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Elisabeth Goedicke

Jens Larsen

Roman

Erstes Kapitel.

»Vater!« rief Gesine Larsen laut über den Hof. Sie bekam keine Antwort.

Einen Augenblick blieb sie noch in der Tür stehen, die vom Hause nach dem Hof führte, und sah sich nach allen Seiten um, da aber nirgends etwas zu hören oder zu sehen war, ging sie nach dem Kuhstall hinüber.

Es war Melkzeit. Line, das Jungmädchen, lachte natürlich gerade und versetzte der ›Schwarzlotte‹ einen Schlag, weil sie nicht stillstehen wollte. Die beiden wurden immer nicht so recht miteinander fertig. Sie waren wohl beide noch nicht gesetzt und bedächtig genug.

»Hest Vater nich' 'sehn?« rief Gesine ihr zu.

»Nee!«

Sie ging nun weiter, den Mittelgang entlang bis zum Jungvieh, wo sie jemand herumhantieren hörte. Es war der Kuhknecht, der beim Füttern war. Nun wiederholte sie ihre Frage und bekam die gleiche Antwort. Jens Larsen war nicht da und war auch nicht dagewesen. Sie hatte es nicht sehr eilig und blieb noch bei den Kälbern stehen.

»De von de Bleß hett sick ober rutmakt,« meinte sie.

»Jawoll, dat's nu unser Best,« sagte der Knecht.

»Na, komm!« Sie wollte dem kleinen, rotbraunen Kalbe den Kopf krauen, aber es nahm die Liebkosung ungnädig auf, stemmte sich mit seinen steifen, dünnen, ungeschickten Beinen fest gegen den Boden und schob den ganzen Oberkörper so weit zurück, wie es ihm möglich war.

»Lütt Dummerjahn!« lachte Gesine und wandte sich wieder zum Gehen.

Wenn der Vater um diese Zeit nicht im Kuhstall war, dann wußte sie, wo sie ihn zu suchen hatte, und sie wunderte sich jetzt selbst, daß sie nicht zuerst dorthin gegangen war.

Jens Larsen stand wirklich auf der Hohen Koppel hinter seinem Gehöft und schaute ins Land. In fast übermenschlicher Größe zeichnete sich seine hohe, kräftige Gestalt gegen den hellen Winterhimmel ab, wie er so unbeweglich, mit der Linken die Augen beschattend, dastand, trotzdem der Wind kalt vom Wasser heraufkam und ihn ungeschützt traf. Aber Jens Larsen kannte diesen Wind von Kindheit an – das waren nun fast fünfzig Jahre – und hatte sich noch nie vor ihm verkrochen.

Vor ihm lag das Sundewitt und weiterhin die See, die mit weißen Wellen gegen das Ufer brandete. Er hörte das donnernde Getose bis hier oben. Das Land war mit Schnee bedeckt. In der Nacht war er gefallen in leichten, großen Flocken, die sich lose und weich in die Furchen der Äcker und Felder gelegt hatten, so daß die hartgefrorene braune Erde doch noch überall hindurchsah.

Zu seinen Füßen unterhalb der Hohen Koppel lag der Larsenhof mit seinem alten, behaglichen Wohnhaus und den großen, weiten Scheunen und Ställen. Auch ringsherum die Wiesen, Felder und Äcker waren alle sein. Deshalb stand Jens Larsen so gern hier oben. Die stolze Freude des Besitzes schwellte dann seine Brust, und er hätte mit keinem Könige getauscht.

Er hatte die Sonne im Rücken. Jetzt war sie wohl hinter dem Stenderuper Gehölz versunken, ihr glühender Widerschein färbte plötzlich den Himmel rot, der Schnee fing an zu leuchten, in allen Gehöften ringsum funkelten die Fensterscheiben, – es sah aus, als stände das Sundewitt in Flammen. Jens Larsen hatte schon oft um diese Zeit hier gestanden und hatte den Himmel sich rot färben sehen, aber so wie heute, meinte er, wär's noch nie gewesen. Er ließ die Hand sinken und schloß einen Augenblick die Augen. All dies Funkeln, Blitzen, Leuchten und Flammen blendete ihn. Doch es hörte nicht auf, als er die Lider schloß, es wurde fast schlimmer. Er sah nun nichts Einzelnes mehr, nur ein einziges, großes, flammendes Feuer, und seine Ohren vernahmen nichts als die gewaltigen Stimmen der Natur, das Pfeifen des Windes und das donnernde Branden der See. Da atmete er tief auf, und sein Körper reckte sich höher empor. So liebte er seine Heimat am meisten, wenn er hier oben einsam stand und sie mit mächtigen Stimmen zu ihm redete. Dann kam ein Königsgefühl über ihn, und er grub den Fuß fester in die Erde, die ihm gehörte.

Als er wieder aufsah, war Gesine eben durch die kleine Pforte, die vom Garten aufs Feld führte, getreten und kam den schmalen Fußweg zu ihm hinan.

»Ich hab' dich gesucht,« rief sie ihm entgegen, aber als sie neben ihm stand, sagte sie ihm nicht gleich, weshalb sie ihn gesucht hatte, sondern sah, wie er, ins Land.

»Wie schön!« Es kam fast andächtig von ihren Lippen, und ein Seufzer hob ihre Brust.

Jens nickte stolz. »Nicht wahr? Das soll mal einer suchen! Solchen Blick gibt's in der ganzen Welt nicht noch mal.«

Sie standen still nebeneinander. Der Wind spielte in Gesines blondem Haar und zerrte an ihrem Rock. Aber sie achtete so wenig auf ihn wie ihr Vater; wie er war sie versunken im Schauen, erfüllt von der Schönheit und Größe ihrer Heimat. Endlich sagte sie, ohne den Kopf zu ihm zu wenden: »Thies ist gekommen.«

»So!« rief Jens interessiert, und seine Augen suchten ihr Gesicht jetzt mit einem prüfenden Blick.

War sie vielleicht hierher geflüchtet, um mit sich ins klare zu kommen, um einen Entschluß zu fassen, der für ihr ganzes Leben entscheidend sein sollte?

Aber in ihrem Gesicht lag nichts von Kampf oder Zweifel, es war ruhig und klar, als ob keine stürmenden Gefühle und Gedanken sie beschäftigt hätten.

»Sie hat sich schon entschieden,« dachte Jens, »Thies muß die Gelegenheit heute benutzen, dann können wir wohl im Larsenhof Verlöbnis feiern.«

Daß sie dann gerade jetzt hierher kam, auf die Hohe Koppel, allein, das verstand er gut; dafür war sie seine Tochter. Ihn hatte es ja auch immer, immer hierher getrieben, wenn ihn ein Leid bedrückte oder eine große, übermächtige Freude sein Herz erfüllte. Hier hatte er es in die Winde geschrien, nicht mit Stimmen, wie die Menschen sie hören, aber aus dem Herzen heraus, und ihm war gewesen, als hätten der Wind und das Meer da hinten diese Sprache verstanden, als wüßten sie alles, alles, was er durchgekämpft hatte in den langen Jahren seines Lebens. Nun kam auch sein Kind hierher. Es tat ihm fast leid, daß er hier war und sie störte; deshalb sagte er: »Ich geh' jetzt 'rein. Bleibst du noch hier?«

Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem klaren, ungetrübten Blick an. »Nein, ich komme mit. Ich wollte dich ja nur rufen.«

Während sie nun hintereinander den schmalen Weg hinunterschritten, fragte Jens: »Bleibt Thies hier?«

Gesine nickte. »Bis morgen.« Plötzlich wandte sie sich nach ihm um und rief lebhaft: »Weißt du, was er meint? Es gibt Krieg. Sie rüsten schon.«

Jens antwortete nicht gleich, aber unwillkürlich flog sein Blick wieder über das Land. Er stand noch hoch genug, um es bis an die Küste übersehen zu können, und was vorher sein Herz als Naturschönheit entzückt hatte, erschien ihm plötzlich wie eine Vorahnung. Das Sundewitt stand in Flammen. Aber er gab seinen Gedanken keine Worte, sondern wies sie zurück als etwas Ungeheuerliches. Dann nickte er, als hätte er sich schon gedacht, daß es so kommen würde.

Im Hause war es fast dunkel, aber man hatte noch nirgends Licht angezündet. Sie gingen den Flur entlang, der das Haus in seiner ganzen Tiefe durchschnitt, und traten in das große, dreifenstrige Wohnzimmer, das rechts von der Haustür lag. Es war hier sehr warm und duftete nach den Bratäpfeln, die in der Ofenröhre lagen. Frau Larsen saß in dem großen Lehnstuhl am Ofen und strickte, trotzdem sie bei der Dunkelheit fast nichts mehr sehen konnte, und Thies Matthiessen, ihr Pflegesohn, hatte sich mitten in der Stube rittlings auf einen Stuhl gesetzt und anscheinend lebhaft gesprochen. Er war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann von siebenundzwanzig Jahren. Sein ausdrucksvolles Gesicht war um das Kinn herum von einem dünnen, dunkelblonden Vollbart eingerahmt, und in seinen Augen glühte heute ein verhaltenes Feuer. Als Jens und Gesine eintraten, sprang er auf, und die beiden Männer begrüßten sich mit einem Händedruck.

»Na, Jung, was bringst du?« fragte Jens.

Thies zuckte die Achseln. »Ja, es sieht so aus, als ob es Krieg gäbe. Sie rüsten schon mächtig in Jütland.«

Sie sprachen dänisch.

»Gehst du mit?« fragte Jens.

Thies nickte. »Natürlich, wenn's losgeht. Wir wollen den Preußen mal zeigen, was es heißt, mit uns anzubinden. Ha! Wenn die sich einbilden, sie brauchten bloß hierherzukommen, um Schleswig so mir nichts dir nichts in die Tasche zu stecken, dann haben sie sich mächtig geirrt.«

»Das werden sie sich wohl auch nicht einbilden,« sagte Gesine von der Kommode her, wo sie eine Lampe anzündete. Sie trug sie jetzt durchs Zimmer auf den Mitteltisch, und der helle Schein beleuchtete ihr schönes, junges Gesicht. »Sie werden doch wissen, daß sie einem starken Feind gegenüberstehen.«

Thies antwortete nicht, denn er hatte gar nicht gehört, was sie sagte. Er sah nur das blühende, frische Gesicht, die zarten, knospenden Formen, wie sie so im hellen Schein der Lampe durch das Zimmer ging, und da verlor er einen Augenblick die Gewalt über sich selbst. Sein Blick umfaßte sie ganz und senkte sich dann in ihre Augen mit einer solchen Leidenschaft, daß sie davor erschrak. Eine dunkle Blutwelle ging ihr langsam über das Gesicht, und sie stellte die Lampe mit leisem Klirren nieder, wandte sich gleich ab und machte sich an dem Seitentisch zu schaffen, auf dem schon das Vesper bereitstand.

Jens hatte das alles nicht beobachtet, und während Gesine nun den Tisch deckte, sprach er lebhaft mit Thies über Politik. Sie waren beide dänisch gesinnt, obgleich sie deutscher Abkunft waren, und vor allen Dingen war es ein fanatischer Preußenhaß, der sie erfüllte.

Die Frauen beteiligten sich nicht an dem Gespräch. Gesine ging hin und her und besorgte das Vesper, und Frau Larsen strickte weiter. Sie war eine kleine, zarte, unscheinbare Frau, deren Interessen und Gedanken über das Nächstliegende nie hinausgingen. Die Politik und der drohende Krieg beunruhigten sie auch jetzt nicht. Jens und Thies sagten ja beide, daß die Preußen gegen die Dänen nichts ausrichten könnten, weil sie vor allen Dingen viel zu feige wären, ihnen standzuhalten. Hunderte würden vor einem einzigen Dänen davonlaufen. Wozu sollte man sich da also fürchten? Etwas anderes beschäftigte sie jetzt mehr, etwas, das ihr viel näher lag: ob Thies und Gesine heute einig werden würden?

Er war heute nur gekommen, um die Sache in Ordnung zu bringen, das hatte er ihr vorhin gesagt. Daß Jens einverstanden war, wußte sie auch, es brauchte also nur noch das entscheidende Wort gesprochen zu werden. Ihr gingen nun schon allerlei Brautmuttersorgen durch den Kopf. Gesines Leinenaussteuer war längst fertig und lag sorgsam verpackt in Kisten und Truhen. Aber Möbel mußten nun gekauft werden, und für die Brautzeit brauchte sie ein neues Kleid. Das sollte jedoch nicht in Sonderburg gemacht werden, sondern bei einer teuren Schneiderin in Flensburg. Es sollte ordentlich nach was aussehen; die vom Larsenhof konnten es ja.

Frau Larsen war in erster Ehe mit einem Onkel von Thies verheiratet gewesen, und da sie damals keine eigenen Kinder gehabt hatte, nahm ihr Mann den kleinen, elternlosen Thies ins Haus. Dann wurde sie bald Witwe und heiratete Jens Larsen, der Thies wie seinen eigenen Sohn aufwachsen ließ. Es blieb auch alles beim alten, als die kleine Gesine kam, die das einzige Kind der Larsenschen Eheleute blieb. Sie war acht Jahre jünger als Thies. Er war bald nach der Einsegnung auf Alsen auf einem Hof gewesen und war jetzt in Jütland, aber er sprach schon davon, daß er sich nun bald einen eigenen Besitz kaufen wollte, denn er hatte ein ganz schönes Vermögen. Jedesmal, wenn er in der letzten Zeit nach Hause gekommen war, war ihm Gesine schöner und begehrenswerter erschienen, und es war längst wie ein stummes Einverständnis zwischen den Leuten auf dem Larsenhof, daß sie seine Frau werden sollte.

Nun saßen sie um den Tisch und vesperten. Dann stand Gesine auf und ging hinaus, weil sie noch in der Wirtschaft zu tun hatte. Aber als Thies ihr nach kurzer Zeit folgte und sie suchte, fand er sie nicht. Er hatte gedacht, sie wäre nur hinausgegangen, um ihm Gelegenheit zu einem Alleinsein mit ihr zu geben, denn sie mußte ja wissen, warum er gekommen war. Aber dann hätte sie sich doch von ihm finden lassen.

Mißmutig kehrte er ins Wohnzimmer zurück und schimpfte weiter mit Larsen über die Preußen bis zum Abendbrot. Da wurde er still. Ihn interessierte jetzt nichts mehr, keine Politik, kein Preußenhaß und keine Kriegsaussichten; ihn erfüllte nur noch ein Verlangen: Gesine in den Armen zu halten, fest, fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und das schöne, junge, blühende Gesicht zu küssen.

Gesine vermied es, ihn anzusehen. Sie sorgte für die andern und sprach mehr als sonst, aber in ihrer Stimme lag etwas Gebrochenes.

Bis heute nachmittag war sie ruhig gewesen und hatte sorglos in die Zukunft gesehen. Es hatte als etwas ganz Natürliches und Unabwendbares vor ihr gestanden, daß sie und Thies ein Paar werden würden. Die Eltern wünschten es, sie kannten sich und hatten sich gern – also, warum sollten sie sich nicht heiraten? Aber nun hatte sie heute nachmittag den Blick von ihm aufgefangen, und da hatte ein namenloser Schreck sie befallen: als wäre etwas Fremdes trennend zwischen sie und ihn getreten. Sie wußte sich nun nicht zurecht zu finden. Als das Abendessen beendet war, trug sie ein paar Schüsseln in die Küche, und dann kehrte sie nicht ins Wohnzimmer zurück, sondern stahl sich leise aus der Hintertür in den Garten. Sie mußte auf die Hohe Koppel, auf die Anhöhe, wo der Wind blies und sie das Meer brausen hörte. Jetzt trieb es sie dorthin, jetzt war sie ganz Jens Larsens Tochter. Im Hause war ihr alles eng und drückend, dort oben würde es frei und klar in ihr werden.

Schimmernder Mondschein lag über dem Schnee. Sie ging durch den Garten, öffnete die Pforte und trat auf den Fußweg hinaus, den sie heute schon einmal hinangeschritten war. Aber ehe sie die Anhöhe halb erstiegen hatte, hörte sie die Pforte wieder knarren. Sie wandte sich um und sah Thies. Mit ein paar Sätzen war er neben ihr.

»Du!« stieß er hervor, weiter nichts, dann hielt er sie in den Armen, so fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und seine heißen Lippen ruhten auf den ihren.

Gesine war zumute, als wenn langsam etwas in ihr erstarrte. Noch nie vorher war sie so vollständig in der Macht eines anderen Menschen gewesen. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht schreien oder sprechen, fast schien es ihr, als könnte sie auch nicht denken. Ewigkeiten schienen ihr hinzugehen. Eine bebende Angst überkam sie. Das war ja kein Kuß, wie sie ihn von Vater, Mutter oder Anverwandten sonst bekommen hatte, es war etwas ganz anderes, wie ein Besitzergreifen ihres ganzen Seins, ihres Körpers und ihrer Seele, wie ein Zusammenschmelzen von zwei Menschen zu einem Ganzen.

Endlich, endlich ließ er sie frei, nicht ganz, aber doch so, daß sie wieder sprechen konnte und atmen und den Kopf bewegen.

»Thies, nein,« stieß sie zitternd hervor, während sie vergebliche Anstrengungen machte, aus seinen Armen loszukommen, »das mußt du nicht. Warum tust du das?«

Er lachte und zog sie wieder an sich. »Du – du!« rief er übermütig. »Warum? Ja, warum wohl? Du! Weißt du's nicht? Weil ich dich lieb habe und du meine Frau werden sollst –«

Nun schüttelte sie den Kopf. »Nein, Thies, laß man,« rief sie ängstlich. »Wir wollen das nicht. Nicht heiraten. Wozu? Laß es doch so bleiben, wie es jetzt ist. Es ist ja so sehr schön.«

»Aber es wird noch viel, viel schöner, paß mal auf. Ich kauf einen Hof in Jütland oder hier im Schleswigschen, und du wirst meine kleine Frau. Wir arbeiten zusammen, ich auf dem Felde und du im Hause, du weißt ja, wie es ist. Und wir haben uns furchtbar lieb – so lieb –« Er küßte sie wieder, lange und stürmisch. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und versuchte ihn abzuwehren. »Nicht doch, Thies, nicht doch! Jetzt kommt ja auch der Krieg, dann hast du keine Zeit mehr, an mich zu denken.« Wie erlöst klangen ihre Worte, als hätte sie ihm einen unanfechtbaren Grund gesagt, weshalb sie nicht seine Frau werden könnte. »Dann wird alles ganz anders.«

Er warf ungeduldig den Kopf zurück. »Der Krieg hat nichts zu sagen, der soll uns nicht trennen. Wenn er vorbei ist, heiraten wir gleich. Vater und Mutter werden sich freuen, die wünschen es schon lange. Du kennst doch auch keinen so gut wie mich, und keiner hat dich so lieb.«

Sie sah auf einmal ganz nachdenklich aus. »Nein, lieb hat mich keiner,« sagte sie langsam.

