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Seltsames Begegnen und Wiedersehen

1. Die Verlobung

»Der Alte hat recht schöne, weiße Locken,« sagte Julie zum Rittmeister und strich sanft mit ihrer Hand durch das Haar des alten Invaliden; »weiße Locken sind ein reizender Verein von Jugend und Alter.« – Der Rittmeister schien nicht Achtung zu geben, er blickte seitwärts und schwieg. – »Das gnädige Fräulein,« sprach der Invalide, »sagen mir immer ein liebes Wort am Sonntage, wenn ich die ganze Woche nichts als Verdruß erlebt habe; will es auch heute in meinem Gebete Gott vortragen, daß er dem lieben Fräulein bald Nachricht vom Herrn Vater gebe. Kommt der Herr Vater, da wird das gnädige Fräulein meine weißen Haare nicht mehr ansehen, was hatte der Herr Oberst für schöne, weiße Locken, ich habe sie ihm wohl manches tausendmal frisiert. Gott weiß, wer ihn jetzt frisieren mag.« – Der Rittmeister wandte sich mit einer unwillkürlichen Bewegung von dem Alten fort, der mit Anstand das Zimmer verließ. »Sie scheinen meinen guten Alten nicht gern zu sehen?« fragte Julie den Rittmeister. – »Sie irren sich in meinem Gefühle,« antwortete er, »es ist ein Ereignis dieses Krieges, das mich beim Anblicke alter Krieger stört. In den Heeren Ihres Königs dienten viele alte Leute, und das sollte nicht sein, ohne bösen Willen muß die Jugend in solchen Greisen die heiligsten Gefühle verletzen.« – »Sie fühlen vielleicht zu zart,« meinte Julie, »wo Ihre Landsleute meist zu hart sind.« – »Nicht meine Landsleute,« antwortete der Rittmeister, »meine Schicksalsgefährten, ja sie würden mein Gefühl bei dem Vorfalle verspotten, ich aber wünschte, daß ich mich so leicht mit diesem Gefühle abfinden könnte, aber es plagt mich oft in dem stillen Frieden Ihrer Nähe.« – Julie fragte nach diesem Ereignisse, und der Rittmeister erzählte ihr, wie der Tag der großen Schlacht nämlich die Schlacht bei Jena ihm für seine militärischen Aussichten so besonders günstig gewesen wäre, er sei vom Kaiser bemerkt und belobt worden, aber der Abend dieses Tages habe ihm die Erinnerung desselben verbittert. »Die Schlacht war auf unsrer Seite völlig entschieden,« erzählte er, »unser Kanonenfeuer hatte die feindlichen Infanteriemassen zum Weichen gebracht, unsre Kavallerie stürzte nach. Obgleich ich wegen meiner Anstellung beim General keine Aufforderung hatte, selbst Hand ans Werk zu legen, so trieb mich doch mein böses Blut und frühe Gewohnheit unter dem Vorwande hinein, daß ich eine kleine Verwirrung der Unsern wieder ausgleichen müßte. Feindliche Reiterei suchte uns aufzuhalten, aber sie wurde geworfen. Ein einzelner feindlicher Offizier widerstand lange der Flucht unter den Seinen und ritt uns dann mit blindem Zorne entgegen. Ein paar Dragoner, die sich an ihn machten, fertigte er so übel ab, daß die andern der größern Masse nacheilten und sich um den einzelnen Reiter nicht mehr kümmerten, der uns nicht mehr schädlich werden konnte. Ich sprang auf ihn los, er hielt seinen Degen mit beiden Händen vor die Stirn, mir war's, als ob er betete, und ich hätte ihm Gefangenschaft angeboten, hätte sich nicht in dem Augenblicke der General mit seinem Gefolge genähert, unter dessen Augen ich mich auch im einzelnen Kampfe auszuzeichnen trachtete. Die Eitelkeit verschlang meinen guten Willen, ich sprach nicht mehr vom Gefangennehmen, ich gebot dem Offizier, sein Leben zu verteidigen. So fochten wir einige Zeit gegeneinander. Mein Gegner hatte ein gewandteres Pferd, ich blutete schon, da traf mein Säbel sein Haupt, der Hut fiel zu Boden, er ließ die Zügel sinken, ein Sprung des Pferdes warf den Reiter zur Erde. Ich kann den Schauder nicht beschreiben, als ich niedersah und ein schneeweißes Haupt von Blut überrieselt erblickte, nie tilgt sich dieser Flecken aus meiner Erinnerung, die Ehre des Tages erschien mir nichtig, weil ich mich mit so ehrwürdigem Blute befleckt hatte. Nie hatte ich einen so alten Mann bei meinem Heere gesehen, ich war so entsetzt, als hätte ich meinen Vater unbewußt umgebracht. Ich sprang vom Pferde, er atmete noch; ich befahl meinem Hans, der mit einem Handpferde aus dem Gefolge des Generals zu mir sprengte, für den Verwundeten zu sorgen, weil mich selbst der Dienst fortrief.« – »Wurde der Verwundete gerettet?« fragte Julie. – »Nein, leider nein,« antwortete der Rittmeister, »erst nach einem Monat traf ich wieder den Hans, er sagte mir, daß er gestorben sei, und brachte ein Zeugnis des Pfarrers im nächsten Dorfe, daß er begraben mit aller Ehre, die einem Manne gebührt, der in seinem Berufe gestorben.« – »Steht sein Name in dem Zeugnisse? Sie sollten es den Seinen schicken, vielleicht wissen sie so wenig von ihm, wie ich von dem Schicksale meines Vaters,« sprach Julie. – »Es scheint, daß der Verwundete sich nicht mehr hat erklären können,« entgegnete der Rittmeister, »kein Name ist in dem Zeugnis, und so ist mir auch der Trost, die Beruhigung versagt, den Verwandten wenigstens für ihr äußeres Verhältnis zu ersetzen, was ihnen meine Eitelkeit geraubt hat.« – Julie war gerührt durch die Güte des Rittmeisters, sie konnte es nicht unterdrücken, ihm dieses Wohlwollen zu bekennen, und wie sich leicht an einem Gefühle ein andres gleichartiges entzündet, daß zur Erscheinung gelangt, was sich sonst vielleicht mühsam doch noch lange geistig verschlossen gehalten hätte, so ward auch dieses Wohlwollen die Veranlassung, daß der Rittmeister endlich seine Neigung, seinen Wunsch zu einer dauernden Verbindung Julien bekannte. Sie hatten sich gegenseitig lange erraten, nur das seltsame Verhältnis eines einquartierten Feindes zu seiner Wirtin, das jenem so bedeutende Rechte zuspricht, hatte den Mund des Rittmeisters bisher verschlossen. Julie, offen und heftig in ihrem Wesen, konnte eine Neigung nicht verheimlichen, die übermächtig alle andre Freunde, Vorsätze und Beschäftigungen aus ihrer Seele verscheucht hatte. So entwickelte sich eine Verlobung von selbst, das entferntere Sie wurde in ein vertrauliches Du umgesetzt, und Julie verwunderte sich, daß die Leute schon aus der Kirche kamen, als sie erst eingehen wollte, für das Glück dieser Verbindung zu beten. Sie wäre wohl nicht zur Kirche gegangen, wenn nicht der Rittmeister wegen dringender Geschäfte, die den ganzen Tag einzunehmen drohten, zum General abgerufen wäre. Vor der Kirchtür begegnete ihr Konstanze, die sie über acht Tage zur nächsten Versammlung des Schwesternbundes zu sich einlud, eine Verbindung, die zur Unterstützung von allerlei löblichen Zwecken aus geselliger Unterhaltung hervorgegangen, in dieser betrübten Zeit die einzige Veranlassung war, daß die jungen Mädchen in größerer Zahl zueinander kamen. Konstanze konnte sich nicht enthalten, nach ihrer Gewohnheit alle ihre überspannten Hoffnungen darzulegen, wie nun bald die Zeit gekommen sei, um durch treue Verbindung, wie einst Sizilien in der Vesper, aller Feinde sich zu entledigen. Julie war heute zum erstenmal gelähmt, in diese Pläne einzustimmen, und Konstanze warf ihr Lauheit mit Härte vor. So schieden beide sonst so vertraute Mädchen mit einiger Empfindlichkeit voneinander; Julie fand es unleidlich, von einer Freundin gleichen Alters immer gehofmeistert zu werden, und Konstanze fand das Gerücht nicht mehr unwahrscheinlich, daß der einquartierte feindliche Rittmeister Julien nicht mehr lästig, vielmehr ihr angenehm sei mit seiner steten Gegenwart, die alle Freundinnen verhinderte, sie zu besuchen.

