Berthold Auerbach
Die Frau Professorin / Es kamen zwei fremde Gesellen
Berthold Auerbach

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Die Flügel ausgebreitet!

Eine tiefe, entsagungsvolle Schwermut lag wie ein Bann auf Lorle. Sie sang einmal vor sich hin, und plötzlich schaute sie auf, als hörte sie die Stimme eines andern; sie erinnerte sich jetzt, daß sie seit Wochen und Monden kein Lied gesungen hatte, weder lustig noch traurig.

Die Tage des Lebens, sie vergehen, ob wir sie einsam oder in Gemeinschaft mit den Zugehörigen, ob wir sie in Trauer oder Lust verleben; sie ziehen dahin wie flüchtige Schatten und kehren nimmer wieder.

Lorle war überzeugt, daß die Schuld des getrennten Daseins nicht bloß in dem Mangel an Kindersegen beruhe; dieser hätte wohl den Zerfall verhüllt oder ausgeglichen, aber die unzerstörbare Kraft der Liebe kann sich oft gerade da am mächtigsten bewähren, wo zwei Menschen sich allein alles sein müssen. Die Eltern zu Hause hatten auch lange in kinderloser Ehe gelebt, und die Bärbel erzählte oft, daß sie selber miteinander gewesen wie zwei Kinder, so selig vergnügt.

Oft siecht ein Leben seine ganze Dauer hin, und oft rafft es sich empor zu neuer, selbstbestimmter Wiedergeburt; es ist ein höherer Wille, der dazu erkräftigt, und zugleich die in sich gehaltene Charakterkraft. Sonne und Regen nähren und erschließen leise und allmählich die Knospe, die der Entfaltung entgegenreift; Sturm und Gewitter können sie urplötzlich sprengen.

Da sind drei Menschen, sie gehen ruhig ihren Lebensweg, und doch verdoppeln sich oft die Pulsschläge ihres Herzens, als müßte jetzt unversehens eine Wendung des Geschicks eintreten.

Lorle lebte still dahin, sie war den Kindern der Verstorbenen eine sorgsame Mutter und freute sich in diesem erweiterten Kreise ihrer Pflichten. Da Reinhard fast nie mehr mit ihr spazieren ging, war sie auch froh, nun eines der Kinder zur Begleitung zu haben.

Reinhard war vielfach betrübt: er redete sich ein, daß ihm kein Bild mehr gelinge, auch hatte er viel Unruhe bei der ihm obliegenden Ordnung einer im Unverstand zusammengetrödelten Kupferstichsammlung. Dazu wurde trotz seines Widerspruches manches geschmacklose Bild angekauft, ja man nahm seinen Rat oft erst in Anspruch, wenn der Kauf bereits abgeschlossen war; seine Mahnung, einheimische Künstler zu beschäftigen, verhallte spurlos, denn man wollte fremde und glänzende Namen im Katalog haben.

Der Kollaborator hatte seit geraumer Zeit etwas Geheimnisvolles und Verschlossenes. Niemand ahnte, daß er nun in der Tat endlich in der Ausführung eines Werkes war, das wissenschaftlich und praktisch zugleich sein sollte, denn es nahm auf Gesetzesvorlagen in einem großen Staate Bezug, den man, nachdem die allgemeine Mißliebigkeit der Maßregel ihm zugefallen war, um so unbehinderter nachzuahmen strebte. Dort sollte nämlich unter der Herrschaft des Ritters von der Phrase der englisierte Sabbat und ein straffes Kirchenregiment eingeführt werden.

Der Kollaborator verriet niemand sein Vorhaben, er hatte schon so oft gesagt, daß er dieses und jenes vollführen wolle, was doch unterblieben war; nun wollte er plötzlich auftreten. Er wußte, daß stark erscheinen oft wesentlich darin besteht: die Vorsätze und Schwankungen zu verbergen und dann mit fertigen Taten zu überraschen. Der Weg nach der Hölle der Selbstanklage und der Verdammung durch andere ist mit guten Vorsätzen gepflastert. – Mit einem Gluteifer, den er bisher noch gar nicht an sich gekannt hatte, arbeitete der Kollaborator an seinem Werke und fand darin eine Erhebung, die kein noch so tiefes Denken und Fühlen in sich zu gewähren vermag. In der Hingebung, daß er die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen wollte, erquickte ihn auch noch oft der Gedanke an die öffentliche Wirksamkeit, und so empfing er im stillen den Segen der Geistestat, der unbelauschten Ausbreitung des eigensten Seins und Erkennens für alle, ein Segen, dem nichts auf Erden gleichkommt; das ganze Einzelleben will sich aufzehren, ein Opfer in den Flammen des Gedankens, und schwebt wiederum unversehrt, geläutert daraus empor.

Oft ward dem einsamen Forscher auch bange, er hatte so viel auf dem Herzen, das er doch nicht auf einmal offenbaren konnte.