»Siehst du. Bloß ich, Thies Matthiessen, der aber ganz toll.«

Er nahm alle Kraft zusammen, sich zu beherrschen, und ward auch wirklich ruhiger. Er fühlte, daß er sie vorhin erschreckt hatte, deshalb hielt er sie nicht mehr so fest und strich ihr nur mit der Hand über das Haar.

»Nu sei man ruhig, Gesine,« sagte er weich, »du hast vorhin 'en Schreck vor mir gekriegt, nicht? Ich war toll, aber ich bin nun ganz vernünftig. Wir haben uns ja so lange nicht gesehen, und den ganzen Nachmittag konnte ich dich nicht allein sprechen. Ich war schon so ungeduldig, und da ist die Freude über mich gekommen. Nun hast du keine Angst mehr vor mir, nicht wahr?« Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Komm,« sagte er und zeigte auf die Anhöhe, »wollen wir da nach oben gehen?«

Er legte leicht den Arm um ihre Schultern und führte sie hinauf. Gesine atmete auf. Ja, nun war er wieder der alte Thies, den sie kannte und gern hatte, aber vorhin – das war ja ganz schrecklich gewesen.

Als sie oben waren, dachte sie, er würde sie nun loslassen, aber das tat er nicht, sondern zog sie nur noch fester an sich und bog den Kopf zu ihr, ohne etwas zu sagen.

Sie sah ins Land, das jetzt im fahlen, matten Mondlicht vor ihnen lag. Durch die große, feierliche Stille drang nur das Tosen der See, auf der sich die zitternden Strahlen des Mondes brachen.

»Hier ist es immer schön,« sagte sie endlich, »heute nachmittag hättest du es sehen sollen, als die Sonne unterging. Alles glühte, der Schnee, der Himmel, die See, alle Häuser, alles.«

»Ja,« sagte er, »es ist schön. Und wenn du nun wieder hier oben stehst, dann denkst du an mich, nicht wahr?«

Jetzt küßte er sie doch, wieder und wieder, und flüsterte ihr zärtliche Liebesworte ins Ohr, und sie hielt still, halb erstaunt und halb ergeben. Im Grunde kam es ihr seltsam vor, daß Thies so zärtlich war und sie nun immer an ihn denken sollte. Aber sie war ja wohl nun verlobt mit ihm, und das alles gehörte so dazu, daran mußte man sich wohl immer erst gewöhnen. »Nun ist es aber genug, Thies,« sagte sie endlich etwas ungeduldig. »Komm, wir müssen wieder ins Haus gehen. Die Eltern wissen nicht, wo wir sind, und es ist auch kalt.«

Sie waren vorher beide so hinausgegangen, wie sie in der warmen Stube gesessen hatten, ohne noch etwas umzunehmen, deshalb machte die Kälte sich ihnen doch empfindlich bemerkbar, selbst Thies konnte es nicht leugnen, so gern er es getan hätte.

Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, saßen die Eltern beide auf dem Sofa, Jens hinter dem dampfenden Grogglas in seine Zeitung vertieft, Frau Larsen mit ihrem Strickzeug. Sie blickten nun mit fragenden, gespannten Gesichtern auf. Da faßte Thies Gesines Hand und führte sie den Eltern zu.

»Sie hat sich mir versprochen,« sagte er und hielt ihre Hand so fest, daß ihr zumute war, als wäre sie gefangen.

Und plötzlich fiel ihr ein: es war eigentlich gar nicht wahr, was er da sagte. Sie hatte sich ihm nicht versprochen; sie hatte sich gegen seine leidenschaftliche Zärtlichkeit gewehrt, und als er ruhiger wurde, hatte sie sie geduldet. Aber nun konnte sie nichts mehr dagegen tun: sie war seine Braut. Thies sagte noch einiges zu ihrem Vater, und seine Stimme klang anders als sonst, erregt und etwas atemlos. Dann schlossen die Eltern sie in die Arme und sagten, daß sie sich freuten. Sie fand, daß eine Verlobung etwas Merkwürdiges wäre, und fühlte eine Art Neugier, zu erfahren, was nun noch Seltsames kommen würde. Nun sie in der warmen Stube war, schien sie erst die Kälte, die draußen geherrscht hatte, zu empfinden, denn sie zitterte am ganzen Körper. Sie mußte Grog zur Erwärmung trinken, und Thies setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schultern und hielt ihre Hand.

So ward Gesine Larsen Braut. Aber ihr Herz schlief noch, und es lag nicht in Thies Matthiessens Macht, es zu wecken.

Am nächsten Morgen gingen Jens und Thies durch die Ställe. Thies war ziemlich lange nicht auf dem Larsenhof gewesen und sollte nun die neuen »Jüten« besehen und den Schweinestall bewundern, der im Sommer umgebaut worden war. Er kannte ja jeden Stein und jeden Balken auf dem Larsenhof, aber heute sah er alles mit andern Augen an als sonst, wie etwas ganz Neues. Später, wenn die Alten einmal nicht mehr waren, dann war das alles sein, dieser stattliche Hof mit den festen Scheunen und Ställen und den Äckern und Wiesen ringsumher. Er reckte sich unwillkürlich höher auf, und ein Gefühl von Kraft und Stolz rann ihm durch alle Glieder. Thies Matthiessen der Herr vom Larsenhof und die schöne Gesine seine Frau! Das war Wohl eine Zukunft, die einem das Herz höher schlagen machen konnte. Als er jetzt neben Jens auf dem Hof stand und seine Augen langsam von einem zum andern gingen, da lag in seinem Blick etwas Besitzergreifendes.

Gesine stand zufällig am Fenster der Vorratskammer und sah ihn, ohne daß er sie bemerkte, und dasselbe erstarrende Gefühl kam über sie, das gestern in ihr aufgetaucht war, als er sie ohne zu fragen in die Arme genommen und geküßt hatte. Es wallte etwas in ihr auf, was sie noch nie vorher empfunden hatte, eine Empörung gegen ihn, eine Auflehnung ihres ganzen Inneren gegen diese Art, zu nehmen, was ihm gefiel, ohne ein anderes Recht darauf zu haben als dieses stolze Herrenrecht: es gefällt mir, darum nehme ich es.

Als sie wieder in die Küche zurückkam, lag ein fremder Zug in ihrem Gesicht, ein fester, trotziger, entschlossener Zug, und sie hatte das Gefühl, daß es jetzt etwas auf der Welt gäbe, gegen das sie ankämpfen müßte.

Thies mußte gleich nach dem Mittagessen fort, und als er nach einem zärtlichen Abschied den Hof verließ, kam ein Gefühl der Befreiung über sie. Er ging weit fort, nach Jütland, der Krieg kam – es würde eine lange Zeit vergehen, ehe sie sich wiedersahen. Ihr war, als würde alles ganz anders sein, wenn es endlich zu diesem Wiedersehen kam.

In der Dämmerstunde saß Frau Larsen wieder mit ihrem Strickzeug am Ofen. Jens war fortgegangen. Gesine stand am Fenster und sah in die Schneelandschaft hinaus. Es war eine große Unruhe in ihr, die sie fast mehr körperlich als seelisch empfand. Sie fühlte das Blut in allen Adern kreisen, ihr Herz schlug unruhig, und ihre Hände spielten unaufhörlich mit dem Schürzenband. Selbst auf der Hohen Koppel war sie heute nicht zur Ruhe gekommen. Ihr war, als müßte sie sich aussprechen, als hätte sie furchtbar viel erlebt, was sie erzählen müßte; aber wenn sie anfangen wollte, merkte sie, daß sie nichts zu erzählen hatte. Sie war mit Thies auf der Hohen Koppel gewesen, er hatte sie geküßt und sie dann den Eltern als seine Braut vorgestellt, und die hatten sich gefreut und waren nicht einmal erstaunt gewesen. Was sollte sie da erzählen?

Aber sie verließ nun doch ihren Fensterplatz, lehnte sich gegen den Ofen, neben dem die Mutter in ihrem Lehnstuhl saß, und kam stockend und zögernd mit allerlei heraus, was sie beschäftigte und beunruhigte. Daß Thies sie eigentlich gar nicht gefragt hätte, ob sie seine Braut sein wollte. Er hätte sie einfach in die Arme genommen und geküßt und es dann als selbstverständlich angenommen, daß sie nun verlobt wären. Frau Larsen strickte ruhig weiter und lächelte ein bißchen.

»Ja, Kind,« sagte sie, »so machen es die Männer immer.«

Daß sich in Gesine etwas dagegen auflehnte, weil sie den Mann, der ihr so begegnet war, nicht liebte, fühlte sie nicht. Sie verstand überhaupt nicht, daß ihr Kind eben, sich selbst fast unbewußt, in Angst und Herzensnot zu ihr gekommen war und Rat und Hilfe haben wollte in all dem Fremden und Neuen, das sie jetzt bestürmte. Sie selbst hatte sich zweimal verheiratet, und es hatten sie keine inneren Kämpfe und großen Erregungen dabei beunruhigt. Deshalb lag ihr der Gedanke, daß es auch einmal anders sein könnte, ganz fern. Gesine fühlte sich durch die Antwort der Mutter weder erleichtert noch beruhigt, aber sie sagte nichts weiter. Vorhin hatte ihr Herz sich leise, leise geöffnet, und wenn die Mutter ihr mit zartem, innigem Verständnis entgegengekommen wäre, so wäre diese Stunde eine heilige geworden, die Mutter und Kind zu Freundinnen gemacht hätte. So aber schloß sich ihr Herz wieder zu, sie stand wieder im Dunkeln, das wie von einem schwachen Lichtstrahl durch den Gedanken erhellt wurde, daß nun ja der Krieg käme und daß noch alles anders werden könnte.

Zweites Kapitel.

Es war ein heller Abend; der Schnee leuchtete, und der Halbmond stand matt und ein bißchen verschwommen am Himmel. Man konnte weit sehen von der Chaussee aus, die durch das Sundewitt nach Sonderburg hinüberführte, aber es war ein Bild ohne Licht und Farben, das fern am Horizont in unbestimmten, grauen Tönen zusammenfloß. Nur da, wo der kleine Krug am Wege lag, fielen durch die niedrigen, unverhüllten Fenster warme Lichtstrahlen in die graue Dämmerung und zeichneten leuchtend helle Vierecke in den Schnee. Auch Stimmengewirr drang in das große Schweigen hinaus, und Jens Larsen sah schon von außen, daß fast jeder Platz drinnen besetzt war.

Er bückte sich unwillkürlich, als er durch die niedrige Tür in den Raum trat, in dem die Decke mit den schweren Querbalken so tief über den Köpfen hing. Aus dem dicken Tabaksqualm drang ihm nun das Stimmengewirr entgegen, über das er sich schon draußen auf der Straße gewundert hatte. Meistens saßen die Sundewitter still und ein wenig einsilbig hinter ihren dampfenden Groggläsern. Aber heute waren alle in großer Erregung. Die Zeitungen hatten schwerwiegende, wichtige Nachrichten gebracht: die Preußen waren in Holstein eingerückt, und der Krieg schien unvermeidlich.

Nun war ein lebhafter Wortstreit im Gange für und wider die Befreier. Es gab im Sundewitt, so nahe der dänischen Grenze, viele Leute, die mit ihren Sympathien auf dänischer Seite waren und durch Verwandtschaft und Geschäftsinteressen dort hinüber gezogen wurden. Auch Jens Larsen war aus allen möglichen, wenig stichhaltigen Gründen, die er selbst kaum hätte angeben können, zum Dänenfreund und glühenden Preußenhasser geworden, trotzdem er einer deutschen Familie entstammte.

Er setzte sich heute ohne weitere Worte an einen der Tische und nahm die Zeitung vor, worin die Nachrichten standen, die die Gemüter so erregten. Nach einer Weile, als der Wirt in seine Nähe kam, bestellte er sich einen Kaffeepunsch. Er war hier ein anderer als auf der Hohen Koppel, wo seine Seele weit wurde und ein inneres Kraftgefühl ihn erfüllte und über sich selbst erhob. Hier war er der reiche Jens Larsen, dessen Stimme fast die gewichtigste war im Sundewitt. Er gab sich gespreizt, und allerlei kleine Züge offenbarten sich an ihm.

Um ihn herum dauerte das Lärmen fort. Die Deutschgesinnten erzählten von Ungerechtigkeiten und Barbareien der Dänen und tranken auf das Wohl der Preußen und Österreicher. Es war schon jetzt wie eine Befreiung über sie gekommen, und einer brummte sogar das alte, langverpönte Schleswig-Holsteinlied vor sich hin. Es war Peter Hansen, der Speckhöker, der immer so freundlich und bescheiden aussah und so viel in seinem Leben gearbeitet hatte. Sein Gesicht war ganz faltig und zusammengedrückt und von einem spärlichen, grauen Vollbart eingerahmt. Aber das alles sah man eigentlich nicht; denn wenn man mit Peter Hansen sprach, sah man immer nur seine treuen, blauen Augen. Um den Hals trug er einen gestrickten, grauen Schal. Ohne den hatte ihn noch kaum ein Mensch gesehen, und jeder, der Peter Hansen kannte, wußte auch, daß die schöne Inge, seine Frau, diesen Schal gestrickt hatte, und daß er an sie dachte, wenn er mit den harten, verarbeiteten Händen so zärtlich über die Enden strich.

Jetzt saß er in der Ecke am Ofen und brummte die Melodie des Schleswig-Holsteinliedes vor sich hin. Allerdings konnte es so, wie er sie sang, auch ganz etwas anderes sein, aber seine Nachbarn wußten doch, was er meinte.

»Wo kommst du denn heute her, Peter Hansen?« fragte einer.

Nun unterbrach er seinen Gesang und antwortete: »Von Alsen.«

Da rückten die Schleswig-Holsteiner näher an ihn heran, die Dänen hörten mitten in ihrem Gespräch auf, und alle riefen: »Von Alsen? Wie sieht es denn da aus?«

Peter Hansen kraute sich den Kopf. Es war ihm peinlich, vor so viel Menschen zu sprechen; er mochte viel lieber still in der Ecke sitzen und vor sich hinbrummen. »Gräsig mit Menschen,« sagte er endlich. »Allens voll Soldaten und Pferde und Wagen. Ich konnt' beinahe nicht durchkommen. Und höllisch scharf sind sie auf alles und haben mich ausgefragt, wo ich hinwollt' und wo ich herkäm'.«

Weiter wußte er eigentlich nichts zu sagen, man erwartete auch nicht mehr von ihm, sondern nahm die früheren Debatten wieder auf, und nach einer Weile fing Peter Hansen wieder an zu brummen, genau an der Stelle, wo er vorher aufgehört hatte.

Die Stimmen wurden immer lebhafter und hitziger, die Meinungen platzten immer schärfer aufeinander, und plötzlich schlug Jens Larsen auf den Tisch und übertönte alles mit seiner dröhnenden Stimme: »Laßt die Preußen man kommen! Die Dänen schlagen sie schon am Danewerk zurück. Über das Danewerk kommt keiner hinaus, und wir hier im Sundewitt kriegen keinen Schwanz von ihnen zu sehen.«

Heftige Gegenstimmen machten sich bemerkbar, aber Jens Larsen ließ sie nicht aufkommen.

»Was haben sie denn 48 erreicht?« rief er höhnisch. »Nichts. Sie machen ja nicht Ernst. Hunderte laufen vor einem einzigen Dänen davon. Paßt auf, wir wollen uns wieder sprechen, wenn die Komödie hier zu Ende ist, wir alle, die wir hier sitzen, und dann werdet ihr an meine Worte denken. Macht euch das doch mal klar. Wenn hier das Danewerk ist – und hier – und hier – so –« er baute mit Aschbechern und ähnlichen Sachen eine Art Wall auf den Tisch, »und dann kommen die Preußen hier die Straße 'rauf, und die Dänen schießen wie toll von hier oben 'runter immer auf die Preußen – ha – da sollte ein einziger davonkommen? Weglaufen tun sie.«

Er schlug auf den Tisch, so daß sein künstlicher Festungsbau umfiel, und trat mit gewichtigen Schritten zu einer anderen Gruppe.

»Peter Hansen, alter Brummklaas, hast mich verstanden? Du, mit deinem Schleswig-Holsteinlied? Weglaufen tun sie, und wir wollen ihnen eins auf den Weg Pfeifen. Und wenn sie weg sind, dann wollen wir beide mal hier zusammen einen Grog trinken, wir beide, Peter Hansen und Jens Larsen, he?«

Es lag etwas Gereiztes in seiner Stimme, als er diese letzten Worte sprach, als ob er etwas Persönliches mit Peter Hansen auszufechten hätte, und er schlug dem Alten derb auf den Rücken. Die Stimmen der andern waren unwillkürlich verstummt oder klangen wenigstens nur noch gedämpft, und aller Augen waren auf die beiden Männer gerichtet, – Jens Larsen in seiner stolzen, triumphierenden Haltung und Peter Hansen, der so klein und gebückt dasaß und sich den Kopf kraute. Er hatte so seine eigenen Gedanken, aber er konnte sie nicht so schnell in Worte umsetzen. Jens Larsen aber sah in manchen Gesichtern etwas aufdämmern wie eine Erinnerung an etwas, das vor Jahren geschehen war, und da überkam ihn plötzlich eine jähe Ernüchterung. Er strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung das Haar aus der Stirn. Die Luft war ihm auf einmal heiß und drückend, der Tabaksqualm erschien ihm unerträglich, und so bezahlte er seinen Kaffeepunsch und ging.

