutschland gelangten Noch Mehring trägt die Legenden von Bakunins Panslawismus, Agententum und persönlicher Eifersucht auf Marx in seinem großen und hervorragenden Geschichtswerk weiter. Während er Dilettanten wie Borkheim und Hess, nur weil sie im großen Lichtkreis der Marxschen Sonne standen, über Gebühr unterstreicht, ist von Bakunins Föderalismus und Anti-Etatismus, von seiner Marxkritik und seinem aktiven Humanitätsideal, das viele deutsche Wurzeln hat, kaum die Rede. Bd. II, S. 176, kann man lesen, daß Bakunin »am eifrigsten daran gearbeitet hat, den Bund (die herrliche marxistische Internationale) zu zerrütten«; S. 370, daß er »den ideologischen Überbau mit der ökonomischen Unterlage verwechselte«, trotzdem weder das eine noch das andere haltbar ist. Die ganze Internationale war sich bis zur Londoner Konferenz (1871) darüber einig, daß die Wahlaktion dem ökonomischen Emanzipationskampf als Mittel unterzuordnen sei. Während Bakunins System von seiner ersten Formulierung (1867) bis zu seinem Tode konsequent dasselbe blieb, die Beteiligung an den bürgerlichen Parlamenten und besonders am prusso-germanischen Parlament bekämpfte, hat gerade Marx durch seine Schwenkung zur Wahlpolitik 1871 die Internationale in staatliche Gruppen aufgelöst, und damit recht eigentlich die völkerverbindende Idee des Sozialismus zerrüttet und korrumpiert. Auf dem berüchtigten Haager Kongreß (1872), wo Marx nach Mehring die Internationale vom »anarchistischen Roste« säuberte, während er sich tatsächlich nur auf dem Reptilienwege eine Mehrheit gegen die föderalistische und antistaatliche Opposition zu sichern wußte, vollzog Marx seine Reaktion gegen den humanistischen Geist der Internationale, der schon damals den Zentralismus der Bismarck und Marx zu identifizieren begann. »Der Kongreß«, schreibt Mehring (IV, S. 54), »sagte sich durch einen feierlichen Beschluß von jeder Verantwortung für das Treiben der Bakunisten los« (wer hatte ihm diese Verantwortung übertragen?) »und stieß Bakunin nebst einem seiner Helfershelfer aus dem Bunde.« Der »Helfershelfer« war James Guillaume, Freund Bakunins und Führer der berühmten Jurassienne. Nirgends ist in Mehrings vierbändigem Werk, das alle Sottisen und Lächerlichkeiten der deutschen sozialdemokratischen Entwicklung aufzählt, von ihm die Rede. Und doch hat gerade Guillaume eine »Geschichte der Internationale« geschrieben, die man wenigstens mit der »Geschichte der deutschen Sozialdemokratie« vergleichen sollte, um sich ein Urteil zu bilden. Es geht nicht an, länger Geheimpolitik und Sektendogmatik mit einer der wichtigsten Angelegenheiten der Menschheit zu treiben. Deutsche Gesamtausgaben der Werke Bakunins und James Guillaumes würden die nützlichsten Dienste leisten.. Jene Polemik sans façon aber, der sogenannte »Mistgabelstil«, der den ersten Jahrzehnten der deutschen Sozialdemokratie eignete, hielt der Bewegung gerade die junge brüderliche Intelligenz fern, aus der sich überall anderswo in Italien, Rußland, Frankreich und England die begeisterten Vorkämpfer rekrutierten. Erst in den letzten Jahren gelang es dem Sozialismus wieder, weitere Kreise der Bürgerjugend in seinen Bannkreis zu ziehen.

Die Deutschen von 1840 übertrieben die Hegelschen Errungenschaften. Worin bestanden sie? Was brachte man mit nach Paris? Heine spricht von den »Schriftstellern des heutigen jungen Deutschlands, die keinen Unterschied machen wollen zwischen Leben und Schreiben, die nimmermehr die Politik trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion, und die zu gleicher Zeit Künstler, Tribune und Apostel sind« »Die romantische Schule«, Halle o. J., S. 95.. Das klingt zwar zuversichtlich und stolz, in Wirklichkeit aber traten die Jungdeutschen etwas anders auf. Italiener behaupten, der Sammelruf »Jungdeutschland« selbst sei ein Geschenk Mazzinis gewesen, dessen programmatische Aufsätze »Unterweisung für die Verbrüderten des jungen Italien«, »Manifest der Giovane Italia« und »Vom jungen Italien« alle 1831 und 1832 erschienen, und, bei Mazzinis Mitarbeit an deutschen Journalen, in Deutschland nicht geringeres Aufsehen erregten als im übrigen Europa Zur Zeit des Hambacher Festes erschienen Aufsätze Mazzinis in einem von Dr. Wirth in Zweibrücken herausgegebenen demokratischen Journal. Vgl. auch die Anmerkung "Vgl. Mehring, a. a. O., I, S. 97–101..."..

Für Jungdeutschland charakteristisch ist der Mangel einer freiheitlichen Tradition, verbunden mit dem Mangel an Praxis und einem klar sichtbaren Angriffspunkt. Man litt unter der Zensur aller fünfzig Duodezfürsten und ihrer Polizei, ohne doch die Zentralkabinette der Humboldt und Metternich systematisch angreifen und kompromittieren zu können Das humane System Ludwig Feuerbachs soll hiermit nicht unterschätzt werden. Wenn es auch erst heute mit Marx, Bakunin und Nietzsche zu populärer Wirkung gelangt, so stellt es doch die erste reine, reale, gesellschaftlich rebellierende Philosophie des neueren Deutschland dar und zählt damit zu den wahrhaft klassischen Leistungen der Nation. »Wer von mir nichts weiter sagt und weiß«, schrieb Feuerbach (Werke I, S. XIV, XV), »als: ich bin Atheist, der sagt und weiß soviel von mir wie Nichts. Die Frage, ob ein Gott ist, oder nicht ist, der Gegensatz von Theismus und Atheismus gehört dem 17. und 18. Jahrhundert an. Ich negiere Gott, das heißt bei mir, ich negiere die Negation des Menschen, ich stelle an die Stelle der illusorischen, phantastischen, himmlischen Position des Menschen, welche im wirklichen Leben notwendig zur Negation des Menschen wird, die sinnliche, wirkliche, folglich notwendig auch politische und soziale Position des Menschen.« Durch seine Identifikation der Vernunft mit der Liebe (»Die Liebe ist Vernunft«, Werke I, S. 119), überhaupt durch Betonung der diesseitigen Aufgaben und Pflichten, rückte er in höchst produktiver Weise dem herrschenden theokratischen System zu Leibe, und Masaryk bestätigt, daß Feuerbachs Einfluß gerade auf Marx »sehr bedeutend war, viel bedeutender als man bisher anzunehmen pflegt«. Feuerbach schrieb: »Der Zweck meiner Schriften, so auch meiner Vorlesungen ist, die Menschen aus Theologen zu Anthropologen, aus Theophilen zu Philanthropen, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus religiösen und politischen Kammerdienern der himmlischen und irdischen Monarchie und Aristokratie zu freien, selbstbewußten Bürgern der Erde zu machen« (»Vorlesungen über das Wesen der Religion«). Und Marx hierzu: »Erst Feuerbach, der den Hegel auf Hegelschem Standpunkt vollendete und kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur auflöste, vollendete die Kritik der Religion, indem er zugleich zur Kritik der Hegelschen Spekulation und daher aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf« (»Die heilige Familie«, 1845, S. 220). Auf Feuerbach fußend gelangte Marx dann zur »umwälzenden Praxis«: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt darauf an, sie zu verändern.« – (Vgl. über das Verhältnis Feuerbach-Marx, das die Grundzüge der jungdeutschen Rebellion aufhellt, Th. G. Masaryks eingehende Analyse in »Die philosophischen und soziologischen Grundlagen des Marxismus«, Wien 1899, ein heute leider vergriffenes Buch, das zum Besten der Marx-Literatur gehört, weil es zugleich die Phraseologie des Edelprotestantismus aus der Feuerbach-Schule (bei Stirner, Marx, Nietzsche) und die eklektische Aphoristik des Marxschen philosophischen Systems aufhellt.) . Revolutionen von allen Seiten her (Griechenland, Flandern, Italien, Frankreich) und kritische Fortschritte in der Philosophie begünstigten eine Art Sympathie-Rebellentum von Hörensagen. Aber die Reaktion im Leibe infolge Vergiftung durch Fichte und Hegel, blieb es beim Lärm. Man nannte wohl Goethe einen »gereimten« und Hegel einen »ungereimten Knecht« (Börne); man brach mit der besten klassizistischen Bildungstradition, ohne die neue preußische jedoch ganz zu begreifen. Schlimmer war, daß weder eine Kritik des klassizistischen, noch des Hegelschen Systems in großen Formen das Volk erreichte. Die protestantisch-rationalistische Philosophie galt für revolutionär (siehe Heine), Feuerbach für ultrarevolutionär. Man glaubte sich Voltaire bei weitem überlegen, schon deshalb, weil man in der Evangelienkritik mit dialektischen Methoden den größeren Anschein von Tiefsinn verband und hielt das Übertrumpfen im Atheismus für Freiheitsgeist Schon Heine schrieb: »Ich habe ihnen (den Franzosen) den letzten Gedanken verraten, der allen diesen Systemen zugrunde liegt, und der eben das Gegenteil ist von allem, was wir bisher Gottesfurcht nannten. Die Philosophie hat in Deutschland gegen das Christentum denselben Krieg geführt, den sie einst in der griechischen Welt gegen die ältere Mythologie geführt hat, und sie erfocht hier wieder den Sieg. In der Theorie ist die heutige Religion ebenso aufs Haupt geschlagen, sie ist in der Idee getötet, und lebt nur noch ein mechanisches Leben, wie eine Fliege, der man den Kopf abgeschnitten, und die es gar nicht zu merken scheint, und noch immer wohlgemut umherfliegt (1835!). Wir haben jetzt Mönche des Atheismus, die Herrn von Voltaire lebendig braten würden, weil er ein verstockter Deist ist. Ich muß gestehen, diese Musik gefällt mir nicht, aber sie schreckt mich auch nicht. Mit dem Umsturz der alten Glaubensdoktrinen ist auch die ältere Moral entwurzelt. Die Massen tragen nicht mehr mit christlicher Geduld ihr irdisches Elend, und lechzen nach Glückseligkeit auf Erden.« (»Briefe über Deutschland«, Zur Geschichte der Religion und Philosophie, S. 129-31.). Was man aber für Hoffnungen daran knüpfte, das verrät wiederum Heine: »Wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter so viel singen und sagen. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome.« Ebd., S. 124. Ob er wohl die Kathedrale von Reims damit meinte?