In Gesellschaft der Freunde war er schweigsamer als je, weil er ein Geheimnis mit sich trug. Es war ihm, als ob er sich auch über andere Dinge nicht vollkommen unumwunden aussprechen könne. Bei manchen Gesprächsgegenständen hatte er bisweilen Lust auszurufen: »Wartet nur, bis mein Buch kommt, dort habe ich alles dies erörtert und ans Licht gesetzt.« Weil er dies nicht sagen durfte und mochte, schwieg er. Dagegen konnte er nicht umhin, unter dem unmittelbaren Einfluß der Gespräche in seine bereits niedergeschriebenen Darstellungen manchen Zwischensatz einzuschalten, manches »Epitheton« einzukeilen, um diesen oder jenen Mißverständnissen und schiefen Ansichten zu begegnen. –

Eines Mittags ging Lorle mit dem jüngsten Knaben des Registrators nach dem Schloßplatz zur Parade; sie wollte Reinhard dort erwarten, von dessen Werkstatt man gerade nach der Schloßwache sehen konnte. Als sie hier vorüberging, trat ein Tambour auf sie zu mit den Worten:

»Grüß Gott! Ei kennst mich nimmer? Sieh mich einmal recht an.«

»Herrje! der Wendelin, du bist ja mehr als um einen Kopf gewachsen.«

»Und dir geht auch nichts ab, du bist recht stark worden, Lorle, oder Frau Professorin; nicht wahr, so heißt man dich doch?«

Sie reichten sich die Hände, und nach mancherlei Fragen erzählte Wendelin: »Wie du halt fortgewesen bist, bin ich das Frühjahr drauf auch fort und hab mich zum Grafen Felseneck als Schäfer verdingt, und da hat einmal unser Fräulein, die Gräfin Mathilde, gehört, daß ich von Weißenbach sei, und da hab ich zu ihr nauf müssen, und da hat sie mich alles ausgefragt von dir und vom Herrn Reinhard. Es ist ein brav Mädle unser gnädig Fräulein, und da hat sie mir ein Guldenstückle geschenkt, und von dem Tag an hab ich's immer besser gehabt auf dem Hof, und wenn sie so durch's Feld geritten ist, sie reitet prächtig, da ist sie auf mich zukommen und hat mit mir geschwätzt. Und wie der Herr Graf die Schäferei aufgegeben hat, da hat mich der Vetter, der ist Oberleutnant in unserm Regiment, mit hierher genommen, und jetzt bin ich Tambour; ich bleib's aber nicht, ich lern das Horn blasen, und übers Jahr komm ich zur Regimentsmusik, und da hab ich für mein Lebtag ausgesorgt. Ich bin schon vierzehn Wochen hier, ich hab dich aber noch nicht gesehen.«

»Warum bist du nicht zu mir kommen?«

»Ja, wenn ich's gewußt hätt, daß ich so dürft und daß du noch allfort so gut bist, ich hätt dich schon ausgefunden. Ich hab aber auch sündlich viel zu lernen gehabt, meine Arme sind mir oft wie abgebrochen gewesen, und heut bin ich zum ersten Mal auf der Wacht; es ist mir ein gut Zeichen, daß ich dich grad seh!«

Während die beiden so miteinander plauderten, war der Adjutant des Prinzen bei Reinhard, um mit ihm die Transparente zu besprechen, die zur bevorstehenden Vermählung des Prinzen anzufertigen waren; er trat jetzt ans Fenster und rief: »Da unten steht Ihre Frau Gemahlin bei einem Soldaten.«

Reinhard eilte hinab, Lorle sah ihn nicht kommen, bis er ganz nahe war und in heftigem Tone rief: »Was stehst du da? Komm mit fort.«

In den bittersten Äußerungen ergoß sich Reinhard über diese schmachvolle Unschicklichkeit; Lorle konnte nicht zu Wort kommen. Die Parade zog auf und spielte einen lustigen Marsch, Lorle war's, als müßte sie in den Boden versinken, da sie hier vor aller Welt ihre Tränen nicht zurückhalten konnte; glücklicherweise aber bemerkte niemand ihr zur Erde gewendetes Antlitz. Endlich konnte sie die Worte hervorbringen:

»'s ist ja der Wendelin, du kennst ihn doch auch.«

Reinhard sah wohl ein, daß es zu hart und heftig gewesen war, aber die Unschicklichkeit war doch zu groß, als daß er Abbitte tat.

Bei den unerquicklichen Arbeiten, die Reinhard nun auszuführen hatte, ward er zu Hause immer düsterer und gereizter. Als er sich einst wieder zu einer Heftigkeit gegen Lorle hinreißen ließ, sagte sie: »Schmeiß nur alles zusammen wie die Teller, die du auch zerbrochen hast.«

Reinhard ward still, seine Frau kam ihm unendlich kleinlich vor, da sie jenen vor Jahren vollführten Übermut nicht vergessen konnte. Lorle aber konnte nicht mehr ausführlich mit ihm reden, sie wollte ihm sagen, daß er auch sie zerbreche, weil sie sein eigen geworden sei; aber sie konnte jetzt ihm gegenüber nur halbe Worte finden, ein Bann lag auf ihrer Seele, den sie nicht zu lösen vermochte.

Sie ging mit Reinhard durch die Straße, da begegnete ihnen ein Wagen mit frischem Heu; Lorle riß eine Handvoll aus und sagte: »Jetzt heuet man«, und Reinhard entgegnete: »Das ist etwas ganz Neues, eine merkwürdige Entdeckung!«

Lorle schwieg, sie konnte wiederum nicht sagen, wie schmerzlich es sie errege, erst zufällig durch einen Heuwagen zu merken, was an der Zeit sei, da sie sich so weit vom Feldleben entfernt hatte.

