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1863-1927
Bei den Ssinegorows ging es in der Karwoche ganz wie im vergangenen Jahr, wie immer recht lebhaft zu. Am lustigsten waren die jüngsten Familienmitglieder, der zwölfjährige Gymnasiast Wolodja und die zehnjährige Lenoschka.
Es amüsierte sie, sich an der Herstellung von Ostereiern zu beteiligen: die einen wurden mittels bunter Läppchen und Resten von Bändern gefärbt, die anderen mit Abziehbildchen geschmückt. Es war so amüsant zu sehen, wie die Cochenille, die zu den Traditionen der Familie gehörte, ihr rotes Blut im kochenden Wasser auslöste. Ebenso angenehm war es, vom rohen Quarkkuchen zu kosten, der zwar noch nicht in der Presse gewesen war und erst mit dem großen Holzlöffel aus dem Topf herausgeholt wurde, aber so gut und süß schmeckte.
Die Mutter machte sich Sorgen wegen der Geschenke für die Verwandten und die Dienstboten: daß nur alle zufrieden seien und daß es nicht zu sehr in die Kosten gehe. Der Vater raschelte mit den Banknoten, verzog geärgert den Mund und brummte.
»Ach, diese Feiertage! Die hab ich aber satt,« sagte er, sich den roten Nacken unter den grauen Haaren reibend. »Ich bin ordentlich froh, daß man einen Teil der Feiertage abschaffen will. Der Erzbischof Nikon von Wologda mag reden was er will, aber die Zahl der Feiertage muß unbedingt gekürzt werden.«
Der Gymnasiast Wolodja wandte mit tiefem Ernst ein:
»Das Osterfest wird man uns aber in keinem Fall streichen. Dieser Feiertag muß bleiben.«
Alexander Galaktionowitsch Ssinegorow sah das sorglose, rotbackige Gesicht und das verschmitzte Lächeln seines Sohnes mit unbewußtem Neid an und sagte böse:
»Nein, gerade diesen Feiertag würde ich zu allererst abschaffen. An keinem Tage gibt man so viel Geld aus, wie an diesem.«
Seine Frau, Jekaterina Konstantinowna fiel ihm ins Wort: »Sascha, um Gottes willen! Wie kannst du nur so was in Gegenwart der Kinder sagen! Das sieht dir gar nicht ähnlich, und du bist gar nicht so geizig. Früher hast du doch selbst dieses Fest so gerne gemocht!«
In diesem Augenblick trat Nina Alexandrowna, die älteste Tochter der Ssinegorows, ins Zimmer, ein blasses, schlankes Mädchen mit schwarzen Augen. Nachdem sie eine Weile dem Gespräche zugehört, lächelte sie traurig und sagte leise:
»Ja, darin bin ich mit Papa vollkommen einverstanden. Was ist uns dieses Fest? Wem können wir ›Christ ist erstanden‹ sagen? Wen in Liebe umarmen?«
Jekaterina Konstantinowna rief entsetzt aus:
»Ninotschka, Ninotschka, was sagst du! Wie kannst du nur fragen, wen wir umarmen werden? Nun, selbstverständlich einander, unsere Verwandten, Freunde, Bekannten.«
Leise und traurig antwortete Nina:
»Ach, liebe Mama! Du sagst: die Verwandten und Bekannten ... Es ist doch ein Weltfeiertag, ein Fest für alle Menschen. Wir waren in der Kirche, haben kommuniziert und mußten unseren Feinden vergeben, allen, allen, die uns Böses getan haben. Und ich? Meinen Bräutigam hat man hingerichtet, in meinem Herzen ist kein Haß mehr, und ich habe es verziehen. Dem Richter und dem Henker – Gott sei mit ihnen! Doch wie soll ich meine Arme öffnen, wie soll ich küssen?«
Die Mutter sagte streng:
»Nina, Christus ist doch auferstanden, und wenn du glaubtest, so fändest du auch Trost.«
Nina lächelte, sie wußte, daß weder die Mutter noch sonst jemand ihr tröstende Worte zu sagen vermochte, die sie auch selbst nicht wußte. Und sie ging schweigend auf ihr Zimmer.
Du alter, weiser Glaube, der du von der Vernunft nicht gerechtfertigt wirst, doch über sie triumphierst, was tröstest du mich nicht?
Da hat man meinen Freund hingerichtet, und er ging in den schmachvollen Tod, zur Richtstätte, von stolzen Hoffnungen erfüllt, so wie auch viele vor ihm von der Hoffnung auf die Auferstehung beseelt in den Tod gingen. Doch in meinem Herzen ist finsterer Gram, und bin ich die einzige, die sich in ohnmächtiger Sehnsucht verzehrt?
Alte Kindheitserinnerungen erwachten im müßigen, sich abhärmenden Geiste. Und plötzlich kam ihr der Wunsch, eine Seite im Evangelium zu lesen.
Nina suchte das kleine Bändchen heraus. Sie schlug es auf dem Evangelium Lucä auf. Sie las den Bericht, wie Christus den zwei Jüngern auf dem Wege von Jerusalem nach Emmaus erschienen war, den einfältigen und rührenden Bericht.
»Brannte nicht unser Herz in uns?«
Nina klappte das Buch zu. Von einer süßen, unbegreiflichen Unruhe getrieben, setzte sie sich ihren Frühjahrshut auf, schlüpfte in den Übergangsmantel und trat auf die Straße.
Sonnabend in der Karwoche. Es dunkelte schon.