Die großen Reaktionsmächte der Zeit wurden systematisch nicht vorgestellt. Eine weltmännisch-liberalistische Politik kam nicht auf. Selbst Heine, der Ansätze zeigt, vergriff sich im Ziel und im Maß. Man war Räsoneur, Frondeur und Rebell ohne Wirklichkeit, trotzdem man als Hegelianer gerade im Wirklichkeitssinn (und in hundert anderen Dingen) den Franzosen sich überlegen fühlte. Die Theologen, Bruno Bauer und seine Jünger, empfanden sich (nach Mehring) als »persönliche Inkarnationen der Kritik, des absoluten Geistes, der durch sie mit Bewußtsein im Gegensatz zur übrigen Menschheit die Rolle des Weltgeistes spiele« »War die Hegelsche Philosophie der spekulative Ausdruck des christlichen germanischen Dogmas von der Herrschaft Gottes über die Welt, des Geistes über die Theorie«, sagt Mehring, »so war die ›Allgemeine Literaturzeitung‹ (an der jene Leute mitarbeiteten) die kritische Karikatur, in der sich die Hegelsche Philosophie selbst ins Absurde trieb.« (»Geschichte der deutschen Sozialdemokratie«, Bd. I, S. 195.) Die »Allgemeine Literaturzeitung« erschien seit Dezember 1843 in Charlottenburg. Gegen sie richtete sich 1845 »Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, gegen Bruno Bauer und Konsorten, von Friedrich Engels und Karl Marx«, übrigens ein typisches Beispiel dafür, wie Marx mit früheren Freunden zu verfahren pflegte, denen er einiges verdankte. Bruno Bauer gehörte zusammen mit Max Stirner noch 1842 zum Mitarbeiterkreis der »Rheinischen Zeitung«, als Marx deren Redaktion übernahm. Er war Marxens Studienfreund und Intimus, der ihn in die Hegelsche Philosophie einführte.. Und doch übersah man den Zusammenhang Hegels mit dem Geiste des Talmud, einen Zusammenhang, der meines Wissens selbst Marx nicht zu Bewußtsein kam; und übersah den Mendelssohnschen Messianismus, der sich in Hegels »auserwählter« Philosophie so bewußt schon zur Geltung brachte. Was Grillparzer von dem Junghegelianer Hebel sagte, als dieser in den vierziger Jahren nach Wien kam Friedrich Hebbels napoleonide Theaterhelden Holofernes, Golo und Kandaules bestätigen die Prahlerei und das Räsonnement der Hegelschen Schule. Napoleon und Jungdeutschland –: das ist die philiströs-genialische Mischung, die noch Richard Wagners Übermenschentum und Spekulation belebt.: er wisse alles, er wisse sogar, wer Gott sei – das traf genauso auf die politischen Junghegelianer zu, die zwischen Paris, Brüssel, Köln und London aufgeregt und unerschütterlich überzeugt von der Weltbedeutung der Hegelschen Reglementierungs- und Disziplinarparagraphen, aber ohne jene letzte Offenheit, die wirklich bereit ist, neue Ideen liebevoll aufzunehmen, in der Schnellpost fuhren.

Die Revolution von 1848 brachte es an den Tag. Das konterrevolutionäre Prinzip, dessen Schüler man war, widersprach den Anforderungen, die die Wirklichkeit stellte. Geist-Surrogat und Sprach-Surrogat erwiesen sich gleichermaßen als unzulänglich, das Wesen der Dinge zu treffen. Die blasphemische Stellung Hegels zur Freiheit, seine Staats- und Rechtsphilosophie, sein Amoralismus, entmannte die Aktion, und es ergab sich, alles in allem, jene Verwirrung, die an eine verpfuschte Operette mehr als an eine Revolution erinnert. Die politische und theologische Naivetät bildeten schlimmere Barrikaden als die auf den Straßen. Der von Marx und Engels neu entdeckte Sozialismus sabotierte das Zusammengehen mit der bürgerlichen Opposition und Herweghs badischer Bauernlegion. Der zynische Nihilismus Stirners blieb in der Weinstube sitzen. Und die Berliner Barrikadenkämpfer waren Leute, deren Namen überwiegend auf sky und ic endigten; Führer der Dresdener Maiaufstände waren Russen und Polen.

Instruktiv ist ein damaliger Briefwechsel. Berlin, August 1848, Bakunin an Herwegh: »Deutschland stellt jetzt das interessanteste und sonderbarste Schauspiel dar: nicht ein Schattenkampf – ein Kampf von Schatten, welche sich für Wirklichkeiten nehmen und doch in jedem Augenblick ihre unermeßliche Schwäche fühlen und unwillkürlich zeigen. Die offizielle Reaktion und die offizielle Revolution wetteifern in Nichtigkeit und Dummheit, und dabei alle hohlen, philosophisch-religiös-politisch-gemütlich-gewichtigen Phrasen.« Nettlau, »Michael Bakunin«, Bd. I, S. 95. Oder Köthen, 8. Dezember 1848, Bakunin an Herwegh: »Nirgends ist der Bourgeois ein liebenswürdiger Mensch, aber der deutsche Bourgeois ist niederträchtig mit Gemütlichkeit. Selbst die Art dieser Leute, sich zu empören, ist empörend. Dies mein letztes und wirklich ein sehr begründetes Urteil: wenn die deutsche Nation bloß aus der großen, leider zu großen Masse der Spießbürger, der Bourgeois bestünde, aus dem, was man heute das offizielle, sichtbare Deutschland nennen könnte – wenn es unter dieser offiziellen deutschen Nation nicht Stadtproletarier, besonders aber eine große Bauernmasse gäbe, dann würde ich sagen müssen: es gibt keine deutsche Nation mehr, Deutschland wird erobert und zugrunde gerichtet werden« Ebd., S. 103.. Bakunin stand 1848 – man weiß das in Deutschland noch heute kaum – im Mittelpunkt der Konspiration, er sprach aus Erfahrung. Er war der Führer der Dresdener Maiaufstände, befreundet mit Ruge, Varnhagen von Ense, Jacoby, Wagner, Röckel, Heubner und damals auch noch mit Marx.