Ein überraschender Besuch verscheuchte auf einige Tage das stille Einerlei der einsamen Häuslichkeit. Der Wadeleswirt hatte schon oft seine Tochter heimsuchen wollen, aber wie das so geht, er kam schwer vom Fleck; bald sollte dieses, bald jenes Feldgeschäft noch getan sein, bevor er reiste, und dann redete er sich wieder ein, er wollte die Gevatterschaft abwarten, und so verstrich die Zeit. In den Briefen, die Lorle nach Hause geschrieben hatte, sprach sich oft in einzelnen Worten ein sehnsuchtsvolles Heimweh aus. Es hätte sich wohl daraus entnehmen lassen, daß ihr jetziges Leben ihr noch ein fremdes war; die Eltern ahnten wohl dergleichen, aber sie wollten sich's nicht glauben, sie rechneten alles der übermäßigen Kindesliebe zu. Seit geraumer Zeit entschuldigte Lorle in ihren Briefen jedesmal ihren Mann, daß er nicht selber schreibe, weil er gar viel zu tun habe.

Sei es nun durch eine Mitteilung Wendelins oder durch andere Berichte, im Dorfe ging die Sage, Lorle sei unglücklich und werde in der Stadt wie eine Gefangene gehalten. Nun hatte alles Zaudern und Zögern ein Ende, der Wadeleswirt lief herum, schnaubte und ballte die Fäuste; es tat ihm nur leid, daß er den Reinhard nicht gleich packen und tüchtig durchwalken konnte. Den ganzen Tag und die Nacht hindurch fuhr er und kam am frühen Morgen in der Stadt an; er besann sich jetzt aber eines Bessern, er wollte Lorle zuerst allein sprechen und wartete daher, bis Reinhard in der Werkstatt war. Als er die drei Treppen hinanstieg, stand er mehrmals still und verschnaufte, sein Blut war in mächtiger Wallung, und er meinte, die Knie müßten ihm brechen; das war ein harter Gang.

Erschütternd war das Wiedersehen von Vater und Kind, Lorle wollte sogleich nach Reinhard schicken, aber der Vater sagte: »Nur stet, ich hab zuerst ein Wörtle mit dir allein zu reden.«

Lorle mußte nun ihre Lebensweise berichten. Der Vater runzelte die Stirn und preßte die Lippen aufeinander, als er merkte, daß Reinhard nur zum Mittagessen und Schlafen heim käme; er gestand offen, daß das anders werden müsse und daß er dem »Professor was aufzuraten« geben wolle. Lorle bat und beschwor, ja keine Heftigkeit anzufachen, da das doch zu nichts führe; Eheleute müßten sich selber verständigen, da könne selbst der Vater nichts tun, sie sei nicht unglücklich, und ihre ganze Anschauung des Mißverhältnisses drängte sich in den Worten zusammen: »Gucket, das ist halt in der Stadt anders, das Elend ist eben, daß die Frau dem Mann in seinem Geschäft gar nichts helfen und beispringen kann, und da muß ein jedes allein sein; daheim, da geht die Frau mit dem Mann aufs Feld und hilft überall.« –

Dann erklärte sie, wie sehr Reinhard zu bedauern sei, er werde so viel vom Hof in Anspruch genommen und habe doch keine Freude daran.

Eine gemischte Empfindung beruhigte die Aufregung des Wadeleswirts, er bewunderte die Klugheit seiner Tochter und betrachtete sie mit erneutem Stolz; dann freute er sich, daß der Reinhard nichts vom Hofe wolle.

Lorle hatte Reinhard nun doch rufen lassen, und dieser kam in Gemeinschaft mit dem Kollaborator. Das Wiedersehen von Schwiegervater und Sohn hatte hierdurch eine vielleicht erwünschte fremde Haltung, denn noch war der Zorn des ersteren nicht ganz verraucht. Reinhard war ganz der alte, auch äußerlich; denn er hatte sich seinen Bart wieder wachsen lassen, da die Engländer in allen möglichen Bartformen bei Hofe erschienen: man kann fast sagen, daß damit wiederum sein unbändiges Wesen aufwuchs. Reinhard schlug die alte übermütig lustige Weise gegen seinen Schwiegervater an. Lorle freute sich darüber. Sie wußte nicht, daß er sich innerlich Vorwürfe machte, daß er jetzt mit Absicht und Willen eine Form annahm, die ehedem unwillkürlich zu seinem Wesen gehörte; aber ihm stand keine andere Vermittlungsart mit seinem Schwiegervater zu Gebote. Der Kollaborator war überaus zuvorkommend und freundlich gegen den Wadeleswirt; Lorle neckte ihn, weil er sich sonst so wenig sehen ließ; sie konnte nicht ahnen, daß er sich von ihr zurückzog aus Furcht, sein Mitleid und seine Verehrung für sie könne ihm einen bösen Streich spielen.

So hatte die erste Stunde des Zusammenseins einen überaus heitern Anstrich und hätte man später auch Lust oder Veranlassung gehabt, eine andere Farbe zum Vorschein kommen zu lassen, so wäre dies nicht mehr möglich gewesen, wenigstens nicht in der ganzen Schärfe und Bestimmtheit; denn die erste Stunde des Wiedersehens ist der Akkord, der die Tonart für den ganzen Verlauf des Beisammenseins angibt. Außerdem war Reinhard mit Arbeiten überhäuft, wie er mindestens behauptete, er überließ daher seinen Schwiegervater ganz der Leitung und Fürsorge des Kollaborators.

Sei es zufällig oder absichtlich, Reinhard ging nie mit dem Wirt, der natürlich in seiner Bauerntracht erschienen war, bei Tage über die Straße. Lorle glaubte, er ahne und fürchte eine unangenehme Auseinandersetzung und wolle dieselbe vermeiden, sie hatte nichts dagegen einzuwenden; daß er sich des Bauern schämen könnte, kam ihr nicht entfernt in den Sinn.