Die andern sahen ihm nur flüchtig nach und nahmen ihr Gespräch wieder auf. Sie kannten ja alle Jens Larsens Art und wunderten sich nicht weiter über ihn. Nur der Schullehrer, der noch nicht lange in der Gegend war, machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte: »Jens Larsen hat in seinem Innern einen Punkt, der ihn nicht zur Ruhe kommen läßt.«

Sein Nachbar nickte, sah auf Peter Hansen und sagte: »Kann woll sein.«

Als Jens Larsen hinauskam, blieb er einen Augenblick stehen und atmete tief auf. Verdammt heiß und qualmig war's da drin gewesen! Er nahm die Pelzmütze ab und ließ sich die kalte Winterluft über die erhitzte Stirn streichen; dann versenkte er die Hände in die Manteltaschen und ging wieder die Chaussee entlang, um den Feldweg zu erreichen, der seitlich abbog und nach dem Larsenhof führte. Wieder waren das große Schweigen und die graue Dämmerung um ihn, Eis und Schnee und gespensterhafte, kahle Bäume. Er bog den Kopf vor und ging stetig vorwärts. Von weitem kam ihm ein Mensch entgegen, und zwar eine Frau, aber er achtete nicht auf sie, seine Gedanken nahmen ihn ganz in Anspruch. Warum war er immer so heftig und hitzig, daß sein Zusammensein mit anderen Menschen meistens so endete wie dieses? Warum konnte er nicht in Ruhe und Frieden mit allen leben? Immer gingen sein Temperament, sein Jähzorn, sein Hochmut mit ihm durch, und kein Mensch auf der Welt half ihm, verstand ihn, glättete die Wogen in seinem Innern mit einem guten, klugen Wort, mit einem warmen Blick. Er war so furchtbar einsam, Jens Larsen vom Larsenhof, und heute lastete die Einsamkeit auf ihm.

Die Frau war näher gekommen, so nahe, daß er im Mondlicht ihr Gesicht sehen konnte, und da erkannte er sie.

Sie blieben beide betroffen stehen und sahen einander an. Lange –.

»Guten Abend, Jens Larsen,« sagte sie endlich.

»Guten Abend, Inge Hansen,« antwortete er, und seine Stimme klang wie aus einem tiefen Traum.

Nun waren sie wieder still, und es war, als ob das Schweigen um sie her Töne und Stimmen annähme.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, Inge.«

»Nein. Wie geht es dir, Jens Larsen?«

»Wie's so geht,« sagte er müde und zuckte die Achseln. Aber der Frau gegenüber fiel ihm plötzlich das Ereignis in seiner Familie wieder ein, das er vorhin unter den Männern ganz vergessen hatte, und er fuhr fort: »Wir haben gestern Verlöbnis gefeiert. Meine Tochter Gesine hat sich Thies Matthiessen versprochen.«

Über das Gesicht der Frau ging ein eigentümlicher Zug. »Hat sie ihn lieb?« fragte sie statt aller Antwort.

Er machte wieder ein ganz betroffenes Gesicht. »Ich denke,« meinte er endlich zögernd.

Inge Hansen nickte. »Natürlich, meine Frage war ja dumm. Das ist doch immer so, wenn zwei sich miteinander versprechen.«

Ihr Gesicht war ganz ruhig, aber ihre Stimme hatte einen herben Klang. Jens Larsen antwortete nicht, und sie schien das auch nicht erwartet zu haben. Aber ihre Blicke trafen sich und wurzelten fest ineinander und sprachen eine ganze Geschichte. Sie vergaßen beide, daß sie hier im Schnee standen und ihre Wege sie eigentlich auseinanderführten, denn jeder verkörperte dem andern eine Summe von Glück und Leid und Kampf seines Lebens, und ihnen war, als wenn ihre Jugend ihnen hier plötzlich an diesem stillen Winterabend auf der einsamen Landstraße begegnet wäre.

Die Frau hieß in der Gegend noch immer die schöne Inge, trotzdem sie die vierzig nun schon überschritten hatte. Sie war auch noch schön. Ihre hohe, schlanke Gestalt hatte etwas Blühendes, und unter dem Haar, das schon seit Jahren weiß war, sah ihr Gesicht mit den klaren, blauen Augen und dem bräunlichen Ton der Hautfarbe noch recht jung aus.

»Weißt du schon, Jens Larsen,« sagte sie plötzlich mit einer hellen, frischen Stimme, in der es wie Jubel klang, »es gibt Krieg!«

Jens nickte, und sein Gesicht nahm einen anderen Ausdruck an. »Ja,« sagte er, »und meine Meinung darüber habe ich Peter Hansen eben unten im Krug gesagt, frag ihn nur.«

Ihr schien an seiner Meinung nicht viel zu liegen, denn sie fragte jetzt lebhaft, als ob ihr ganzes Interesse sich nun darauf richtete: »Ist Peter im Krug?«

»Ja, er sitzt in der Ecke am Ofen und singt das Schleswig-Holsteinlied.«

Nun lachte sie. »Das glaube ich, das singt er jetzt den ganzen Tag.«

Er runzelte die Stirn. »Du solltest vorsichtiger sein, Inge Hansen, und das nicht so laut sagen. Noch gilt hier dänisches Regiment, und das duldet keine Aufrührer, wie du weißt.«

Da warf sie den Kopf zurück. »Wir sind keine Aufrührer, Jens Larsen, das weißt du recht gut, wir sind Schleswig-Holsteiner, die ihr Recht haben wollen. Aber du bist ein Landesverräter. Du bist deutsch wie wir, noch vor zwanzig Jahren hast du so deutsch gedacht wie ich, und nun hältst du es mit den Dänen. Das ist Sünde, ist – treulos.«

Das letzte sagte sie mit leiser Stimme und sah zu Boden.

Jens trat von einem Fuß auf den andern, daß der Schnee knirschte.

»Davon verstehen Frauen nichts,« sagte er finster.

Sie maß ihn mit einem langen Blick. »So? Denkst du jetzt so von den Frauen? Früher dachtest du anders.«

Da trat ein gequälter Ausdruck in sein Gesicht, und seine Stimme klang weich und bittend. »Sprich nicht von früher.«

Sie nickte stumm, als wollte sie ausdrücken, daß es wohl besser wäre, die Vergangenheit ruhen zu lassen, und dann fragte sie nach kurzem Schweigen: »Also Peter ist im Kruge?«

»Ja, und wo willst du hin, Inge?«

»Ihm entgegengehen. Er ist zwei Tage fortgewesen.«

»Und da willst du, trotzdem es kalt und dunkel ist –«

»Gerade, weil es kalt und dunkel ist.«

Inge Hansen wußte sich den seltsam bewegten Ausdruck, der über Jens Larsens Gesicht ging, in diesem Augenblick nicht zu deuten. Er hatte aber in diesem letzten Wort von ihr die alte Inge wiedergefunden, die er geliebt und treulos verlassen hatte. Das war sie ganz, wie sie früher gewesen war. Gerade, weil es kalt und dunkel war, ging sie ihrem Mann entgegen und reichte ihm die Hand und machte es ihm warm. Er sah Peter da im Kruge sitzen, so klein und gebückt und unscheinbar, und eine Wut gegen den Mann erfüllte ihn.

»Die Sehnsucht scheint ihn nicht sehr zu quälen,« meinte er, »wenn er da so ruhig im Kruge sitzen kann und vor sich hinbrummen.«

Sie kniff die Augen ein bißchen zusammen. »Du, Jens Larsen, willst du mich ärgern? Gib dir keine Mühe, das gelingt dir nicht. Wie Peter Hansen seine Frau liebt, das weiß ich am besten, und ich sage dir, Inge Hansen tauscht mit keiner Frau im ganzen Sundewitt, auch mit der reichsten nicht.«

Sie hatte den Kopf zurückgebogen, und ihre Augen gingen in die Ferne, als überblicke sie ihr Leben, und die Worte, die sie eben gesprochen, waren wohl das Fazit, das sie daraus zog. Jens antwortete nicht, er sah auf den Schnee zu seinen Füßen und dachte, daß es kalt wäre und sie nun wohl weitergehen müßten.

Plötzlich rief Inge lebhaft: »Da kommt Peter!«

Sie hatte an Jens vorbei die Chaussee entlang gesehen. Er folgte nun der Richtung ihres Blickes. In einiger Entfernung kam ein Mann langsam auf sie zu. Er ging vornübergebeugt und zog einen Karren hinter sich her.

»Ist das Peter Hansen?« fragte Jens. »Kannst du ihn jetzt schon erkennen?«

Inge nickte. »Ja, das ist er. Guten Abend, Jens Larsen.«

Ohne sich noch einmal umzublicken, ging sie mit ihren schnellen, elastischen Schritten an ihm vorbei ihrem Manne entgegen. Jens blieb unschlüssig stehen und sah ihr nach, endlich ging er langsam weiter und bog in den Seitenweg ein, der von der Chaussee nordwärts nach dem Larsenhof führte. Aber dort im Schutz der Knicks, die den Weg von beiden Seiten begrenzten, blieb er stehen und wartete.

Es dauerte gar nicht lange, bis Peter und Inge Hansen auf der Chaussee an ihm vorüberzogen. Sie gingen nebeneinander. Inge hatte sich auch ein Seil des Handwagens um die Schulter geworfen und half ziehen. Sie sprach zu Peter mit einem hellen, frohen Ton in der Stimme. Verstehen konnte Jens ihre Worte vor dem Quietschen der Räder im Schnee nicht, aber es klang, als wenn sie ihm Bericht erstattete von dem, was sie in den zwei Tagen seiner Abwesenheit erlebt hatte. Peter rauchte eine kurze Pfeife und hörte zu.

Jens Larsen schaute ihnen lange nach. Schließlich trat er wieder auf die Chaussee zurück, um sie besser sehen zu können. »Auch mit der reichsten nicht!« sagte er ein paarmal wie in Gedanken vor sich hin. Es sah doch recht armselig aus, wie sie so im Schnee dahinzogen, der Speckhöker Hansen und seine Frau, gemeinsam ihren Karren ziehend. Und doch war keine Frau im ganzen Sundewitt so schön und stolz wie Inge Hansen, und doch hatte sie vorhin hier vor ihm gestanden und ihm ins Gesicht gerufen: sie tauschte mit keiner Frau im ganzen Sundewitt, auch mit der reichsten nicht.

Er versenkte die Hände in die Taschen seines weiten Pelzmantels und wandte sich langsam zum Gehen.

Wie schön sie noch war! Und all diese Schönheit würde sein eigen sein, wenn er sie nicht mit eigener Hand von sich gestoßen hätte, weil er meinte, eine arme Tagelöhnerstochter könnte nicht als Frau auf den Larsenhof ziehen. Deshalb hatte er die reiche Witwe von Gerd Matthiessen geheiratet, und Inge war nun die Frau von Peter Hansen, der mehr als zwanzig Jahre älter war als sie.

Ob sie den wohl auch mit einer so großen, starken Liebe geliebt hatte, wie ihn? Er meinte, eine solche Liebe, wie sie sie damals verbunden hatte, könnte der Mensch nur einmal im Leben empfinden. Wenigstens, wenn er an sich dachte. Aber es war ja in der ganzen Gegend bekannt, daß Peter und Inge eine sehr glückliche Ehe führten, und wie er sie heute gesehen hatte, fand er das bestätigt.

Als er nach Hause kam, war schon der Abendbrottisch gedeckt, und seine Frau saß auf dem Sofa und strickte. Eine Art Zorn überkam ihn plötzlich. Mußte sie denn immer dasitzen und stricken, immer und immer, jeden Abend, den Gott werden ließ?

»Guten Abend, Jens,« sagte sie, »nun können wir wohl essen?«

Das sagte sie auch jeden Abend, er hatte schon darauf gewartet.

»Natürlich können wir essen,« rief er unfreundlich, »warum sollten wir nicht können?«

Sie sah ihn erschrocken an, sagte aber nichts, sondern ging hastig nach der Tür und rief auf die Diele hinaus: »Gesine, Vater ist da, wir können essen.« Jens hatte der kleinen, schmächtigen Gestalt, die so verängstigt durch das Zimmer gehuscht war, fast feindselig nachgesehen, und im Geist sah er Inge Hansen hier durch das Zimmer schreiten mit ihren großen, elastischen Schritten. Und dann stand wieder das Bild vor ihm, wie sie mit Peter gemeinsam den Karren zog. Gemeinsam – darin lag das Geheimnis ihres Glückes, er wußte es plötzlich. Sie war ihrem Manne eine Kameradin, die alles mit ihm teilte.

Er seufzte. Die kleine, blasse Frau da auf dem Sofa war ihm nie Kamerad gewesen, immer nur sein Schatten, sein Echo.

Als Gesine mit der Schüssel mit dampfenden Bratkartoffeln hereinkam, fiel ihm Inges Frage in bezug auf Gesines Verlobung ein: »Hat sie ihn lieb?«

Merkwürdig, weder er noch seine Frau hatten je darüber gesprochen noch nachgedacht, ob Gesine Thies eigentlich liebte. Da mußte erst Inge Hansen, die Gesine gar nicht kannte, auf der Landstraße danach fragen.

Und wieder stieg ein bitteres Gefühl gegen seine Frau in ihm auf. Hatte sie auch als Mutter die zarten, feinen Pflichten nicht erfüllt, die außerhalb des Gebotenen und Alltäglichen liegen und die ein Frauenherz selbst finden muß? Wieder kam ihm der Vergleich mit Inge, und darüber vergaß er selbst in Gesines Gesicht zu lesen, ob sie wohl glücklich wäre oder nicht.

Drittes Kapitel.

An einem der nächsten Tage fuhr Jens Larsen nach Sonderburg. Als er von der Chaussee aus rechts und links die Düppeler Schanzen liegen sah, nickte er befriedigt vor sich hin. Daran würden sich die Preußen die Zähne schon zerbeißen, wenn sie wirklich herkämen, was ja aber so gut wie ausgeschlossen war.

Es war wieder ein bitterkalter Tag, und Jens zog den Kragen seines Pelzmantels höher über die Ohren. Er hatte schon die Düppelmühle hinter sich, und der Alsensund und Sonderburg lagen vor ihm. Es war ein stilles, friedliches Bild: die kleine Hafenstadt da drüben mit ihren roten Häusern und dem großen, alten Schloß, das so trotzig am Eingang des Alsensundes lag. Aber als sein Wagen über die Brücke rollte und er dann in die Straße am Hafen einbog, merkte er doch ein regeres Leben als sonst. Es war viel Militär in Sonderburg, und die Bürger schienen geschäftig und aufgeregt.

Der Hauptzweck seiner Fahrt war eine geschäftliche Besprechung, die er bald erledigt hatte. Er hatte sein Fuhrwerk in einem Gasthaus untergestellt und ging nun weiter in die Stadt hinein. Seine einzige Schwester war hier an einen Kaufmann verheiratet, und er wollte sie besuchen. Als er in den Laden trat, brannte dort schon eine Hängelampe, und seine beiden Nichten saßen hinter dem Ladentisch und nähten eifrig an einer Handarbeit. Mit einem kleinen, mühsam unterdrückten Freudenschrei sprangen sie auf, als sie ihn erkannten, und begrüßten ihn lebhaft. Es waren hübsche, kleine, blonde Mädchen in Gesines Alter.

»Mutter schläft,« sagte Luise, während sie Jens den Pelz abnahm.

Er rieb sich die verklammten Hände. »Dann stört sie nicht,« sagte er, »ich habe Zeit und bleibe noch ein bißchen.«

Anna schloß nun leise die Tür nach dem hinter dem Laden gelegenen Wohnzimmer, damit die Mutter von dem Sprechen nicht aufwachte, und dann sprachen sie zuerst von Gesines Verlobung. Jens hatte sich auf einen bequemen Stuhl neben den warmen Ofen gesetzt, und die Mädchen nahmen ihre Handarbeiten wieder vom Ladentisch und rückten unter die Lampe.

Die Nachricht von der Verlobung war ihnen nicht unerwartet gekommen, und es war eigentlich nicht viel darüber zu sagen.

»Na, wie geht's Geschäft?« fragte Jens nun.

»Ganz gut,« antwortete Luise, »wie immer. Aber wenn nun der Krieg kommt, dann weiß man ja nicht, wie es wird.«

Jens beruhigte sie. »Hierher kommen sie nicht, mien Döchting, da hab' du keine Angst. Erst laß sie mal das Danewerk nehmen, und dann haben sie die Düppeler Schanzen noch lange nicht. Da könnt ihr noch viele Meter Kleiderzeug und Bänder und Schürzen verkaufen.«

Die Mädchen blickten nachdenklich auf ihre Arbeit und stichelten weiter. »Das sagen die Dänen ja auch immer,« meinte Luise endlich, »aber man kann es doch nicht wissen. Und wenn es wirklich so kommt, dann ist uns ja gar nicht geholfen, dann hört das dänische Regiment nicht auf, sondern es wird eher noch schlimmer.«

Jens knurrte und erhob sich plötzlich. »Nimm dich in acht und rede nicht so dummes Zeug,« sagte er in sehr energischem, verweisendem Ton.

Luise stieg eine Röte des Unmuts ins Gesicht, und sie hob den Kopf. Sie war immer ein unerschrockenes, tapferes Mädchen gewesen und hatte auch den Mut gehabt, dem Onkel, der doch eine so gewichtige Rolle in der Familie spielte, mit ihrer Meinung entgegenzutreten. Aber ehe sie noch zu Worte kommen konnte, trat ihre Mutter ein.

Frau Karstensen war eine kleine, runde Frau mit einem gutmütigen, freundlichen Gesicht, das nur wenig Ähnlichkeit mit Jens Larsens strengen, energischen Zügen hatte. Jetzt war es vom Mittagsschlaf sanft gerötet, und die Augen blickten noch etwas verstört, verschlafen. Aber sobald Frau Karstensen Jens erblickte, war sie auf einmal ganz munter. Sie stieß einen Freudenschrei aus und eilte auf ihn zu. »O Jens, wie fein, daß du da bist. Bist du all lang hier?« fragte sie, wartete aber die Antwort gar nicht ab, sondern rief ihren Töchtern zu: »Anning, Wiesche, macht Kaffee. Ich bleib' so lang mit Onkel hier.«

Die beiden Mädchen waren nach der letzten Wendung, die das Gespräch genommen hatte, ganz froh, den Laden verlassen zu können. Jens holte nun aus den großen Taschen seines Pelzes allerlei hervor, was er der Schwester mitgebracht hatte. Er kam nie mit leeren Händen, denn wenn Karstensens Geschäft auch recht gut ging und seine Schwester unverfallen aussah, so hatte er doch immer im Grunde die Vorstellung, daß es eine rechte Hungerwirtschaft bei ihnen wäre. Heute waren es ein Paar große Dauerwürste, die mit großem Jubel von Frau Karstensen in Empfang genommen wurden.