Wenn es einen gemeinsamen Gedanken gab, der alle Parteien gleichzeitig leitete, so war es der Gedanke der deutschen Einheit; die republikanische Auffassung jedoch, die Mazzini den italienischen Einheitsbestrebungen zu verleihen wußte, war in verschwindender Minderheit. Was wirklich die Köpfe bewegte, war – ob man es sich eingestand oder nicht – der napoleonisch-machiavellistische Kaisergedanke, dessen Glanz und Gewalt den deutschen Kleinbürger vom ersten Jahr des Empire an beherrschte. Napoleon rief das mittelalterliche Hohenstaufentum aus der Rumpelkammer hervor. Predikanten wie Arndt zählten der Nation an den Fingern die Heldentaten der Kaiser von Otto bis Konradin vor, und es handelte sich nur darum, ob Preußen oder Österreich die neue deutsche Einheit und das Kaisertum »annehmen« würden.

Und wiederum Bakunin über die Revolution von 1848, – es ist das Zutreffendste, was über diese Revolution geäußert wurde: »Wären die deutschen Demokraten weniger doktrinär und dafür revolutionären gewesen, als sie es in Wirklichkeit waren; hätten sie, statt ihr Heil in National- und Provinzparlamenten zu suchen, die Hand jener spontanen Bauernbewegung reichen wollen; hätten sie sich dazu mit dem städtischen Proletariat verbunden – so wäre bei der allgemeinen Verwirrung und der vollkommenen Ohnmacht, in der sich die Regierungen befanden, im März und April der Triumph einer ernstlichen Revolution in Deutschland möglich gewesen. Die deutschen Parlamente von 1848 brachten, was alle Parlamente der Welt in Zeiten der Revolution bringen: sehr viele Phrasen und eine Flut wenn nicht direkt reaktionärer, so doch die Reaktion begünstigender Akte. Die deutschen Parlamente von 1848 haben für die Freiheit Ernstes und Bleibendes tatsächlich nicht geleistet. Sie bereiteten im Gegenteil die Elemente der gegenwärtigen deutschen Einheit vor. Und so kann man sagen, daß der Pseudorevolutionarismus der deutschen Patrioten von 1848 für den Bismarckianismus von 1871 war, was in Frankreich der General Cavaignac für Napoleon III.: ein Vorläufer« Michael Bakunin, »Aux compagnons de la Fédération jurassienne«, Manuskript, 1872, mitgeteilt von Nettlau, Biographie Bd. I, S. 94..

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Einem deutschen Handwerksburschen, Wilhelm Weitling, gebührt die Ehre, jenes Bündnis zwischen politischem und religiösem Radikalismus, von dem Börne spricht, nicht nur gesucht, sondern vertreten und in weitverzweigten Brüderschaften, die sich über den ganzen Westen Europas erstreckten, als neues geistiges Ideal aufgestellt zu haben. Die Romantiker hatten die Handwerksburschenpoesie wieder entdeckt; Weitling, der Handwerksbursche, fand wieder: die Idee des Urchristentums. »Es sind besonders die Handwerksburschen«, schrieb Heine in der »Romantischen Schule«; »gar oft auf meinen Fußreisen verkehrte ich mit diesen Leuten und bemerkte, wie sie zuweilen, angeregt von irgendeinem ungewöhnlichen Ereignisse, ein Stück Volkslied improvisierten oder in die freie Luft hineinpfiffen. Die Worte fallen solchem Burschen vom Himmel herab auf die Lippen und er braucht sie nur auszusprechen, und sie sind dann noch poetischer als all die schönen poetischen Phrasen, die wir aus der Tiefe unseres Herzens hervorgrübeln.« Heine, »Die romantische Schule«, S. 83.

Da hat man ein Bild Wilhelm Weitlings. Die Handwerksburschen, die Weitlings »Bund der Gerechten« angehörten, zeigten einen Idealismus, ein Feuer und einen Opferwillen, die der bürgerlichen Gesellschaft verloren gegangen schienen. »Von ihrem Bildungstrieb und Wissensdurst«, schreibt Mehring, »kann man sich nicht leicht eine zu hohe Vorstellung machen.« Sie besoldeten Lehrer, von denen sie sich in den verschiedenen Wissenszweigen unterrichten ließen, sie gaben ihre ganzen Ersparnisse her für den Druck wichtiger Schriften Um die erste Auflage der »Garantien der Harmonie und Freiheit« in zweitausend Exemplaren herzustellen, teilten sich dreihundert Arbeiter in die Kosten und nahmen dafür Bücher in Zahlung; vier Arbeiter gaben ihre ganzen Ersparnisse im Betrag von 200 Franken für den Druck her..

Weitling wurde geboren 1808 als preußischer Untertan zu Magdeburg. Er war ein Schneider und wanderte sieben Jahre lang kreuz und quer durch Deutschland. 1830 soll er sich mit satirischen Versen an den sächsischen Tumulten beteiligt haben. Dann kam er nach Paris und lebte dort bis 1841. Seine »Garantien der Harmonie und Freiheit« (1842) enthalten die erste theoretische Begründung des deutschen Kommunismus und sind eines der hervorragendsten Dokumente der sozialistischen Literatur; sein »Evangelium der armen Sünder« (1845) eines der schönsten und rührendsten Zeugnisse deutschen Geistes. Durch Wilhelm Weitling wurden Karl Marx sowohl wie Michael Bakunin mit dem Kommunismus bekannt, und Weitlings Name wird unvergessen bleiben als edler Beweis dafür, daß der Sozialismus auch in seinen deutschen Anfängen keineswegs eine Interessenpolitik, sondern ein hohes geistiges Ideal war.

Marx war noch Redakteur der »Rheinischen Zeitung«, als er die Sätze schrieb: »Wo hätte die Bourgeoisie, ihre Philosophen und Schriftgelehrten eingerechnet, ein ähnliches Werk wie Weitlings ›Garantien der Harmonie und Freiheit‹ in bezug auf die Emanzipation, die politische Emanzipation, aufzuweisen. Vergleicht man die nüchterne, kleinlaute Mittelmäßigkeit der deutschen Literatur mit diesem maßlosen und brillanten literarischen Debut der deutschen Arbeiter; vergleicht man diese riesenhaften Kinderschuhe des Proletariats mit der Zwerghaftigkeit der ausgetretenen politischen Schuhe der Bourgeoisie, so muß man dem deutschen Aschenbrödel eine Athletengestalt prophezeien.« Mehring, a. a. O., Bd. I, S. 115. Friedrich Engels nannte Weitling den »einzigen deutschen Sozialisten, der wirklich etwas getan habe«, und Bakunin schrieb, als er 1843 mit Herwegh nach Zürich kam, wo er nicht nur die »Garantien«, sondern den eben aus Lausanne eingetroffenen Weitling auch persönlich kennen lernte: »Man muß sich hüten, den Kosmopolitismus der Kommunisten mit dem des vorigen Jahrhunderts zu verwechseln. Der theoretische Kosmopolitismus des vorigen Jahrhunderts war kalt, indifferent, reflektiert, ohne Boden und Leidenschaft; es war eine tote und fruchtlose Abstraktion, ein theoretisches Machwerk, das keinen Funken von produktivem, schaffendem Feuer in sich enthielt. Dem Kommunismus dagegen kann man keinen Mangel an Leidenschaft, an Feuer vorwerfen. Der Kommunismus ist kein Phantom, kein Schatten; in ihm ist eine Wärme, eine Glut verborgen, die gewaltig nach Licht strebt; eine Glut, die nicht mehr zu unterdrücken ist, und deren Entladung gefährlich, ja schrecklich werden kann, wenn die bevorrechtigte Klasse ihm nicht mit Liebe, mit Opfer und mit einer vollständigen Anerkennung seines weltgeschichtlichen Berufs diesen Übergang zum Licht erleichtert.« Artikelserie »Kommunismus« in Fröbels »Schweizerischem Republikaner«, Juni 1842, mitgeteilt von Nettlau, Bd. I, S. 55–60.