Der Kollaborator war ganz glückselig, den Wadeleswirt überall geleiten zu können, er erfreute sich nicht nur an dem körnigen naturkräftigen Sinne des Mannes, sondern er wollte auch vor sich und vor andern beweisen, wie sehr er sich dem Volke nahe fühle; er versuchte sogar Arm in Arm mit dem Wirt zu gehen, was dieser aber als unbequem ablehnte. Der Wirt fand den Gelehrten in der Stadt auch viel schlichter und natürlicher als damals im Dorfe, er war daher auch ganz harmlos gegen ihn und sagte einmal: »Es ist mir doch allemal, wenn ich nach der Stadt da komm, wie wenn ich umfallen müßt; es ist alles so eben (flach), es sind keine Berg da, wo ich mich dran halten kann.« –

Der Kollaborator erfreute sich an dieser eigentümlichen Empfindungsweise des Bergbewohners, aber er hatte gelernt, nicht alsbald auf alles eine Gegenbemerkung zu machen, wodurch der lautere Erguß gehemmt oder in eine andere Richtung gelenkt wurde.

Der Landtag ward gerade wiederum versammelt, der Kollaborator brachte seinen Schützling in die Gesellschaft der freisinnigen Abgeordneten. In der ganzen Stadt und zumal »höheren Orts« wurde es übel vermerkt, daß der Kollaborator als Staatsdiener, der noch dazu jeden Tag seine endliche Ernennung zum Bibliothekar mit Gehaltserhöhung erwarten durfte, sich offen der ständischen Opposition anschloß; er kümmerte sich aber wenig um die ihm hierüber zugehenden Andeutungen. War nur irgendein Bedenken berechtigt über den Anschluß an Männer, die auf dem Boden der Verfassung stehend gegen Regierungsmaßregeln kämpften und Normen für die Zukunft feststellten? War er ein Diener der Minister oder des Staates? – Der Wadeleswirt, aus dessen Bezirk ein Regierungsmann gewählt war, wurde dennoch von dem angesehenen Haupt der Opposition mit besonderer Auszeichnung behandelt, weil er nicht nur als freisinniger Wahlmann bekannt war, sondern in ihm auch eine Bürgschaft für die zukünftige Besserung des verlorenen Wahlbezirks liegen konnte. In dem rührigen, ernsten und heitern Leben, das in dieser Gesellschaft den Wadeleswirt umgab und wo er andächtig zuhörte, vergaß er fast ganz, warum er eigentlich nach der Stadt gekommen war; überdies sah er jetzt wohl ein, daß hier nichts von seiner Seite geändert werden könne, und so war er froh, doch in der Beteiligung an den allgemeinen Landesangelegenheiten eine Erhebung zu finden. Der Kollaborator sprach mit seinem Schützling viel über Staatsverhältnisse, aber voll von dem Gegenstande, den er eben jetzt in seiner Schrift behandelte, konnte es auch nicht fehlen, daß er oft darauf zurückkam, man müsse zunächst und vor allem die wahre Religion wieder herstellen und »dem Pfaffentum den Treff geben.«

»Ich hätt's nicht glaubt«, entgegnete der Wadeleswirt, »daß Ihr so fromm seid; aber lasset doch in Gottes Namen die Pfaffen in Ruh, da ist nicht gut anrühren, und die gelten eigentlich doch nur bei den Weibsleuten. Jetzt müssen wir weniger Steuern, müssen Schwurgerichte und Landwehr haben, das ist jetzt die Hauptsach.«

Trotz aller Bitten Lorles hatte sich der Vater nicht bewegen lassen, bei ihr zu wohnen, er blieb bei einem alten Bekannten, einem Bäcker, der ihn bisweilen beim Fruchteinkaufe besuchte und der zugleich eine Wirtschaft hielt; Lorle mußte oft mit ihm dahin gehen, und sie saßen dann nicht in der Wirtsstube, sondern im Backstüble bei der Familie. Lorle war voll Freude, hier Menschen zu finden, einfach und offen wie daheim, voll rüstiger Tätigkeit im Haus und im Feld. Der Wadeleswirt empfahl noch seinem Gastfreund, er solle Lorle beistehen und ihr geben, was sie verlange, und sie versprach, öfters zum Besuche bei der Bäckerfamilie zu kommen.

Die Stunde der Abreise nahte. Lorle konnte den Gedanken nicht loswerden, daß sie auf lange Abschied nehme und ihren Vater vielleicht nimmer wiedersehe; sie sagte daher bei der letzten Handreichung: »Pfleget Euch nur auch recht gut, daß Ihr gesund bleibet, und machet Euch wegen meiner keinen Kummer.«

»Närrle«, erwiderte der Vater; »ich sterb noch nicht, und wenn ich sterb, du kannst ruhig sein, du hast mir mit Willen dein Lebtag keinen traurigen Augenblick gemacht.«

Lorle weinte.

»B'hüt dich Gott!« sagte der Vater in einem gewaltsam starken Ton, »und komm auch bald auf Besuch.«

Er stieg auf das Wägelchen des Bäckers, mit dem er halbwegs fuhr, wo ihn dann der Martin abholte.

Lorle lebte nun wieder in ihrer alten, ruhig stillen Weise. Die beiden Freunde aber waren in großer Aufregung.