2. Die Trennung

Konstanzens Ärger, der ihr sehr bald als edel und pflichtmäßig erschien, hatte seine reifen Früchte schon am nächsten Sonntage in der Versammlung der verbundenen Schwestern getragen und aufgetischt. Abends, als es eben anfing zu dunkeln in den Zimmern, verließ Julie das Haus Konstanzens bei scheinbarer Kaltblütigkeit in so heftiger Bewegung, daß sie den Platzregen kaum bemerkte, der alle andere Fußgänger in den Schutz der Häuser trieb. Es war ihr zuweilen, als hielte sie schon die Pistole in ihrer Hand, und die Leute in den Torwegen meinten, sie fühle nach, ob es noch regne, oder sie erwehre sich der Regentropfen, so seltsam streckte sie den rechten Arm in die Luft. Aus Gewohnheit, ohne sich des Weges bewußt zu sein, ohne ihn dahin gerichtet zu haben, trat sie in den Flur ihres Hauses, der ebenfalls mit flüchtigen Spaziergängern angefüllt war, die ihren Sonntagsstaat zu sichern und zu trocknen bemüht waren. Die Anwesenheit der vielen fremden Gesichter verwunderte sie, aber sie fragte nicht nach der Ursache, sondern lief hastig hindurch, die Treppe hinauf nach ihrer Wohnung, und bemerkte erst hier an ihrer Türe, daß sie den Drücker in ihrem Arbeitstäschchen bei Konstanzen vergessen habe. Sie schlug sich vor die Stirn, weil sie sich erinnerte, daß Charlotte Erlaubnis erhalten, den Nachmittag auszugehen; daß der Rittmeister mit seinem Hans ausgeritten, so daß niemand ihr die Wohnung eröffnen konnte. Die Kühlung des Regens hatte allmählich ihre Heftigkeit gemildert, doch konnte sie sich nicht entschließen, das Haus ihrer Freundin je wieder zu betreten; da öffnete ein Windstoß die Türe, die nur angelehnt war. Hatten Diebe die Tür erbrochen? Aber weder ein Dieb noch ihr Mädchen hatten aufgeräumt; das ausgezogene weiße Röckchen lag noch wie ein Zauberring in der Mitte des Zimmers, Strohhut und Bänder auf dem Spiegeltische. Sie seufzte, mit welcher Ungeduld sie das Zimmer verlassen, um ihre alten Freundinnen wieder zu begrüßen, ihnen zuerst ihre Verlobung bekannt zu machen, die sie bis jetzt noch jedermann verschwiegen hatte. Sie hatte wohl etwas Neckerei darüber vermutet, aber nicht ahnen können, daß Konstanzens Ärger und Enthusiasmus sich in der Zeit so miteinander verflochten hatte, daß sie, die genaueste, liebste Freundin, ihr diesen unabänderlichen Schritt als Entehrung vorwerfen könnte. In dem Taumel der freundlichsten Gewalt hatte sie sich mit dem Worte beruhigt, daß der Rittmeister von Geburt ein Deutscher sei, nur durch ein Spiel des Zufalls während der Revolution aller Unterstützung seiner unbekannten Eltern beraubt, sich gezwungen gesehen, gegen seine bessere Überzeugung mit den andern in den Kampf zu ziehen, auch hier glaubte sie sich und ihn dadurch vollkommen gerechtfertigt. Aber die harte Konstanze verdammte ihn, ohne darauf einzugehen, was Gewohnheit und Erziehung für Zwang ausüben, sie sprach mit verächtlichem Lächeln: es sei eine Hauptlüge unsrer Zeit, beschönigen zu wollen, was in sich unverbesserlich schlecht sei, der Rittmeister sei um so ehrloser als jeder andre dieser verhaßten Feinde, weil er gegen seine Überzeugung und gegen sein Vaterland dem Willen eines Zerstörers gefolgt sei. – War es nicht natürlich, daß dieser Schimpf gegen den Geliebten die liebende, ernste Julie empört hatte? Der gleichgültigen Welt hätte sie es verziehen, wenn sie ihr Glück dem Geschwätze und der Prahlerei allgemeiner Grundsätze aufgeopfert hätte, die nur selten den einzelnen fassen und richten können, der vieljährigen Vertrauten ihres reinen Herzens konnte sie es nicht verzeihen, sondern sie sprach mit recht inniger Überzeugung: »Wäre ich ein Mann, ich würde dir auf diesen Vorwurf gegen meinen Freund mit den Waffen antworten.« Konstanze, von ihrem Vater zur Jagdlust erzogen, an Waffen gewöhnt, hatte das Wort aufgenommen und ihr versichert, in ihrer Lage würde sie den Männern nichts vorauslassen und ihre verlorne Ehre durch Gewalt wieder zu gewinnen suchen. Julie rief, sie wolle ihr zeigen, daß es ihr nicht an Mut fehle, um der Ehre sich würdig zu beweisen, als Braut eines der edelsten Krieger vor aller Welt aufzutreten. Die andern Mädchen hatten erst gelächelt, dann hörten sie erschrocken zu, suchten dann mit Ungeschicklichkeit zwischenzutreten, aber Julie, der Gesellschaft überdrüssig, die so unerwartet aus der Reihe vieljähriger Verschwisterung in die fremdeste Ferne gerückt war, verließ dieselbe in dem unleidlichsten Zustande, von äußern und innern Widersprüchen zerrissen. Dieser Zustand quälte sie noch immer fort, als sie in der einsamen Dunkelheit ihres Zimmers sich auf einen Stuhl setzte, um über den Vorfall ruhig nachzudenken. Ihr tat es leid, ihrer Konstanze entsagen zu müssen, und sie wünschte sich an Konstanzen dafür zu rächen. Ihr Wort wollte sie durchaus nicht zurücknehmen, das Gerede der Welt verachtete sie jetzt, sie sann ernstlich darauf, wie sie dem Rittmeister das Geheimnis, eine Pistole zu laden, ohne daß er etwas von der Absicht ahnde, entlocken könne, eine Pistole dachte sie im Schranke des Vaters zu finden. So saß sie nachdenklich auf einem Armstuhle, als eine ihr ähnliche Gestalt in ihren Kleidern, die sie gleich erkannte, hereintrat. Mit hohen, abgemessenen Schritten ging die Gestalt ans Fenster und sprach pathetisch die Schlußworte aus der Jungfrau von Orleans: »Kurz ist der Schmerz und ewig ist die Freude!« – Trotz der prachtvollen Stimmenerhöhung erkannte Julie in derselben ihre Charlotte, welche die Dienste einer Kammerjungfer und Köchin zu gleicher Zeit bei ihr verwaltete, seit die Kriegslasten ihr die Beschränkung der Ausgaben rätlich gemacht hatten. Sie sah der geschmückten Köchin verwundert zu, was aus der Torheit werden sollte, bis diese an dem chemischen Zunder die Argandsche Lampe angesteckt hatte und mit einem Zusammenfahren und Herr-Jesus-Schrei ihre Herrschaft erkannte. »Was für Possen,« fragte Julie, »mein Kleid anzuziehen, meinen Helm aufzusetzen? mir ist es unleidlich, meine Kleider auf andern zu sehen!« – »Ich hatte keine schlechte Absicht,« sagte die Köchin, »es war nur aus Liebe zur Kunst.« – »Was für Kunst?« rief Julie ungeduldig, »denkst du im seidnen Kleide besser zu kochen? ich glaube, du bist närrisch geworden.« – »Ach, mein gnädiges Fräulein,« entgegnete Charlotte, »wie wenig kennen Sie mich, ich sollte so unverschämt sein, das schöne Kleid im Küchenrauch zu schwärzen! Nicht für mein leidiges Handwerk, nein, für die edle Kunst lebe ich, nicht in der Küche, nein, auf dem hellerleuchteten Liebhabertheater sollte das schöne, weiße Kleid paradieren, hier bin ich Köchin, da bin ich Fräulein von Orleans, und ohne Ruhm zu melden bin ich die beste von allen und mache Ihnen Ehre, denn ich werde jedesmal herausgerufen, und die Leute fragen dann, bei wem ich diene, und ob Sie mir die Rolle einstudiert hätten?« – »Wäre mir nicht unwohl,« sprach Julie, »so könnte ich lachen, alles studiert, alles künstelt, und keiner kann was Rechts zustande bringen. Welcher verderbliche Leichtsinn in unserm Unglücke, es ist mir, als litte ich selbst an allen den Übeln, weil ich sie in meinem Vaterlande sehe. Schnell die Kleider ausgezogen, das Schauspiel ist heut geschlossen. Du verdientest Strafe, aber mir ist unwohl, geschwind mache Tee.« – »Ach gnädiges Fräulein,« rief Charlotte bekümmert, »ich kann keinen Augenblick abkommen, der gute Mensch, der den König spielt, wird mich gleich abholen. Denken Sie, er wäre früher gekommen und Sie später, so hätten Sie mich doch nicht mehr gefunden, ich hatte ihm die Türe aufgelassen und höre ihn schon kommen.« – »Zieh meine Kleider aus und geh aus meinem Dienst, wenn dir das Lumpentheater mehr als ich zu befehlen hat,« antwortete Julie. – »Ich kann nicht bleiben,« schrie die Köchin, »ich kann die Kleider nicht ausziehn, denn es ist schon zu spät, um andre zu mieten; ich müßte mir das Leben nehmen, wenn ich die Künstler so anführte und in unanständigen Kleidern aufträte; was an Fettflecken aufs Kleid kommt, will ich gern wieder ausmachen.« – »Charlotte, sei vernünftig,« sprach Julie, »ich muß sonst zur Polizei schicken.« – »Es soll mir nur so einer kommen,« meinte die Köchin, »die gehen selber gern in unser Liebhabertheater, und vor einem fremden Soldaten kriechen sie alle zusammen ins Ofenloch; ich muß heut spielen, und sollte ich morgen dafür im Zuchthause sitzen. Da ist er schon, mein König!« – Es war Hans, des Rittmeisters Stallknecht in schönpoliertem Küraß, den er sich von einem Kürassier geliehen, der singend ins Zimmer trat und sehr erschrocken in der Türe stehen blieb, als er die Braut seines Herrn (denn er hatte es längst in des Herrn Papieren herausgelesen) mit seiner Jungfrau in Streit gefunden. Die Köchin wurde durch seine Nähe angefeuert, sich noch frecher auszulassen; dem Hans ging aber sein Herr weit über seine Liebe. Statt ihr den Arm zu reichen, gebot er ihr mit drohender Hand, den Willen des Fräuleins zu erfüllen, die Komödie möchte der Teufel holen. Diesmal ließ die Köchin alles überkochen, sie fluchte auf ihn und auf das Fräulein. Julie rief auf den Flur nach einem Manne, der im Hause wohnte und allerlei Bestellungen für sie machte, sie befahl ihm, den Polizeikommissär zu holen. Gleich sprang ein Mann in Uniform die Treppe herauf und fragte, wozu er verlangt werde, er sei der Polizeikommissär, der Regen habe ihn ins Haus getrieben, und er freue sich, die Zeit zu Berufsgeschäften benutzen zu können. Als Julie ihm mit Ernst die grobe Unverschämtheit der Köchin erzählt hatte, sah der Polizeikommissär die Köchin mit Wohlgefallen an und rief entzückt: »Es ist ein großes Talent, man muß ihr schon etwas zugut halten, solche Grobheit ist eine Übereilung und meint es nicht böse, und die Kleider hat sie wohl nur dem Publiko zu Ehren angezogen.« Dabei sah er nach der Uhr und versicherte, er müßte forteilen, einige Anmeldungen und Abmeldungen von Mägden ins Buch einzutragen. – Julie, vor den Augen der Magd von dem Beamten der öffentlichen Ordnung verlassen, fühlte sich in ihrem Zorne berufen, ihm einige ernste Lehren zu geben, er verliere mit dem Unnützen so viel Zeit, daß er für wahre Übel der Zeit keine behalte. – »Ich erfülle höhere Befehle,« sagte der Mann. – »Schlimm, sehr schlimm,« rief Julie, »so sollten Sie wenigstens dieses Verderben den höhern Behörden schildern, dieses Aufsteigern der ärmern Klassen zu geselligen Verhältnissen, die nur der Überfluß gewähren kann. Statt Reisende tagelang mit Paßspielereien hinzuhalten, sollten Sie die Zusammenkünfte der dienenden Klasse beobachten, da ist die Ursach zu finden, warum wir in einer mit Polizei bevölkerten Hauptstadt wie auf den Diebsinseln uns befinden. Zehnfachen Diebstahl habe ich Charlotten hingehen lassen, weil sie darin nicht schlimmer ist als andre, aber die heutige Frechheit verzeihe ich ihr nicht.« Der Polizeikommissär zuckte mit den Achseln und wollte Julien beschwichtigen, als Hans ihn in einen Winkel schob und seiner Charlotte in gemeinen Ausdrücken alle Freundschaft aufkündigte, weil er höre, sie habe gestohlen, eine Diebin sei ehrlos. – Charlotte trat ihm keck entgegen und fragte ihn, was er denn besser sei als sie, wenn sie den Wein ihrer Herrschaft genommen habe, wer sei es denn gewesen, der ihn getrunken? – Mit erhabnem Antlitze aufblickend, drückte Hans beide Hände gegen seinen Magen und rief in französischer Sprache: »Bewahrst du noch etwas, armer Unwissender, von dem gestohlenen Gute, so gib es ihr mit Wucherzinsen zurück!« – dann aber warf er dem Mädchen einen Blumenstrauß vor die Füße und rief: »Nimm alles zurück, was ich von dir habe, ich will mich nicht mehr mit dir gemein machen.« Charlotte weinte wütende Tränen und schwor, es sei auch ihr recht, und sie wolle auch nichts von ihm bewahren. So warf sie ihm ein seidnes Umschlagetuch hin und nahm dann von ihrem Halse eine goldne Kette, woran ein schlechtes Miniaturbild befestigt (beides war von dem Tuche bisher versteckt gewesen), und warf sie auf den Tisch. Die Kette schurrte über den Tisch bis zu Julien, die unwillkürlich ihre Augen darauf heftete und mit erstarrtem Auge ausrief: »Ach, mein Vater, mein lieber Vater!« – Mehr konnte sie nicht sagen, eine heftige Wehmut deckte ihr das Licht der Augen, während Hans mit einiger Verlegenheit zugriff und mit der Kette augenblicklich forteilte. Als Julie sich wieder faßte, war er schon fort, aller Zorn war vergessen; sie flehete Charlotten mit aller Freundlichkeit an, dem Hans nachzugehen, ihn auszufragen, wo er die Kette erhalten. – Der Kommissär fragte in gewöhnlicher Neugierde, die sich mit Pflicht deckt, ob er ein Protokoll aufnehmen solle, wodurch ihr die Kette so bekannt wäre? »Kein Protokoll,« sagte Julie, »hier ist kein Diebstahl wie bei meinen Kleidern, hier hat der Krieg ein liebes Eigentum in unrechte Hände geschenkt. Diese Kette war meine letzte Gabe, die ich dem Vater dreimal um seinen Vorderarm unter dem Ärmel schlang und mit diesem Schlüssel verschloß, sie ist eigen nach meiner Angabe gearbeitet, und mein Name steht in einzelnen Buchstaben dreimal in den Kettengliedern. Sie erklären sich daraus, wie ich die Kette beim ersten Blicke erkennen konnte, ach es war fast die erste Nachricht von ihm seit der Schlacht, nur das erzählte ein Verwundeter, mein Vater, der Oberst, sei vom Feinde umringt gewesen, als das Regiment von Übermacht gedrängt wurde. Hat Hans diese Kette selbst erbeutet, so weiß er auch, ob der Vater gefangen ist, vielleicht kann ich seine einsamen Stunden erheitern; ich kann die Hoffnung nicht aufgeben, ihn wiederzusehen!