Das war die politische Seite. Die religiöse Wirkung war nicht geringer. Ludwig Feuerbach, dem ein Handwerksbursche die »Garantien der Harmonie und Freiheit« überbrachte, rief aus: »Wie war ich überrascht von der Gesinnung und dem Geiste dieses Schneidergesellen! Wahrlich, er ist ein Prophet seines Standes. Wie frappierten mich der Ernst, die Haltung, der Bildungstrieb! Was ist der Troß unserer akademischen Burschen gegen diesen!« Mehring, a. a. O., Bd. I, S. 115. Und Bakunin: »Seit das Christentum nicht mehr das zusammenhaltende und belebende Band der europäischen Staaten ist – was verbindet sie noch? Was hält noch in ihnen die Weihe der Eintracht und Liebe aufrecht, die durch das Christentum über sie ausgesprochen war? Der heilige Geist der Freiheit und der Gleichheit, der Geist der reinen Menschlichkeit, der durch die französische Revolution unter Blitz und Donner der Menschheit geoffenbart und durch die stürmischen Revolutionskriege als Same eines neuen Lebens überall verbreitet wurde. Dieser Geist verbindet jetzt auf eine unsichtbare Weise alle Völker ohne Unterschied der Nationen; diesem Geiste, diesem erhabenen Sohne des Christentums widerstreben jetzt die sogenannten christlichen Regierungen und alle monarchischen Fürsten und Gewalthaber, weil sie wohl wissen, daß ihr selbstsüchtiges Treiben nicht imstande sein wird, seinen flammenden Blick zu ertragen.« Bakunin, »Kommunismus«, a. a. O., S. 60.

Weitlings religiöser Kommunismus kam aus Frankreich und England. In England sprach Owen von der positiven Religion, dem persönlichen Eigentum und der unzertrennbaren Ehe als einer »Dreieinigkeit des Bösen«, und Owen war es, der Weitling, als dieser auf der Flucht nach London kam, den »Führer der deutschen Kommunisten« nannte Mehring, a. a. O., Bd. I, S. 232: »Weitling ging (nach seiner Gefangenschaft und Entlassung) nach London; in einem großen Meeting begrüßten die deutschen, englischen und französischen Sozialisten der Weltstadt den ›mutigen und talentvollen Führer der deutschen Kommunisten‹, wie ihn Owens Organ nannte.« Das war 1845 oder 1846, jedenfalls aber in der Zeit, bevor Marx nach London kam. Damals traten in Paris auf den von der schweizerischen Polizei veröffentlichten Kommunistenbericht hin dreihundert deutsche Handwerksburschen in Weitlings »Bund der Gerechten« ein. Ein deutsches Fabrikproletariat existierte kaum..

Ein Buch von Mary Wollstonecraft über die Frauenrechte (1792) und Godwins Schilderungen des sozialen Elends in seinem Werke »Enquiry concerning Political justice and its Influence on Morals and Happiness« hatten Franz von Baader angeregt zu dem Satze: »Man muß zeigen, daß Könige Staatsgefangene und alle Reichen Pensionäre sind.« F. Hoffmann (Hrsg.), »Franz von Baader als Begründer der Philosophie der Zukunft«, S. 102: »Die Schilderung des sozialen Elends in England bei Godwin erregt sein ganzes Mitgefühl. Sein Tagebuch enthält ausführliche Auszüge aus seinen Werken. Godwins maurische Ideen begleiteten ihn.« In Frankreich aber gab Buchez den religiösen Momenten des Saint-Simonismus eine praktische Wendung, indem er verlangte, die Gebote der christlichen Moral auf sozialem Gebiet zu verwirklichen. Louis Cabet lehrte unter ungeheurem Beifall: »Der ikarische Kommunismus ist das Christentum, das Jesus Christus eingesetzt hat, in seiner ursprünglichen Reinheit, denn das Christentum ist das Prinzip der Bruderliebe, der Gleichheit, der Freiheit, der Assoziation und der Gütergemeinschaft.« Mehring, a. a. O., Bd. I, S. 35. Cabet seinerseits gelangte durch Thomas Moore und Owen zu kommunistischen Anschauungen. Er formulierte die religiösen Grundlagen des Kommunismus so begeistert, daß man ihn als Handlanger der Heiligen Allianz denunzierte. Mehring bestätigt übrigens: »Cabet traf in diesem Punkte das Empfinden des modernen Proletariats, das in den Anfängen seines Emanzipationskampfes gerne den Blick auf das Christentum zurücklenkt. Indem Dezamy den Kommunismus auf den Atheismus und Materialismus zu begründen suchte, verfuhr er weit konsequenter als Cabet (?), erlangte aber nicht entfernt einen gleichen Einfluß auf die Arbeiter Béranger rief aus: »Völker, schließen wir eine heilige Allianz!« Lamennais, der das Priestertum des Volkes aufstellte und in so vielen Dingen Prophetengabe besaß, warnte vor sozialistischen Systemen, durch die »die Völker zu einer Sklaverei verurteilt würden, wie die Welt sie noch nicht gesehen habe«; die »den Menschen zu einer bloßen Maschine, zu einem Werkzeug herabsetzen, ihn unter den Neger, ja sogar unter das Tier stellen würden«. Und noch Proudhons »Philosophie des Elends«, desselben Proudhon, der in seinen Mußestunden die Apokalypse des heiligen Johannes las, zeigt deutlich genug die christliche Hilfsbereitschaft, die ihn zu seiner Kritik des Eigentums führte. Ist es ein Zufall, daß jene beiden Männer, die Bakunin die Begründer des revolutionären Sozialismus nennt Michael Bakunin, »Fédéralisme, Socialisme et Antithéologisme«, Paris 1895, S. 37: »Les idées communistes germèrent dans l'imagination populaire. Elles trouvèrent depuis 1830 jusqu'à 1848 d'habiles interprêtes dans Cabet et M. Louis Blanc, qui établirent définitivement le socialisme révolutionnaire.«, Cabet und Louis Blanc, zugleich revolutionäre Christen waren? Weitling hat nach Franz Mehring »die Schranke niedergeworfen, die die Utopisten des Westens von der Arbeiterklasse schied«. Das ist Weitlings historisches Verdienst, nicht aber seine heutige Bedeutung.

»Nachdem die französische Revolution eines jeden Individuums Menschenrechte und -pflichten proklamiert hatte«, schreibt Bakunin Ebd., S. 36., gelangte sie in ihrer letzten Konsequenz zum Babouvismus. Babeuf, einer der letzten reinen und energischen Charaktere, deren die Revolution so viele geschaffen und wieder vernichtet hat, vereinigte in einzigartiger Weise die alten politischen Traditionen seines Landes mit den modernsten Ideen einer sozialen Revolution. Als er sah, daß die Revolution in ihrer ökonomischen Lage unmöglich und einer weiteren radikalen Änderung unfähig geworden war Ich lasse diese Stelle kursiv drucken, weil sie beweist, daß der ursprüngliche Kollektivismus aus einer Reihe von praktischen Vorschlägen bestand, die einer speziellen ökonomischen Situation entsprachen. Er war ein Liquidationssystem, das die Freiheitsideologie der Revolution mit den erschöpften Finanzen in Einklang zu bringen suchte. , schuf er, getreu dem Geiste dieser Revolution, die am Ende doch jede individuelle Initiative durch die allmähliche Staatsaktion ersetzt hatte, ein politisch-soziales System, nach welchem die Republik als Ausdruck des Kollektivwillens der Bürger alles individuelle Vermögen konfiszieren und es im Interesse aller verwalten sollte. Zu gleichen Bedingungen sollten jedermann Erziehung, Unterricht, Existenzmittel, Vermögen zukommen, und jedermann ohne Ausnahme sollte gezwungen sein, nach Maßgabe seiner Kräfte und Fähigkeiten ebenso Muskel- wie Nervenarbeit zu leisten. Die Babeufsche Verschwörung mißlang. Er wurde mit mehreren seiner Freunde guillotiniert. Aber sein Ideal einer sozialistischen Republik starb nicht mit ihm. Seine Idee wurde von seinem Freunde Buonarotti, dem größten Konspirator seines Jahrhunderts, in ihren Bruchstücken gesammelt und als kostbarstes Vermächtnis der neuen Generation übergeben.