Eine soeben erschienene Zwanzigbogenschrift brachte die ganze Stadt in Aufruhr. Sie hieß: »Die Sonntagsteufel mit den weißen Bäffchen oder Ein Schuß ins Schwarze, von Adalbert Reihenmaier.« Die Vorrede lautete: »Leser, auf zwei Worte! Ich will die Religionsheuchelei ans Messer der Öffentlichkeit liefern. Ich will die Versteinerungen im Moralienkabinett ordnen. Komm mit.«

Der Kollaborator, der ehedem die Ansicht gehegt hatte, man müsse die ganze heutige Welt radikal in sich verfaulen lassen, hatte nun doch an das Bestehende angeknüpft, da er zur Einsicht gelangt war, daß jene Erhabentuerei bloß eine Maske der Trägheit und Selbstgefälligkeit ist.

Die Tiefe und Selbständigkeit der philosophischen und geschichtlichen Forschung war in der Schrift unverkennbar, manches aber nahm sich seltsam aus; denn es waren nackt hingestellte Ergebnisse langer Besprechungen oder weitläufiger innerlicher Denkprozesse, nur für denjenigen vollkommen klar, der den Kollaborator kannte. Daneben waren dann wieder Sätze wie Dolche aus zusammengeschweißtem und gehämmertem Stahldraht. Ein Kapitel »Adam Kadmon oder die Urmenschen an der Spitze der Geschichtsepochen«, in dem der Verfasser seine Ansichten von der Erlösung darlegte, wurde von Oberflächlichen als mystisch bezeichnet, weil darin die Wiedergeburt der Menschheit durch die reine Natur erklärt werden sollte. Wir kennen einige Grundlinien dieser besondern Anschauung aus der Art, wie der Kollaborator das Wesen Lorles gegenüber den Kulturbestrebungen ansah. So weitab in die Tiefen des Geistes und der Geschichte sich diese Erörterung verlief, kann sie doch wohl durch jene Betrachtung angeregt worden sein; denn wer weiß, aus welchen scheinbar fernliegenden Anregungen der schöpferische Geist seine Gebilde schafft und seine Erkenntnisse den Anfang nehmen.

Wo sich die Schrift dem unmittelbaren Leben zuwendete, gelangte sie zu einem Schwunge, der sich mit dem prophetischen vergleichen ließ; hier loderte der Eifer gegen die Verunstaltung und die Blindheit, die aus dem Beseligendsten und Befreiendsten eine Jammerschule und eine Sklavenkette macht. Eben dies erregte den heftigsten Zelotismus gegen den Verfasser. Von den Kanzeln herab wurde gegen den ruchlosen Gottesleugner gepredigt und zugleich alsbald eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet. Jetzt lebte jene alte Notiz in dem geheimen Buch und das Aktenfaszikel 14 263 wieder auf; die Schrift und jene Tatsache wurde zur Fangschnur gedreht: Der Kollaborator ward wegen Atheismus angeklagt.

Die rechtsgelehrten Freunde erboten sich, ihn juristisch zu vertreten, er lehnte es ab, und die Verteidigungsschrift, die er einreichte, ward zur neuen Anklage. Dennoch ging er so frei und froh umher wie noch nie. Was kümmerten ihn die scheelen Blicke und das Fingerdeuten auf den vordem Unbekannten, Unangefochtenen? Er glaubte erst jetzt sich selber achten zu dürfen. Nur der unbeschreibliche Jammer seiner Schwester Leopoldine tat ihm weh. Vor der Schwelle einer gesicherten Zukunft hatte der Bruder sich selber den Weg abgegraben, das konnte die treue Gefährtin nicht verschmerzen. Sie hatte Gönnerinnen genug und lief von Haus zu Haus mit Bitten und Klagen, bis sie erfuhr, daß es sich zugleich auch darum handle, den eben von der Universität zurückgekehrten Sohn des Konsistorial-Direktors in die zu erledigende Stelle einzuschieben. Von diesem Augenblicke an hörte man kein Klagewort mehr von ihr. Mit einer bewundernswerten Stärke und Seelenruhe ließ sie nun alles kommen und war freundlich gegen den Bruder, in dem sie ein Opfer der Familienränke sah.

Lorle suchte jetzt Leopoldine wieder auf und sah mit tiefer Reue, wie unrecht sie gegen diese gehandelt hatte, die jetzt in Schmerz und Not ihre Hochherzigkeit und ihren liebevollen Geist offenbarte. Auch Leopoldine erkannte nunmehr das gesunde Herz und die Zartheit Lorles. Diese sagte einmal: »Ich glaub's nicht, aber wenn's auch wahr ist, daß der Herr Reihenmaier was Sündliches geschrieben hat, da wird ihn unser Herrgott schon strafen und besser machen; was geht das das Konsistore an? Da kann kein König und kein Kaiser was machen, das muß Gott selber wieder in einem zurecht bringen. Aber der Bruder ist ja so gut, er beleidigt ja kein Kind.«

Die Oberbehörden hatten andere Grundsätze, der Kollaborator wurde durch ein beispiellos rasches Erkenntnis als Gotteslästerer zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und demzufolge seines Amtes entsetzt. Er rekurrierte an das Gesamtministerium.

Reinhard war eines Abends »en petit cercle« beim Prinzen, die Eingeladenen standen in einer Gruppe im Empfangsaale und harrten nach der Hofweise des Einladenden.

Unversehens kam die Rede auf das Buch des Kollaborators; ein junger Engländer bemerkte: »Solche Frechheiten darf man nie und nirgends dulden, das schamlose fade Buch sollte an den Galgen genagelt werden.«

Reinhard hielt an sich und sagte nur mit ironischem Lächeln: »Sie zürnen, weil der Verfasser die Engländer das gottloseste Volk der Erde nennt, Sonntagschristen, die allsabbatlich ihrem Lordsgott langbeinige Reverenzen machen, während sie in der Woche lieblos gegen die eigenen niederen Stände und egoistisch gegen alle Welt sind.«

»Ich bewundere Ihre glückliche Gabe, es gibt Menschen mit einer besondern Anziehungskraft für Paradoxen und Trivialitäten«, entgegnete der Engländer.