Als dann die üblichen Fragen nach der Familie und dem Wetter erledigt waren, sagte sie plötzlich mit etwas gedämpfter Stimme: »Weißt du, wer neulich hier war? Der Speckhöker Hansen von Nübel.«

»Hm,« machte Jens, ohne eine Miene zu verziehen.

»Er kaufte ein Tuch für seine Frau, aber man eins von den ganz billigen, baumwollenen, die zu nichts sind. Sie wärmen nicht und hübsch aussehen tun sie auch nicht.«

Jens guckte in den Glaskasten, worin allerlei bunte Bänder und Schürzen lagen, und antwortete nicht. Frau Karstensen beobachtete ihn amüsiert von der Seite.

»Das ist auch man ein Pütjerkram mit dem,« meinte sie nun. »Na, große Ansprüche konnte die schöne Inge ja nicht machen, die war es ja von Hause her nicht anders gewohnt. Aber sie hat sich ihr Leben wohl doch anders gedacht – früher, weißt du – als du –« »Ja,« sagte Jens plötzlich und richtete sich auf. »Laß man. Das ist ja alles schon so lange her. Ich habe sie neulich auf der Chaussee gesprochen. Sie hat es gut bei Peter Hansen, sagt sie, und wünscht es sich nicht anders.«

Frau Karstensen kreuzte die Arme unter ihrem stattlichen Busen und lächelte. »Na ja – sagt sie. Wer's glauben will, kann ja.«

Jens runzelte die Stirn. »Du kennst sie nicht,« sagte er kurz und abweisend.

»So genau wie du allerdings nicht,« meinte sie lachend und zwinkerte mit den Augen, »aber das weiß ich doch, daß eine Frau so etwas nicht vergißt. Selbst eine Inge Hansen nicht, – und die vielleicht am wenigsten.«

Er stand auf, ging mit großen Schritten durch den Laden bis an die Tür und sah durch die Scheiben auf die dunkle Straße. Ihm war heiß geworden bei allerlei Vorstellungen und Erinnerungen, die ihn bestürmten. »Das ist ja nun doch alles einerlei, wie es nun einmal gekommen ist,« meinte er endlich mit gepreßter Stimme.

Frau Karstensen nickte: »Natürlich, anders konnt' es ja gar nicht kommen. Das wird sie ja damals selbst nicht geglaubt haben, daß Jens Larsen vom Larsenhof sie heiraten würde.« Sie lachte auf, wie über einen ganz unglaublichen Gedanken. »So dumm ist sie doch auch nicht.«

Das wußte Jens Larsen nun besser. Er wußte, daß die schöne Inge Söderssen nicht nur felsenfest an seine Liebe, sondern auch an seine Treue und seine ehrlichen Absichten geglaubt hatte, aber er antwortete nur ein undeutliches »hm« und guckte weiter auf die Straße. Nach einer Weile drehte er sich wieder um. Ein unbezwingliches Selbstbewußtsein lag nun in seiner Haltung, als er sagte: »Wenn man etwas auf sich hält, kann man nicht immer alles, was man möchte.«

Frau Karstensen nickte zustimmend mit dem Kopf, aber ehe sie etwas antworten konnte, riefen die Mädchen zum Kaffee. Sie hatten im Wohnzimmer einen netten Tisch gedeckt. Es war auch da sehr warm, fast überheizt, aber Jens, der von seiner Fahrt sehr durchfroren war, empfand es nur angenehm. Er war immer gern bei Karstensens, trotzdem dort alles viel kleiner und einfacher war als auf dem Larsenhof, aber es herrschte immer eine frohe Gemütlichkeit, die es in seinem Hause eigentlich nicht gab.

Heute war er nun allerdings etwas verstimmt. Das Gespräch mit seiner Schwester hatte allerlei Erinnerungen in ihm geweckt, die ihm nicht behaglich waren, und als er seine Nichten wiedersah, fiel ihm Luises Bemerkung von vorhin wieder ein und verdarb ihm noch mehr die Laune.

Sie tranken nun alle vier ziemlich schweigsam ihren Kaffee und aßen braune Kuchen von Weihnachten dazu.

»Schade, daß Karsten nicht zu Hause ist,« sagte Frau Karstensen einmal.

Als sie eben mit dem Kaffee fertig waren, kam er. Karsten Karstensen stammte aus einer Kaufmannsfamilie: er besaß nicht die selbstsichere Ruhe jener Leute, die, wie Jens Larsen, ihren seit Generationen in der Familie vererbten Landbesitz haben. Er hatte schnelle, gewandte Bewegungen und einen sicheren und raschen Blick. Heute kam er fast hereingeschossen in die Ladentür. Als er die Seinen in der Wohnstube versammelt sah, schwenkte er schon von weitem eine Zeitung und rief mit atemloser Stimme: »Der Krieg ist da! Kinnings, der Krieg ist da! Die Preußen marschieren auf das Danewerk.«

Frau Karstensen setzte sich auf den nächsten Stuhl. »O Gott, o Gott!« sagte sie, und dann noch einmal: »O Gott, o Gott!«

Karstensen nahm sich kaum Zeit, seinen Schwager zu begrüßen. Er faltete die Zeitung auseinander und las nun in erregtem Ton die neuesten Nachrichten vor.

Wrangel hatte an den dänischen General de Meza die Aufforderung ergehen lassen, Schleswig zu räumen, worauf von diesem die Antwort erfolgt war, er hätte von seiner Regierung ganz entgegengesetzte Weisungen und stünde bereit, die Preußen zu empfangen. Nun hatten die Preußen die schleswigsche Grenze überschritten und marschierten auf das Danewerk.

Es herrschte einen Augenblick Stille in dem kleinen Zimmer, nachdem Karstensen seine Vorlesung beendet hatte.

»Sie werden sich am Danewerk schon ihren Nasenstüber holen,« sagte Jens endlich wegwerfend.

Karstensen stieg eine Röte ins Gesicht, gerade so wie seiner Tochter vorher, aber er hielt an sich und antwortete nicht. Er fühlte sich seinem Schwager nicht gewachsen und war außerdem als Deutschgesinnter zu sehr an solche Ausfälle von den Dänenfreunden gewohnt, um gleich zu antworten. Seine Frau hatte aber weniger Ruhe und Selbstbeherrschung. Sie packte ihren Bruder am Arm und rief: »O, Jens, schäm dich, daß du so was sagen kannst, du solltest dich doch freuen, daß endlich Befreiung für uns kommt. Du siehst doch überall die Ungerechtigkeiten und Unterdrückungen. Du weißt doch, wie sie Karsten kujoniert haben, wie er immer höhere Abgaben zahlen muß als die andern, bloß weil sie wissen, daß er deutsch denkt und fühlt. Jens, Jens, wenn das nun alles aufhört, wenn die Preußen siegen, wenn wir wieder Deutsche sein können, deutsch sprechen und in der Kirche deutsche Predigten hören – Kinder, denkt doch bloß mal!«

Ihr liefen auf einmal die hellen Tränen über das Gesicht, und sie packte Wiesche, die ihr am nächsten stand, mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie. Die beiden Mädchen hatten frohe, glänzende Augen bekommen, und Karstensen nickte ihnen zu.

Jens stand mit verbissenem Gesicht daneben. »So weit sind wir noch lange nicht,« sagte er höhnisch. »Aber wenn ihr weiter solche Reden führt, werdet ihr der gerechten Strafe nicht entgehen. Ich sage euch, kein Preuße kommt über das Danewerk hinweg, dafür haben wir unsere ruhmreiche dänische Armee. Aber euch wäre es ganz recht, wenn sie kämen, dann solltet ihr mal kennen lernen, was Barbareien sind!«

Auf die Freude der Familie Karstensen war ein starker Reif gefallen. Die Mädchen sahen erschrocken aus; in Frau Karstensen aber schäumte der Zorn über.

»Du, Jens, ich will nicht, daß in meinem Hause so gesprochen wird, hörst du!« rief sie mit blitzenden Augen. »Du verrätst mit jedem Wort dein Vaterland, denn du bist ein Deutscher so gut wie ich. Sieh dir doch die alten Balken auf dem Larsenhof an. Da steht in deutscher Schrift, wer den Hof erbaut hat, und in die Familienbibel haben unsere Vorfahren, ihre deutschen Namen eingetragen, und da war nicht ein Däne darunter.«

»Das geht mich gar nichts an,« rief Jens, »wir gehören jetzt zu Dänemark, und die Preußen haben hier nichts zu suchen. Und wenn dir das, was ich sage, nicht paßt, kann ich ja gehen.«

Er stampfte mit steifen Knien in den Laden und nahm seinen Pelz vom Nagel. Karstensens erhoben keinen Einspruch; sie fühlten es alle als eine Erleichterung, daß er gehen wollte. Es hatte schon öfter mal kleine Reibereien dieser Art zwischen ihnen und Jens gegeben, sie waren indes immer wieder bald beigelegt worden. Jetzt wurde aber die Lage der Dinge sehr ernst, und man empfand diese Meinungsverschiedenheit plötzlich als große Kluft, die nicht mehr zu überbrücken war.

Jens hatte seinen Mantel angezogen und die Mütze aufgestülpt.

»Adjüß,« sagte er, ohne jemand die Hand zu geben.

»Adjüß,« antworteten sie alle, und Wiesche fügte hinzu: »Grüß Gesine.«

Er nickte kurz und verließ den Laden. Als die Tür mit scharfem Klingeln hinter ihm ins Schloß gefallen war, herrschte bei Karstensens einen Augenblick tiefe Stille. Alle sahen unwillkürlich die Mutter an, um zu sehen, was sie zu diesem Abschied sagte. Aber Frau Karstensen hielt sich nicht lange mit Gedanken darüber auf. Sie schüttelte den Kopf wie über etwas, das ihr unbegreiflich war, und dann gewann die Freude wieder die Oberhand.

»Kinnings, Kinnings, Gott bewahr mich,« rief sie und schlug die Hände zusammen, »denkt doch mal bloß! Wenn wir nun wieder richtige Deutsche werden, und all die gräsigen Dänen werden hier rausgeschmissen – was wird das fein!«

Die Töchter nickten und faßten ihre kleine, runde Mama um, und alle drei tanzten vor Freude im Laden herum. Karstensen war bedenklicher.

»Wartet man, bis es so weit ist,« sagte er, »wer weiß, wie es alles kömmt.«

Aber die drei ließen sich ihre Freude nicht nehmen und steckten ihn schließlich mit an. Er las noch einmal die Nachrichten aus der Zeitung vor, und nachher setzten sie sich alle um den Tisch im Wohnzimmer und studierten die Karte von Schleswig-Holstein. –

Als Jens jetzt durch die Straßen ging, war das Leben und Treiben noch stärker geworden. Die Nachmittagspost hatte all diese Nachrichten gebracht, und der Bevölkerung hatte sich eine große Erregung bemächtigt. Die Deutschen zeigten ihre Freude nicht in lautem Jubel auf der Straße, aber ihre Augen glänzten, und ihre Schritte waren wie beflügelt. Und in den Häusern falteten sich die Hände zu heißen Gebeten. Alte Leute, die ihr schönes Vaterland in die Knechtschaft hatten kommen sehen, weinten helle Freudentränen, und die Jungen jauchzten den Errettern entgegen.

Jens traf viel Gleichgesinnte auf der Straße und überwand den Ärger, den er eben im Hause seiner Schwester empfunden hatte, schnell. Sie alle waren mit ihm der gleichen Meinung: daß die Preußen über das Danewerk nicht hinauskommen würden. Er ging noch ins Wirtshaus und trank auf das Wohl der ruhmreichen dänischen Armee. Als er endlich nach Hause kam, war es schon recht spät, aber seine Frau und Gesine waren noch aufgeblieben, um ihn zu erwarten. Er war ganz erfüllt von seinen Nachrichten, rief sie dem Knecht zu, der ihm das Fuhrwerk abnahm, und sprach noch lange zu den Frauen von dem, was er gehört und gelesen hatte. Er beschrieb ihnen das Danewerk, den großen Wall mit den uneinnehmbaren Befestigungen und Schanzen bei Schleswig. Nie würden die Preußen und Österreicher sie nehmen können, nie darüber hinwegkommen. Die Frauen hörten mit großen, müden Augen zu, und Frau Larsen gähnte ein paarmal verstohlen. Als Gesine später über die Diele ging, um ihre Schlafkammer aufzusuchen, fiel der Schein ihres Lichtes auf den großen Querbalken mit der Inschrift: »Erbaut 1789 von Peter Jens Larsen. Gott mit uns allewege«. Da blieb sie einen Augenblick stehen und dachte: wie merkwürdig es doch wäre, daß sie sich nun zu den Dänen rechneten, wahrend ihre Vorfahren Deutsche gewesen waren.

Viertes Kapitel.

Als die Nachricht kam, daß das Danewerk ohne Verteidigung von den Dänen geräumt worden wäre, wollte sie zuerst niemand glauben. Jens Larsen lief den ganzen Tag herum und hielt jeden Menschen, den er traf, mochte es ein Mann oder Weib oder Kind sein, an und sagte: »Das ist unmöglich, das ist ein Irrtum, eine Lüge. Es hat sich jemand einen Scherz gemacht. Wie kann man das denken von unserer ruhmreichen Armee?«

Aber dann wimmelte es plötzlich auf allen Wegen von dänischen Soldaten, wie ein Heuschreckenschwarm brachen sie über das Land herein, müde, abgehetzt, fliehend, um sich hinter die Düppeler Schanzen zurückzuziehen. In allen Häusern war Einquartierung, und die Soldaten erzählten von den unglücklichen Gefechten bei Ober-Selk und Översee, wo die Österreicher ihnen so viel zu schaffen gemacht hatten, von den furchtbaren Strapazen, von der Kälte und den Entbehrungen. Man war plötzlich mitten im Kriegsleben und wußte nicht, was man von alledem denken sollte.

Nun brachten aber die dänischen Zeitungen die Berichte von den Erfolgen der Armee und ihrer Unbesiegbarkeit, und da trug Jens den Kopf wieder höher und las allen, die ihm in den Weg kamen, vor, was sie in Kopenhagen sagten. Die mußten es doch wissen. Nur General de Meza verstand nichts und mußte eigentlich gehängt werden. – – –

Inge Hansen saß in ihrer kleinen Küche und schälte Kartoffeln. Nübel war von Soldaten besetzt, und auch Hansens hatten ihre Vorderstube abgeben müssen und für sich nur die kleine Kammer neben der Küche behalten. Aber jetzt waren die Soldaten ausgerückt, und es war still und friedlich um Inge. Sie hatte einen unruhigen, gespannten Zug im Gesicht; denn es lastete eine große Sorge auf ihr. Ihr einziges Kind, ihr Hannes, war, als die politische Lage der Herzogtümer so ernst wurde, von dänischer Seite wie so viele andere nach Schleswig beordert worden, um dort Fuhren zu leisten. Peters kleiner Wagen und der hübsche Braune, den er sich erst vor kurzem angeschafft hatte, waren zu diesem Zweck requiriert worden. Nun kam die dänische Armee zurück, aber von ihrem Hannes hatte sie noch keine Nachricht. So oft draußen ein Wagen fuhr, lief sie ans Fenster und sah hinaus, aber es war bis jetzt immer vergebens gewesen.

Nun kam wieder ein Wagen. Sie hörte schon von weitem das Quietschen der Räder auf dem Schnee mit ihrem für dies Geräusch jetzt so sehr geschärften Ohr. Diesmal meinte sie bestimmt, er müßte es sein, und sie begnügte sich nicht damit, ans Fenster der Diele zu gehen, sondern öffnete schnell die Haustür und trat hinaus. Es war aber nicht ihr Hannes, der im Schritt die Straße heraufgefahren kam, sondern Jens Larsen.

Sie stutzten beide, als sie sich sahen, und Jens hielt sein Pferd an und rückte an seiner Pelzmütze. Über das Gesicht der Frau flog ein helles Rot und ließ sie für den Augenblick ganz jung erscheinen.

»Ich meinte, es wäre Hannes,« sagte sie.

Dann waren sie wieder still.

»Ist Peter zu Haus?« fragte Jens endlich.

Inge nickte. »Ja, er ist auf dem Hof und macht Holz klein.«

Jens zeigte mit der Peitsche nach der Deichsel und sagte: »Dat oll Ding is tweigangen. Wullt Peter mi dat woll 'n beten tosammen drechseln?«

»Das will er wohl,« meinte Inge, ging um das Haus herum und rief nach Peter.

Er kam, Jens stieg ab, und die Männer besahen zusammen den Schaden. Inge war in das Haus zurückgegangen, hatte aber die Tür aufgelassen. Als sie nun sah, daß Peter an dem Wagen hantierte und Jens, die Hände in den Taschen dabeistand und zusah, rief sie: »Willst du nicht reinkommen, Jens Larsen? Hier ist es schön warm.«

Jens zögerte einen Augenblick. Er war noch nie in Inges Haus gewesen. Aber schließlich ging er doch. Er mußte sich bücken, um durch die niedrige Tür zu kommen, und er dachte, daß die große Inge wohl auch jedesmal den Kopf neigen mußte, wenn sie ihr Haus betrat. Peter kam wohl so hinein. Die schmale Diele, die nach hinten in die Küche führte, war mit Ziegelsteinen gepflastert, die nach der Mitte zu sehr ausgetreten waren. An der einen Wand stand eine große Holztruhe. Links war eine Tür, die in die kleine Vorderstube führte. Inge saß wieder auf dem niedrigen Holzschemel und schälte Kartoffeln.

»Nun haben die Dänen die Preußen doch nicht am Danewerk zurückgeschlagen,« sagte sie, als Jens eingetreten war und sich auf den Stuhl in der Nähe des Herdes gesetzt hatte.

Hierüber sprach Jens nun nicht gern. Die Tatsachen stimmten so wenig mit dem überein, was die Zeitungen sagten, daß er sich nicht ganz zurecht fand. Er brummte etwas vor sich hin und sah ins Feuer. Aber Inge ließ nicht locker.

»Diesmal wird es doch Ernst mit der Befreiung von Schleswig-Holstein, die Preußen rücken ja schon näher. Es dauert nicht lange, dann sind sie hier.« Nun machte Jens eine wegwerfende Bewegung. »Die Düppeler Schanzen kriegen sie nie, da können sie machen, was sie wollen.«

Was er früher vom Danewerk gesagt hatte, sagte er jetzt von den Düppeler Schanzen; er klammerte sich förmlich an den Satz.

»Abwarten,« sagte Inge ruhig und warf wieder eine geschälte Kartoffel in die Schüssel mit Wasser.