In den von Buonarotti gegründeten Geheimgesellschaften der Schweiz, Belgiens und Frankreichs lebten die kollektivistischen Ideen weiter, trafen sie mit der romantisch-religiösen Bewegung zusammen und entwickelten den Kommunismus Es ist wichtig, festzustellen, daß also der Kollektivismus anfänglich wesentlich verschieden war vom Kommunismus, der sich erst später anschloß. Der Kollektivismus (Babeufs Erfindung) ist politisch, positiv; der Kommunismus, dessen Tradition auf die Evangelien und das Essäertum zurückweist, ist ursprünglich religiös-idealistisch. Die Vermengung der verschiedenen kollektivistischen und kommunistischen, der praktischen und utopischen Systeme führte zum doktrinären Staatskommunismus der Marxisten, der weder als praktisches System der heutigen ökonomischen Situation entspricht, noch sich als religiöses System jene Sittenreinheit und den Opfergeist bewahrt hat, der alle Individuen der christlichen Brüdergemeinde gleichmäßig erfüllte. Der Kollektivismus wird auch heute noch jenen Ländern am meisten entsprechen, wo ein verlorener Krieg die Finanzen und die Wirtschaft vernichtet hat. Er enthält eine ganze Anzahl überaus nützlicher Vorschläge für einen sozialen Neuaufbau, wobei jedoch zu bedenken ist, daß die Liquidation je nach dem ökonomischen und intellektuellen Bildungsgrade in Deutschland andere Bedingungen vorfindet als etwa in Rußland oder der Türkei. Der Kommunismus aber als eine allgemein-menschliche, utopische Bewegung kann zwar mit dem Programm des Kollektivismus zusammentreffen, wird aber nur dort einen wirklichen Boden finden, wo eine stark religiöse, katholische Tradition vorgearbeitet hat. Das war in Rußland der Fall, und deshalb konnte dort, wo Niederlage und religiöse Tradition zusammentrafen, der Bolschewismus, dieser Zwitter aus Jacobinertum und Evangelium, eine so mächtige Resonanz finden.. Von Buonarottisten erhielt Weitling seine erste Förderung, auf Buonarottistische Brüdergemeinden gründete er seinen »Bund der Gerechten«. Vorbild war ihm dabei allem Anschein nach jener »Bund der Geächteten« in Paris, dem Börne angehörte, und dessen Statut bereits 1834 forderte: Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands, Begründung und Erhaltung der sozialen und politischen Gleichheit, Freiheit, Bürgertugend und Volkseinheit Vgl. Mehring, a. a. O., I, S. 97–101: »Paris war damals die Hauptstadt der europäischen Revolution und hier entstand, als ein öffentlicher Volksverein zur Unterstützung der süddeutschen Opposition, die von der französischen Regierung unterdrückt worden war, im Jahre 1834 die erste geheime Organisation der deutschen Flüchtlinge, der ›Bund der Geächteten‹. Sein Zweck war nach den Statuten: Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands, Begründung der sozialen und politischen Gleichheit, Freiheit, Bürgertugend und Volkseinheit. Er verfolgte demokratisch-republikanische Ziele, wie die französische Gesellschaft der Menschenrechte, und wie diese war er als hierarchisch-abgestufte Verschwörergesellschaft mit unbedingtem Gehorsam gegen die geheimen Oberen organisiert. Organ des Bundes war die Monatsschrift ›Der Geächtete‹, herausgegeben seit 1834 von Venedey. Sie begann mit einem schwärmerischen Aufsatz Börnes über die ›Worte eines Gläubigen‹, die Lamennais eben veröffentlicht hatte. Auch Venedey selbst knüpfte an Lamennais an... Kurz nach der Stiftung des Bundes war auch in der Schweiz die erste Organisation deutscher Flüchtlinge entstanden. Von hier aus hatte Mazzini im Februar 1834 einen bewaffneten Einfall nach Savoyen unternommen, wobei ihn deutsche Revolutionäre unterstützten. Der Savoyer Zug mißglückte und nun bildete Mazzini ein ›Junges Europa der Völker‹ gegen das alte Europa der Könige. Es bestand aus einem jungen Deutschland, einem jungen Italien und einem jungen Polen, denen sich später ein junges Frankreich und eine junge Schweiz anschlossen. In seiner Akte der Verbrüderung, die aus dem April 1834 datiert, werden Freiheit, Gleichheit und Humanität als die drei unverletzlichen Elemente genannt, aus denen allein die Lösung des sozialen Problems hervorgehen könne.« – Man beachte die Tatsache, daß also die Emigrantenbewegung der 30er Jahre, von Lamennais und Mazzini geführt, eine religiös-demokratische Bewegung war. 1839 gingen dann Karl Schapper und Heinrich Bauer nach längerer Haft von Frankreich nach London und gründeten dort gemeinsam mit Josef Moll, einem Uhrmacher aus Köln, am 7. Februar 1840 einen öffentlichen »Arbeiterbildungsverein«. Zugleich stellten sie den »Bund der Gerechten« wieder her und verlegten seinen Schwerpunkt nach London. Das Hinzukommen Marxens vertrieb aus der schwärmerisch-idealistischen Bewegung durch seinen Positivismus den Opfermut. Man könnte auch sagen, daß Hegel der Vater dieser Korruption eines hohen Gedankens war. Die Religion brauchte nicht beseitigt, sie brauchte nur vertieft und mit der Wissenschaft in Einklang gebracht zu werden. Dazu war Marx nicht geschaffen. .

Die Idee einer brüderlichen Durchdringung Europas im Sinne des Urchristentums ist für Weitling Bedingung auch der politischen Wiedergeburt. Hierin ist er wahrhaft modern. Man glaube doch nicht, daß das Wissen die Religion ausschließt oder die ökonomische Analyse den Christus. Sie schließen das theokratische Dogma aus und den Jenseitskult, nicht aber die Liebe, das Herz und den Opfermut. Die Gerechtigkeit ist es, auf der man bestehen muß. Ihre Voraussetzung aber ist die exakte Wissenschaft von den natürlichen Grenzen und Rechten.