Reinhard biß die Lippen aufeinander und faßte krampfhaft seinen Rockschoß, als packte er den kecken Schwätzer, der jetzt fortfuhr: »Der aberwitzige Verfasser versteht kein Wort von Philosophie.«

»So?« fuhr Reinhard fort, »also auch darüber wagt Ihr abzuurteilen? Wo sich der deutsche Geist irgend in seiner Kraft äußert, da wagt Ihr's, ihn zu bespötteln. Mag die ganze vornehme Welt vor Euch krummbuckeln und der Affe Eurer Gentlemans-Rohheit sein, es gibt noch etwas Höheres –«

»Seine königliche Hoheit!« hieß es plötzlich, als eben der Comte de Foulard beschwichtigend sich einmengen wollte; die Gruppe zerteilte sich schnell und bildete zu beiden Seiten Fronte, durch die der Prinz begrüßend schritt.

Wie war jetzt alles plötzlich gedämmt! Die Gräfin Mathilde hatte wahr gesprochen, als sie einst gegen Reinhard bemerkte, daß die Etikette und die gesellschaftliche Form überhaupt den individuellen Takt oft ersetzen müsse.

In mancherlei abliegenden Gesprächen suchten die Engländer, die sogleich gemeinschaftliche Sache machten, Reinhard zu reizen, ohne daß er in Gegenwart des Prinzen ihnen erwidern konnte; Reinhard fand indes einen unerwarteten Beistand in dem Oberleutnant und Kammerjunker Arthur von Belgern, dem Vetter der Gräfin Mathilde.

Als man die Gesellschaft verließ, sagte Belgern zu Reinhard: »Sie haben zwar dem ganzen Hofkreise den Handschuh hingeworfen, indes erbiete ich mich gern zu Ihrem Sekundanten. Es empört mich und viele mit mir schon lange, welche Anmaßungen den Fremden bei Hofe gestattet werden; durch einige Mäßigung hätten Sie sich, ich darf wohl sagen, den besten Teil der Gesellschaft zu Dank verpflichtet.«

Reinhard war es aber durchaus nicht darum zu tun gewesen, eine Partei zu gewinnen oder sich eine Coterie zu verpflichten; er hatte seinem Ingrimm Luft gemacht, und es tat ihm nur leid, daß es nicht noch kräftiger geschehen war. Mochte seine Beziehung zum Hofe sich dadurch lösen, es war ihm erwünscht.

Als die Ausforderung nun andern Morgens eintraf, nahm er sie mit Freuden an, ließ sich aber nicht von Belgern, sondern von einem jungen Rechtsgelehrten sekundieren und schoß seine erste Kugel dem Gegner durch das rechte Schulterblatt.

Das Duell erregte gewaltiges Aufsehen in der ganzen Stadt; es wurde indes vertuscht, aus Rücksicht für den Ort, wo es angesponnen, und weil man überhaupt gern Aufsehen vermied und Ignorieren in diesen wie in höheren Beziehungen als höchste Staatsklugheit gepriesen wird.

Lorle erfuhr die ganze Sache erst mehrere Tage später zufällig von Leopoldinen; sie schauderte vor dem, was geschehen war, und daß Reinhard ihr es verhehlen konnte. Sie begriff diese Welt nun gar nicht mehr: Dort ein braver Mensch der Gottesleugnerei angeklagt; hier ihr eigener Mann, der sein Leben aufs Spiel setzte wie einen Rechenpfennig. Sie ging mehrere Tage umher und sah allen Leuten verwundert ins Gesicht, als wollte sie sie fragen, ob denn die Welt bald untergehe.

In Reinhards Gegenwart war sie oft zerstreut, und dann sah sie ihn wieder mit einem flehenden Blick an, der dringend bat: Erzähl mir doch alles, ich kann nicht begreifen, wie du dein Leben, das doch mir gehört, vor die Mündung einer Pistole setzen konntest, ohne mir etwas davon zu sagen; und auch jetzt noch, da du der Gefahr entronnen, höre ich kein Wort. Bin ich denn gar nicht mehr da?

So sah sie ihn oft starr an, und keines redete eine Silbe.

Lorle half Leopoldinen, so viel sie konnte, aber die Wackere und Starkmutige war selten zu Hause; sie ahnte, was kommen konnte, und um gegen jede Fährlichkeit gesichert zu sein, begann sie nun wieder ihr Putzgeschäft einzurichten.

In dem Hause des Bäckers, wohin Lorle ihrem Versprechen gemäß jetzt bisweilen ging, fand sie meist Erholung; hier war ein Leben voll Arbeit und Heiterkeit, man wußte hier so wenig von dem Wirrwarr, der da drüben in den anderen Kreisen herrschte, als läge diese Welt fern überm Meere. –

Lorle, die sonst immer zu Hause geblieben und in sich selber Ruhe gesucht hatte, ging jetzt öfter aus, sie wollte sich vergessen, eine gewaltige Unruhe störte sie auf; sie war wie ein Vogel, der den Baum zur Erde gefällt sieht, auf dem er sein Nest gebaut hatte. –