« – »Die Hoffnung läßt nicht zuschanden werden,« meinte der Kommissär, »ich hoffte, daß sich der Regen noch zur rechten Zeit verziehen würde, und jetzt sehen Sie den hellsten Himmel, ich empfehle mich bestens und glaube die Genugtuung mit mir nehmen zu können, daß durch meine Zwischenkunft der häusliche Zwist in Frieden ausgeglichen ist. Solch eine Begütigung ist der schönste Lohn aller meiner Tätigkeit, ja, wenn ich einst von hinnen scheide, werden die Leute sagen, sie haben einen guten Mann begraben.« – Der Kommissär entfernte sich mit der behaglichen Rührung einer guten Herzensverdauung und ließ die unruhige, unbehagliche Julie allein, die geduldlos auf jeden Tritt horchte, ob Charlotte mit Hans nicht bald die Treppe heraufkomme. – Charlotte war inzwischen bald ihrem Hans im Hause begegnet, der ihr schnell aus aller Verlegenheit half, indem er ihr versicherte, was er gesagt, sei nur in Rücksicht auf seinen Herrn geschehen, übrigens bleibe alles zwischen ihnen beim alten. »Aber wo ist die Kette?« fragte Charlotte, »das Fräulein sagt, daß sie ihr Vater, der alte Oberst, getragen.« – »Ich habe sie im ersten Ärger hinterm Hause ins Wasser geworfen,« sprach Hans, »eine Kette sieht der andern ähnlich, diese hatte ich in Paris selbst von einem Grobschmiede zum Zeitvertreib mir machen lassen aus vergoldetem Blei; laß uns nach dem Schauspiel gehen, so sind wir doch wenigstens diesen Abend noch recht lustig; es liegt ein Brief auf meines Herrn Tisch, wer weiß, ob wir morgen nicht marschieren müssen.« So riß er Charlotten mit sich fort, die sich auch nicht sonderlich sträubte, mit ihm den Schauplatz des Ruhmes zu betreten. Juliens Geduld war bald erschöpft, nie hatte eine einzige Tochter ihren Vater so einzig geliebt, nie war ein Vater der Liebe und Achtung so würdig gewesen durch Treue in seinem Wandel als Mensch, Bürger und Soldat. Ohne große Erwartungen von dem Erfolge des Krieges zu hegen, war er doch von der Rechtlichkeit desselben so durchdrungen, daß er jeden Versuch, ihm eine ehrenvolle Ruhe zu sichern, zurückwies, er hatte sein Vaterland früher als seine Tochter unter seinen Augen aufwachsen sehen und mochte dessen Fall nicht überleben. Das und mehr ging wieder durch Juliens Erinnerung, während sie aus dem Fenster blickte und in bedeutender Entfernung beim Scheine des Vollmonds den Küraß des Hans und das Kleid der Charlotte nebeneinander zu erblicken glaubte. Sie hielt sich nicht zurück, sie folgte den beiden aus allen Kräften, nachdem sie Wohnung und Haus in raschem Entschlusse verlassen hatte. – Dennoch behielten jene beiden den Vorsprung, und Julie hatte endlich den Verdruß, sie in der Türe eines mit wenigen Lampen verzierten Hauses verschwinden zu sehen. Außer Atem und unschlüssig blieb sie in einiger Entfernung von dieser Türe stehen, sie scheute sich vor dem Skandale, wenn sie einträte, sie scheute sich vor der unruhigen Sehnsucht, wenn sie zurückginge. So im Nachdenken vertieft, horchte sie den Reden der Vorübergehenden zu wie Orakelsprüchen, die ihren Weg bestimmen sollten, aber sie hörte von nichts als von Staat und Eßwaren, die jedes mit sich zu dem Liebhabertheater trug. Hier rühmte sich einer der Flasche Rum, die er allmählich dem Herrn abgezogen, dort erzählte eine der andern, daß ihr Kleid nicht mehr in der Mode sei; so lernte Julie ganz zufällig die Zuchthausschule kennen, durch welche Charlotte zu dieser Frechheit gereift war. Und doch hätte sie ihr für die Kette alles geschenkt und verziehen, warum floh sie, warum hatte sie ihr keine Nachricht gebracht? Da faßte Juliens Arm eine feste männliche Hand, sie erschrak und blickte zornig um sich. Aber ein Wort versöhnte sie, der Rittmeister stand hinter ihr, er hatte sie trotz der Dunkelheit erkannt und erzählte ihr mit Heiterkeit, sein Hans spiele in dem nahen Hause eine Heldenrolle, er habe Einlaßkarten von ihm und freue sich, den Gecken, gepornt von aller Eitelkeit, florieren zu sehen; wenn sie dadurch an keiner bessern Unterhaltung gehindert würde, möchte sie doch auch den Spaß mit ansehen, an seinem Arme sei sie gegen üble Nachrede geschützt, und überhaupt halte sich die Gesellschaft dort für sehr honett. Julie unterbrach ihn und erzählte ihm mit Wehmut, wie sie durch eine Kette, die Hans der Charlotte zu diesem Feste geliehen, einige Auskunft über das Schicksal ihres Vaters zu erlangen hoffe, aber Hans habe ihr nicht Rede gestanden, und sie habe beide auf dem Wege hieher nicht erreichen können und sich gescheut, ohne männlichen Führer in das Haus zu gehen. – »Wir begegneten uns zur rechten Zeit,« sagte der Rittmeister, »ich glaubte dich noch im Kreise deiner echtdeutschen Fräuleins, die kein Wort Französisch sprechen wollen und mir auch Deutsch keine Antwort geben.« – Julie gab vor, die Gesellschaft sei wegen einer Kränklichkeit Konstanzens früher als gewöhnlich auseinander gegangen, während ein vorübergehendes Mädchen einer andern erzählte, mit manchem unreinen Spotte, ein Paar Fräuleins wären heute verrückt geworden und wollten sich absolut duellieren. Der Rittmeister hörte es nicht; er führte Julien durch das Gedränge, das ihm nach allen Seiten auswich, ins Haus und auf das Theater, das sich seinem Willen sogleich eröffnete. Der erste, der ihnen in die Augen fiel, war der gesuchte Hans, der mit erhabenem Haupte seine königliche Rolle überlas, während eine artige Dame ihm den Stiefel abrieb, den er auf einen Thron gesetzt hatte; ein grauenvolles Bild jener Zeit, wo ein fremder Krieger seinen harten Fuß auf den Thron und in den Nacken der Franzosen gesetzt hatte, und Germania ihm mit ihren Tränen und Blut ihrer Kinder höchstens seine Stiefeln zu putzen gewürdigt wurde! Weder Julie noch der Rittmeister hatten Ruhe genug, dieser Bedeutung zu achten, vielmehr begrüßte der Rittmeister den übermütigen Tyrannen mit einigen derben Soldatenflüchen, daß er nicht dem Fräulein über eine Kette Auskunft gegeben, an der ihr sehr viel liege, weil der, welcher sie getragen, ihr Vater gewesen. »Weißt du etwas von ihm?« fragte Julie. »Der ist tot,« antwortete Hans verlegen, »gewißlich ganz tot, wenn er gelebt hätte, wie würde ich ihm etwas abgenommen haben.« – Julie seufzte schmerzlich auf, um die Hoffnungen ihrer Liebe mit diesem Seufzer auf immer zu entlassen, dann verwünschte sie den, der ihm den Todesstreich gegeben, und fragte wehmütig, indem sie sich an den Rücken einer Kulisse anlehnte, wo er den Toten verlassen, wie er verwundet gewesen? – »So etwas zerreißt das Herz,« sagte der Rittmeister, »wenn wir das allgemeine Kriegsgeschick im einzelnen uns anschaulich machen.« – Julie sprach, ihr Herz sei so tief zerrissen, daß nur eine lange Betrachtung ihres Unglücks sie heilen könne, sie wiederholte ihre Fragen, und Hans stammelte in Verlegenheit allerlei unzusammenhängende Reden von Wunden und Schlachtfeldern. Mitten in seiner Rede unterbrach ihn der Direktor des kleinen Theaters, daß er auftreten müsse, und Hans wischte sich die Stirne und drehte sich flüchtig fort. Der Rittmeister befahl ihm zu bleiben, aber Hans schien keine Ohren mehr zu haben, deswegen eilte ihm jener aufs Theater nach und gewohnt, auf dem Welttheater manches ärgere Geschäft durchzuführen, packte er gleichgültig gegen das zusehende Publikum den guten König, noch ehe sich die begeisterte Jungfrau zu seinem Schutz eingefunden, beim Kragen und schleppte ihn unter schallendem Gelächter der Menge in die Kulisse zu Julien. Hier fragte er ihn: »Wo hast du die Kette gefunden, was sollen die verwirrten Reden? hast du noch nicht so viel Artigkeit gelernt, einer Dame Rede zu stehen, so darfst du noch nicht den König spielen.« – Julie bat für den entthronten König, dieser aber verlangte keine Schonung mehr, sondern in seiner Eitelkeit über alles Maß gekränkt entgegnete er trotzig: »Was für ein Lärmen um eine Armkette, die ich einem Toten abnahm! ich will mich vor jedem Kriegsgerichte rechtfertigen.« – »Es ist hier gar nicht vom Nehmen die Rede, sondern von Rede und Antwort, die du zu geben verpflichtet bist, oder ich lasse dich sogleich festsetzen,« sprach der Rittmeister; »wo hast du den Toten gefunden?« – »Sie wissen's besser als ich,« antwortete Hans, »denn unsereiner bekümmert sich nicht darum, wie die Dörfer heißen, wenn nur Futter für Menschen und Vieh darin zu finden; wo hieben Sie den Alten vom Pferde?« – »Von dem ist die Kette?« fragte der Rittmeister verwirrt und beklommen. – »Freilich,« antwortete Hans, »die Kette und diese Pistole, die ich mir wegen des silbernen Beschlags in den Gurt steckte.« – »Hatte ich dir nicht verboten, den Alten zu berauben? Du solltest für ihn sorgen.« – »Ich sorgte für ihn, solange er lebte, und das währte nicht lange, nachher war ich sein natürlicher Erbe; sollte ich Geld und Geldeswert den Bauern schenken, die ohnehin alle Soldaten nackt ausplünderten?« – »Geh und verschweig gegen jedermann, was wir hier gesprochen,« sagte der Rittmeister, »dein Plündern führt mich zu einer Entdeckung, die mich sehr unglücklich macht.« Julie hatte unterdessen Kette und Pistole an sich genommen und ihren Geldbeutel dafür dem Hans in die Hand gedrückt, dann wandte sie sich schweigend mit gesenktem Blicke fort zur Türe, sie hatte die abgebrochenen Reden jetzt nur zu wohl verstanden, sie mochte keinen nähern Aufschluß mehr, sie wußte alles. Sie konnte den Rittmeister nicht mehr anblicken, für keinen Preis hätte sie seine Hand beim Weggehen annehmen mögen, es war die Hand, die ihren Vater umgebracht, es war ihr nicht mehr die verlobte Hand. Der Rittmeister folgte ihr schweigend, mehr zu ihrem Schutze gegen die Menge, als in dem Wunsche, sich näher zu erklären, obgleich ihm auch dies bald ein dringendes Bedürfnis schien; eine Nacht des ernsten Gerichts verfinsterte ihm jede Aussicht, es graute ihm vor dem Unnennbaren, der durch Zeichen dieser Welt andeutet, was eine andre mit ewiger Klarheit ausspricht. Julie nahte sich erst ihrem Hause, aber es war ihr entsetzlich, unter einem Dache mit einem Manne zu schlafen, dem sie noch vor wenig Augenblicken die älteste Freundschaft, langgehegte Gesinnung, Vaterland und Freiheit geopfert hätte; die Erzählung am Verlobungstage, das blutige Haupt des Vaters stand vor ihrer Seele, und der rasselnde Degen des Rittmeisters schallte hinter ihr wie ein Mordschwert des Henkers, das immer noch den bleichen Schatten verfolge und auch ihrer nicht schonen wolle. Sie wandte sich nach der Straße, wo Konstanze wohnte, ihre Schritte beflügelten sich, kein Quivive beachtete sie, der Rittmeister hinter ihr beschwichtigte die Posten, die sie einzufangen Lust hatten. Sie bemerkte es nicht, sondern eilte in das Haus Konstanzens, ohne sich nach dem Unglücklichen umzuwenden, der vergebens auf diesen Scheidungsaugenblick zu gegenseitiger Erklärung geharrt hatte. Mit Kette und Pistole in der Hand trat sie bleich in Konstanzens Zimmer, die eben, von der Gesellschaft früher als gewöhnlich verlassen, die Lichter auslöschte, die zum Überfluß brannten. Der Streit hatte allen eine gewisse Unbehaglichkeit zurückgelassen, und Konstanze selbst empfand jetzt einige Reue über ihre Härte. – »Du willst schon heute unsern Streit ausmachen?« fragte sie die eintretende Julie, als sie in ihrer Hand die Pistole erblickte. Julie aber fiel ihr in die Arme, schluchzte heftig und konnte nur allmählich sich erklären. Zuerst versicherte sie ihr nur, daß kein Streit mehr zwischen ihnen sei, daß Konstanze recht behalte, daß sie erst jetzt durch die Hand des Geschicks, das ihr den Mörder ihres Vaters unter Hunderttausenden der Feinde als Bräutigam zugeführt, die Weisung erhalten habe, daß eine Liebe zu den noch unversöhnten Feinden des Vaterlandes immerdar ein Frevel bleibe. »Das Andenken meines Vaters,« sagte sie, »die Erinnerung seiner Grundsätze ist mir wieder kräftig durch die Seele gegangen, und ich gebe mein Wort, meine Ehre, meine Liebe zu ihm zum Pfande, daß ich mir selbst nicht wieder ungetreu werden will.« Konstanze suchte sie mit Lob und Zärtlichkeit zu beruhigen und zu trösten, aber vergebens, die beiden sonst unzertrennlich genannten Mädchen waren wieder vereinigt, aber es fehlte beiden das beruhigte Dasein; die Beratung, was zu tun sei, füllte die Nacht, ohne zu einem festen Ziele zu gelangen. Konstanze wollte bitter kränkend im Namen ihrer Freundin an den Rittmeister schreiben; als sie ansetzte, fand sie, daß er nichts als seine Schuldigkeit auf dem Schlachtfelde getan. Juliens Schuld war es, daß sie sich dem Feinde verlobte, es kam kein Brief zustande. Der Rittmeister hatte lange vor dem Hause gewartet, jede Stunde konnte ihn, nach den Bewegungen des Heeres zu schließen, aus der Stadt entfernen; sollte er nicht abschließen, ehe ihn ein neues Geschick in seinen Strudeln fortriß? Er wollte sich erklären, wurde sich selbst aber in diesem Wunsche immer unerklärlicher. Wie war so viel eitle Torheit in ihm untergegangen, seit er Julien liebte, nie konnte ihn wieder der Zaubernebel seines Handwerks umhüllen, seinen Soldatenrock hatte er ausgewachsen, er war ihm nach allen Seiten zu eng und zu kurz, er beschloß, was er Julien bisher verweigert hatte, zu ihrer Versöhnung die kriegerische Laufbahn zu verlassen, die er mühsam eröffnet hatte, und die ihn jetzt sicher zur Höhe oder zum Untergang führen mußte. Diesen Entschluß ihr schriftlich mitzuteilen und der Ruf des Wächters, der die zweite Nachtstunde abrief, so daß Julie wohl schwerlich mehr auf dem Heimwege zu sprechen sei, veranlaßten ihn, nach Hause zu gehen. Hans öffnete ihm die Türe in Verlegenheit, der Rittmeister schwieg, Hans reichte ihm einen Brief, der angekommen, der Rittmeister durchlief ihn flüchtig: es war der Befehl, am nächsten Morgen zu dem Generalstabe der spanischen Armee aufzubrechen.