Zu Weitlings Anhängern und Brüdern zählten nicht nur Handwerker und Arbeiter, sondern auch Bürgerliche und Besitzer. Gerade die werbende Kraft seiner Idee ist bezeichnend für ihn. Die Haßphilosophie, die durch Marx und den Klassenkampf im deutschen Proletariat aufkam, lag ihm durchaus fern Die Forderungen des Proletariats! Des klassenbewußten Proletariats!, dekretiert diese Haßphilosophie. Je gerechter aber Forderungen sind, desto strenger sollten deren Anwälte über ihre eigene Moral und die Moral der ihnen vertrauenden Individuen und Massen wachen. Dazu bedarf es zunächst eines Rechtsbewußtseins. Man sollte annehmen, daß eine Partei der Entrechteten die Begriffe von Freiheit und gegenseitiger Achtung, die Wissenschaft von den natürlichen Gesetzen und Grenzen besonders entwickelt hätte, kurz, daß sie die form- und maßvollste wäre. Welche Deroute und Verwirrung aller Moral- und Freiheitsbegriffe herrschen dagegen im deutschen klassenbewußten Proletariat! Steriler Doktrinismus, aufdringliche und opportunistische Politik, Animalität, Pseudowissenschaft und Vernachlässigung alles wahrhaften, nicht nur materiellen, sondern auch geistigen Elends regieren das arrivierte Parteiprogramm. Und diese Partei, die dem wirklichen Elend nicht lange mehr standhalten wird, soll die moralische Kraft finden, die Internationale zu fördern!. Weitling lehnte die Jungdeutschen ab, nicht weil er sie für »Bourgeois« hielt – er hätte sie dafür halten dürfen –, sondern weil sie »im Reiche des Übersinnlichen nach Abstraktion im Trüben fischten«. »Kommt alle her«, schrieb er im »Evangelium der armen Sünder«, »die ihr arbeitet, die ihr mühselig, beladen, arm, verachtet, verspottet und unterdrückt seid; wenn ihr Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen wollt, dann wird dies Evangelium euren Mut von neuem stählen und eure Hoffnung frische Blüten treiben. Die entmutigten schwachen Herzen wird es stärken, und in das Herz des Zweiflers die Macht der Überzeugung gießen. Auf die Stirn des Verbrechers wird es den Kuß der Verzeihung drücken und die finstern Mauern ihrer Kerker mit einem Schein der Hoffnung lichten. Der Liebe und der Freiheit Glut wird es in aller Sünder Herzen schütten. So geschehe es.« Wilhelm Weitling, »Das Evangelium der armen Sünder«, Zürich, Mai 1843, konfisziert, dann 1845 erschienen unter dem Titel »Das Evangelium eines armen Sünders« (Bern, Jenni Sohn), S. III f. Von Voltaire spricht es wie Erneste Hello, der ihn einen Farceur nannte: »Die Religion muß zerstört werden, um die Menschheit zu befreien, dies war der Grundsatz Voltaires und anderer. Lamennais und vor ihm viele christliche Reformatoren wie Karlstadt, Thomas Münzer und andere zeigten, daß alle demokratischen Ideen der Ausfluß des Christentums seien.« Ebd., S. 17: »Die Religion muß also nicht zerstört, sondern benützt werden, um die Menschen zu befreien. Christus ist ein Prophet der Freiheit, und er darum uns ein Sinnbild Gottes und der Liebe.« Er verschmähte nicht die Ergebnisse der Evangelienkritik, er meinte nur, es sei nicht seine Aufgabe, die Widersprüche ans Licht zu ziehen, wie David Strauß es getan habe, sondern das Wesentliche und Mögliche, worauf das Christentum beruhe, als wahr anzunehmen und daraus das Prinzip des Christentums zu ermitteln Ebd., S. 20. Die deutschen Philosophen nannte er Nebler. »Hegel ist für mich ebenso ein Nebler. Ich darf ihn so nennen, obgleich ich nichts von ihm gelesen habe. Warum? Weil niemand mir sagen konnte, was er wollte, obgleich die ganze deutsche Nebelphilosophie von ihm ein großes Geschrei macht.« Für ihn hat in der Weltgeschichte nicht schlechthin Vernunft regiert; ihm ist sie nichts als eine »große Räubergeschichte«, worin die ehrlichen Leute zu allen Zeiten die Geprellten waren. »Aus der Freiheit und der Harmonie der Begierden und Leidenschaften entsteht alles Gute und aus der Unterdrückung und Bekämpfung derselben zum Vorteil einiger, alles Böse.« »Garantien der Harmonie und Freiheit«, im Verlage des Verfassers, 1842, S. 17. »Eine vollkommene Gesellschaft hat keine Regierung, sondern eine Verwaltung, keine Gesetze, sondern Pflichten, keine Strafen, sondern Heilmittel. Hier gibt es weder Ehrenbezeugungen noch Unterwürfigkeitsformeln, weder Zeichen des Ruhmes, noch der Verachtung; hier ist nichts zu befehlen und zu gehorchen, sondern zu regeln, anzuordnen und zu vollenden. Da gibt es weder Verbrechen noch Strafen, sondern nur noch einen Rest menschlicher Krankheiten und Schwächen, welche die Natur uns in den Weg legte, um durch ihre Beseitigung unsere physischen und geistigen Fähigkeiten anzufeuern.« Ebd., S. 23. Er will die bestehende Unordnung auf den höchsten Gipfel treiben, die leidenden Klassen im grenzenlosesten Elend sehen. In der Verzweiflung erblickt er den wirksamsten Hebel der Revolution, und er nennt den Diebstahl die »letzte Waffe der Armen gegen die Reichen«. Seine Religion ist die des Leidens und Mitleidens, der Armen und der Liederlichen, Verachteten und Verworfenen, die einzige Religion und Philosophie, die es gibt. Er liebt den Verbrecher wie die Dirne, liebt sie, wie Jesus Christus sie liebte. Und daß er behauptete, der Herr habe von liebenden Frauen sich aushalten lassen, warf ihn für zehn Monate ins Gefängnis Das betreffende Kapitel im »Evangelium der armen Sünder« war überschrieben: »Jesus reist mit sündigen Weibern und Mädchen im Lande herum und wird von ihnen unterstützt.« Die Verhaftung und Bestrafung Weitlings wegen Gotteslästerung erfolgte auf Betreiben des Zürcher Kirchenrats und erregte großes Aufsehen; um so mehr, da ein Regierungsbericht über die kommunistischen Umtriebe in der Schweiz die Folge war. Von den wichtigeren Schriften über Prozeß und Bewegung nenne ich: »Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren«, Kommissionalbericht von Dr. Bluntschli, Zürich, 1843; »Der Schriftsteller Wilhelm Weitling und der Kommunistenlärm in Zürich«, Bern 1843, und »Die geheimen deutschen Verbindungen in der Schweiz seit 1833«, Basel 1847.. Aber »ein neuer Messias wird kommen«, prophezeite er, »um die Lehre des ersten zu verwirklichen. Er wird den morschen Bau der alten gesellschaftlichen Ordnung zertrümmern, die Tränenquellen in das Meer der Vergessenheit leiten und die Erde in ein Paradies verwandeln. Er wird niedersteigen von den Höhen des Reichtums in den Abgrund des Elends, unter das Gewühl der Elenden und Verachteten und seine Tränen mit den ihrigen vermischen. Die Gewalt aber, die ihm verliehen, wird er nicht eher aus der Hand lassen, bis das kühne Werk vollendet ist.« »Garantien der Harmonie und Freiheit«, S. 260.

Nein, der Weitlingsche Kommunismus war keine Interessenpolitik, zu der Marx und Lassalle ihn umgestalteten; er war eine Philosophie des Elends wie die des großen Proudhon, eine Philosophie der sozialen Schuld, und es ist wichtig, dies zu unterstreichen in einer Zeit, in der eine materielle und geistige Katastrophe die ganze Nation bedroht; wo der Arbeiter aus Interesse ebenso schuldig wurde wie jeder andere Bürger, und aus den Betroffenen jeder Klasse ein neues Proletariat sich bildet, ein neues Verbrechertum und ein neuer Elendsabgrund. Was aber Weitling 1843 vom Evangelium der Kleriker sagte, gilt heute ebenso vom Sozialismus der Marxisten: »Wohl, ihr Herren, ihr habt es bewiesen, ihr habt ein Evangelium der Tyrannei, der Bedrückung und der Täuschung daraus gemacht, ich wollte eines der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft, des Wissens, der Hoffnung und der Liebe daraus machen. Wenn jene sich irrten, so geschah es aus persönlichem Interesse; wenn ich mich irre, so geschieht es aus Liebe für die Menschheit. Meine Absicht ist bekannt und die Stellen, aus denen ich schöpfe, angemerkt. Der Leser mag nun lesen, prüfen, urteilen und glauben, was er will.« »Das Evangelium der armen Sünder«, S. 133.

Aus dem zentralen Punkte der Bergpredigt kommen diese Sätze. Sie handeln vom »radikalen, revolutionären Christus«, von der christlichen Republik Niemand hat reiner als Weitling die Grundsätze einer christlichen Republik dargelegt. Er zitiert Math. 23, Vers 8, 11 und 12, und folgert: »Aus diesem geht hervor, daß die Monarchie mit dem Christentum unvereinbar ist, oder deutlicher, daß ein Christ nicht Monarch sein kann. Desgleichen geht daraus hervor, daß in einer christlichen Republik niemand sich eine politische Gewalt anmaßen, noch dieselbe annehmen darf, denn der Christ soll weder ein Recht, noch eine Gewalt, noch einen Befehl über seine Mitmenschen ausüben, der Christ soll gar kein Amt annehmen, in welchem er gezwungen ist, zu richten und zu strafen, wenigstens soll er es nur in der Absicht annehmen, das Regieren, Befehlen, Strafen usw. dadurch aufhören zu machen. Ferner soll in einer christlichen Republik niemand vornehm, niemand gering, niemand Herr oder Knecht sein, noch sich Meister nennen, oder sonst Ehrentitel sich beilegen lassen. Dies haben zu Zeiten der Reformation die Wiedertäufer wohl begriffen, welche, obwohl sie in den damaligen Kriegen dem Einfluß der Reichen verbunden, dennoch bis auf den heutigen Tag an einigen damals aufgestellten Grundsätzen festhielten. So nehmen sie z. B. gar kein öffentliches, obrigkeitliches Amt an, welches es auch sei; sie beschwören nicht, werden nicht Kaufleute, Wirte und Soldaten; und glaubten von Jesus, daß er nicht Gottes Sohn gewesen sei, sondern der Heiligste von allen Heiligen. Ein anderer ihrer damaligen Grundsätze war der: Kein Christ kann mit gutem Gewissen irgendein Eigentum, welches es auch sei, besitzen; sondern alles, was jeder einzelne besitzt, muß in die Gemeinschaft gegeben werden.« (S. 83/84.) Man vgl. damit Dostojewskijs soziales Credo: »Der Christ, der wahre, ideale, vollendete Christ, sagt: ›Ich muß meine Güter mit meinen armen Brüdern teilen. Ich muß allen dienen.‹ Der Kommunard sagt: ›Du mußt mit mir teilen, weil ich arm bin, du mußt mir dienen.‹ Der Christ hat Recht, der Kommunard Unrecht.«. Vor dem Essäertum zerstäuben Nützlichkeit, Interesse, Staat, Despotie; zerstäuben Rassenhaß und patriotische Lüge, »die den wütendsten Feinden des Fortschritts und der Freiheit aller zum letzten Notanker ihrer Irrtümer, zum Rettungsbalken ihrer Vorrechte dient«. Für Deutschland ist es geschrieben, wenn Weitling sagt: »Welche Liebe kann heute wohl der zum sogenannten Vaterlande haben, der nichts darin zu verlieren hat, was er nicht in allen fremden Ländern wieder zu finden imstande ist?« Und ein deutsches Versprechen ist es, wenn Weitling seinen französischen Freunden in Aussicht stellt: »Ihr werdet in der Folge sehen, daß uns die Idee, aus der Welt ein Zuchthaus oder eine Kaserne machen zu wollen, anekelt. Ihr werdet sehen, daß wir nicht die persönliche Freiheit der allgemeinen Gleichheit zum Opfer bringen wollen, da es gerade dieser natürliche Freiheitstrieb ist, der uns zu Verteidigern des Prinzips der Gleichheit macht.« »Garantien der Harmonie und Freiheit«, S. 72. Wem aber soll der »freie Rhein« gehören? »Das Volk, welches zuerst das reine Prinzip der Nächstenliebe zu verwirklichen sucht, wird ohne Schwertstreich die Herzen aller Völker erobern. Darin liegt die Lösung der Rheinfrage, sonst gibt es keine.«