Das Gesamtministerium bestätigte die Amtsentsetzung des Kollaborators, jedoch ward ihm die Gefängnisstrafe erlassen. In dem kleinen Bierstübchen wurde »der Geburtstag des Privatmenschen Reihenmaier« würdig gefeiert. Der Neugeborne hielt sich selber die Rede, in welcher die bemerkenswerte Stelle vorkam: »Sie irren sich, die Herren, sie wollen uns zu Lumpen machen, um dann ausrufen zu können: Seht ihr's. Nur die Taugenichtse sind unzufrieden! Wir wollen's ihnen zeigen.«

Von dieser Zeit an studierte er emsiger als je. Viele glaubten, daß er mit einer neuen, noch nachdrücklicheren Schrift hervortreten werde; aber er behauptete, nicht zum Schriftsteller zu taugen. Er gab sich nun ganz seiner Lieblingswissenschaft, der Geologie hin. Scherzend sagte er einst zu Reinhard: »Ich bin ein Stück Prometheus, auf den Felsen verwiesen, weil ich einen Funken Licht vom Himmel auf die Erde gebracht; aber ich bin nicht gefesselt, und ich lasse mir das Herz nicht aushacken.«

Reinhard war nicht nur bei Hofe, sondern auch, wie ihm die Freunde erzählten, fast in der ganzen Stadt in Ungnade gefallen. In der Residenz, die wesentlich aus Beamten und Militär bestand und wo es an natürlichen Erwerbsquellen mangelt, hatte sich bereits jenes Verderbnis der Badeorte eingenistet, daß viele faulenzend von der Vermietung ihrer Wohnungen an Fremde lebten, und wie sie sich vor denselben in kleine Stübchen zurückzogen, so ihnen auch sonst in allem Untertänigkeit bewiesen. Die Engländer hatten in Mißmut fast sämtlich die Residenz verlassen, und Reinhard ward nun in den Augen vieler ein Ärgernis. So wenig ihn alles dies berührte, empfand er doch eine prickelnde Unbehaglichkeit in allen seinen Verhältnissen. Lorle litt dabei am meisten, denn er sagte oft im Unmut: »Ich gehe zugrunde, wenn ich hier bleibe, ich kann nicht hier bleiben und will und muß doch.« –

Lorle wußte gar nicht, was sie beginnen sollte, sie bat, daß sie nach einer andern Stadt ziehen möchten; aber das wollte Reinhard wieder nicht.

Mitten in diesem Wirrwarr traf Lorle eine schwere Nachricht: Ihr Vater war plötzlich am Schlage gestorben. Nachdem sie sich sattsam ausgeweint hatte, war sie wunderbar gefaßt; sie ging tagtäglich nach der Kirche, um für den Verstorbenen zu beten. Leopoldine stand ihr getreulich bei in ihrem Kummer. Als sie ihr einst durch Erinnerung an eigenes Mißgeschick Trost zusprechen wollte, sagte Lorle: »Er ist jetzt tot, aber mir ist's, wie wenn er nur weiter weg wär, wo man eben nicht hinkommen kann, bis Gott einen ruft, ich denk jetzt grad an ihn, wie wenn er noch da wär, für mich ist's eins; ob man so weit oder so weit voneinander ist, das ist gleich. Es tut mir nur leid, daß er nichts mehr von dieser Welt hat, er hat aber die andere dafür; mich dauert nur mein Mutter, mein gute, gute Mutter.«

Reinhard kam immer seltener und immer flüchtiger nach Hause, er vollführte ohne Unterlaß seine Aufträge für den Hof; er setzte seinen Stolz darein, zu zeigen, daß ihm die Ungnade nicht nahe gehe und er Großmut zu üben wisse. – In den Feierabenden begann er sich auf traurige Weise zu betäuben.

Lorle fühlte ein fast unbezwingbares Heimweh, und doch wollte sie nicht auf einige Tage zur Mutter; sie fürchtete das Wiedersehen, den Abschied und die Rückkehr. Oft war's ihr wie einem Vogel, der die Flügel regt, aber sich nicht aufschwingen kann. Im Traume kam es ihr vor, als hätte der Bach ihres heimatlichen Dorfes eine Gestalt gewonnen und zöge und zerrte an ihr, daß sie heimkehre.

Eines Abends im Herbste saß sie am Fenster und sah den Schwalben zu, die jetzt hastiger durch die Luft schossen, im Fluge zwitscherten und sich grüßten; Lorle breitete unwillkürlich die Arme aus, sie wünschte sich Flügel, sie wollte fort, sie wußte nicht wohin. Die Dämmerung brach herein, die Abendglocke läutete, Lorle konnte nicht beten, sie saß im Dunkel und träumte: sie läge tief in der Erde eingeschlossen und nimmer tagt's. Da erwachte sie und hörte eine Stimme auf der Straße, die in schwerem, langem Klageton rief: »Sand! Sand! Sand!«

»Ach Gott!« dachte Lorle, »der Mann will noch nicht heim, er kann seinen Kindern kein Brot bringen für den Sand, den er feil bietet.« Sie ging hinab und kaufte dem Manne seinen ganzen Wagen voll Sand ab, so daß für Jahr und Tag vorgesorgt war. Der abgehärmte heisere Sandverkäufer dankte ihr mit Tränen in den Blicken. Sie ging nun wieder in die Stube und malte sich das Glück der Familie aus, wenn der Vater heimkam und Brot und Geld mitbrachte. Zu sich selber sprach sie dann: »Du bist doch undankbar, du hast's so gut, hast dein täglich Brot, und dein Mann läßt dich über alles Meister sein. Ach, er ist ja so gut. Wenn ich ihm nur helfen könnt.«

Sie nahm ihr Gebetbuch und betete; sie mußte herzstärkende Worte gelesen haben, denn sie küßte die Blätter des Buches und legte es zu.