3. Der Generalmarsch

Um vier Uhr morgens, als Julie und Konstanze kaum eingeschlummert waren, schreckte sie der Generalmarsch wieder auf, der durch alle Straßen geschlagen wurde. Konstanzens Mädchen, die herunterlief, sich nach der Ursach zu erkundigen, kam bleich und atemlos mit den Worten zurück: »Die Feinde wollen uns erst ausplündern und die Stadt verbrennen, dann ziehen sie ab; ach, mein schönes, neues, weißes Kleid!« – »Dummes Zeug,« sagte Konstanze, »es klingelt, sieh zu, wer so früh zu uns verlangt.« – Das Mädchen kam zurück, als hätte sie den steinernen Gast gesehen, und rief: »Da sind sie schon zum Sengen und Brennen, der eine hat den roten Hahn auf dem Hut.« – Konstanze ergriff die Pistole Juliens, ging an die Gittertüre und fragte, wer sie so früh störe? Sehr artig mit vielen Entschuldigungen antwortete eine männliche Stimme und schob einen Brief durchs Gitter, er sei der Ordonnanzgendarm des Generals und bringe für Fräulein Julie ein Schreiben des Rittmeisters Stauffen, sie zögen eben fort nach Madrid. – Konstanze nahm den Brief an und sagte laut zu sich selbst: »Da sollt ihr nicht sobald hinkommen!« – »Ist es sehr weit von hier?« fragte der Gendarm. – »Nicht weiter als euer Grab,« antwortete Konstanze. – Der Gendarm drohte mit dem Finger und sagte: »Wir waren zu lange hier, man fürchtet uns nicht mehr.« Dann ging er die Treppe hinunter, indem er vor sich sprach: »Diese Dame hat Verstand, viel Verstand, aber kein gutes Herz!« – Konstanze wollte ihre Julie weder an ihre Schwäche noch an ihr untergegangenes Glück erinnert wissen, sie sagte deswegen beim Eintreten nichts von dem Briefe, sondern berichtete, es sei ein Franzose gewesen, der seinen Offizier gesucht. – Der Schlaf war nun einmal gestört und ließ sich nach seiner eigensinnigen Art nicht wieder zurücklocken, außerdem war der Morgen hell, das Zimmer sonnig, die Blumen vor dem Fenster auf dem Brette erwachten duftreich, alle fingen ihren Tag etwas früher als gewöhnlich an und fanden sich dadurch innerlich lebhafter angeregt. Während Konstanze mit ihrer kleinen Wirtschaft beschäftigt war und den Kaffee selbst filtrierte, mußte Julie gegen ihren Willen ohne Haß aller schönen Morgenstunden gedenken, wenn ihr Einquartierter bei ihr gefrühstückt hatte. Und während sie so an ihn dachte und auf die Straße hinausblickte, schallte in ihrer Nähe eine Regimentsmusik auf, die abziehenden Regimenter gingen hier in vollem Glanze an dem General vorüber, der General stand ihr gegenüber – und neben ihm der Rittmeister. Nie war sie innerlich so verlegen, gern hätte sie ihm einen Abschiedsgruß gewährt, aber sie schämte sich vor ihrer Freundin, und als diese mit dem Kaffee zu ihr trat, hatte sie sich schon vom Fenster abgewendet. Der Rittmeister fühlte dieses Abwenden sehr schmerzlich, insbesondere weil ihm der lange Brief im Kopf noch umherwogte, den er während der Nacht an sie geschrieben hatte; er dachte gewiß, sie hätte ihn gelesen, er irrte umher in seinen Gedanken, was sie ihm wohl antworten würde, aber ein paar Zeilen von ihr hatte er schon hier mit Zuversicht erwartet, wäre es auch nur ein ewiger Abschied gewesen. Aber kein Bote erschien, und auch Julie trat nicht wieder ans Fenster; er klagte sie der Härte an, während sie von seiner Unempfindlichkeit beleidigt war, daß er keinen Versuch gemacht, ihr seinen Abschied schriftlich oder mündlich zu sagen: das, meinte sie, sei er der Erinnerung ihres Verhältnisses schuldig gewesen. Der Ausmarsch war beendet, die Bürger sahen schon leichter und freier umher und fühlten wieder ihr Eigentumsrecht an ihren Häusern, auch der Rittmeister mußte dem General nachziehen, drückte den Hut auf den Kopf und sprengte mit dem Wunsche fort, sein Pferd möchte stürzen und ihn zum längeren Verweilen zwingen. Jetzt trat Konstanze vom Fenster, das sie bisher sorgfältig eingenommen hatte, daß Julie den Rittmeister nicht sähe, und Julie trat hin und sah ihn nicht mehr und mußte sich über ihr Gefühl ärgern. Dienstboten sagen gern, wenn sie sonst keinen Grund ihres Aufsagens erklären wollen, sie möchten sich verändern, so wünschte auch Julie sich verändern und von dem Dienste ihrer Neigung lossagen zu können, sie hoffte, daß eine Reise diese Gewalt über sie haben würde. »Das Grab meines Vaters möchte ich sehen und mit seinen Lieblingsblumen schmücken,« so brach Julie das Schweigen, »aber wo soll ich es finden, in der Zerstörung des gestrigen Tages ist mir der Name des Orts entschwunden.« – »Da weiß ich Rat,« antwortete Konstanze, »der Hans vom Rittmeister ist draußen und läßt sich nicht abweisen, er ist von dem Herrn fortgejagt, weil er die schlimme Geschichte verraten, er sucht einen Dienst, und wenigstens bis dahin könnte er uns begleiten, ich fühle deinen Wunsch natürlich und wahr, der Anblick des Grabes und was der Mensch über seinen Herrn und dessen Liebschaften in andern Städten spricht, könnten dich am besten von aller Zuneigung heilen.« – »Hans ist hier?« sagte Julie und wurde rot: »sollte er mir etwas bestellen?« fragte sie noch verwirrter. – »Hörst du nicht,« rief Konstanze, »sein Herr hat ihn entlassen, er kam schon hieher, als ich den Kaffee bereitete, ich wollte dir eben alles verschweigen.« Er wurde hereingerufen und ergoß sich in fatalen Historien seines Herrn, der doch in Vergleich mit seinen Kameraden wirklich tugendhaft zu nennen war, obgleich nicht unschuldig. Julie gebot ihm Stillschweigen und wurde immer unschlüssiger, ob sie ihn nehmen sollte, sie rückte ihm sein Verständnis mit der diebischen Charlotte vor, Hans aber schwor hoch und teuer, daß sie nie ernsthaft gewesen, nur zum Schauspiel wären sie zusammengekommen, sie habe eine Liebschaft mit dem Regimentstambour gehabt und sei auch heute mit ihm fortgegangen. »Gewiß bin ich von ihr diese Nacht bestohlen,« rief Julie, »aber keine Gewalt zieht mich in mein Haus zurück.« – Hans seufzte und sprach: »Es ist hier eine Menschheit, eine Menschheit sage ich, eine rechte Diebsgeneration, die nur mit dem Kantschu zu kurieren ist, habe schon so etwas im Hause von Diebstahl gehört.« – »Kein Wort gegen mein Volk!« rief Konstanze erzürnt. – »Nun,« sagte Hans, »da tritt schon der Herr ein, der alles untersucht hat, der wird das Nähere sagen, ich habe gewiß recht.« – Der Polizeikommissär von gestern trat ein, bat sich einen Taler Strafe aus, weil Charlotte nicht abgemeldet worden und heute mit den Franzosen fortgezogen sei, dann berichtete er, sie sei verdächtig, mancherlei Küchengeschirr ihrer Herrschaft entwendet zu haben, weil sie mit mehreren andern Köchinnen zusammen eine Restauration von gestohlnen Lebensmitteln errichtet gehabt, die wohl ein halbes Jahr bestanden, bis endlich ein Gast sein eignes Tischzeug dort bemerkt habe. »Sie, mein Fräulein,« sagte er zu Konstanzen, »haben Früchte aller Art dazu liefern müssen, auch Wein und Tee.« – Konstanze zürnte gegen die Stadt und gegen sich, dann rief sie ihr Mädchen, die sich aber schon bei der Ankunft des Polizeikommissärs entfernt hatte. »Meine politischen Sorgen hatten mich dem eignen Hause entfremdet,« sagte Konstanze, »ich bemerkte wohl, daß die reichlichen Sendungen meines Oheims schnell verschwanden, aber es war mir lästig, so kleinlicher Not bei dem allgemeinen Untergange nachzudenken.« – »Wer verliert mehr als ich,« seufzte der Polizeikommissär, »Charlotte war meine Braut, gewiß, sie liebte mich, unglückliche Verhältnisse und der häufige Gebrauch der gebrannten Wasser entführten sie meinem Herzen, so suche ich bei herannahendem Alter vergebens nach einer Lebensgefährtin.« – Julie sprach leise zu Konstanzen: »Schicke ihn fort und laß uns reisen, daß wir nicht den Jammer dieser Welt verlachen lernen.« – »Die gebrannten Wasser,« fuhr der Kommissär fort, »sind das große Übel unsrer Zeit, sie verzehren Vernunft, Gesundheit, Geld, und der Durst wächst mit dem Mangel; manches edle Mädchen scheiterte schon an dieser Klippe, und ich warne dagegen väterlich, aber meine Stimme verhallt.« – »Lassen Sie die Leute trinken,« sprach Konstanze ungeduldig, »trinken Sie selbst, aber tun Sie künftig besser Ihre Schuldigkeit, für die Sicherheit der Häuser, für die Ordnung des Gesindes, für Straßenreinigung und Löschanstalten zu sorgen, verhüten Sie Verbrechen; sind sie aber geschehen, so bringen Sie die Verbrecher zur Strafe, statt zu schwatzen.« – »Mein Gott,« rief der Mann, »das ist Injurie, wie komme ich dazu, so wird mein Herz verkannt!« – Mit diesen Worten entfernte er sich als ein gekränkter Biedermann. – »Wir gehen fort,« sagte jetzt Konstanze, »die Stadt kann ich keinen Tag mehr vor Augen sehen, wie will ich jubeln, wenn ich den Staub von meinen Schuhen schüttle; dich, Hans, nehme ich in Dienst für diese Reise, schnell bringe meinen Wagen in Ordnung, zu deines Vaters Grabe, Julie, sei unsre erste Wallfahrt, aber dann führe ich dich weiter; der Oheim drängt mich schon lange, daß ich wieder zu ihm komme, lies seinen letzten Brief, ich solle mir Gesellschaft mitbringen, wen ich wollte, ihm solle jeder willkommen sein, der mir den Aufenthalt bei ihm erträglich macht. Unerträglich ist der Oheim, ich gesteh's, seine Liebhaberei an den Franzosen, ihren Sitten und Büchern bringt mich zur Verzweifelung, aber deine Einfälle, Julie, wenn du wieder heiter wirst, stelle ich ihm entgegen.« – »Du dankst dem Oheim viel,« sagte Julie. – »Alles,« antwortete Konstanze, »er hat mich eigentlich erzogen, mein seliger Vater verwilderte mich, er ist der beste Mann, und ich gesteh's, ich bin zuweilen hart gegen ihn, aber es geht mir mit ihm wie bei tauben Leuten, ich komme ins Schreien, das Schreien verlangt Kürze, die Kürze wird zur Grobheit, und so fertige ich ihn zuweilen unsanft ab, ohne es böse zu meinen. Auch ward er niemals böse, lies nur diesen letzten Brief.« – »Seltsam,« sagte Julie, indem sie den Brief entfaltete, »ist es doch, als ob du mit dir selbst Briefe wechseltest, dieselbe Handschrift.« – »Warum seltsam?« antwortete Konstanze, »ich war schon ein Mädchen von zwölf Jahren, als ich zu ihm kam, und konnte noch nicht schreiben, da unterrichtete er mich selbst, damit meine Unwissenheit keinem kund würde, so nahm ich seine Schriftzüge unwillkürlich an.«