Mehring findet, auch dieser sei ein Utopist gewesen, und er verbindet mit dem Wort, wie alle Marxisten, etwas absprechend Richtendes. Warum wohl? Was heißt denn das: ein Utopist sein? Utopist sein heißt in der Marxschen Terminologie Ideen äußern, die nicht verwirklicht werden können oder richtiger, deren Wirklichkeit dem Marxismus widerspricht. »Die Freiheit kann verwirklicht werden«, dieser Hegelsche Satz terrorisiert auf dem Umweg über Marx noch heute die Geister. Aber ist er deshalb auch richtig? Der Kampf gegen die Utopie hat unermeßlichen Schaden angerichtet, und die doktrinäre Allwissenheit, der er entsprang, trug nicht wenig zu jener »geistreichen« Impotenz bei, deren Vertreter zu den Rezepten schworen, trotzdem der Geschichtsverlauf hundertmal sie verwarf Was ist denn heute vom ganzen Marxismus noch haltbar? Der Evolutionismus, die Katastrophentheorie, der Klassenkampf, die Eroberung der politischen Macht, die materialistische Geschichtsauffassung, der Animalismus und Amoralismus – was ist denn von alledem heute nicht durch die Wissenschaft widerlegt? Schon zur Zeit seiner Blüte nannte Bakunin den Marxismus eine Utopie. Die Verwirklichung der Freiheit durch die Wahlbeteiligung an Bismarcks Parvenustaat – dieser politische Gipfelpunkt des Marxismus in den 70er Jahren, bedeutete er nicht auch den moralischen und ideellen Verfall? Das war schon die Auffassung der Mehrheit in der ersten Internationale. Und widerlegt die Katastrophe, in der wir uns heute befinden, – eine Katastrophe, die nicht sowohl wirtschaftliche, als moralische Ursachen hat –, nicht die ganze Schule? Man bleibe doch bei den Tatsachen und lasse die Dogmen beiseite! Die heutige Situation fordert neue Methoden, sowohl der Philosophie, wie der praktischen Politik. Die heutige Liquidation erfordert ein neues moralisches und religiöses System, eine freiere Geschichtsbetrachtung, eine gewitzigte »Katastrophentheorie«, eine Neuorientierung von Grund aus. Kein neuer deutscher Systematiker wird aufbauen können ohne eine umfassende Exaltation und Sublimierung des Schuldbegriffes. Die moralische Revolution ist die Voraussetzung jeder sozialen und politischen. Die Schuldfrage allein (die Frage nach dem, was jeder schuldet und verschuldet hat), verbürgt eine Wiedergeburt und die Rettung vor äußerstem materiellem und geistigem Elend.. Der Kanzleihegelianismus aber, der ja ebenfalls gegen die »Utopisten« wütete, ging nur noch einen Schritt weiter wie die Marxisten, wenn er behauptete: die Freiheit ist bereits verwirklicht, im Gesetz. Es ist eine wahre Erlösung, daß sich endlich gerade aus Sozialistenkreisen immer kühnere Stimmen erheben, die die verpönte »Utopie« in ihr Recht wieder einsetzen wollen. Nettlau und Guillaume zerstörten das Märchen von Bakunins »Utopie« Nettlau in seiner Bakunin-Biographie (London 1900, 3 Bände), die leider Manuskript blieb. Guillaume durch Herausgabe der Werke Bakunins (Paris, 1895–1913), und sein Geschichtswerk »L'Internationale. Documents et Souvenirs« (P. V. Stock, Paris 1905–1910, 4 Bände). Bakunins Föderalismus freier Produktivgenossenschaften außerhalb des historischen Staates wäre zur Zeit Bismarcks eine stärkere Garantie der Freiheit und Wohlfahrt gewesen, als Marxens Lehre von der Staats- und Wirtschaftszentralisation, die zwar den Proletarier arrivieren ließ, aber ihn dann durch den Krieg in doppeltes Elend stürzte. Der Zentralismus zerstört, der Dezentralismus fördert Moral und Freiheit.; Brupbacher zerstörte die Marx-Legende Fritz Brupbacher, »Marx und Bakunin«, München 1911., und es mag eine Philosophie eintreffen, die mit den Wirklichkeitsutopisten aufzuräumen gewillt ist.

Gewiß, die Utopie hat ihre Gefahren. In Zeiten revolutionärer Spannung und himmelschreiender Massenvergewaltigung kann sie verächtlich sein; sie entzieht edle und wertvolle Kräfte, auf die die Gesellschaft Anspruch hat, der Aktion. Aber andererseits: ist der verwirklichte oder in der Verwirklichung begriffene Gedanke noch frei? Und muß nicht in wenigen Geistern der Menschheit ein Residuum reinen Gedankens bleiben, ein Reservat von Geist für etwaigen Bankerott der Verwirklicher? Muß es nicht immer Utopisten geben und sogar Skeptiker der Tat, wenn die Menschheit nicht verkümmern und versanden soll? Sind die Utopisten nicht gerade jene Geister, die dem Streben nach Freiheit stets wieder neue Waffen und Wege zeigen? Und sind die großen Praktiker nicht ebenso ungerecht, hart, ja unmenschlich, wie die Träumer und Versunkenen, die aussichtslosen Idealisten und Ideenkapaune weltflüchtig und gerade aus Reichtum irreal sind?

Vielleicht aber war Weitling gar kein Utopist? Seine Brüdergemeinden erstreckten sich über die wichtigsten Städte Europas. Nachgewiesen sind Frankfurt, Leipzig, Zürich, Paris, Brüssel, London, Genf und Berlin. Vielleicht waren alle jene französischen »Utopisten« und Jesusschwärmer gar keine Utopisten, sondern nur – Franzosen? Und vielleicht waren die Jungdeutschen, die nach Paris kamen, gar nicht so sehr Verwirklicher großer Ideen, als vielmehr – Franzosenfresser? Das wäre doch seltsam!

6

War Wilhelm Weitling der Begründer des deutschen Kommunismus, so wurden Ferdinand Lassalle und Karl Marx die Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Die Tatsache, daß Weitling heute nahezu vergessen ist, während die Sozialdemokratie »nicht an letzter Stelle als eine Eigenart deutschen Geistes« bezeichnet wird Hermann Cohen, »Deutschtum und Judentum«, Gießen 1915 , ist ermunternd genug, einige zur Beurteilung der sozialistischen Anfänge in Deutschland unerläßliche Fakta in Erinnerung zu bringen. Vorausschicken möchte ich, daß es mir durchaus fernliegt, dem Antisemitismus und der Sozialistenhetze im geringsten Material zu liefern. Ich würde mich glücklich schätzen, der sozialen, jüdischen und deutschen Emanzipation gleicherweise einen Dienst zu leisten.

Die Gründung der deutschen Sozialdemokratie muß in erster Linie als eine Etappe im jüdischen Emanzipationskampf betrachtet werden. Hermann Cohen, der jüngst verstorbene Vorkämpfer des deutschen Judentums, hat die Bezüge nachgewiesen, die seit Luthers Übersetzung des Alten Testaments und Moses Mendelssohns Ritualreform den jüdischen mit dem deutschen Geiste verbinden. Seine aufschlußreiche Broschüre »Deutschtum und Judentum« stellt zwischen der jüdischen Messiasidee und dem protestantischen Staatsgedanken eine Allianz fest, deren Tiefe und Bedeutung gerade Cohen nachdrücklichst betont Ebd., S. 19 ff.. Ich bin ganz seiner Meinung, daß diese Allianz besteht, und ich stimme ihm zu, wenn er die Gründung der deutschen Sozialdemokratie vorzüglich innerhalb dieser Allianz beurteilt wissen will, aber ich bin nicht der Ansicht, daß sie der Welt und Deutschland selbst zum Heile gereicht, und ich möchte sagen, weshalb ich nicht dieser Ansicht bin.