Jens sah eine Weile zu, wie ihr die Arbeit so flink von der Hand ging, und allerlei Erinnerungen kamen ihm.

»Deine Mutter ist nun auch schon lange tot,« meinte er endlich aus seinen Gedanken heraus.

»Ja,« sagte sie, und in der Art, wie sie den Kopf hob und ihn ansah, lag eine ernste Abwehr. Sie hatte seinen Gedankengang erraten und wollte nicht, daß er noch mit anderen Worten auf jene vergangene Zeit zurückkam.

Es lag ein Stolz in ihrer Bewegung, der ihn ärgerte. Inge Hansen war vielleicht der einzige Mensch auf der ganzen Welt, gegen den Jens Larsen eine Schuld hatte, die noch nicht abgetragen war, die er wohl nie abtragen konnte, und deshalb war er ihr gegenüber leicht gereizt.

Er stand wieder auf und reckte sich zu seiner ganzen, stattlichen Höhe, und indem seine Gestalt wuchs und sich dehnte und er so massig und kernig in all der verhaltenen Kraft dastand, schien es, als ob der Raum für ihn zu klein wäre und er sich an allen Ecken stoßen müßte. Und gerade jetzt trat auch Peter in die Küche, klein und gebückt, mit seinem verwitterten, zusammengedrückten Gesicht und den strubbeligen grauen Haaren. Der Gegensatz trat scharf hervor. Jens fühlte das und freute sich darüber. »Na, Peter Speck,« sagte er und schlug den Alten derb auf die Schulter, »is 's nu all wedder in Ordnung?«

Peter nickte. »Bis nach 'n Larsenhof langt dat nu woll.«

Jens griff in die Tasche und holte einen großen Lederbeutel heraus. »Und was bin ich nu' schuldig?« »Das hat nichts zu sagen,« sagte Peter mit freundlichem Gesicht und wendete sich ab.

Aber Jens wollte bezahlen, denn er meinte, es wäre eine Demütigung für Inge, wenn er ihrem Mann Geld für diese kleine Gefälligkeit gab, und es verursachte ihm ein Gefühl von Freude und Genugtuung, sie zu demütigen. Deshalb legte er ein dänisches Zweikronenstück auf den Tisch und sagte: »Ach, dumm Schnack! För nix is nix! Du hast das Geld auch nicht in Säcken auf dem Boden stehen, Peter Hansen! Hier, kauf dein' Frau 'ne bunte Schürze dafür.«

Peter schob seine kurze Pfeife von einem Mundwinkel in den andern, was immer andeutete, daß er etwas sagen wollte. Jens sah aber nicht auf ihn, sondern auf Inge. Sie sah nicht gedemütigt aus, ihr Gesicht war ganz ruhig, aber die klaren Augen sahen ihn mit einem Blick an, der zu sagen schien: »Jens, so warst du früher nicht.«

Es war auf einmal eine Stille in dem kleinen Raum zwischen den drei Menschen, aber plötzlich sprang Inge auf, stellte den Kartoffelkorb auf den Tisch und stürzte hinaus.

»Hannes!« rief sie nur.

Die beiden Männer folgten ihr erstaunt. Sie hatten noch gar nichts gehört. Aber als sie aus der Haustür kamen, stand dort wirklich ein kleines, armseliges Fuhrwerk mit einem halbverhungerten Pferd davor, und im Wagen, zwischen dem Stroh, saß ein blasser, schmaler, hohlwangiger junger Mensch.

»O, Hannes,« schrie Inge noch einmal auf, »o, Hannes, lütt Jung, bist du nu da? Nu steig man aus.«

Hannes Hansen stieg schwerfällig ab und sah müde um sich. Peter hatte inzwischen das Pferd geklopft und besehen.

»Wo hast denn meinen fixen Braunen gelassen?« fragte er endlich.

Da zuckte es in Hannes Hansens Gesicht, und er sagte: »Das ist er ja.«

Nun waren sie alle still, aber Peter trat wieder an das müde, abgeklapperte Pferd heran und streichelte es.

Inge umfaßte Hannes und führte ihn ins Haus. »Komm, Jung,« sagte sie, »nu sollst du was Warmes kriegen.«

Als Hannes Hansen in der Küche am Herd saß, schien es, als löste sich allmählich eine Spannung, die auf seiner Seele gelegen hatte, und er fing an zu erzählen. Drei Wochen lang hatte er kaum ein Dach über dem Kopf gehabt und nichts Ordentliches zu essen bekommen. Auf verschneiten oder gefrorenen Wegen war er stundenlang im Land umhergefahren mit Proviant oder mit Verwundeten, und Kälte, Regen und Wind hatten ihn ungeschützt getroffen.

Inge machte, während er erzählte, eine warme Suppe für ihn zurecht, Peter kniete am Boden, zog ihm die schlechten, nassen Stiefel von den Füßen und gab ihm dafür frische, wollene Strümpfe und warme Schuhe.

»So,« sagte Inge und kam mit ihrem Teller mit warmer Suppe heran, »nu iß man tüchtig, mein Jung, und dann gehst du gleich zu Bett. Nu haben wir dich ja wieder hier, nu wollen wir dich wohl wieder zurecht pflegen.«

Aber der Sohn sah die Mutter mit einem herzzerreißenden Blick an, warf die Arme ungestüm um ihren Leib und drückte den Kopf in ihre Kleider.

»Morgen muß ich ja wieder weiter,« rief er verzweifelt. Inge rührte sich nicht; sie meinte nur, alle müßten das furchtbare Klopfen ihres Herzens hören.

»Weiter?« fragte sie tonlos. »Wohin denn?«

»Nach Alsen. Wir sollen alle rüber nach Alsen.«

Da legte es sich wie eine Last auf die Herzen der vier Menschen; denn sie sahen zum erstenmal dem furchtbaren Ernst des Krieges ins Auge, und sie fühlten, daß er von jedem von ihnen seine Opfer fordern würde. Aber sie jammerten und klagten nicht, sondern nahmen es hin wie etwas Unabwendbares.

Der Junge aß seine Suppe mit der hastigen Gier eines völlig Verschmachteten. Peter legte seine Pfeife auf den Tisch, denn sie war ihm längst ausgegangen; und das geschah sehr selten. Inge hatte anscheinend ihre Arbeit vergessen, sie setzte sich auf den niedrigen Holzschemel, vornübergebeugt, wie niedergedrückt von einer schweren Last, und die gefalteten Hände in ihrem Schoß waren so fest umeinandergeschlossen wie im Krampf.

Der erste, der wieder sprach, war Peter. Er stand schwerfällig auf und sagte: »Ich will nu man den Braunen in 'n Stall bringen.«

Das brachte auch Jens zur Besinnung, der bis jetzt stumm am Türpfosten gelehnt hatte. Er richtete sich auf und sagte: »Ich muß nun wieder fort. Adjüß.«

Inge stand auf, und es lag wieder die alte Kraft in ihrer Bewegung.

»Adjüß, Jens Larsen,« sagte sie.

Draußen im Schnee stand Peter neben seinem müden Pferd, das er sich vor ein paar Monaten von seinen Ersparnissen gekauft hatte, weil er nun alt wurde und ihm die langen Wege mit seinem Karren schwer fielen. Er machte die Leinen und Sielen los, und dabei streichelte und klopfte er den Braunen und sprach zu ihm, wie man zu einem Kinde spricht.

Auf dem Larsenhof war große Einquartierung. Als Jens sich seinem Hofe näherte, war eben eine Abteilung Soldaten angetreten, um auszuziehen. Die Kommandorufe der Offiziere schallten weit in der klaren Winterluft, und die blanken Beschläge der Uniformen blitzten in der Sonne. Nun marschierten sie ab, gerade als er in das Hoftor einfahren wollte. Er hielt den Wagen an und ließ sie an sich vorüberziehen. Die Offiziere grüßten, und von den Leuten nickte ihm hin und wieder einer zu. Dann war die Einfahrt frei, und er fuhr in den Hof. An den Fenstern und in der Tür des Kuhstalles standen die Mägde und sahen den abziehenden Soldaten nach. Sie kicherten und stoben erschrocken zurück, als sie ihren Herrn sahen. An der strohumwickelten Pumpe waren Soldaten im Arbeitszeug beschäftigt, um Wasser zu holen.

Im Hause war auch alles auf den Kopf gestellt. Jeder Raum war besetzt, in den Stuben lag Stroh für das Nachtquartier, auf allen Sofas waren Betten zurecht gemacht, und in der Küche hausten die Soldaten und schäkerten mit den Mägden, Frau Larsen lief wie aufgescheucht im Hause umher und wußte sich nicht mehr zurecht zu finden. Alle Augenblicke erklärte sie, sie wollte sich um nichts mehr kümmern, Gesine sollte alles machen, und wenn sie Gesine eine halbe Stunde nicht gesehen hatte, dann rief sie verzweifelt nach ihr und sagte, sie dürfte nicht allein unter das rohe Kriegsvolk, sie sollte immer an ihrer Seite bleiben.

Als Jens kam, stürzte sie ihm entgegen. »O, Jens,« rief sie klagend, »was ist es schrecklich mit dem Krieg. Ich hab' doch so bestimmt gedacht, sie kamen nicht hierher. Du hast doch immer gesagt, die Preußen könnten nicht über das Danewerk hinweg, und wir würden gar nichts von dem Kriege merken. Ganz bestimmt hast du's gesagt, ich hab's noch neulich zu Hanne Lüttjen gesagt, wie sie mir wieder Eier abgekauft hat, und nun ist hier schon alles in Unordnung.«

»Was ist denn los?« fragte er.

Sie sah sich um und holte tief Atem. Was sollte sie zuerst sagen? Alles war in Unordnung und aus dem Gleise. »Mein ganzer Leinenschrank ist schon leer,« sagte sie endlich, »und sie legen sich mit den Stiefeln ins Bett, und mit den guten Handtüchern wischen sie ihre Helme und Gewehre ab. In die Wände schlagen sie große Nägel, so daß die Tapeten Löcher kriegen, und mein bester Wassereimer ist weg, den kann kein Mensch mehr finden.«

Vor Jens' Augen stand das Bild einer Frau, die ihren einzigen Jungen hergeben mußte, und die ohne zu klagen ihr Schicksal trug. Er legte seiner Frau die Hand auf die Schulter, so schwer, daß ihre schmächtige Gestalt fast darunter zusammenknickte, und sagte ernst: »Wenn der Krieg keine größeren Opfer von dir fordert, als deinen besten Wassereimer, dann kannst du Gott auf den Knien danken.«

Sie sah ihn ganz erschrocken an, und ihr war zumute, als ob alles über ihr zusammenstürzte. Sie hatte so bestimmt geglaubt, daß sie hier nichts von dem Kriege merken würden, aber nun waren sie auf einmal mitten drin in dem Kriegsleben, und Jens schien anzunehmen, daß es noch viel schlimmer kommen könnte. »Du hast doch aber immer gesagt, sie kämen gar nicht hierher,« sagte sie nun vorwurfsvoll und weinerlich.

»Ja, nun sind sie aber gekommen, ich kann's doch auch nicht ändern.« Seine Stimme verriet dabei wachsende Ungeduld.

»Die Deerns sind gar nicht mehr zu gebrauchen, die sind schon rein verrückt,« klagte sie weiter.

Er hatte seinen Pelz abgezogen und war in die kleine Stube getreten, die der Familie jetzt allein geblieben war.

»Laß uns jetzt essen,« sagte er kurz und herrisch, um ihre Klagen abzuschneiden.

Sie ging seufzend in die Küche, und er trat ans Fenster und sah auf den Hof hinaus. Das Jammern seiner Frau brachte ihn ganz aus der Fassung, er mußte sich ordentlich zusammennehmen, um nicht all seinem Zorn und seiner Ungeduld einmal gewaltsam Ausdruck zu geben. Sie hatte ja immer diesen aufs kleine gerichteten Sinn gehabt, aber früher hatte ihn das nicht weiter angefochten; dazu war sie ihm zu gleichgültig. Sie hatten nebeneinander hergelebt, und wenn das Haus in Ordnung war, dann war er zufrieden gewesen. Aber jetzt in den ernsten Zeiten war er anspruchsvoller geworden; jetzt empfand er plötzlich die Leere neben sich und begann, zu fühlen, was ihm in der langen Zeit seiner Ehe eigentlich immer gefehlt hatte.

Am Nachmittag dieses Tages kam Thies. Er war schon eingezogen; sein Regiment lag nicht weit von Sonderburg auf der Insel Alsen. Als Gesine ihn durch das Tor in den Hof einbiegen sah, durchzuckte sie ein so heftiger Schreck, daß sie sich auf den nächsten Stuhl setzen mußte. Sie hatte ihn seit dem Verlobungstage nicht wieder gesehen Und sich so sicher in dem Gedanken gefühlt, daß er jetzt in der Kriegszeit nicht kommen könnte. Nun war er aber auf einmal wieder da, jeder Schritt brachte ihn ihr näher, und gleich würde er vor ihr stehen mit all den Rechten eines Bräutigams und würde sie küssen – küssen wie neulich. Da überfiel sie ein Entsetzen, und sie lief davon, über die Diele, ehe er noch die Haustür erreicht hatte, die Treppe hinauf bis auf den Boden. Dort setzte sie sich ganz hinten in einer Ecke auf eine Kiste.

Sie hörte unten die Haustür gehen und darauf Sprechen auf der Diele. Ihre Mutter rief ein paarmal laut nach ihr, dann vernahm sie den festen Schritt und die Stimme ihres Vaters, der Thies anscheinend gleich mit Beschlag belegte. Die Wohnzimmertür ging – und dann war alles still.

Bis jetzt hatte sie gespannt gehorcht, nun atmete sie erleichtert auf und lehnte sich erschöpft gegen die Wand. Aber was sollte nun werden? Sie konnte doch nicht den ganzen Nachmittag hier sitzen bleiben!

Einmal kam doch der Augenblick, wo sie Thies gegenübertreten mußte. Wenn die Eltern dabei waren, würde er ihr wohl nur einen Kuß geben, so wie früher, als sie noch nicht verlobt waren. Sie dachte weiter. Dann gingen die Eltern aber vielleicht einmal beide hinaus, sie blieb allein mit Thies – vielleicht lange – und dann kam es doch. Ihr wurde siedendheiß, und sie strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nein, das mochte sie nicht und das wollte sie nicht. Es war wohl das Blut ihres Vaters, das sich plötzlich in ihr regte. Sie stand auf und warf mit entschlossenem Gesicht den Kopf zurück. Mochte nun kommen, was wollte, sie gab Thies seinen Ring zurück und sagte ihm, daß sie nicht seine Frau werden könnte. Sobald sie diesen Entschluß gefaßt hatte, ging sie auch ohne Besinnen hinunter.

Thies saß mit Jens auf dem Sofa in der Wohnstube und erzählte ihm von dem Kriegsleben in Sonderburg, aber er war nur halb mit seinen Gedanken bei dem, was er sagte. Seine Augen wanderten immer wieder nach der Tür. Gesine mußte doch kommen. Am liebsten hätte er sie im ganzen Hause gesucht, aber Jens ließ ihn nicht los. »Sie wird schon kommen,« meinte er und sprach dann weiter vom Kriege.

Endlich kam sie auch. Sie sah blaß aus, und als Thies sie küßte, fühlte er, daß ihr Gesicht ganz kalt war.

»Was hast du?« fragte er besorgt.

»Nichts,« sagte sie und setzte sich mit einer Handarbeit ans Fenster.

Das war nun eigentlich noch viel qualvoller, und Thies wurde ganz ungeduldig. Er war wahrhaftig nicht hergekommen, um mit Jens auf dem Sofa zu sitzen und ihm vom Kriege zu erzählen. Er hatte sich diese Stunden ganz anders gedacht. Und Gesine sah auch nicht ein einziges Mal zu ihm herüber, bewies ihm mit keinem Blick, daß sie ebenso dachte wie er. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, sondern stand auf und trat zu ihr ans Fenster. In diesem Augenblick wurden die Eltern beide abgerufen.

»Gott sei Dank!« sagte er aus tiefstem Herzensgrund, als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte. Als er sie nun aber umarmen wollte, machte sie sich hastig frei und wich zurück.

»Nicht, Thies, nicht!« rief sie ängstlich abwehrend. »Ich muß dir etwas sagen. Setz dich mal dahin, da drüben, und hör zu.«

Sie sprach so erregt, daß er sie ganz erstaunt und erschrocken ansah, aber er setzte sich nicht, wie sie es gern wollte, sondern blieb stehen, mit vorgebeugtem Oberkörper, wie zum Kampf bereit. »Was hast du?« fragte er. In seiner Stimme lag etwas Drohendes.

»Sei mir nicht böse,« bat sie, »bitte, Thies, sei mir nicht böse. Ich wollte es ja, weil du mich lieb hast und Vater und Mutter sich darüber freuen, aber ich kann nicht.«

»Was?«

»Deine Frau werden. Bitte, Thies –«

Er hörte nicht mehr. »Was, du? Was sagst du?« rief er mit heiserer, bebender Stimme. »Du kannst nicht meine Frau werden? Warum nicht?«

Sie suchte nach einer Antwort. Ja, warum eigentlich nicht? »Ich kann nicht,« sagte sie nur wieder.

»Aber du mußt doch einen Grund haben!« Er packte sie plötzlich. »Du, ist da ein anderer? Sprich, ist da ein anderer?«

Sie sah ihm frei und offen ins Auge und schüttelte den Kopf.

Seine Hände hielten sie noch immer wie mit eisernen Klammern. »Ja, aber warum denn, du? Warum denn?«

»Ich habe dich nicht lieb genug,« sagte sie nun.

Da riß er sie in seine Arme und küßte sie. »Ach lütt Deern, das kommt schon,« rief er auf einmal übermütig. Ich küsse – dich so lange – bis du mich – mehr liebst, als alles – auf der Welt.«

Die Leidenschaft riß ihn wieder fort, und er bedachte nicht, daß er Gesine damit am meisten zurückschreckte. Sie riß sich jetzt mit Gewalt von ihm los.

»Ich will aber nicht,« rief sie heftig, »hör doch, Thies, ich will nicht. Hier, nimm deinen Ring zurück –«

Sie standen sich noch mit flammenden Augen gegenüber, als Jens eintrat.

»Na, was ist denn los?« fragte er erstaunt, denn er sah sofort, daß zwischen ihnen etwas nicht in Ordnung war.