4. Die Reise über das Schlachtland

»Wie die Lerchen singen in dem grünen Korn!« sagte Julie zu Konstanzen in dem halben Wagen, »es wird einem das Herz hier so leicht, nirgends stand das Korn so lustig.« – Hans, der alles auf dem Bocke hörte, was im Wagen gesprochen wurde, drehte sich um und sagte: »Sehen Sie, gnädiges Fräulein, hier ging's am blutigsten zu, wie sah es hier aus, als wir vorrückten; unsere Kanoniere hatten wie die Teufel gearbeitet; da bei der kleinen Eiche fand ich meinen Herrn und den Herrn Vater; halt, Schwager, das Fräulein will aus dem Wagen springen.« – Julie lag lange in Gebet und Tränen auf der Stelle, wo das Blut ihres Vaters geflossen, Konstanze mußte sie fast mit Gewalt der geliebten Stelle entreißen. Julie nahm einen jungen Eichenzweig zum Angedenken mit, stumm fuhr sie bis zum Pfarrhause des nächsten Dorfes, wo Hans anhalten ließ. Konstanze ging voran in die Stube, wo eben allerlei häusliches Geschäft mit großer Eile fortgeräumt war, sie erklärte dem Pfarrer die Ursach des Besuches, der sich darauf mit Teilnahme zum Ausgehen bereit machte und die Kinder zurückwies, die alle gern mitgehen wollten. Sie gingen beim Küster vorbei, der Pfarrer hatte eine Laterne, gebot aber diesem, zurückzubleiben. »Wozu eine Laterne?« fragte Konstanze. »Still!« sagte der Pfarrer. Sie kamen an eine hochgelegene, schöne, alte Kirche, von hoher Mauer umgeben, der Kirchhof voll steinerner, kleiner Denkmale, mit wilden Rosen blühend bewachsen. Julie nahm jetzt die Blumentöpfe dem Hans ab, es waren die Lieblingsblumen des Vaters, Lilien aller Farben; sie fragte nach der heiligen Stelle. Der Pfarrer winkte und sprach leise: »Hier werden Sie ihn unversehrt wiedersehen.« Er öffnete die Kirchtüre, und Julie wurde von einer Hoffnung ergriffen, der Vater lebe, er sei vom Pfarrer hier geborgen. Konstanze befahl dem Hans zurückzubleiben. Sie gingen eine steinerne Treppe nieder, die Laterne des Pfarrers leuchtete vor, er öffnete ein zweites Schloß, und sie traten in ein Gewölbe, das schaudernd kalt war. Als sie sich umblickten, sahen sie viele Krieger, Freunde und Feinde, bleich, aber unversehrt wie die Siebenschläfer in der Stunde ihres Erwachens, in ihren Kleidern umherliegen auf dem Rücken breiter, alter Särge. In der Mitte lag ein Ritter in seinem schwarzen Harnisch auf einer Marmorplatte, sein Helm war geöffnet, Julie blickte hin und sank mit dem Ausruf nieder: »Mein Vater!« Die Blumentöpfe stürzten nieder, die Lilien lagen zerstreut und entwurzelt auf dem Boden, Konstanze suchte Julien zu unterstützen, und der Pfarrer zündete einige Fackeln an, die er rings im Gewölbe verteilt hatte. Still ließ er die Verzweifelung des ersten Eindrucks vorübergehen und entfernte sich, doch bald verkündete der Orgelklang, der durch eine Öffnung im Gewölbe aus der Kirche zu ihnen schallte, daß er ihnen seinen Trost, so liebreich er könnte, geben wollte. Er regte mit kunstgeübter Hand die schöne Melodie an: »Wie sie so sanft ruhn,« und der Chor seiner Kinder, die ihm nachgeschlichen, sang das Lied, während Julie den Eichenkranz um den Helm des Vaters schlang. Am Abend in der Ruhe des wohlgebauten Gartens, von welchem die Kirche gesehen werden konnte, hatte sich Julie so weit gefaßt, daß sie nach der Kunst fragte, die ihr den Genuß gewährt, die Züge des geliebten Vaters unzerstört wiederzufinden. »Es ist die Eigenschaft dieses Gewölbes,« sagte der Pfarrer, »die Leichen zu erhalten und durch luftige Kälte die Verwesung zu hemmen und die Säfte auszutrocknen. Der gemeine Glaube ist, daß die Leichen hier versteinerten. Unser Dorf war abgebrannt, die Bewohner zerstreut oder plündernd, es fehlte an Handwerkszeug zu Särgen, an Leuten, um Gräber zu machen. In der Verlegenheit schaffte ich vorläufig alle Leichen derer, die bei mir und bei meinen Nachbarn verschieden, in jenes Gewölbe, ich selbst bewahrte den Schlüssel, daß die Toten ihrer Ehrenkleider am Tage der Schlacht nicht beraubt würden. Ihr Herr Vater war leider schon beraubt, als er in mein Haus gebracht wurde, sein herrliches, ritterliches Antlitz gab mir den Gedanken ein, ihn in die Rüstung des Stammvaters unseres gutsherrlichen Geschlechts zu hüllen, gewiß ruhen sie mit verbrüderter Ehre gern übereinander. Unser Gutsherr sah, was die Not eingegeben, und befahl, dieser Einrichtung Dauer zu lassen, das Grabgewölbe allem künftigen Gebrauche zu schließen und mit diesem Unglückstage die Geschichte seines Geschlechts zu schließen, er selbst wolle in der Erde zerstört werden, und so sollte es auch den Seinen ergehen, bis Deutschland wieder befreit sei. So hat er in seinem Testamente verordnet, und er starb drei Monden darauf an innerem Gram.« Julie blieb die Nacht im Orte, sie wollte ihrem Vater ein ewiges Blumenopfer auf dem Altar der Kirche stiften, da sein Grab für die Blumen zu kalt und zu tief war. Sie kaufte einen Garten neben dem Gottesacker und stiftete ihn auf ewige Zeit der Benutzung des Küsters unter der Bedingung, den Altar täglich, solange das Jahr es verstattet, mit frischen Blumen zu schmücken, und wenn sich Betende morgens einfänden, einen Choral auf der Orgel zu spielen. Sie selbst sah am Morgen diese Einrichtung in ihrem ersten Anfange, sah die Andacht mancher schwer Gebeugten und die Achtung der meisten, endlich sah sie noch einmal das geliebte bleiche Antlitz und fuhr dann, in sich beruhigt und befestigt, dem ländlichen Aufenthalte zu, der ihrer beim Oheim Konstanzens wartete. Die lange Stille im Wagen unterbrach endlich Konstanze, indem sie den Abschiedsbrief des Rittmeisters aus ihrem Taschenbuche zog und Julien ruhig erzählte, sie habe den Brief zurückgehalten, bis sie ihr Festigkeit genug zugetraut, eine verderbliche Neigung zu überwinden. Julie, durch den frischen Anblick des Vaters und der tiefen Wunde seines Hauptes gehärtet, beschwor, daß weder Briefe noch selbst die Nähe des Rittmeisters einige Gewalt über sie hätten, der Brief sei ihr so gleichgültig, daß sie ihn nicht lesen und daß sie ihn in keinem Falle beantworten möchte. – »Du mußt doch den Inhalt wissen,« sagte Konstanze. – »So lies ihn und sage mir den Inhalt in aller Kürze, ich mag ihn nicht lesen, meine Augen sind von dem Schmerze dieser Tage angegriffen.« – Konstanze erbrach den Brief, las ihn und sagte zu Julien: »Er will den Abschied nehmen, seinen Aussichten auf Glanz und Ehre entsagen und bei dir leben zur Buße des unglücklichen Geschicks, als der geringste Diener.« – »O wie verhaßt sind mir die leeren Redensarten dieses Volks, seit ich die Wunde meines Vaters gesehen, was sollte mir ein Diener, der mein Bräutigam gewesen, ich antworte ihm nicht, er meint, daß ich töricht genug bin, mich durch solche Demut rühren zu lassen.« – »Aber ich habe dem Gendarmen Antwort versprochen,« sagte Konstanze, »er meint den Brief verloren, schreibt und stört dich wieder.« – »So schreib ihm, Konstanze,« antwortete Julie, »daß ich den Brief erhalten, daß ich das Schreiben an ihn, wie jedes Zeichen der Verbindung, aufgegeben, wünsche ihm in meinem Namen jedes glückliche Verhältnis in seinem Vaterlande, das er mir, seiner Feindin, habe bereiten wollen, nur meine Augen möchte er meiden, wenn er mich je geliebt.«

