Hermann Bahr
Expressionismus
Hermann Bahr

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Zwischenrede

Aber alles das, so wenig es dem Gebildeten geheuer ist, gibt er schließlich noch allenfalls zu, nur eins nicht, nämlich, daß solche Visionen jemals etwas enthalten könnten, was wir nicht schon ohne sie hätten, was nicht schon in unserer Erfahrung enthalten wäre, also daß unsere Einbildungskraft jemals schaffen, jemals produktiv sein könnte. Dagegen wehrt sich unsere ganze »Bildung« (und will nicht merken, daß sie sich damit gegen alle Kunst wehrt, ja schließlich überhaupt gegen jede Wahrheit). Ich vermag dagegen nichts, als daß ich mich immer wieder auf denselben Johannes Müller, den Schüler Goethes, den Lehrer Virchows und Haekels berufe, der ausdrücklich sagt:

»Das aus dem Allgemeinen gebildete Konkrete, in welchem das Allgemeine verwirklichst ist, kann ein solches sein, welches schon einmal Gegenstand einer von außen bedingten Sinnesvorstellung war, dann ist die Einbildungskraft reproduktiv, oder das aus dem Allgemeinen gebildete Konkrete ist ein neues, durch Beschränkung des Allgemeinen gewordenes, und dann ist die Phantasie produktiv dichtend. Es ist in der Tat zu verwundern, wie man so viele Diskussionen darüber hat halten können, ob die produktive Phantasie auch neue einfache Vorstellungen bilde, die nicht ein Zusammengesetztes aus ehemaligen Teilvorstellungen wären. Die Phantasie, im dunkeln Sehfeld Grenzen vorstellend, kann in diesem durch die bloße Vorstellung einer Begrenzung im dunkeln Sehfeld Formen ersinnen, die wir nie gesehen, nie objektiv sehen werden. Da auch alle äußeren sichtbaren Formen nur als Begrenzung in diesem dunkeln Sehfeld erscheinen, alle mögliche Begrenzung aber im dunkeln Sehfeld gedacht werden kann, so sind auch alle möglichen Formen der Phantasie erreichbar, ehe sie ihre Elemente in der äußeren sinnlichen Welt gefunden hat, wie wir denn auch von jenem im ersten Jahre des Lebens erblindeten Flötenspieler lesen, daß er gräßliche und verzerrte Gestalten in seinen Träumen sah« (Johannes Müller »Über die phantastischen Gesichtserscheinungen«, Paragraph 175 und 176).

So Johannes Müller. Und wo hätte denn auch Goethe sonst seine symbolische Pflanze her? Man erinnert sich der Szene mit Schiller. Sie waren einander noch fern, da trafen sie sich bei Batsch in einer Sitzung der Jenenser naturforschenden Gesellschaft: »Wir gingen zufällig beide zugleich heraus, ein Gespräch knüpfte sich an . . . Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das alles mit großer Teilnahme, mit entschiedener Fassungskraft, als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: ›Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.‹; Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet. Die Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen; ich nahm mich aber zusammen und versetzte: ›Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe‹.

Natürlich hatte Schiller recht, es war keine Erfahrung, es war eine Idee. Goethe, damals noch in der »behaglichen Sicherheit des Menschenverstandes, des einem gesunden Menschen angebornen Verstandes«, aus der er später erst durch »tausend und abertausend Übergänge in einen geläuterten, freieren, selbstbewußten Zustand« geriet, wußte das nur damals noch nicht. Darin aber hatte Goethe ja recht: »er sah sie mit Augen.« Aber wie könnten Augen Ideen sehen, wenn sie verdammt wären, nichts zu schaffen, sondern immer nur aus der Erfahrung zu schöpfen? Und wo hätten wir Gut und Böse, wo Freiheit, wo Pflicht her? O Kant, Kant! Seit wir aufgehört haben, Unsichtbares mit Augen sehen zu können, sind wir uns ganz in Verlust geraten.

 


 


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