Er bekam keine Antwort. Gesine schlug das Herz bis zum Halse hinauf. Sie hatte ihrem Vater ja heute noch sagen wollen, daß sie Thies nicht heiraten konnte, aber sie hatte sich den Augenblick anders gedacht. Vielleicht oben auf der Hohen Koppel, wenn Thies fort war und ihren Ring schon zurückgenommen hatte. Jetzt aber, da sie mit Thies noch gar nicht im klaren war und sie so unvorbereitet gefragt wurde, fand sie keine Worte. Denn daß ihr Vater sehr böse sein würde, wußte sie im voraus; er hatte diese Verlobung selbst gewünscht. Thies mochte auch nichts sagen. Er war doch nicht sicher, ob Jens auf seine Seite treten würde. Es schien ihm fast natürlicher, daß er seiner Tochter zu Hilfe kam.

Jens sah ärgerlich von einem zum andern. »Na, bekomme ich keine Antwort?« rief er aufgebracht. »Ich will wissen, was los ist.«

Da faßte sich Gesine ein Herz. Gesagt werden mußte es ja doch einmal, also war es vielleicht schon am besten, sie brachte es gleich zur Sprache und suchte Schutz bei ihrem Vater.

»Ich habe Thies gebeten, seinen Ring zurückzunehmen,« sagte sie, »denn ich kann nicht seine Frau werden.«

Jens stand wie versteinert da. »Warum nicht?« fragte er kurz und barsch.

»Weil –« Gesine stockte und suchte nach Worten. »Ich habe ihn nicht lieb genug dazu.«

Nun schwoll auf Jens' Stirn die Zornesader. Er hatte noch nicht gelernt, sich aus seinem eigenen Leben eine Lehre zu ziehen, und er dachte jetzt auch gar nicht an Gesine und ihre Gefühle. Ihn beherrschte nur der Gedanke, daß sie eine wichtige Entscheidung hatte treffen wollen ohne sein Wissen und gegen seinen Willen, etwas rückgängig machen, was er gutgeheißen hatte, und das brachte ihn auf. Inges Frage fiel ihm auch ein. »Hat sie ihn lieb?« Die eigenen Eltern hatten darüber nicht nachgedacht. Aber das mußte ein Mädchen doch selbst wissen, wenn es sich verlobte. Sollte er nun in der Gegend herumgehen und allen erzählen, daß es aus wäre mit der Verlobung, und daß seine Tochter so eine wäre, die sich heute verlobte und dann nach kurzer Zeit sagte, sie wäre anderen Sinnes geworden und möchte nun nicht mehr?

»So etwas überlegt man sich vorher,« rief er. »Meinst du, ich werde zugeben, daß du Thies an der Nase rumführst? Einen Tag verlobst du dich mit ihm, und das nächstemal paßt es dir nicht mehr! Denkst du, du könntest ihm nun einfach seinen Ring zurückgeben, und alles wäre beim alten? Ohne mich vorher zu fragen? Sofort steckst du den Ring wieder an und bittest Thies um Verzeihung für dein dummes Betragen.«

Gesine preßte die Lippen zusammen und rührte sich nicht. Sie hatte den Willen des Vaters bis jetzt immer ohne daran zu deuteln anerkannt und respektiert, heute zum erstenmal lehnte sich in ihr etwas gegen ihn auf, und sie hatte das Gefühl, als ob er jetzt über etwas verfügte, worüber er kein Recht hatte.

»Du hast Thies dein Wort gegeben, und eine Larsen hält ihr Wort,« fuhr er fort. Da ihm beim Sprechen einfiel, daß er das, was er da sagte, selbst nicht getan hatte, machte er ein so grimmiges Gesicht, daß auch Thies Furcht vor ihm bekam.

Jetzt fuhr Gesine aber auf. »Nein, das habe ich nicht getan. Thies hat mich –« Sie stockte, und ihr Gesicht überzog sich mit dunklem Rot. Sie dachte wieder an die Szene auf der Hohen Koppel; ihr mädchenhaftes Empfinden sträubte sich dagegen, zu schildern, wie Thies sie da in die Arme gerissen und geküßt hatte. Jens sah abwechselnd sie und Thies an.

»Was hat Thies?« fragte er langsam.

»Er hat mich gar nicht gefragt, sondern es als selbstverständlich angesehen, daß ich –«

»Nu ja, und du hast dich nicht gesträubt. Aber, zum Kuckuck, das ist doch ausreichend. Eine Verlobung wird doch nicht abgeschlossen wie ein geschäftlicher Handel.«

Gesine sah auf Thies. Er mußte doch jetzt sagen: »Ja, sie hat sich gesträubt, aber ich habe es nicht gelten lassen.«

Aber er sagte es nicht. Er stand immer noch mit verkniffenem Gesicht da und sah vor sich hin.

Jens aber fuhr fort: »Nun verbitte ich mir alle dummen Geschichten. Sofort steckst du deinen Ring wieder an und bittest Thies um Verzeihung, verstanden! Und dann will ich von dieser ganzen verrückten Geschichte nichts mehr hören. Das wäre ja noch schöner – Auftritte, Weiberlaunen!«

Er blieb noch wartend stehen und sah auf Gesines Hände. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt und schob den Ring zögernd und widerstrebend wieder auf den Finger. Nun ging Jens befriedigt hinaus. Soweit hatte er die Sache in Ordnung gebracht; jetzt mochten die jungen Leute selbst sehen, wie sie sich wieder vertrugen. Im Grunde nahm er die Sache nicht so schwer. Streitigkeiten kamen immer mal zwischen Brautleuten vor. Gesine war ja so jung und unerfahren, natürlich dachte sie gleich, so etwas müßte zum Bruch führen. Aber mit der Zeit würde sie schon klüger werden, man mußte ihr nur gleich einen festen Willen entgegensetzen.

Als die Tür sich hinter Jens geschlossen hatte, wollte Thies sich Gesine nähern und ihr die Versöhnung erleichtern, indem er den Arm um ihre Schultern legte, aber sie wich vor ihm zurück und sah ihn so drohend an, daß er den Mut dazu verlor und unschlüssig auf halbem Wege stehen blieb.

»Rühr mich nicht an!« rief sie.

Bis jetzt hatte sie sich halb unbewußt gegen ihn gesträubt, weil sie seine Liebe nicht erwidern konnte, aber seit dieser Stunde hatte sie auch die Achtung vor ihm verloren.

»Du, du hast dabei gestanden und dem Vater nicht gesagt, daß ich mich gegen dich gesträubt habe,« fuhr sie mit blitzenden Augen fort, »und du willst eine Frau heiraten, die dich nicht freiwillig nimmt, sondern gezwungen. Du hast ja keinen Stolz. Vater kann mich wohl zwingen, deinen Ring zu tragen, aber ehe ich dich heirate –« Sie suchte nach Worten, um den Satz zu vollenden. Eher würde sie wohl ins Wasser gehen, dachte sie, aber das sagte sie nicht. »Ich tu es einfach nicht – nie!« rief sie. Damit ließ sie ihn stehen und ging hinaus.

Thies blieb auf dem Fleck stehen, ohne sich zu rühren, und sah ihr wie erstarrt nach. Endlich lachte er kurz auf und zuckte die Achseln. Über die Sache war er ja nun im klaren: eigentlich hatte er hier ja nichts mehr zu suchen. Aber es überkamen ihn nun doch Schmerz und Zorn, er wußte selbst nicht, was stärker war. Er ballte die Hände zu Fäusten und trat mit dem Fuß auf. So ohnmächtig stand er dem gegenüber, – sie wollte nicht, sie wollte einfach nicht! Und wenn der Vater sie wirklich zwingen sollte, ihn zu heiraten, was war das dann für ein Glück? Gefühle lassen sich nicht zwingen.

»Äh!« Er stieß einen Stuhl, der ihm im Wege stand, wütend mit dem Fuß beiseite, daß er polternd zu Boden fiel, und ging hinaus. In der Küche fand er Frau Larsen. Er sagte ihr, daß er heute nicht länger bleiben könnte, und ging dann fort, ohne Jens und Gesine noch einmal gesehen zu haben.

Fünftes Kapitel.

Die Preußen drangen stetig vor. Selbst Jens Larsen konnte es jetzt nicht mehr in Abrede stellen, daß sie näher und näher kamen. Und eines Tages waren sie auf dem Larsenhof.

Es waren unruhige Tage gewesen, die dem vorangegangen waren, Tage voll Angst und Zweifel und Aufregung. Man hörte von Vorpostengefechten, die stattgefunden hatten, man sah die ersten Verwundeten. Fliehende Dänen zogen vorüber, und auch das Bataillon, das auf dem Larsenhof gelegen hatte, brach auf und eilte nach den Schanzen. Die uneinnehmbaren, unbesiegbaren Düppeler Schanzen waren jetzt noch die einzige Rettung der ruhmreichen dänischen Armee.

»Die Schanzen kriegen sie ja nie,« sagte Jens Larsen immer noch in dem alten, überzeugten Ton.

Aber daß sich vor den Schanzen ein heftiger Kampf entspinnen würde, daran zweifelte er nicht mehr, wenn er es auch nicht weiter aussprach. Er hatte auch nicht gedacht, daß die Preußen so schnell vordringen würden. Nun ertönten schon ihre Kommandorufe auf dem Larsenhofe, und die Soldaten, die sich an der Pumpe zu schaffen machten, pfiffen nicht den »tappern Landsoldaten« sondern »Ich bin ein Preuße«.

Als die preußischen Offiziere zum erstenmal das Haus betraten, war Frau Larsen halb ohnmächtig vor Angst. Jens hatte ihr so viel von der Roheit der Preußen erzählt, daß sie die Vorstellung hatte, sie würden jetzt alle hingemordet werden, oder wenigstens würden die Offiziere alle Möbel kurz und klein schlagen und ihnen womöglich nachher das Dach über dem Kopf anzünden.

Aber es geschah nichts dergleichen. Die Offiziere waren ruhig und höflich und verlangten nur Quartier für sich und ihre Leute. Erst als Jens sich auf den Dänen aufspielte und vorgab, kein Deutsch zu verstehen, wurde ihr Ton sehr kurz und bestimmt, und sie trafen über seinen Kopf hinweg ihre Anordnungen. Larsens waren nun nicht mehr Herr in ihrem Hause. Alles war überschwemmt mit Soldaten, das Haus, der Hof, die Ställe und Scheunen, ein fremdes, geschäftiges Leben pulsierte überall, und sie saßen als freiwillig Gefangene im Wohnzimmer beisammen. Schließlich war es ja eigentlich nicht anders als vorher, wo die Dänen auf dem Hof gewesen waren, nur daß Jens nicht erlaubte, daß in irgend einer Weise für die Einquartierung gesorgt würde. Er selbst weigerte sich hartnäckig, deutsch zu sprechen, schloß sich mit seiner Frau und Gesine in der Wohnstube ein und verbot ihnen, das Zimmer zu verlassen.

Frau Larsen war auch viel zu verängstigt, um es zu tun. Keine Macht der Welt hätte sie jetzt in ihre Küche gebracht. Was aus ihren Mägden und ihren Leuten wurde, das kümmerte sie nicht. Gesine litt aber unter dem Verbot. Sie hatte sich vor den Dänen nicht gefürchtet und tat es auch vor den Preußen nicht. Sie hätte gern auf Ordnung gesehen, die Mägde zur Arbeit angehalten und die Zimmer instand setzen lassen. Aber gegen den Willen des Vaters war nichts zu machen, das wußte sie zu gut, deshalb versuchte sie es gar nicht erst, mit Bitten etwas zu erreichen.

Der Nachmittag schlich langsam dahin. Sie saßen ganz still in der Ecke am Ofen und horchten auf jedes Geräusch im Hause und auf dem Hof. Es war ein fortwährendes Türenschlagen und Pfeifen und Sprechen, ein frisches, frohes Leben im ganzen Hause. Draußen der Pumpenschwengel stand nicht einen Augenblick still. Vor der Stalltür wurden Pferde geputzt. Eine Kavalleriepatrouille hielt einen Augenblick am Hoftor und sprach mit den Soldaten, einer von den Offizieren kam aus dem Hause und beschrieb ihnen anscheinend einen Weg. Sie grüßten und ritten weiter. Der Offizier sah ihnen eine Weile nach und ging dann in das Haus zurück.

Als der Abend kam und der Hunger sich meldete, erlaubte Jens Gesine in die Küche zu gehen und etwas zu essen zu holen. Aber sprechen durfte sie nicht mit den Preußen.

Die Küche war voller Menschen. Um den Herd drängten sich die Soldaten und wärmten sich am Feuer. Auf der Wasserbank war einer neben einem Eimer eingeschlafen; er hing ganz zur Seite und hatte den rechten Fuß in den Kohlenkasten gestellt. Am Küchentisch schrieb ein blonder Junge einen Brief. Er saß fast im Dunkeln, denn er hatte die schlechtbrennende Lampe so gedreht, daß die Messingscheibe ihn nicht blendete, sondern ihren Schatten auf sein Papier warf. Mit dem halben Oberkörper lag er auf dem Tisch, den Kopf hielt er ganz schief auf einer Schulter, und die Zunge machte die mühsamen, ungewohnten Auf- und Niederbewegungen seiner steifen Finger immer etwas mit. Zwischen all diesen Gruppen standen die Mädchen umher und lachten und schwatzten, wie sie es ein paar Tage vorher mit den Dänen getan hatten. Als Gesine kam, wurden sie stiller und besannen sich auf ihre Arbeit. Die Soldaten am Herd sprachen weiter von dem Übergang über die Schlei. Gesine hörte zu, während sie in der Speisekammer den Buttertopf füllte und Brut und Schinken vom Bord nahm.

Sie hörte von den furchtbaren Anstrengungen und Entbehrungen, die das Heer durchgemacht hatte, von den weiten Märschen bei Schnee und Kälte. Aber es wurde mit Humor erzählt, und frischer Wagemut leuchtete den Soldaten aus den Augen. Wenn sie daran dachte, wie still und wenig hoffnungsvoll die Dänen gewesen waren, dann legte es sich ihr wie eine Beklemmung aufs Herz. Wie sollte es werden? Für wen sollte sie fürchten, für wen hoffen?

Sie hatte das bestimmte Gefühl: die hier waren die Sieger, diese frischen, frohen, tapferen Menschen, die als Befreier gekommen waren, und ihr Herz schlug ihnen entgegen.

Die Nacht brachte Jens im Wohnzimmer auf dem Sofa zu, für Frau Larsen und Gesine waren noch zwei Betten in der kleinen Kammer nebenan, aber schlafen konnten sie alle drei nicht. Jens stand alle Augenblicke auf und horchte an der Tür, trat ans Fenster und sah auf den Hof hinaus oder ging in der Stube auf und ab.

Am nächsten Morgen war Frau Larsen krank. Sie fühlte sich außerstande aufzustehen und jammerte so viel, daß Jens schließlich nicht mehr zu ihr hineinging.

Die Soldaten rückten früh aus, aber man wußte, daß sie am Abend das Quartier wieder beziehen würden. Sobald sie fort waren, begann im Hause ein geschäftiges Treiben. Jens ließ alle Vorräte an Eßwaren im Keller verstecken. Er schleppte selbst die Schinken und Speckseiten aus der Räucherkammer nach unten und ließ nur so viel zurück, als er für seinen Haushalt brauchte.

Gesine hatte mit der Pflege der Mutter zu tun. Gegen Mittag kochte sie eine Suppe für sie. Die Mädchen waren nicht da. Da ging plötzlich die Hoftür auf, und ein Mann trat ein. Er trug Bauernkleidung und sah sich forschend um. Gesine erkannte ihn sofort.

»Thies!« rief sie erschrocken.

Warum sie erschrak, machte sie sich selbst nicht klar.

»Still!« sagte er. »Bist du allein?«

»Ja.«

»Ganz allein? Ist niemand hier in der Nähe?«

»Nein. Was willst du denn?«

»Still, nicht fragen. Ihr habt doch Einquartierung von Preußen?«

»Ja, jetzt sind sie aber nicht hier, sie kommen erst abends wieder.«

Er nickte. »Schön. Bei der Büffelkoppel ist ein Gefecht. Habt ihr das Schießen noch nicht gehört?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe auch noch nicht darauf geachtet, ich habe heute viel zu tun. Mutter ist krank, und das ganze Haus steht auf dem Kopf.« Plötzlich fiel ihr ein, wie seltsam dies Gespräch zwischen ihnen war, nachdem sie neulich in Feindschaft auseinandergegangen waren. »Thies,« fragte sie deshalb, »was willst du hier eigentlich?«

Er kam ihr näher und sah sie an. »Meinst du, ich hätte Ruhe, nachdem wir neulich so auseinandergegangen sind?« fragte er langsam.

Sie wich zurück, »Nein, Thies, darum bist du nicht gekommen. Du willst was anderes –« Es lag eine unbestimmte Angst in ihrer Stimme.

Er hatte kaum auf ihre Worte geachtet, er sah nur ihre zurückweichende Bewegung, und die reizte ihn. Ehe sie es sich versah, hatte er die Arme um ihre Schultern gelegt und sie an sich gezogen. Sie konnte sich nicht rühren, und er freute sich an ihren vergeblichen Anstrengungen, sich freizumachen.

»Thies,« rief sie gequält, »laß mich doch!«

Da küßte er sie leidenschaftlich auf den Mund und sagte: »Nein, ich lasse dich nicht, nie, Hörst du? Du sollst mir gehören, ganz, immer. Vater will es auch, und gegen seinen Willen und meinen kannst du nichts machen. Darum bin ich hergekommen, um dir das zu sagen, und darum – und darum,« er küßte sie wieder, »sträub dich nicht, es hilft dir doch nichts.«

Alle ihre Versuche, sich freizumachen, nützten nichts, und ihr traten vor Zorn und Empörung die Tränen in die Augen.

»Ich will nicht,« rief sie in höchster Erregung, »ich will nicht! Ihr könnt mich nicht zwingen. Du gehst jetzt in den Krieg, nachher ist alles ganz anders –«

Er ließ sie plötzlich los und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Gott's Donner, ja, der Krieg. Wo ist Vater?«

»Im Keller,« antwortete sie und wich erlöst bis an die Tür vor ihm zurück.

Er ging noch nicht gleich. »Wenn ich nun totgeschossen werde, du?« fragte er herausfordernd.