5. Die Handschrift

Der Rittmeister, von den unzähligen Streitigkeiten mit seinen Soldaten im ersten Nachtquartier auf französischem Boden erschöpft, schloß sich ein und sank auf dem großen, altväterlichen Stuhle in Schlummer, als es wieder heftig an seine Türe pochte. »Sind denn unsre Soldaten zu wilden Tieren in der Fremde geworden?« rief er vor sich in bittrem Unmut und schloß die Tür mit den Worten auf: »Was gibt's wieder für neues Unglück?« – Ein freundlicher, wohlgenährter Schildkurier stand aber vor ihm in betreßter Jacke und schwor, er bringe stets Glück und gute Nachrichten, und zog einen Brief an den Rittmeister heraus, der ihm von dem Freunde zur eignen Einhändigung empfohlen war. Des Rittmeisters Herz schlug durch den engen Rock fast sichtbar: gewiß eine Antwort von Julien, dachte er, nahm ihn mit Dank und steckte ihn in die Tasche, ohne die Aufschrift zu lesen. Dem Kurier wurde eine Flasche vom besten Weine mit Ungeduld einkomplimentiert, kaum war er aus der Türe, so schloß er sich ein und hätte nicht aufgeschlossen, und wenn die ganze Bürgerschaft um Hilfe geschrien hätte. Jetzt sah er die Aufschrift, trat näher zum Licht, sah wieder und schrie überrascht laut: »Gott, meine arme Mutter!« – Er riß den Brief auf und las das Todesurteil seiner Liebe von eben der Konstanze unterzeichnet, die er wohl im Vorübergehen gesehen, aber niemals näher kennen gelernt hatte. Dreierlei Bewegungen brachen jetzt in seiner Seele gegeneinander ihre Heftigkeit: gekränkte Zärtlichkeit, empörter Stolz und neuerregter Schmerz eines von aller Welt verlassenen Kindes um die verlorne Mutter, die es allein geliebt hatte. Verlassen fühlte er sich, seine nahen Freunde waren im letzten Feldzuge geblieben, sein treues Roß war gestorben, und das deutsche Mädchen opferte dem Spiele des Zufalls das beschworne Band. Nach einiger Zeit seufzte er und strafte sich selbst: eine Härte straft die andre, ich lernte kein Schonen im Glück der Schlacht, so schont sie auch meiner nicht im Unglück. – Mitten in seiner Verzweifelung war ihm die Handschrift ein tiefeindringender Trost, denn unverkennbar war es dieselbe Handschrift, aus der seine Mutter ihm Unterricht im Lesen gegeben hatte, er fand sich gedrängt, das Schmerzlichste immer wieder zu lesen, ja zu buchstabieren, wie er am Knie seiner Mutter bis zu dem Augenblicke getan, als die Nationalgarde sie ihm in den ersten Zeiten der Revolution entriß. Wie war es aber möglich, daß Konstanze, die jünger als er, damals schon Briefe an seine Mutter könnte geschrieben haben, sie lebte noch nicht zu jener Zeit, das war ihm gewiß; wer hatte ihr den Brief geschrieben oder für sie abgeschrieben? das ließ ihm keine Ruhe; sein Stolz war bald überwunden, sein Schmerz über Juliens Entschluß, sein Verlangen, den Urheber jener Handschrift zu erfahren, der Konstanzens Brief abgeschrieben, wurde mit der ganzen Ursache dieser Neugierde ausführlich erzählt, der Brief schon am andern Tage auf die Post gegeben. Er dachte wohl nicht, daß dieser Brief mit tausend andern mehrere Jahre in dem Kasten des Postmeisters ungelesen ruhen werde, denn der Kaiser hatte alle Korrespondenz der spanischen Armee untersagt. Er marschierte mit der Hoffnung weiter, recht bald Auskunft über die Handschrift zu erhalten, die er wie ein Heiligtum stets bei sich trug und gewöhnlich alle Abend betrachtete, wenn er vom Dienst nicht gestört war. Der Dienst war aber in diesem Kriege höchst anstrengend, so leicht die Schlachten auszufechten waren, so wenig nutzte deren Gewinn, das Volk ergab sich nicht, der kleine Krieg war verderblich, die Erhaltung schwer, die Verbindungen stets unterbrochen, jedes Korps wie eine einzelne blockierte Festung in dem weiten, durch Gebirge zerrissenen Lande, die Not und Dauer dieser Anstrengung, statt zu ermüden, brachte auch die Gleichgültigsten von beiden Seiten zu einem ungewöhnlichen Eifer für die Sache, die sie ergriffen und die sie verteidigen mußten. So ward auch der Rittmeister aus dem Widerwillen, den er ursprünglich gegen diesen Krieg hegte, allmählich zum wachsamsten, unermüdlichsten Unterdrücker Spaniens umgebildet, doch vergaß er nicht darüber seine Liebe und seine Sehnsucht wegen der Handschrift. Noch zweimal schrieb er deswegen an Konstanzen, blieb aber immer aus dem natürlichen Grunde ohne Antwort, weil seine Briefe, wie alle andern, nicht durchgelassen wurden, er aber zufällig diese Maßregel, die von andern künstlich umgangen wurde, nicht ahndete und von niemand zu erfahren bekam. Vier unruhige, zerstörende Jahre, in denen er zum Obersten durch sein Verdienst und seinen Diensteifer sich emporgeschwungen, waren ihm ohne einen Tag hingeschwunden, dessen er mit Lust denken mochte, als ein Befehl des Kaisers mehrere geschickte Offiziere, unter diesen auch ihn, von dem spanischen Heere abrief, niemand wußte einen Grund dieser Maßregel anzugeben; inzwischen mußte er die bisher im Generalstabe bearbeiteten Geschäfte schnell in Ordnung bringen, konnte aber doch nicht zur rechten Stunde damit fertig werden, als die ganze Schar Offiziere unter starker Bedeckung den Heimzug antrat. Einen Tag später ritt er ihnen nach, sein Pferd war gut, er traute seinem Führer und glaubte bestimmt, sie schon beim nächsten Nachtquartier einzuholen. Bis zum Mittage ging die Reise ohne Störung durch das öde Land fort, da sanken dem Obersten die Augen zu, er hatte seit ein paar Nächten nicht geschlafen. Der Führer benutzte diesen Augenblick zu entspringen, er hätte den Schlafenden ohne Gefahr erschlagen können, wenn er die Gesinnung seiner meisten Landsleute gehegt hätte, wahrscheinlich war es ihm nur darum zu tun, aus den steten Besorgungen für die Franzosen heraus zu den Seinen zu kommen. Als der Oberst wieder erwachte, fast aufgelöst von der Hitze und blind von den Strahlen der Sonne, glaubte er erst nur, der Führer habe sich auf einen Augenblick entfernt. Aber vergebens schallte sein Ruf, es war ihm, als sähe er in weiter Ferne einen Flüchtigen. Verlassen wie auf einem Nachen im Weltmeere, das ihn im Schlafe von der sichern Küste fortgetrieben, hatte er keinen andern Wegweiser als die Sonne; es war ihm genug, daß sie ihm gerade in dem Rücken brannte, um seinen Weg danach zu bestimmen, zugleich mußte er seine Waffen jeden Augenblick bereit halten, ihn gegen Angriffe zu schützen. Kein Haus lag an der Straße, die er ritt, Menschentritte waren wohl am Wege zu sehen, aber wie bei den versteinerten Tieren in Felsen schien kein lebender Überrest von ihnen als der Abdruck im verhärteten Tone der Straße übrig. Die Einsamkeit lenkte seine Gedanken wieder zu der schönen Geselligkeit seiner Kindheit und zu den guten Tagen seiner Liebe, so verging ihm die Zeit bis zur Dunkelheit gar schnell. Als es fast dunkel war, sah er vor sich ein verbranntes Dorf und ein wohlerhaltenes Klostergebäude in der Nähe. Er ritt auf das Kloster zu, aber auch hier schienen alle Bewohner entflohn. Die Türe war unverschlossen, er durchschritt den Gang, alles war stille, er öffnete die Türe einer Zelle und fand eine schlechte Matte von Binsen, um sich ein Lager zu machen; sein Pferd band er in der Nähe an und fütterte es mit dem geringen Vorrat von Gerste, den er für die kurze Reise mit sich genommen. Bald fand er auch den Brunnen, daß er sich und sein Pferd tränken und seine Kürbisflasche füllen konnte, dann auch Zwiebeln im Garten, um sein mitgenommenes Mahl zu würzen. Schon während des Essens suchte er wieder sein Abendgebet, die Handschrift Konstanzens, auf, durchlas noch einmal Juliens Zorn, endlich fiel sie ihm aus den Händen, und er schlief ein. Es mochte nach Mitternacht sein, als ihn die Hitze und die Bewegung des Pferdes erweckten. Er glaubte schon den Sonnenaufgang verschlafen zu haben, das Zimmer war hell, bald sah er aber eine Flamme in seiner Nähe und bei dem Scheine derselben eine Frau mit weißen Haaren, doch im Antlitze noch jugendlich, der häufige Tränen über die Wangen liefen, während ihre Augen unabwendlich nach einem Papier blickten. Als das erste geisterartige Grauen dieser Erscheinung vorüber, hatte er Ruhe, sie näher zu betrachten, und das Antlitz erfüllte ihn mit Ehrfurcht und Liebe, er glaubt es zu kennen und wagt doch nicht zu hoffen. Endlich richtet er sich auf in seinem Bette, er ruft sie spanisch an, wer sie sei, was sie hieher führe. Die Alte bewegt sich nicht, die Tränen schienen das einzige Lebendige in ihr. Er springt auf, er sieht zu, was sie so rührt, und sieht erstaunt, daß sie Konstanzens Brief betrachtet und ihn zu lesen scheint. Jetzt bemerkte ihn die Alte, blickt auf und begrüßt ihn mit dem Zeichen des Kreuzes und redet ihn an mit deutschen Worten und sagt ihm, daß sie lange auf sein Erwachen warte, ihr gehöre das Bett, ihr gehöre die Zelle, sie allein wage es von allen ehemaligen Bewohnerinnen des heiligen Klosters, nachts dahin zurückzukehren, er solle ihr erklären, wie er zu dieser seltsamen Handschrift komme, zugleich reichte sie ihm eine Schiefertafel und einen Griffel, denn ihr fehlte der glückliche Sinn, das Gehör. – Nur zweimal bedurfte es der Schrift auf der Schiefertafel, da erkannten sie sich, die in den Revolutionsstürmen hieher verschlagene arme Mutter den verlornen Sohn, den die Welle hoch emporgetragen hatte. Geheimnisvoll sind die Wege und das Begegnen der Menschen auf Erden. Das Geheimnis der Handschrift blieb ihnen unerklärlich, und doch segneten sie es, ohne diese Handschrift hätte Klara, die frühgealtete Mutter, die Zelle schnell verlassen, nur die Handschrift ihres totgeglaubten Mannes hatte sie mitten im Schrecken, ihr friedliches Zimmer in einen Stall verwandelt zu sehen, festgehalten. Was sie wußte, erzählte sie dem forschenden Sohne. Aus den Briefen des abwesenden Vaters, des Freiherrn Konstantin, hatte der Sohn seinen ersten Leseunterricht empfangen, die Briefe blieben aus nach einem Auflauf in Straßburg, Konstantin wurde tot geglaubt. Klara beweinte ihn, und da ihre Ehe heimlich geblieben, so hatte sie kein Recht aufzutreten, so ließ sie sich vom Zufall, der ihr den Sohn entriß, sie ins Gefängnis stürzte und wieder daraus befreite, nach Spanien hintreiben, wo ein Kloster ihr die Ruhe zum Lohn für so viele Leiden sicherte, bis auch hier die Mordfackel der Weltstürmer eindrang. Beide, Mutter und Sohn, schwärmten in Freude, und die Aufmerksamkeit der guten Mutter auf die Lippen des Sohnes machte ihr manche seiner leidenschaftlichen Reden hörbar, daß es ihr schien, als ob sie mit dem Sohne den verlornen Sinn wiedergewonnen habe. Sie berichtete ihm alle Ereignisse ihrer frühen Jahre, sie hatte ihre Schuld gebüßt, die Ereignisse im menschlichen Herzen sind zu seltsam, und nicht jedem möchte es frommen, sie alle zu kennen. Dem Sohne übergab sie alle Briefe des Vaters, und er staunte über die Gleichheit beider Handschriften! – Klara sagte, daß sie nur diesen Trost noch vom Himmel erfleht habe, den geliebten Sohn, dies treue Abbild des Vaters, vor ihrem Ende zu sehen, dann wolle sie allem Irdischen, auch dieser Freude an den Briefen einer schmerzlich seligen Zeit entsagen; mit diesen Worten küßte sie noch einmal die zerriebenen Briefe und versteckte sie in der Rocktasche des Sohnes. Der Oberst, nachdem die erste ungestüme Freude vorüber, wurde immer unsicherer, was er beginnen, wie er die geliebte Mutter sichern solle, wie er sie dieser einsamen Wildnis entreißen könne, während ihm selbst alle Wege unkundig, alle Bewohner der Gegend verfeindet wären; er verwünschte, daß er keine Bedeckung mit sich genommen, und doch hätte er wohl nie seine Mutter gefunden, wenn er den Weg in sicherer Begleitung zurückgelegt hätte. Die Mutter wußte wenig mehr von der Welt, nur einen Wunsch äußerte sie, ihren lieben Sohn nicht mehr verlassen zu müssen. In dem Kloster zu bleiben, konnte sie ihm nicht raten, die vertriebnen Bauern des Dorfs lagen in den Felsen versteckt und mordeten alle Fremden, die sich ins Dorf verirrten, für ebenso unsicher hielt sie es, den Sohn fortziehen zu lassen. Die Gebirgswege, durch welche sein Weg ihn führte, waren ebenfalls von den bewaffneten Bauern besetzt; sie riet ihm, spanische Bauerkleider anzuziehen, die sich wahrscheinlich noch in der Wohnung des entflohnen Pförtners fänden. Der Oberst billigte den Vorschlag und fand die Kleider passend, bereitete seiner Mutter den Sattel seines Pferdes durch ein Flechtwerk von Weiden, daß sie bequem von der Seite reiten konnte, ohne in Gefahr zu kommen, bei ihrer Schwächlichkeit herunterzufallen, er selbst wollte unterm Scheine eines gemeinen Bauern das Pferd führen, so hoffte er Sicherheit für die Mutter und für sich zu erreichen. Die Mutter schaffte noch am Morgen einige versteckte Lebensmittel herbei und nahm dann einen stillen Abschied von ihrem verödeten Zufluchtsorte. Die Ursach ihrer Entfernung hatte sie in aller Kürze aufgeschrieben ins Meßbuch der Kirche gelegt, die bis dahin von aller Plünderung verschont geblieben war. Der Oberst begleitete sie nach der Kirche, blickte die heiligen Bilder an und wurde von einem Madonnenbilde an Julien erinnert. Er konnte sich nicht losreißen von dem Bilde und gewohnt, täglich Kirchenbilder nicht geachtet und verehrt, sondern geraubt, als Wachtfeuer verbrannt oder zu einer Bank zerhauen zu sehen, brach er das schöne Bild aus der goldnen Strahlenfassung, packte es so gut ein in einem Leintuche, als ihm irgend möglich, und band es an den Sattel des Pferdes. Das Glück war nicht sein Element, es machte ihn leichtsinnig und hart; seine Mutter hier bewahrt wiederzufinden, hätte ihn zur Verherrlichung, nicht zur Beraubung der Kirche bewegen sollen, aber zu tief war in ihn die Sitte des Volks eingedrungen, dem er diente, er glaubte das Bild erst zum Dasein zu erwecken, indem er es nach dem kunstgebildeten Frankreich brächte, und seine eigne Ergötzung daran ging ihm weit über die Erbauung eines frommen Bauernvölkchens, dessen Sprache ihm freilich nur wenig bekannt war, dessen Ausdauer und Mut seine Achtung hätte erzwingen müssen. Die Mutter bemerkte erst den Raub, als sie schon zu weit von der Kirche entfernt waren, um das Bild zurückzugeben. Sie weinte darüber und sagte voraus, daß ihnen kein Heil daraus hervorgehen könnte, dieses segnende Bild würde seine Blicke zum Verderben von ihm wenden, wenn er in Not zu ihm aufblicke. Der Oberst belächelte in sich die Einfalt der Mutter, suchte sie aber mit Liebkosungen und Scheingründen zu beruhigen, das Bild wäre gewiß von dem nächsten Soldatenhaufen verbrannt worden, er habe den Untergang so vieler Meisterwerke mit ansehen müssen, dieses sei das Abbild seiner Geliebten, das er hätte retten müssen. Die Mutter beruhigte sich, und der glückliche Fortgang ihrer Reise, die sie ohne bedeutende Gefahr über die Pyrenäen in das befreundete Land versetzte, schien seinen Leichtsinn zu bestätigen. Die Mutter wünschte sich aber bald wieder die Gefahr der Reise zurück, denn mit dem Eintritte in dieses Land gehörte ihr der Sohn nicht mehr, er war bestimmt, ein neues Regiment zu bilden, und konnte ihr nur selten Gesellschaft leisten, und mitten in den volkreichen Städten wünschte sie sich die Geselligkeit ihres Klosters zurück. Das Klosterbild erregte die Bewunderung aller Kenner, ein reicher Lieferant bot eine hohe Summe, doch dem Obersten war es wegen der Ähnlichkeit mit Julien für keinen Preis feil. Der Kriegszug, der sich vorbereitete, mußte ihn in ihre Nähe führen, da hoffte er die Enträtselung des Geheimnisses der Handschrift, mehr wagte er nicht zu hoffen; daß Juliens Schmerz über den Tod des Vaters, ihr Zorn gegen die unglückliche Hand, die das allgemeine Geschick gegen ihn geführt hatte, gemildert sei, schien ihm natürlich; daß sie bei ihrer Anmut, ihrem Reichtum, bei so vielem geselligen Reize unverehelicht geblieben, schien ihm so unwahrscheinlich, daß er durch keinen Brief ihre Gesinnung zu prüfen, sondern alles auf den Augenblick des Wiedersehens zu setzen beschloß.