Zunächst scheint mir der deutsche Anteil an diesem Bündnis nicht spezifisch und stark genug. Jener quasideutsche Staatsgedanke ist ein Produkt der lutheranischen Entwicklung viel mehr als des deutschen Volkes und setzt die jüdische Theologie voraus. Der autoritäre Obrigkeitsstaat, den Cohen von der Reformation herdatiert, ist eher alttestamentarisch, paulinisch und römisch, als deutsch; er steht im Gegensatz zum Sinn, wenn auch nicht durchaus zum Wortlaut des Neuen Testaments, und nur Luthers Buchstabenglaube, der die jüdische Theologie zur deutschen machte und den jüdischen Messianismus zum deutschen, gab ihm seine Sanktion. In dem Augenblick, wo der Nachweis erbracht werden kann, daß die »protestantische Staatsidee« von der jüdischen Theologie ihre Macht bezieht, fällt die importierte Autorität dieses Staatsgedankens, und seine orientalischen Elemente, Despotie und Prostration, Isolierung im Anspruch das auserwählte Volk zu sein, Unterordnung unter eine göttliche Abstraktion, Ausbeutung durch egoistische Prinzipien, werden verschwinden vor der eigentlichen, rein menschlichen Mission sowohl des Deutschtums wie des Judentums.

Hermann Cohen betrachtet die deutsche Sozialdemokratie mit Recht als ein Hauptbollwerk dieser autoritären Allianz. Doch sie war mehr. Man vergegenwärtige sich das Ziel, das er dem jüdisch-deutschen Einvernehmen stellt, nämlich einen Staatenbund zu errichten, dessen Mittelpunkt und Vormacht Deutschland ist; einen Staatenbund, der gleichwohl den »Frieden der Welt begründen und in ihm die wahrhafte Begründung einer Kulturwelt stiften wird!« Ebd., S. 45..

Wer der Ansicht ist, daß die messianische Vorherrschaft irgendeines Staates den Frieden und die Wohlfahrt der Welt bedeutet, der wird Paulus und Luther, den preußisch-protestantischen Staatsgedanken und Hegel, der wird den Machiavellismus Fichtes und Treitschkes, die »deutsche« Sozialdemokratie der Herren Marx und Lassalle, der wird Walter Rathenaus Staatskommunismus und Cohens Staatsmetaphysik befürworten müssen. Wer aber der anderen Ansicht ist, daß nicht die Ausbeutung der Welt, sondern Wohlfahrt Freiheit und Selbständigkeit der Individuen Sinn dieses Daseins ist, der wird die Alternative stellen: Christus oder Jehova.

Die Hingabe sowohl Marxens wie Lassalles zu Beginn ihrer Laufbahn ist nicht zu bezweifeln. Zwar läßt sich kein größerer Gegensatz denken als das Ideal der Weitlingianer, an deren Spitze sie traten, und die positive Methode ihrer dialektischen und autoritären Begabung. Aber die politische Entrechtung eines Breslauer Juden der 1840er Jahre wie Lassalle, und die rechnerische, im Talmud geschärfte Intelligenz eines aus Rabbinergeschlecht stammenden Geistes wie Marx versprachen der proletarischen Bewegung grundsätzlich die größte Förderung. Gerade jüdischer Revolutionäre bedurfte ein antisemitischer Staat wie das Preußen der Junker und eine wirtschaftliche Situation wie die Europas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn der Freiheitsidee neue Heroen erstehen sollten. Niemand fühlte sich je so entrechtet wie Lassalle, niemand sich für die Kritik des Kapitals so geschaffen wie Marx. Gerade dem jüdischen Rebellen war ein Aktionsfeld geboten, wenn er seine persönliche Emanzipation und die seiner Rasse identifizierte mit der entrechteten Schicht seiner Zeit, dem Proletariat. Der hart aufsässige Enthusiasmus Lassalles und das tief in die Wirtschaftsprobleme einschneidende Temperament Marxens schienen berufen, sich zu ergänzen, um als Ziel mit ebenso großem politischem Wagemut wie ökonomischem Wissen die politische und soziale Emanzipation des Deutschtums sowohl wie des Judentums zu erwirken.

Wie kam es, daß die Emanzipation gleichwohl ausblieb und an ihre Stelle eine Partei trat, die zwar die letzten und modernsten Prinzipien einer sozialen Revolution zu vertreten schien, aber verhältnismäßig rasch in den Bürger-, Beamten- und Militärstaat einging? Marx sowohl wie Lassalle hüteten sich, den Staat anzugreifen; lehnten es ab, sich außerhalb der offiziellen Machtaspirationen zu stellen; Marx insbesondere verfolgte, als er die Gefahren seines Systems durchschaut sah, erbittert alle in dieser Hinsicht vorgebrachten Bedenken Keines dieser Bedenken wurde in Deutschland selbst vorgebracht, wo der Sozialismus kaum getrennt von der kleinbürgerlichen Demokratie auftrat, und ein strenger Marxist wie Mehring noch 1917 ein Wundertier war. Alle kamen von draußen.. Die deutschen Rebellen waren sehr unduldsam gegen den Bonapartismus wie gegen den Zarismus, den Bismarckianismus aber förderten sie instinktiv. Theoretisch predigten sie die Revolution, praktisch aber liebäugelten sie mit dem zentralistischen Reichssystem und wollten nicht abseits stehen, als der Erfolg und Milliardensegen hereinbrach 1871 war es, auf der Londoner Konferenz, nach der Niederlage der Pariser Kommune, als Marx und Engels den Generalstatuten der Internationale jene Interpretation gaben, die die Wahlaktion in den Vordergrund stellte, den Geist der bisherigen Internationale verletzte und deren Spaltung hervorrief. (Vgl. Brupbacher, »Marx und Bakunin«, S. 104–109, und James Guillaume, »L'Internationale«, Bd. II.) In den Statuten der Internationale war festgelegt worden, »daß die ökonomische Emanzipation des Proletariats das große Ziel sei, dem jede politische Aktion als Mittel (as a means) untergeordnet werden müsse«. »Wir waren himmelweit davon entfernt, zu denken«, schreibt Guillaume, »daß eines schönen Tages jemand die Worte as a means in anderer Weise interpretierte und behauptete, in ihnen zu entdecken, daß sie den Sozialisten die Pflicht auferlegen, Wahlpolitik zu betreiben, bei Androhung des Ausschlusses. Außerdem hatten wir gezeigt, daß wir der Anwesenheit oder Abwesenheit der Worte ›als Mittel‹ oder ›als einfaches Mittel‹ keinerlei Bedeutung zugeschrieben, da wir keine Ahnung hatten von der speziellen Bedeutung, die Marx und seine Getreuen diesen Worten zuschrieben.« Der strittige Punkt der Resolution, die Marx und Engels auf der Londoner Konferenz zur Genehmigung brachten, begann: »In Erwägung, daß gegen die kollektive Gewalt der besitzenden Klassen das Proletariat als Klasse nur dann auftreten kann, wenn es sich als besondere politische Partei konstituiert« und schloß: »ruft die Konferenz den Mitgliedern der Internationale in Erinnerung, daß in dem Kampfzustand der Arbeiterklasse ihre ökonomische und ihre politische Betätigung untrennbar verbunden sind« (Brupbacher, S. 108)..

Ein Wort Bakunins bezeichnete treffend ihre historische Situation: »Wie der Doctor Faust, verfolgten diese hervorragenden Patrioten zwei Ziele, zwei Tendenzen, die einander widersprachen: sie wollten zugleich eine mächtige nationale Einheit und zugleich die Freiheit. Indem sie zwei unversöhnliche Dinge vereinbaren wollten, lähmten sie das eine mit dem andern, bis sie schließlich durch die Erfahrung belehrt, sich entschlossen, die Freiheit zu opfern, um die politische Macht zu erobern. Und so kommt es, daß sie gegenwärtig (1871) damit beschäftigt sind, auf den Ruinen – nicht ihrer Freiheit, denn sie waren nie frei – sondern ihrer liberalen Träume, ihr großes prusso-germanisches Kaiserreich zu errichten.« »L'empire knoutogermanique et la révolution sociale«, 1870/71, Oeuvres, Bd. II, Paris 1907, S. 417. Auch diese Äußerung bestätigt Guillaume: »Dès sa constitution sous l'inspiration de Marx, la Socialdémocratie allemande a été un parti impérialiste, c'est-à-dire visant à la fondation d'une Allemagne centralisée, fût-ce par le militarisme prussien, et voyant en Bismarck un collaborateur qu'il fallait se résigner à subir.« (»Karl Marx Pangermaniste«, S. III.)


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