»Ja,« sagte sie mit blitzenden Augen, »dann kannst du mich nicht zwingen. Aber ihr sagt ja immer, hundert Preußen liefen vor einem einzigen Dänen davon.«

Er hörte den Hohn aus ihren Worten und stand im nächsten Augenblick wieder neben ihr. Was er wollte, wußte er selbst nicht so recht; sie packen, küssen, schütteln, zerdrücken in seiner zornigen Leidenschaft. Aber sie wich schnell vor ihm zurück bis auf die Diele. Als er ihr auch dorthin folgte, kam gerade eine von den Mägden auf klappernden Holzschuhen vom Hofe herein. Er trat wütend mit dem Fuß auf und ging nun in den Keller hinunter zu Jens.

Gesine setzte sich mit zitternden Knien auf die Holzbank in der Küche. Sie mochte nichts tun und nichts denken. Alles in ihr sträubte sich gegen Thies, empörte sich gegen ihn, und sie wußte nicht, woher es kam. Früher hatte sie ihn doch gemocht, aber jetzt hatte sie immer das Gefühl, als ob er ihr etwas rauben wollte, etwas Heiliges, Kostbares, was sie nicht hätte nennen können. Daß ihr doch niemand gegen ihn half, niemand ihr beistand! Mit gerungenen Händen saß sie da, bis die Suppe für die Mutter beinah überkochte. Sie brachte sie ihr nun, und aus Angst, Thies noch einmal zu begegnen, blieb sie bei ihr sitzen.

Aus der Ferne hörte man jetzt ein Knattern.

»O Gott, o Gott,« rief Frau Larsen und fuhr aus den Kissen auf, »was ist das?«

Gesine war aufgestanden und an das Fenster getreten. »Schießen,« sagte sie. »In der Büffelkoppel ist ein Gefecht.«

Da warf sich Frau Larsen mit einem Aufschrei wieder zurück und zog sich die Kissen über die Ohren.

»Wir werden wohl noch Schlimmeres erleben, als dies,« dachte Gesine und setzte sich ans Fenster, dessen Scheiben ab und zu leise klirrten.

Jens und Thies hatten indessen ein langes, eifriges Gespräch im Keller. Als sie wieder heraufkamen und über die Dielen schritten, flutete die Sonne durch die Hoftür und spann einen goldenen Schimmer um den Balken mit der deutschen Inschrift. Aber Jens sah nicht hin. Thies ging gleich fort, ohne Frau Larsen und Gesine noch zu sehen.

Abends kamen die Preußen zurück. Sie hatten weite Märsche gehabt und bei der Büffelkoppel im Gefecht gestanden; man sah ihnen die Abspannung an, als sie in den Hof einrückten. Die Offiziere verlangten nun von Jens Verpflegung für die Mannschaften. In seinem Gesicht lag der ganze unbeugsame Bauerntrotz. Er sah all die hungernden, müden Menschen, aber er machte eine bedauernde Bewegung und sagte: »Nix da, alles weg.«

Der Offizier wurde ärgerlich. »Wir wollen es ja doch bezahlen!« schrie er.

Aber Jens zuckte die Achseln und sagte auf Dänisch: die dänische Einquartierung, die vorher auf dem Larsenhof gewesen war, hätte alles aufgegessen. Auf mehr ließ er sich nicht ein, und die Offiziere kehrten ihm mißmutig den Rücken.

»Der Kerl lügt ja wie gedruckt,« sagte einer der jüngeren Herren. Das Haus wurde nach Eßwaren durchsucht, aber es wurde nichts gefunden. So hatten die Soldaten an diesem Abend nichts als Milch, die sie sich aus dem Kuhstall holten.

In Gesines früherer Schlafkammer lagen drei Verwundete. Sie hörte sie stöhnen, als sie an der Tür vorbeiging, und da trat sie ohne Zögern ein, trotzdem ihr Vater ihr verboten hatte, ein Wort mit den Preußen zu sprechen. Sie lagen auf den Betten und waren nur notdürftig verbunden; der Arzt war noch nicht auf dem Larsenhof gewesen. Einer war ohnmächtig. Gesine fand, daß sie mancherlei für sie tun konnte. Sie holte ihnen Wasser und half ihnen, die schmerzenden Glieder in eine andere Lage zu bringen. Dann ging sie in die Küche, wo die Soldaten sich schon wieder um den Herd gesetzt hatten. Sie rückten jetzt ein bißchen zur Seite, und sie kochte eine Suppe für die Kranken.

Es war schon beinah zehn Uhr, als Jens und Gesine noch einmal auf die Hohe Koppel hinaufgingen. Sie hatten beide das Bedürfnis, noch einmal dort zu stehen und sich den frischen Wind um den Kopf wehen zu lassen. Die Nacht war sehr dunkel; sie hatten Mühe, den Weg durch den Garten und auf das Feld hinauf zu finden. Im Hause waren noch viele Fenster erleuchtet, und es drang ab und zu ein heller Ton oder ein Geräusch von dort durch die stille Nacht. Aber über dem Sundewitt lag undurchdringliche, schweigsame Finsternis, nur nach Düppel zu lohten zwei hohe Feuer auf. Gesine zitterte vor Kälte und innerer Erregung.

»Was ist das wohl für Feuer?« fragte sie.

Jens antwortete nicht sogleich: sie hörte ihn nur schwer atmen. Endlich sagte er: »Petersgaard und der Krug von Wilhoi werden heute niedergebrannt.«

Gesine wollte etwas fragen, aber sie brachte kein Wort heraus; sie zitterte so, daß ihr die Zähne aufeinanderschlugen.

Nun sagte Jens mit schwerer Stimme: »Viele Gehöfte werden jetzt niedergebrannt, damit sie den Preußen keine Deckung und Zuflucht bieten.«

»Viele Gehöfte werden niedergebrannt,« wiederholte Gesine ganz mechanisch, und sie hatte das Gefühl, als legten sich die Finsternis und das tiefe Schweigen um sie her wie eine schwere Last auf sie.

»Wir wollen es Mutter nicht sagen,« meinte Jens nach einer kurzen Pause.

»Nein.«

Weiter sprachen sie nicht mehr davon; aber als sie ins Haus zurückgingen, hatten sie das Gefühl, als stünde ein schweres Schicksal über ihnen.

In der nächsten Zeit waren sie mitten im Kriegsleben. Truppen kamen und zogen wieder fort, Verwundete wurden gebracht und von den Ärzten verbunden. Gefechte fanden in nächster Nähe des Hofes statt, Fliehende versteckten sich in seinen Mauern. Frau Larsen hatte sich sogar schon an das Schießen gewöhnt und schlief bei dem knatternden Gewehrfeuer ruhig ein. Sie war immer noch krank, fieberte und hatte Schmerzen. Was ihr fehlte, wußte man nicht, zum Arzt konnte man jetzt nicht schicken, und als Gesine einmal vorschlug, man möchte doch einen von den preußischen Ärzten bitten, sie zu untersuchen, wurde dies von den Eltern empört zurückgewiesen.

»Die geben mir Gift,« sagte Frau Larsen, »da will ich lieber so sterben.«

Von den Schanzen erscholl der rollende Donner der schweren Geschütze, und jeden Tag konnte man von der Hohen Koppel aus die Feuersäulen zählen, die von den brennenden Gehöften gen Himmel stiegen. Jens Larsen stand jetzt oft dort oben und dachte daran, wie es zur Wahrheit geworden war, was er an dem Nachmittag, als Gesine und Thies sich miteinander versprachen, ahnend vorausgesehen hatte: das Sundewitt stand in Flammen – und die Kanonen dröhnten und übertönten das Branden der See!

Er hielt sich in diesen Tagen auch viel in den Ställen und Scheunen auf, hörte zu, wenn die Soldaten sprachen, und tat hier und da eine Frage. Abends ging er oft fort und kam erst spät in der Nacht zurück. Wo er gewesen war, wußte niemand. Aber einmal richtete er Gesine Grüße von Thies aus. Da wußte sie, daß ihr Vater den Dänen heimlich Nachrichten von den Preußen brachte. – Und von dieser Stunde an schlug sie die Augen nieder, wenn sie unter dem Balken mit der deutschen Inschrift durchging.

Sechstes Kapitel.

Die Einquartierung hatte den Larsenhof verlassen, und es kam nicht unmittelbar darauf eine neue. Die Zusammenstöße zwischen beiden Armeen fanden jetzt weiter nördlich statt.

Jens und Gesine gingen zusammen durch das verlassene Haus. Überall lag Stroh umher, kein Stück Möbel stand mehr auf seinem richtigen Platz. Die Fußböden waren mit Schmutz und Lehm bedeckt, fast wie mit einer Kruste überzogen. In der Kammer der Verwundeten lagen Verbandzeug und blutige Watte umher; in einem andern Raum zwischen dem Stroh fand sich ein abgerissenes Spiel Karten. Große Nägel waren in die Wände geschlagen, und an einigen Stellen hingen die Tapeten in Fetzen herunter. Gesine versuchte aufzuräumen. Sie stellte hier etwas zurecht und rückte dort einen Tisch an seine richtige Stelle; dann fing sie an, die Betten abzuziehen und das Stroh zusammenzukehren. Aber schließlich erlahmte sie, da sie in jedem Winkel und jedem Raum denselben Schmutz und dieselbe Unordnung fand. Alle Mägde mußten heran und helfen, aber sie waren unlustig zur Arbeit geworden in dieser Zeit, und es ging ihnen nur langsam von der Hand.

Mittags, als sie mit hochgeschürztem Rock oben stand und selbst einen Fußboden scheuerte, sah sie durch das Fenster dänische Kavallerie auf den Hof reiten; es waren etwa zwanzig Mann und ein Offizier. Die Mägde waren sofort an den Fenstern.

»Dor sünd all wedder welcke. Nu sünd dat Dänen.«

Es war ihnen gleich, ob es Dänen oder Preußen waren. Sie machten die Fenster auf und lachten und ließen ihre Arbeit ruhen. Wenn da schon wieder welche kamen, hatte es ja auch keinen Zweck, erst reinzumachen.

Der Offizier rief einen Befehl, und die Soldaten saßen ab. Er gab sein Pferd einem Mann und trat ins Haus.

Gesine brachte ihre Kleider in Ordnung und strich sich über das Haar. Sie mußte hinuntergehen, denn es war niemand dort, um den Offizier zu empfangen. Eine dumpfe Schwere lag ihr in allen Gliedern. Als sie die Treppe hinabstieg, hörte sie ihn schon laut rufen und mit seinem Säbel gegen die Holztruhe schlagen, die auf der Diele stand.

»Ah, endlich,« sagte er, als sie kam. Als sie vor ihm stand, griff er ihr mit der Hand unter das Kinn und sagte: »Tag, mein schönes Kind. Rufen Sie mir mal den –« er sah in ein Schriftstück, das er in der Linken hielt, – »Jens Larsen, Hofbesitzer auf dem Larsenhof.«

Gesine war einen Schritt vor ihm zurückgewichen, aber sie blieb noch wie gebannt stehen und sah ihn flehend an. Was wollte er, was stand in dem Schriftstück? Eine jähe Angst überfiel sie.

»Was – was soll er – was ist?« fragte sie mit bebenden Lippen.

Der Offizier sah in ihr totenblasses Gesicht. »Sind Sie seine Tochter?«

»Ja.«

Ein mitleidiger Zug ging über sein junges Gesicht, und er sagte: »Holen Sie ihn nur. Es geschieht ihm nichts. Ich muß ihn aber sprechen.«

Nun ging sie und holte Jens aus dem Kuhstall. Er sagte kein Wort, als sie ihm mit zitternden Lippen bestellte, daß ein dänischer Offizier da wäre und ihn sprechen wollte, aber er ließ alle Arbeit stehen und liegen und richtete sich mit schwerem Atemzuge auf.

Der Offizier stand noch auf der Diele und zog mit seinem Säbel ein paar Rillen im Fußboden nach, als Jens und Gesine kamen.

»Jens Larsen vom Larsenhof?« fragte er.

»Ja.«

»Ich habe hier – lassen Sie uns in die Stube gehen, ja?«

Jens öffnete die Wohnstubentür, und sie traten zusammen ein. Der Offizier nahm wieder das Schriftstück vor.

»Ich habe Befehl, den Larsenhof niederbrennen zu lassen,« sagte er nun kurz und dienstlich, »hier –« er wies auf das Schriftstück – »zwei Stunden gebe ich Ihnen Zeit, das Wertvollste zu retten und das Vieh in Sicherheit zu bringen. Was von den Pferden militärbrauchbar ist, wird requiriert. Auch sonst werde ich sehen, was brauchbar ist –«

Jens stand wie erstarrt, als hätte er den Sinn dieser Worte gar nicht ganz erfaßt. Aber plötzlich fuhr er auf. Seine Augen fingen an zu blitzen, und es sah aus, als wollte er sich auf den Mann stürzen, der da so ruhig das Furchtbarste aussprach, was ihm geschehen konnte.

»Den Larsenhof? Abbrennen?« schrie er. »Meinen Larsenhof? Sind Sie verrückt? Ich bin Peter Jens Larsen, dies ist mein Hof und mein Haus. Gehen Sie raus – machen Sie, daß Sie raus kommen, ich ...« Die Stimme versagte ihm.

Gesine klammerte sich an seinen Arm. »Vater, wir müssen ruhig sein. Das ist der Krieg. Es ist andern auch so gegangen. Komm, wir müssen dran denken, was wir retten wollen.« Aber nun brach auch ihre Stimme, und wie ein Wehlaut kam es von ihren Lippen: »Die Mutter!«

Da schrie Jens auf wie ein wundes Tier. »Ich hab' eine kranke Frau, Mensch!«

Der Offizier zuckte nur die Achseln. Er hatte solche Szenen jetzt schon oft genug erlebt und war dagegen abgestumpft. »Packen Sie sie in einen Wagen.«

»Aber wo soll ich hin mit ihr?«

»Das ist Ihre Sache. Ich habe kein Spital für kranke Weiber. Besinnen Sie sich nicht lange. Die Zeit geht hin.«

Er wandte sich zum Gehen, aber Jens stürzte sich ihm entgegen und packte ihn vorn am Rock.

»Mensch, das ist mein Haus! Sie dürfen das nicht! Ich bin dänisch, ich habe den Dänen Dienste geleistet – bei Nacht hab' ich mich an den Preußen vorbeigeschlichen und habe den Dänen Nachrichten gebracht –«

»So!« Der Offizier maß Jens mit einem langen Blick und machte sich mit einem Ruck von seinem Griff frei. Dann faßte er den Korb seines Säbels fester und sagte kühl: »Wenn Sie jetzt nicht ruhig sind, lasse ich alles Lebende aus dem Hause schaffen und den Hof sofort anzünden. Überlegen Sie sich das.«

Er ging nun hinaus und rief den Soldaten einen Befehl zu; laut und scharf klang der Ton seiner jungen, hellen Stimme durch die klare Winterluft.

In der nächsten halben Stunde wußte auf dem Larsenhof niemand recht, was er tat. Jeder lief umher, schleppte aus dem Hause, was ihm unter die Finger kam, und legte es draußen achtlos nieder. Gesine dachte wieder an die Mutter, und da kam Ruhe und Besinnung über sie. Frau Larsen war im Fieber, so daß sie von der großen Erregung im Hause kaum etwas merkte. Gesine packte ihre Sachen, ließ Betten auf einen Wagen bringen und überdachte alles, was sie zur Pflege für die Mutter nötig hatte. Es war eine unnatürliche Ruhe über sie gekommen, an sich selbst, an die Zukunft und was nun werden sollte, dachte sie gar nicht, als könnten ihre Gedanken über das Nächstliegende nicht hinaus.

Jens ließ das Vieh aus den Ställen treiben, Wagen anspannen und Sachen aufladen. Die besten Pferde und einige Stück Rindvieh hatte der Offizier gleich mit Beschlag belegt. In Jens sah es nicht so ruhig aus wie in Gesine, ein nagender Schmerz bohrte in seinem Innern, und manchmal packte ihn die Verzweiflung. Er hätte alles mitnehmen mögen, jedes Stück Hausrat, es war ihm ja alles ans Herz gewachsen, es gehörte zu ihm wie der Larsenhof zu ihm gehörte, wie ein Stück seiner selbst, und in dumpfer Verzweiflung rannte er gegen die Mauern an und breitete die Arme aus, als wollte er sie fassen und halten. Noch stand Stein auf Stein, das trotzige Gefüge der Balken, noch stand er, der schöne, stolze Larsenhof, aber die Minuten verstrichen, und wenn die Stunde um war, dann warfen Menschenhände den Feuerbrand in das Dach, und alles würde in Flammen aufgehen.

»Nein, das soll nicht sein, das darf kein Mensch!« schrie er ein paarmal. Aber niemand kümmerte sich darum.

Die Soldaten waren auch geschäftig; sie schleppten Säcke und Stroh, und einer, der mit blassem Gesicht und verkniffenem Mund die Befehle ausführte, war Thies. Er sollte selbst den Brand in das Haus werfen, das er sich in Gedanken schon zu eigen gemacht hatte.

Jens nahm tausend Abschiede, von jedem Raum und von jedem Stück, und alles stürmte mit Erinnerungen auf ihn ein, frohen und ernsten in buntem Wechsel. Dann wurde er wieder von der Hast und der fiebernden Erregung mitgerissen, die alle ergriffen hatte, und er schleppte hinaus, was ihm gerade unter die Hände kam.

Auch die Mägde retteten das Ihre. Sie rissen die kleinen, bunten Bildchen von den Wänden, die sie vom letzten Jahrmarkt mitgebracht hatten, und packten kleine, blinde Spiegelscheiben sorgsam ein. Sie zerrten ihre großen, schweren Holzkoffer selbst mit übergroßer Kraft aus dem Hause hinaus und standen dann jammernd daneben und riefen, man sollte ihnen helfen, die Kisten auf einen Wagen zu laden.

Nun waren die beiden Stunden um. Der Offizier sagte es Jens; er hatte schon die ganze, letzte Zeit die Uhr in der Hand gehabt. Jens fuhr sich mit dem Rockärmel über die Stirn, auf der ihm dicke Schweißtropfen standen, und ging dann zu seiner Frau. Er hatte in den letzten beiden Stunden kaum an sie gedacht. Nun nahm er sie mit Kissen und Decken auf seinen Arm und trug sie hinaus auf den Leiterwagen, auf dem Gesine schon ein Lager für sie zurecht gemacht hatte. Frau Larsen merkte nicht viel davon.