6. Deutsche Frauen

Diese Besorgnisse, Julie sei vermählt, waren leer, der Himmel hatte ihr nur eine Liebe verliehen, diese hatte sie irrend dem Mörder ihres Vaters geschenkt, und seitdem konnte sie nicht ohne ein schmerzliches Lächeln von dieser Leidenschaft hören: so wies sie die Bewerbungen mancher achtenswerten Männer von sich, sie glaubte alle Liebe besiegt und überlebt zu haben. Auch ihre Freundin war noch unvermählt. Konstanze hatte zu viele kleine Härten in ihrem Umgange, die wie Bosheit erschienen, die Männer fürchteten sie wegen ihrer Einfälle und waren in ihrer Gesellschaft sehr auf ihrer Hut, ein Zustand, der dem Verlieben gar nicht günstig sein kann. Ohne große Liebe wurde aber in jener Zeit allgemeiner Not in den höhern Ständen nicht geheiratet, und großes Vermögen ersetzte nicht bei Konstanzen die uneigennützigste Leidenschaft. Sie lebte ganz von der Güte ihres Oheims, von ihm allein konnte sie eine Erbschaft erwarten, und dieser Oheim, so alt er war, zögerte noch immer ein Testament zu machen, und ohne ein Testament fiel alles an seine Verwandten, denen Konstanze nur eine angeheiratete Nichte und sein Bruder, der verschwenderische Forstmeister, ihr Stiefvater war. Mit diesem Oheim lebte sie in einem steten scherzenden, sie aber innerlich erbitternden Kampfe, ihre kleinen Herrschsuchten hatten ihn zum ewigen Widersprechen aller ihrer Meinungen, Ansichten, selbst der Geschichten, die sie selbst erlebt zu haben glaubte, allmählich umgeschaffen. Die Gewohnheit, sie als sein Kind anzusehen, machte sie ihm so wert, daß jede Kränklichkeit von ihr ihn erschreckte, daß er ohne sie nicht zu leben meinte, doch war sie ihm eigentlich unleidlich, und nur Juliens Gegenwart, die er gar nicht entbehren konnte, vermochte ihn immer in den Schranken eines etwas tückischen, doch immer wohlbegrenzten Witzes zurückzuhalten. Er vor allen hätte Julien gern Heiratsanträge, ungeachtet der Verschiedenheit ihres Alters, gemacht, aber er war zu klug, um nicht das Vergebliche dieses Schritts einzusehen. Eine stete Aufmerksamkeit auf jeden ihrer Wünsche war das einzige Zeichen dieser Leidenschaft, so kam's, daß jeder, der auf dem Gute etwa Begünstigung von ihm begehrte, sich an sie wandte, und daß Konstanze nicht bloß für ihren Umgang, sondern auch für ihren Einfluß auf den Oheim ihrer notwendig bedurfte. – Konstanze bedurfte aber bald dieser Unterstützung des Oheims zu ihren Lieblingsplänen. Nach vieler Ungeduld trat endlich in dem festen, unabänderlichen Fortschritte der Zeit jene merkwürdige Aufregung aller deutschen Völkerschaften nach dem Untergange des französischen Heeres in Rußland ein. Heftige Vaterlandsfreunde gestanden, daß die Zeit noch nicht versäumt sei, und daß der Übermut des Feindes ihm mehr geschadet habe, als ihr eigener Mut vermocht hätte, die bedenklichsten Vermittler zwischen Recht und Unrecht ließen sich doch hinreißen, jetzt oder nie ein Gelingen vorauszusagen; es war eine Zeit, wo die Propheten des eignen Unglücks mit Freuden eingestanden, daß sie sich geirrt hätten. Konstanze, die, von keiner Zärtlichkeit zerstreut, schon lange mit ganzer Seele und ganzem Munde der allgemeinen Angelegenheit ergeben gewesen, fand sich nun erst in ihr Lebenselement gesetzt, sie fand ihre Tätigkeit von allen Seiten angespannt und wurde bald der Mittelpunkt aller Bemühungen in der Gegend, für den ausbrechenden Krieg im voraus zu sorgen. Der Oheim, obgleich von größerer Milde gegen die besiegten Sieger regiert, versagte ihr selten, was sie zu diesem Behuf von ihm begehrte, wenn er gleich seinen Spott nicht unterdrücken konnte, wo sie etwas Vergebliches oder etwas Verkehrtes durchsetzte. Wie die Freiwilligen zu den Heeren eilten und ein frischer Geist alles lüftete, da zog er sich einst mit Julien in einen abgelegenen Teil seines Hauses zurück und sagte ihr, er werde von den Reden der Leute an eine Zeit gemahnt, die unter tausend lockenden Versprechungen ihn um alle Seligkeiten seiner Jugend betrogen hätte. Julie ahndete gleich, daß er von der französischen Revolution spreche, die er nie nannte, und suchte ihm den Unterschied zwischen beiden Erscheinungen mit ihrem Gefühle deutlich zu machen. »Es mag sein,« fuhr er fort, »daß mich der Sturm nach einer Seite übergebeugt hat, und daß ich mich nie ganz wieder aufrichten kann, um über die zweifelhaften Regungen der Menschen hinaus nach ihrem sichern Ziel zu sehen; hier habe ich niedergelegt in diesem Schranke, was ich gelitten, als die Welt von Freiheit und Mut, von edler Aufopferung und Vaterland sang, während die härteste Sklaverei jede Freiheit unterdrückte und eigennützige Grausamkeit alle menschlichen Freuden und Gefühle verspottete. Ihnen gebe ich den Schlüssel dieses Archivs meiner Seele, es kann über uns eine Verwirrung einbrechen, die mich hinwegrafft, ehe ich für die Erhaltung dieses Nachlasses Sorge getragen, er soll Ihr Eigentum, mein Vermächtnis für Sie sein.« Julie bewahrte seinem Wunsch gemäß den Schlüssel, aber sie ließ es sich angelegen sein, die Besorgnisse des alten Herrn zu zerstreuen. Sie sah den Feind schon über den Rhein gedrängt; wie aber die Weltgeschicke immer neu und immer alt sind, wie das Alte immer wieder in neuer Art erscheint, so wurde auch diesmal die Erwartung eines schnellen Erfolgs getäuscht. Der Anfang des Krieges war unglücklich, nach wiederholten zerstörenden Durchzügen besetzten die Feinde auch das Landgut des alten Herrn mit der übrigen Gegend und zehrten dieselbe während des Waffenstillstands schonungslos aus. Ein fremder Offizier herrschte unumschränkt im Schlosse, der Oheim war froh, in dem Hinterzimmer seines Hauses, wohin er Julien damals geführt, einige Ruhe zu finden, hier lernte er zuerst die Franzosen hassen. Konstanze mit ihrem innern Zorne bewaffnet bot allen Feinden die Stirn, wenn es nötig war, und erhielt, soviel sich unter solchen Umständen erhalten ließ. Julie bewunderte sie in ihrer Ausdauer, Tätigkeit, Festigkeit und unterwarf sich immer mehr ihrem Willen, sie wußte mit ihrer Anmut auszugleichen, wo Konstanze zu hart verletzte. Ihr ehemaliger Verlobter schien unter den Offizieren, die sie sah, wenig bekannt, sie fragte zwar nicht nach ihm, aber sie vermutete doch, sie müßten einmal von ihm reden, wenn sie ihn kennten. Hans, der sich durch seine Dienstbeflissenheit und Geschicklichkeit dem Oheim empfohlen und bisher immer ungestört in dessen Diensten erhalten hatte, brachte endlich heraus, daß sein Rittmeister Oberst geworden und in Spanien beim Generalstabe gewesen sei. Er berichtete es den beiden Fräuleins, und Konstanze beobachtete Julien sehr ernst, welche Wirkung diese Nachricht auf sie mache. Julie stellte sich gleichgültig, um den innern Aufruhr zu verbergen, den diese erste Nachricht von ihm erregt hatte. Konstanze fragte sie forschend, ob sie noch dieselbe Gesinnung hege wie damals, als sie seinen Brief nicht lesen wollte. Julie war schwach genug, ihr das zu versichern, obgleich im Pochen ihres Herzens seine Verzeihung längst ausgesprochen war. »Wenn er nun käme,« sagte Konstanze, »wenn er dir wieder so gegenüberstände wie damals neben dem General?« – »Wie würde ich den Feind meines Vaterlands eines Blicks würdigen!« rief Julie mit einem Stolze, den sie wirklich zu haben und durchzusetzen meinte. Mit dem Waffenstillstande endete das Glück dieser Feinde, sie rafften bei ihrem Abzuge alles zusammen, was sie brauchen konnten, und nur Konstanzens Mut erhielt den befreundeten Siegern eine Nachlese an Lebensmitteln. Die Freunde wurden mit Eichenkränzen und Lobliedern reichlicher bewirtet als mit Brot, sie mußten aus dieser hungernden Gegend, in der selbst die Hoffnungen der Ernte zerstört waren, weiter forteilen. Auch der Oheim mit den beiden Fräuleins wäre gern fortgezogen in unversehrte Gegenden, aber es fehlte an Pferden, so kam es, daß sie allen Unbequemlichkeiten trotzend ausharrten und selbst manchen Flüchtigen aus verbrannten Dörfern Zuflucht und Unterhalt gewähren konnten. So vermehrte sich ihr Kreis durch zwei Frauen von Offizieren, die durch die eingehenden Briefe alle Wohltaten, die sie empfingen, im Gefühle der Fräuleins reichlich vergalten. Nichts auf der Welt galt seitdem in dem Kreise, als Kriegswesen und Krieger, alle andre Beschäftigungen schienen nur diesen letzten Zweck zu haben: der Landmann sollte sie nähren, der Dichter sie besingen, der Geistliche sie zum Tode vorbereiten, und die alte Urzeit, vor der den Menschen in Büchern graut, trat in solchen Stunden völlig in ihr Dasein, bis ein neuer Schal, von einer russischen Offiziersfrau getragen, die Gedanken wieder ins Geleise brachte. Die Frauen mochten nun kriegerisch oder unkriegerisch gestimmt sein, ihre Sorge für die Krieger, die nachzogen, für die Verwundeten, die zurückkamen, wurde planmäßiger, dauerte tätig aus, und die Wohltätigkeit findet immer etwas in der Vorratskammer. Als aber auch eine große Zahl von Gefangenen Ansprüche an ihr Mitleid machten, da wurde lange untersucht, ob sie dieser Milde wert wären. Konstanze wollte ihnen jede Unterstützung verweigern, sie sollten die Not fühlen, die sie über unzählige, friedliche Erdenbürger gebracht. Julie setzte es in der Versammlung durch, daß die gemeinen Soldaten einen Beistand an Lebensmitteln erhalten sollten, denn diese wüßten nicht, was sie täten, und wären gezwungen für eine Sache zu fechten, die sie selten dem Namen nach kennten. Die Offiziere hingegen, das mußte sie Konstanzen nachgeben, sollten sich mit dem begnügen lassen, was die Behörden ihnen geben könnten, sie wären mit Lust und Bewußtsein die Werkzeuge der Unterdrückung geworden. So war der Beschluß der Frauen und wurde von ihnen mit unerbittlicher Strenge gegen die zahlreichen Scharen der Gefangenen, die am nächsten Tage durchgeführt wurden, ausgeführt. Die arme Julie! Trugen sie nicht dieselbe Uniform wie ihr Stauffen, die sie unbarmherzig von den Vorräten, die zu ihrer Qual aufgehäuft standen, zurückweisen mußte? Aber die Gewohnheit und die Macht der unter ihnen geltenden Ansichten härteten bald ihr weiches Herz. Gewiß kostet der erste Schlag auch dem rohesten Soldaten einige Überwindung, den er dem wehrlosen Gefangenen gibt, der in seiner Not umherbettelt und die Reihen verläßt, nach diesem ersten Schlage wird es aber zum Zeichen und zur Sprache, und er fühlt nur die Bewegung seines Arms, wenn er zuschlägt.