Wie viele inbrünstige Küsse lagen schon in diesem Buch eingeschlossen!

Lorle faßte den Entschluß, heute zu warten, bis Reinhard heimkäme; sie mußte ihm wieder einmal ihr ganzes liebendes Herz offenbaren. – Stunde auf Stunde verrann, er kam nicht; sie hatte wieder das Gebetbuch ergriffen und Gebete und Gesänge für alle möglichen Lebensfälle gesprochen und leise gesungen; sie rieb sich oft die Augen, aber sie blieb wach.

Welch ein eigentümlicher Weltzusammenhang offenbarte sich ihr jetzt. Die Gedanken der Menschen in den verschiedensten Lebensverhältnissen waren jetzt durch ihre Seele gezogen und alle und überall seufzten sie auf und streckten die Hände empor. Könnt ihr euch nicht retten und emporschwingen?

In diesem Gedanken saß Lorle da und starrte hinein in das Licht.

Mitternacht war längst vorüber, als sie Reinhard die Treppe heraufkommen hörte; sie wollte ihm entgegengehen, aber doch hielt sie's für besser, ihn in der Stube zu erwarten. Jetzt öffnete sich die Tür. Verhülle dich, Auge! Ein Schreckbild, das einst im Scherz dich so gepeinigt – es wird zur Wahrheit.

»Lieber Reinhard, was ist dir?« rief Lorle entsetzt.

»Laß mich, laß mich«, antwortete Reinhard mit schwerer, lallender Zunge; er tat einen Schritt vor, und taumelnd stürzte er auf den Boden.

Lorle schrie nicht um Hülfe, sie hatte seinen Zustand erkannt und warf sich neben ihm auf den Boden, sie schaute dann mit gläsernem Blick umher und konnte nicht weinen. Eine Göttererscheinung, zu der sie anbetend aufgeschaut hatte, war in den Staub gesunken. »Wer hat das verschuldet? Er, ich oder die Welt?...«

Endlich stand sie auf, holte ein Kissen und legte es Reinhard unter den Kopf; er hob einen Arm und ließ ihn matt wiederum sinken.

In dunkler Kammer hatte sich Lorle über das Bett geworfen, kein Schlaf berührte ihre Augenlider, ihre Gedanken wurden wie von mächtigen Geistern wirr durcheinander gejagt, und Bilder, die kein Wachen schauen kann, umgaukelten sie. Der Tag graute. Als fühlte sie das Nahen des Morgens, stand sie auf, Reinhard lag noch in ruhigem Schlafe. Sie kleidete sich sorgfältig an, nahm ihr Gebetbuch, öffnete es aber nicht, sondern steckte es zu sich; was sie jetzt vorhatte, kam zunächst aus der Entschiedenheit ihres Charakters, aus ihrem selbständigen Entschluß. Vom Abend her lag noch eine geklärte Ruhe auf ihrer Seele, und eine Zuversicht, die aus der Tiefe des eigensten Lebens kam, spannte ihr ganzes Wesen; sie schwankte keinen Augenblick in ihrem Beginnen. Eine Weile stand sie mit gefalteten Händen vor Reinhard, dann verließ sie die Stube und ging die Treppe hinab. An der Flurtüre des Registrators lauschte sie, alles war still. »B'hüt euch Gott, ihr lieben Kinder«, hauchte sie an die Scheibe und verließ rasch das Haus.

Der Bäcker war höchlich erstaunt, als Lorle ihn bat, augenblicklich einspannen zu lassen, um sie nach Hause zu fahren; er willfahrte indes ohne Zögern, und da kein Knecht zu Hause war, übernahm er selbst den Fuhrmannsdienst. Lorle nahm nicht nur kein Frühstück, sondern duldete nicht einmal, daß der Bäcker auf dessen Bereitung wartete.

Als sie an der Kaserne vorbeifuhren, stand ein Tambour dort und schlug die Tagwacht; es war Wendelin, er ahnte nicht, wer im Morgenduft an ihm vorüberzog.

Wenige Stunden darauf erhielt Reinhard durch einen Boten folgenden Brief:

 

»Ich sage Dir Lebewohl, lieber Reinhard, ich gehe wieder heim zu meiner Mutter, ich hab's wohl bedacht, aber ich geh. Ich danke Dir viele tausendmal für all das Liebe und Gute auf dieser Welt, was ich durch Dich gehabt hab. Ich bin ein schöne Zeit glücklich gewesen. Gott ist mein Zeug, wenn ich's heut nochmals zu tun hätte und ich wüßt, daß ich so lang in Schmerzen verleben muß, ich tät's doch wieder und ging mit Dir. Es ist doch eine schöne Zeit gewesen.

Laß es bleiben, daß Du mich zu dir zurückbringen willst, das geschieht nimmer und nimmermehr; es ist gut so für Dich und mit Gottes Hülfe auch für mich. Wenn Du mir mein Bett und die zwei blauen Überzüge schicken willst, von allem andern will ich nichts mehr sehen.

Du mußt wieder in die weite Welt, und ich geh heim. Du wirst Deinen Kummer schon wieder vergessen, vergiß meiner aber doch nicht ganz. Lebe wohl und ewig wohl. Bis in den Tod Deine getreue

Lore Reinhard

Laß der Bärbel noch ein steinern Kreuz setzen, wie Du versprochen hast. Lebe wohl und ewig wohl. Deine Getreue.

Verzeihe, das Papier ist naß geworden, ich habe darauf geweint. Lebe wohl und lebe ewig wohl.«


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