Zwei stark pomadisierte junge Männer mit allzu üppig gebrannten Locken traten aus einem Friseurladen und schienen sehr vergnügt. Die Hausmeister verteilten an den zwischen den Laternenpfählen gespannten Drähten farbige Lämpchen für die Festbeleuchtung. Blutjunge Näherinnen liefen kichernd vorbei. Die Droschkenkutscher waren schon betrunken und rot.
Ein junger Telegraphenbeamter begleitete irgendwohin zwei junge Mädchen, die es in den Feiertagskleidchen offenbar fror, und redete ihnen zu:
»In unserer Kirche ist es viel schöner, es ist gar kein Vergleich! Erlauben sie doch!«
Die jungen Mädchen sagten etwas, beide zugleich, doch der Wind trieb ihre Worte fort, und Nina konnte sie nicht verstehen.
Alles ist so wie jedes Jahr in der Osternacht. Die Menschen begehen das alteingeführte Fest, das Fest der Feste, und dieser Tag, der eine Feier aller Feiern sein soll, wird natürlich zu einem gewöhnlichen gesetzlichen Feiertag werden, zu einem notwendigen Zubehör des langwelligen Lebens.
Brennt aber nicht mein Herz in mir?
An der Kreuzung zweier lärmender Straßen geht auf Nina jemand zu, der ihr bekannt vorkommt. Aber auf ihrem Gedächtnisse liegt ein Nebel, vor ihren Augen schwebt ein unsichtbarer, doch schwerer Schleier. Ihr Wille ist von Trauer und Langweile gelähmt, und sie spürt nicht mal den Wunsch, sich zu erinnern, wo sie ihren unerwarteten Begleiter schon einmal gesehen hat.
An ihm ist nichts Merkwürdiges, was ihn irgendwie von ihren vielen Bekannten unterschiede – gewöhnliche städtische Kleidung, ein intelligentes Gesicht. Aber die tiefen schwarzen Augen blicken so forschend, daß es Nina vorkommt, als dringen sie ihr in die Tiefe ihrer Seele hinein. Und ihr Herz brennt.
Leise fragt er sie:
»Warum sind Sie so nachdenklich? Warum so traurig?
Und Nina antwortet:
»Warum wundern Sie sich, daß ich so traurig bin? Wissen Sie denn nicht, was bei uns in den letzten Jahren alles vorgeht?«
Er fragt:
»Was geht denn vor?«
Nina spricht lange zu ihm, sie klagt, sie meint, sie spricht gleichsam zu sich selbst. Ihre Augen blicken in das von den Wundmalen roter Feuer zerrissene Dunkel der lärmenden Straßen. Ihr Herz zittert und brennt.
Und wie sie zu Ende ist, beginnt er zu ihr zu sprechen; leise, doch so eindringlich, wie einer, der die Gewalt hat:
»Ist es denn nicht Kleinmut? So muß eben in die Welt unsere Wahrheit kommen, nur so: in Leiden, die für den Schwachen unerträglich sind, in Taten, die das Maß der menschlichen Kräfte übersteigen. Oder haben Sie etwas Angenehmes und Leichtes erwartet, als sie den Worten Ihrer Lehrer und Weisen lauschten? Und haben Sie die nicht die Wahrheit gelehrt, daß es keine Gewalt auf Erden gibt, die den vom Schicksal vorbestimmten, in den Büchern geweissagten Gang der Ereignisse aufhalten könnte?«
Und er zitierte Worte aus den Büchern und erläuterte sie ihr. Und ihr Herz brannte in ihr.
Schüchtern fragte sie ihn:
»Und er? Mein vielgeliebter Bräutigam, den man hingerichtet hat? Wo ist er?«
Und sie vernahm die milde Stimme:
»Er ist mit dir.«
Sie richtete den erstaunten Blick auf ihren Begleiter und hörte:
»Ich bin immer mit dir, meine liebe Braut – tröste dich! Oder hast du mich nicht erkannt – mich, der ich im Geheimnis komme?«
Nina fragte in freudiger Erregung:
»Wer bist du?«
An ihrer Seite war niemand mehr. In der geschäftigen Menge, im verwirrenden, unruhigen Halbdunkel der lärmenden Straßen war ihr Begleiter verschwunden. Ein Student mit kurzem schwarzen Bärtchen wandte sich lächelnd nach ihr um, als er ihren begeisterten Ausruf hörte, und ging gleichgültig, an seiner Zigarette saugend, vorüber.
Doch im Herzen Ninas war die Freude, und ihre schwarzen Augen leuchteten vor Entzücken. Er ist mit ihr, er ist immer mit ihr. In ihrem Herzen, in ihren Gedanken, in ihrem Tun, überall ist er, der Geliebte! Sie darf nicht fürchten, darf den Mut nicht sinken lassen, sie muß glauben und tun, was er tut, lieben, was er liebte – mit ihm die Trauer der Niederlagen und die Freude der Siege teilen. Mit ihm, immer mit ihm!
Nina ging beim freudigen Läuten der Osterglocken nach Hause und glühte vor Entzücken, und weinte vor Glück und vor süßer Trauer. Den strahlenden Festfeuern, dem Winde, der sie mit der Verheißung lenzlicher Wonnen anwehte, flüsterte sie die seligen, wahnsinnigen Worte zu:
»O, ich Glückliche! Auch ich war auf dem Wege nach meinem Emmaus, und auf meinem verdüsterten Wege sprach mit mir er, der zu mir in Stille und Geheimnis kam, und ich, glückliche, glückliche Braut, fand ihn in meinem Emmaus!«