7. Das Wiedersehen

Der Oberst war nicht so früh, als er erwartete, zum Heere in Deutschland abgeschickt worden, die Willkür, die über einen Soldaten schaltet, hatte ihn in mancherlei Aufträgen herumgetrieben, und es kränkte ihn tief, die neuen Lorbeeren nicht miterrungen zu haben. Endlich wurde sein Wunsch erfüllt, er wurde zum Generalstabe des Heeres in Deutschland berufen, erreichte in vierundzwanzig Stunden den Rhein und ließ sich sogleich, obgleich die Sonne schon im Sinken, mit Pferden und Gepäck ans deutsche Ufer übersetzen. Die Größe und Herrlichkeit der Welt in ihren vier Elementen, als Luft, Feuer, Wasser, Erde, lag vor ihm ausgebreitet, und die verschiednen Elemente in ihm, wie er hätte werden sollen, und was aus ihm geworden, sonderte sich einmal wieder voneinander und füllte ihn mit Ernst und Wehmut. Dann war ihm, als ob dies das letzte Übel sei, das er stifte, das letzte Mal, daß er den reinen Strom durchschneide. Er wußte sich keinen Grund davon anzugeben, auch war ihm dies Gefühl weder wehmütig noch erfreulich, sondern gleichgültig, als ob es einen Dritten angehe, den er kaum kenne. Seine Blicke waren bei dieser Geistesabwesenheit auf einen Nachen gerichtet, der mit vollen Segeln herbeieilte, seinen Lauf zu durchschneiden, aber nahe dem Ufer wendete sich der Nachen, und beide Fahrzeuge liefen zugleich ans grüne Ufer. Das Schiff hatte nun einmal eine Beziehung für ihn gewonnen, er fragte, wer in dem Schiffe liege? Die Schiffer antworteten in derber Sprache, es sei ein verlornes Mädchen, das den Franzosen nachgezogen und nun zurückgeschickt werde, von Ort zu Ort, zu Schiffe und mit Fuhre bis in ihr Vaterland. Der Oberst nahm einige Goldstücke, ohne sie anzusehen, aus der Tasche und drückte sie der Unglücklichen in die Hand. Diese aber wollte seine Hand nicht lassen, so widerlich ihm dieser Dank war, sie küßte ihm mit Tränen die Hand, nannte ihn bei Namen – es war Charlotte. Das ist mein erstes Unglückszeichen, dachte der Oberst, während er ihr tröstend zusprach. Aber das Mädchen nahm keinen Trost an, sie sei verloren, sagte sie, in Zeit und Ewigkeit, und habe alles Unglück durch ihren Undank gegen Julien wohlverdient. Umsonst erkundigte er sich nach Neuigkeiten von Julien bei ihr, sie war mit ihm zugleich ausgezogen und kam zurück als eine wandernde Leiche. Der Oberst gab ihr noch reichlich vor dem Abschiede, aber das alles konnte sie nicht trösten, sie verglich sich krampfhaft lächelnd mit der Jungfrau von Orleans, die sie einst gespielt, wies auf die Lumpen, die sie zugedeckt, und gab es für die Fahnen aus, die sie gewonnen, und schloß parodierend mit den Worten: »Kurz war die Lust und ewig sind die Leiden.« – Der Oberst schwang sich auf sein Pferd und ritt weiter, da begegnete ihm etwa eine Meile von dem Landungsplatze eben der Kurier, der ihm einst Konstanzens Brief einhändigte. Der Kurier tobte, fluchte, seine Depeschen wären im Schlafe aus seinem Wagen gefallen, er sei verloren, und die Armee sei auch verloren. Dies war sein zweites Unglückszeichen, und er harrte ungeduldig auf das dritte, aber es zeigte sich ihm noch nicht. Beim Heere fand er die gewohnte Zerstreuung in der anstrengendsten Tätigkeit, der Wunsch, den alten Waffenruhm des Heeres nicht sinken zu lassen, bewegte ihn leidenschaftlich, er wollte nicht daran glauben, daß die Gegner Einheit und Zusammenhang sich erkämpft hätten. Mit Eifer suchte er die Gefangnen auf und ärgerte sich an ihren stolzen Hoffnungen. Einstmals fragte er einen Freiwilligen, der ihm besonders trotzig geantwortet, wer ihn gekleidet und bewaffnet habe, und dieser nannte mit Ehrfurcht Julien als seine Wohltäterin. Von ihrer eignen Handschrift zeigte er ein Lied vor, als der Oberst zweifeln wollte; es enthielt feurige Anklänge aus der Zeit und aus Schiller, den wir wohl als einen Wahrsager achten lernen sollten, statt ihm nachzulallen mit nachbildender Fertigkeit. Dieses Lied schien ihm sein letztes drittes Unglückszeichen, und er bereitete sich mit Ernst zum Untergange, der ihm unvermeidlich schien, schrieb einen zärtlichen Brief an seine Mutter, in dem ein Abschied auf ewig, wenngleich von Duft und Blumen gedeckt, mit dem reinen Demantglanz kindlicher Liebe durchschimmerte. Einige Tage darauf war er mit wenig Reiterei eingeschlossen, Grimm und Zorn schäumten auf seinen Lippen; er ritt seine Linie herunter und rief mit hocherhobnem Säbel: »Heute kein Quartier (Pardon), morgen haben wir keins mehr nötig!« – Sein Beispiel wirkte, er hielt sich noch tapfer mit den Letzten, sein linker Arm war schon zerhauen, da wurde auch sein rechter durch einen Hieb unbrauchbar, und er mit allem Mute so wehrlos wie ein Kind. So war er gefangen, seine Arme von einem Kameraden, ohne seinen Willen, notdürftig verbunden, aber noch gänzlich unbrauchbar, als er mit einer großen, bunten Masse von Gefangnen in eine Kirche gesperrt wurde, wo für das notdürftigste Essen gesorgt war. Die Hungernden fielen mit Wut auf die Vorräte, er hatte keinen Arm, der ihm diente, seine Würde war vergessen, die Not hatte alle gleich gemacht. Ein Trunk Wasser fristete sein Leben, er beklagte sich nicht. Der Zug ging weiter, immer ärmer wurde das Land, das die Gefangnen durchschritten, und wo er forderte, da hieß es, die Seinen hätten den Bewohnern nichts gelassen als Krankheit, die der Lebensmittel entbehren lehre. Es war mittags am dritten Tage nach seiner Gefangennehmung, als eine Staubwolke die Ankunft der Gefangenen den Frauen im Landschlosse des Oheims verkündigte. Ihre Gaben waren bereit, sie traten vor die Türe, und Konstanze sah mit innigem Behagen die Landsturmmänner mit ihren Kitteln und roh geschnittenen Spießen neben den prächtig geschnittenen, farbigen, betreßten, betroddelten Uniformröcken einhergehen. Voran zogen die wilden, rüstigen Gestalten, die der Gefangenschaft wenig achteten, wenn sie nur unterhalten wurden, sie waren um nichts in Verlegenheit, als wo sie ihre Hände lassen sollten, da sie keine Waffen trugen, und griffen deswegen grimmig zu. Dann kam listig kleines Volk, das bald hier, bald dort seinen Vorteil absuchen wollte, viel Voltigeurs und Italiener, die sich mit Blick und Gebärden teils beliebt zu machen suchten, teils Mitleid erwecken wollten. Dünn gesät folgten dann die armen Leidenden mit Wunden oder mit durchgelaufenen Füßen, sie wurden zuweilen hart zum Gehen angefeuert, aber es half bei manchen nicht mehr. Den Schluß machten die Offiziere, unter denen manche beim Anblick hübscher Frauen sich noch zusammennahmen, mit einem leichten Sprunge, mit guter Haltung sich zu empfehlen. Der Oberst führte sie, so schwach er war, ein junger Leutnant unterstützte ihn. Er glaubte hier mit Zuversicht eine Stärkung, eine Stillung seines Hungers zu finden und wollte eben zu dem Tische treten, wo Konstanze, die beiden Offizierfrauen und Julie ausgeteilt hatten, was sie in der verödeten Gegend zum Lebensunterhalt zusammenschaffen konnten, als eine Schar gesünderer Offiziere sich ihm vordrängte. Aber Konstanze und Julie beteuerten, ihre Gaben seien nur den gemeinen Soldaten bestimmt, die Offiziere müßten für sich sorgen, es würden noch mehr Gefangne erwartet. Kaum hatte Julie dies einem Zudringlichen gesagt, als sie die bleiche Gestalt des geliebten Obersten erblickte, und ohne eigentlich zu glauben, dies sei der Rittmeister, rührte diese Ähnlichkeit dennoch ihr Herz, sie wollte ihm ein Brot reichen, da bemerkten es die beiden Offizierfrauen und stießen Konstanze an, Konstanze blickte Julien strafend an, was aber der Oberst wohl nicht bemerken konnte. Er erkannte Julien und sah, daß sie mit Erröten ihn anblickte, sich wegwandte und das Brot zurücklegte. Die Härte empörte sein liebendes Herz, er wollte sprechen, da sah er die goldne Kette um Juliens Hals und verstummte. Er wandte seinen Blick jetzt von Julien, schritt mit Heftigkeit fort und sprach laut mit sich, daß seine Kameraden meinten, er schwärme fieberhaft, denn er verfluchte den Urheber seines Lebens, den Urquell alles Lebens; dann sprach er von einem weißen Haupte, das ihm erscheine, und verfluchte sich, weil er mit seiner Härte die sanfteste Seele gehärtet habe. Etwa hundert Schritte von dem Schlosse klagte er heftig, daß das heilige Bild seine Augen von ihm gewendet habe, und sank nieder. Seine Begleiter befühlten seinen Puls, zuckten mit den Achseln und gingen weiter. Julie stand inzwischen wie erstarrt auf der Anhöhe am Tische, es war ihr der Gedanke aufgestiegen, er selbst könne es wohl gewesen sein, dem sie das Brot versagt, da vernichtete sie sein blasses, hilfloses Ansehen. Sie wäre mit dem Brote nachgeeilt, aber die Scham vor Konstanzen hemmte jede Bewegung, nie in ihrem Leben hatte sie sich in so erdrückendem Widerstreite des Gefühls befunden, und sie dachte jener Stunde, als der Rittmeister vor dem Fenster neben dem General stand. Konstanzen blieb nicht verborgen, was in Julien vorging, sie suchte durch erzwungnen Scherz die Unglückliche zu zerstreuen. Der Staub, welchen der Zug erregt, hatte sich allmählich gelegt, und Julie wagte es jetzt, die Straße herabzublicken, und bemerkte einen Menschen mitten auf derselben liegen. Konstanze rief den Hans hinzusehen, was dem Menschen fehlen könne, und wenn er krank, ihn in das kleine Lazarett zu führen. Julie wollte mitgehen, aber Konstanze gab es nicht zu, weil die Fieber so bösartig würden, daß jede Näherung gefährlich, vielmehr führte sie Julien in den Garten, um sich von dem garstigen Anblick der verhaßten Feinde, wie sie sich ausdrückte, zu erholen. Aber wo verbirgt sich der Mensch vor seinem Geschick, vor dem ewigen Strafgericht? Nur einige ruhige Nachmittagsstunden waren noch zu gewinnen. Bald stand ein blutig wolkenbeschwertes Abendrot am Himmel, und da der Oheim noch nicht heimgekehrt, so beschlossen die Mädchen, die seine Spaziergänge genau kannten, ihm entgegen zu gehen. Sie gingen die Landstraße nieder, doch geblendet von der Röte konnten sie nicht unterscheiden, was es sei, daß so viele Leute auf derselben versammelt. Bald erkannte Konstanze den Oheim und Hans bei einer Leiche beschäftigt. »Gewiß ist der Mensch nicht zu retten gewesen,« sagte Konstanze, und Julien fiel es schwer aufs Herz, der Unglückliche könne wohl ihr Stauffen gewesen sein. Hans winkte ihnen, fern zu bleiben, der Oheim schien heftig bewegt, er rieb und küßte abwechselnd den Toten. Julie konnte sich nicht halten, sie lief zu den Versammelten, und er war unter ihnen und war doch nicht mit ihnen. »Es ist mein Sohn,« rief der Oheim, »seine Mutter lebt, ich lebe, und der mußte sterben, der unsres Lebens einziges Glück war.« Julie hörte nicht mehr, sie war besinnungslos in die Arme Konstanzens gesunken. Konstanze erfuhr jetzt, daß Hans seinen gewesenen Herrn gleich erkannte, daß er ihn durch Öffnen des Rocks zu erleichtern suchte und einen Arzt rief, daß aber inzwischen der Oheim herbeigekommen und durch einige aus dem Rocke herabgefallene Briefe verwundert aus der eignen Handschrift, aus den Erzählungen seiner Klara, selbst aus der Ähnlichkeit mit sich selbst in früheren Jahren, den Sohn ihrer heimlichen Liebe erkannte. So löste sich zu spät das Geheimnis der Handschriften, mehrere Monate später kamen erst die Briefe an, die Stauffen zu dessen Enträtselung zutraulich der Post übergeben hatte; die, von den grausamen Befehlen des Alleszerreißenden mehrere Jahre zurückgehalten, das Geschick eines Hauses, das zu einem ruhigen Dasein reifen konnte, nicht mehr zu retten vermochten. Der alte Herr starb, Julien übergab er sein Vermögen, es der geliebten Klara als einen geringen Ersatz für alle Not, in die er sie verwickelt, zu überbringen. Dies letzte Geschäft wollte Julie noch vollbringen und sich dann von aller Welt zurückziehen. Sie fand Klara, die ihres Sohnes Tod schon lange beweinte, solange er von ihr Abschied genommen, ob sie gleich keine sichre Nachricht von ihm hatte, beschäftigt, das Bild der heiligen Mutter, das ihr Sohn geraubt hatte, einzupacken. Sie wollte es nach Spanien zurücksenden, weil es ihr keine Ruhe ließ, wie sie sagte. Als sie alles vernommen, alles beweint und alles im Gebete ihrem Vertrauten dargelegt hatte, beschloß sie mit Julien, die nichts verlangte als Einsamkeit, in das stille Kloster des Gebirges heimzukehren. Spanien beruhigte sich jetzt nach seiner Befreiung, das ererbte Vermögen des lang betrauerten Geliebten, meinte sie, würde hinlänglich sein, das Kloster aus seinen Trümmern herzustellen. – Mit welcher Liebe wurde das Bild der heiligen Mutter, mit welcher Zärtlichkeit Klara, mit wieviel rührendem Mitleid Julie von dem Kloster begrüßt; nichts war von der Kirche übrig; so wunderbar war das heilige Bild erhalten, daß eine neue, unentweihte Kirche wie ein Vorhimmel sich darüber wölbe allen Glücklichen zur Erhebung, allen Unglücklichen eine beruhigende Grabesdecke, von dem Lichte einer andern Welt durchstrahlt.


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