Gesine blieb noch ein Paar Sekunden in der Stube stehen, nachdem die Eltern hinaus waren, und sah sich mit leeren Blicken um. Ihr war, als hielten eiserne Klammern ihr Herz umfaßt und preßten es zusammen. Sie raffte noch ein paar Sachen der Mutter zusammen und wollte damit hinausgehen, da sah sie zufällig aus dem Fenster und erblickte Thies. Sie wußte, daß er da war. Aber nun stand er auf dem Hof mit einem finsteren, verschlossenen Gesicht, und sein Blick ging langsam von den Scheunen und Ställen bis zum Wohnhaus. Er nahm Abschied davon. Nicht mit dem Herzen, wie sie und ihr Vater. Es war ihm nicht die Heimat, die Scholle, auf der er groß geworden war, auf der sein Dasein wurzelte, es war ihm nichts als der Besitz, den er sich in Gedanken schon zu eigen genommen hatte. Nun mußte er selbst die Brandfackel hineinwerfen. Plötzlich kam eine wilde Freude über sie. Sie stieß das Fenster auf und rief laut seinen Namen. Er fuhr zusammen, sah sie und kam heran.

»Da oben unter dem Dach liegt viel Stroh,« rief sie, »dort steckt das Feuer an, da brennt's am besten.«

Er krallte beide Hände um das Fensterkreuz und drückte das Gesicht dagegen. »Ich kann's nicht. Ich rühr' keine Hand,« stieß er hervor.

»Du kannst's nicht, du?« Sie lachte auf. »Du bist doch ein so großer Preußenhasser und solch ein Dänenfreund. Da kannst du nicht ein Haus niederbrennen, das den Preußen Schutz und Deckung ist? Kannst du nichts opfern?«

Er sah sie erstaunt an. »Was redest du da?«

Sie nickte. »Ja, nun ist Krieg, nun wird alles ganz anders. Ich hab' es ja immer gesagt.« Sie jubelte förmlich. »Und wenn der Krieg zu Ende ist, dann hol dir deine Braut hier von dem Trümmerhaufen.«

Nun riß sie die Sachen zusammen, die sie noch mitnehmen wollte, ließ ihn stehen und eilte hinaus. Als sie dann neben dem Wagen stand, in dem die Mutter schon lag, und die Frage an sie herantrat, wohin mit der Kranken in diesem von Soldaten überschwemmten Lande, da packte auch sie die Verzweiflung, und sie warf sich ihrem Vater in die Arme. So standen die beiden lange, sich umfaßt haltend, fast betäubt von ihrem grenzenlosen Schmerz.

»Wo sollen wir hin?« fragte Gesine endlich.

Jens wies auf den Weg, der zur Chaussee führte. »Fahrt da hinunter und dann nach Gravenstein zu. Vielleicht nimmt euch jemand auf. Ich komme nach, ich muß es sehen.«

Sie klammerte sich an ihn. »Nein, Vater, komme mit uns, bleib nicht hier, sieh es nicht mit an.«

Aber Jens schüttelte den Kopf. »Ich muß es sehen.« Es war, als wenn er nichts weiter mehr denken könnte.

Gesine stieg nun zur Mutter auf den Wagen, der Knecht ergriff die Zügel, und die langsame, traurige Fahrt in die Ungewisse Zukunft hinein begann.

Jens blieb auf dem Hof stehen und sah ihnen nach. Zwei Wagen mit Sachen folgten, und die Mägde gingen nebenher und schleppten noch allerlei mit. Der Kuhfütterer trieb das Rindvieh vor sich her. Als alles aus dem Hof heraus war, ertönten die Kommandorufe des Offiziers. Jens hatte nicht darauf geachtet, nun wurde er fast umgerannt, und da rief der Offizier: »Weg da, Sie haben hier nichts mehr zu suchen!«

Er sah sich um wie einer, der nicht recht versteht, was man ihm sagt.

»Ach so,« murmelte er vor sich hin, »ich habe hier nichts mehr zu suchen.«

Dann ging er schwer und langsam auf die Hohe Koppel hinauf. In den Tagen vorher hatte es viel geregnet, aber heute nacht war starker Frost eingetreten, und die Luft war klar. Von den preußischen Strandbatterien her dröhnten die Schüsse und ließen manchmal den Erdboden erzittern. Jens Larsen hatte für die Weite heut kein Auge, seine Blicke waren nur auf den Larsenhof gerichtet. Noch stand er. Die Sonne flutete darüber hin und beleuchtete jeden Balken und jeden Winkel, als wollte sie ihm jede Einzelheit noch einmal so recht vor Augen führen. Jens ließ seine Blicke langsam darüber hingehen und hatte ein Gefühl dabei, als sähe er nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen. Oben am Giebel die geschnitzten Pferdeköpfe und das Storchnest dazwischen, das Strohdach, das er im Frühjahr ausbessern lassen wollte, das ihn geschützt hatte, solange er lebte, die ausgetretenen Stufen an der Hintertür, die in den Garten führten, alles, alles sah er noch einmal an.

Die Stimmen der Soldaten drangen zu ihm herauf, Befehle wurden gegeben – und dann war es auf einmal geschehen. Flammen zuckten auf und griffen weiter, leckten an den Mauern entlang und sprengten die Fensterscheiben. Glühende Balken stürzten, und brennendes Stroh flog in die Luft. Bald war alles nur noch ein einziges, großes, flammendes Feuer. Jens brauchte nicht die Augen zu schließen, um es zu sehen, wie an jenem Nachmittag, als die Sonne ihn blendete; er sah es mit offenen Augen. Und was da vor ihm in Flammen und Rauch aufging, war sein Larsenhof!

Es kam jetzt auch über ihn eine Ruhe, ein Gefühl von Unpersönlichkeit, wie er es bis dahin noch nicht gekannt hatte. Als läge ein Nebel zwischen ihm und der Welt, als ginge ihn alles, was hier geschah, nichts an. Sein Leben lag vor ihm wie das eines Fremden, und er überschaute es und unterschied, was gut darin gewesen war und was böse, und er erkannte, daß es auf einer großen Lüge aufgebaut war und auf einer großen Schuld. Er hatte ja immer Inge Hansen geliebt, und er tat es auch jetzt noch – und sein Zusammenleben mit der kranken Frau, die man jetzt in die Kälte hinausfuhr, ohne zu wissen, wo sich ein schützendes Dach für sie finden würde, war eine große Lüge.

Inge war die eine große Liebe seines Lebens, und doch hatte er an ihr gesündigt. Er hatte ihr die Pforten des Larsenhofes nicht geöffnet, sondern sie draußen stehen lassen mit ihrer großen, stolzen Liebe, und in sein Haus hatte er eine andere geführt, die er nicht liebte, die aber Ansehen besaß, weil sie reich war.

Ihm war auf einmal zumute, als ob die Mauern des Larsenhofes sich dagegen empörten und deshalb in lohenden Flammen blutigrot gen Himmel stiegen.

Als sie beide in der vollen Blüte ihrer Kraft und Schönheit standen, hatten sie sich gefunden, er und Inge Söderssen. Beim Ringreiten in Rackebüll hatten sie sich zum ersten Male gesehen, und jede Einzelheit ihrer Begegnung stand ihm noch so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Er war so recht gelangweilt und hochmütig über den Platz geschlendert, ganz in dem Bewußtsein, die begehrteste Persönlichkeit auf Meilen im Umkreise zu sein. Seine Eltern lebten nicht mehr, er hatte schon den großen, schönen Hof, war jung, gesund und von kraftvoller Schönheit. Da war es ja kein Wunder, daß all die Mädchen ein Auge auf ihn warfen, daß die Väter ihm ihre Töchter anpriesen und ihm aufzählten, wieviel Mitgift sie geben könnten. Aber ihn langweilte es. Er machte sich aus all den Bauerntöchtern nichts und dachte noch nicht ans Heiraten. Als das eigentliche Ringreiten vorüber war, wollte er nach Hause gehen; zum Tanzen oder Würfeln hatte er keine Lust. Er schob sich zwischen den Menschen durch, die die Buden umlagerten, worin Süßigkeiten, bunte Bänder und kleine Andenken feilgeboten wurden, gleichgültig gegen all die Blicke, die ihm begegneten. Da stand plötzlich ein schönes, großes Mädchen vor ihm. Sie biß gerade mit kräftigen gesunden Zähnen in einen Kuchen hinein und lachte ihn mit leuchtenden blauen Augen fröhlich und unbefangen an. Wie ein Schlag ging es ihm durch den ganzen Körper, und er blieb stehen und starrte sie wie eine Erscheinung an.

»Schmeckt's?« fragte er endlich.

Sie lachte vergnügt. »Fein!«

Dann ging sie mit ihrer Freundin zur Würfelbude. Natürlich kam er mit. Ihre Freude und ihr Eifer steckten ihn ordentlich an, Dabei mußte er sie immer ansehn. Er meinte, so etwas Schönes wie sie hätte er noch nie gesehen; sie war so blühend, so gesund, so voll Jugendkraft und Lebensfreude. Nachher tanzten sie zusammen. Ihm wurde ganz heiß, als er sie im Arm hielt und fühlte, wie ihr weicher, junger Körper sich an ihn anlehnte und ihr Atem seine Wangen streifte. Er ließ sie keinem andern Tänzer, und abends durfte er sie nach Hause bringen. Leider wohnte sie nicht weit, ganz nah bei Rackebüll hatte ihre Mutter eine kleine Kate. Aber es war doch ein einsamer Weg durch stille Felder in warmer Sommernacht. Sie war nicht mehr so übermütig und vergnügt wie auf dem Festplatz, sie hielt den Kopf gesenkt und atmete schwer, und als sie das Haus erreicht hatten, rief sie schnell »gute Nacht«, gab ihm nicht einmal die Hand und lief hinein.

Er stand noch eine ganze Weile wie verzaubert, und die nächsten Tage hatte er keinen anderen Gedanken als den: wie er sie wiedersehen könnte. Er hörte nun nach ihr herum. Sie war ein Tagelöhnerkind, der Vater lebte nicht mehr, und sie und die Mutter arbeiteten auf den Höfen bei den reichen Bauern und wo es was zu tun gab.

Natürlich sah er sie bald wieder. Er sagte es ihr ja nicht, daß er tagelang herumgelaufen war und ausgekundschaftet hatte, wo sie wohl zu treffen wäre, er tat, als wäre es ganz zufällig, daß er ihr begegnete, als sie mit geschultertem Rechen vom Felde kam. Sie duldete seine Begleitung, aber sie war stolz und spröde. »Wie Glas!« dachte er und merkte nicht, daß sie gerade dadurch den größten Zauber auf ihn ausübte.

Nun trafen sie sich öfter, aber sie blieb sich immer gleich. Nur einmal verriet sie sich. Sie hatte ihn nicht von weitem kommen sehen, ganz unvermutet stand er plötzlich vor ihr, – und da schlug ihr eine helle Flamme ins Gesicht, und eine heiße Freude leuchtete ihr aus den Augen. »Wart,« dachte er, »nun nützt dir dein Stolztun nichts mehr.«

Er bat, sie möchte abends mit ihm zum Tanz kommen. Sie zögerte mit der Antwort, aber dann sagte sie zu. Den ganzen Abend war sie still und ernst, ihr ganzer Übermut war weg. Sie lag schwer in seinem Arm beim Tanzen, und wenn er sie an sich zog, atmete sie beklommen. Schließlich sagte sie, sie wollte nicht mehr tanzen. Es war so heiß und dunstig im Saal, und draußen war der Sommerabend so schön. Ihm war es recht. Sie gingen durch den Garten, wo die, die nicht tanzten, sich beim Kegelschieben die Zeit vertrieben, und dann weiter hinaus aufs Feld. Da war es still und einsam. Das Korn stand stolz und gerade aufrecht, es war schon fast mannshoch und bewegte sich kaum in der weichen, stillen Luft. Die schmale Mondsichel stand blaß am Himmel.

Sie gingen auf dem schmalen Weg durch das Korn und sprachen nicht. Über der ganzen Welt lag ein wunderbares Schweigen. Da blieb Jens Larsen stehen und zog die schöne, stolze Inge Söderssen in seine Arme. Nun war sie nicht mehr stolz und spröde, ganz willenlos und schwach ruhte sie an seinem Herzen und wehrte sich nicht, als seine heißen Lippen die ihren suchten. Und das große, heilige Geheimnis der Liebe schlug langsam die Augen auf und sah ihnen ins Herz.

Von da an sahen sie sich fast täglich. Es gab eine kleine Bank am Waldesrand, zu der sie beide etwa eine halbe Stunde zu gehen hatten; dort trafen sie sich fast jeden Abend. Sie war meistens eher da als er, und wenn sie ihn kommen sah, flog sie ihm entgegen, und er fing sie in seinen Armen auf und trug sie zur Bank zurück. Dann kam sie die erste halbe Stunde nicht zu Atem – so küßte er sie, und sie bot ihm willig die frischen, blühenden Lippen und lachte und sagte: »Küß dich satt!« Aber es stellte sich heraus, daß er nie satt wurde.

Sie gab ihm aber mehr als dieses süße Liebesglück, sie wurde sein Freund und Kamerad. Mit allem, was ihn drückte und quälte, kam er zu ihr. Es war merkwürdig, daß er, der reiche Jens, immer viel mehr Sorgen hatte als sie, die arme Inge. Er war aufbrausend und jähzornig und hatte oft Streit, und der große Hof und die vielen Leute brachten so viel Ärger. Aber wenn sie ihm dann über die Stirne strich und fragte: »Armer Jens, was ist denn wieder?« – dann war der Ärger schon halb verflogen. Oder wenn sie auf einmal in all seine kleinen Sorgen hinein so frisch und fröhlich lachte, dann wurde es plötzlich hell in ihm. Und wenn es ernster war, wenn er nicht so schnell loskommen konnte, dann stand sie an seiner Seite und half ihm treu und unermüdlich, bis er darüber hinweg war.

Sie dachte nie daran, daß eine Kluft zwischen ihnen bestünde, weil er der reiche Jens vom Larsenhof war und sie die arme Inge. Sie glaubte, daß ihre Liebe größer wäre als dies, und ihr Vertrauen zu ihm war unerschütterlich. Es fiel ihr auch nicht auf, daß er nie davon sprach, daß sie seine Frau werden und zu ihm auf den Larsenhof ziehen sollte.

Er dachte in der ersten Zeit auch nicht weiter nach, sondern genoß das schöne, junge Glück, ohne sich um die Zukunft viel Sorgen zu machen. So ging fast ein Jahr hin. Dann drängte sich ihm aber doch die Notwendigkeit auf, zu heiraten, eine Frau auf den Hof zu bringen. Aber nun meinte er, Inge könnte das nicht sein. Sie war ein armes Tagelöhnerkind und arbeitete in Brot und Lohn bei den Bauern, über die er sich noch hoch erhaben vorkam. Nein, das ging unmöglich, er wäre herabgestürzt von seiner Höhe, er wäre nicht mehr der gewesen, der er war, sie hätten ihn über die Achsel angesehen, über ihn gelacht, gespottet.

Zu dieser Zeit lernte er die reiche Witwe von Gerd Matthiessen kennen, die ihm deutlich zeigte, daß er ihr gefiel. Sie war eine kleine, zarte, schüchterne Frau, und er dachte, daß die ihm nicht unbequem werden würde. So brachte er denn die Sache in Ordnung, als er sie zum dritten Male sah. Ganz im stillen hatte er gedacht, es brauchte ja zwischen ihm und Inge gar nicht anders zu werden, wenn er sich verheiratete. Warum sollte dies, was das Schönste in seinem Leben war, aufhören, bloß weil eine blasse, stille Frau auf dem Larsenhof war, die seinem Herzen ganz fern stand? Sie nahm ihn ja doch auch nur, weil sein Hof in der ganzen Gegend der schönste war. Es war ihm deshalb auch noch gar nicht klar geworden, daß er sich an Inge und sich selbst versündigte, indem er ihre Liebe mit Füßen trat.

Dann kam die Stunde, in der er ihr's sagte. Daran dachte er nicht gern zurück. Sie hatte es ihm zuerst nicht geglaubt. Er hörte noch ihr helles, frohes Lachen, womit sie ihm darauf geantwortet hatte, wie auf einen guten Witz. Dann hatte sie ihm den Hut vom Kopfe genommen und ein paar Heckenrosen daran gesteckt, die sie unterwegs für ihn gepflückt hatte. Als sie ihm den Hut dann wieder aufsetzte und ihn dabei ansah, ging es aber doch wie ein Schreck durch ihre Gestalt. Sie kannte ihn ja so gut, sie las ja in jeder Linie seines Gesichts, – und da wußte sie plötzlich, daß es wahr war.

Er konnte sich jetzt nicht mehr darauf besinnen, ob er noch viel gesagt hatte oder wenig, ob sie darauf geantwortet hatte oder nicht. Er wußte nur, daß sie von ihm gegangen war, ganz blaß, mit ganz starren Augen. Für ihn begann dann dies Leben voll kleinlicher Sorgen und Unruhen, das ihn in seinem Innern zu einem einsamen Mann machte.

Jens Larsens Gedanken schweiften immer noch in Erinnerungen.

Es war damals in der Gegend natürlich kein Geheimnis geblieben, daß er und Inge sich lieb hatten, und so kam's, daß dieser und jener eine Bemerkung über sie in seiner Gegenwart hinwarf. Sie arbeite fleißiger denn je, hieß es. Ihre Mutter war krank und konnte nicht mehr mit verdienen, sie mußte also für beide sorgen. Dann starb die Mutter.

Sie hieß jetzt in der ganzen Gegend nur »die schöne Inge«, und viele bewarben sich um sie, trotzdem sie ganz arm war. Aber sie erhörte keinen. Bis sie zwei Jahre nach Jens Larsens Heirat Peter Hansens Frau wurde. Sie hatten sich dann manchmal gesehen, Jens und Inge, flüchtig, wenn er im Wagen an ihrem kleinen Hause in Nübel vorüberfuhr, oder Sonntags in der Kirche, aber gesprochen hatten sie nie miteinander. Die Jahre gingen hin und heilten langsam die blutenden Wunden, und nun hatte der Zufall sie in der letzten Zeit ein paarmal zusammengeführt.

... Das Dach des Kuhstalles war soeben eingestürzt, und hohe Funkengarben sprühten auf. Ein leichter Wind hatte sich aufgemacht und trieb die Rauchwolken gegen die Hohe Koppel. Jens fuhr sich mit der Hand über die Augen. Sie schmerzten ihn, als hatte er zu lange in die Sonne gesehen.

Die Soldaten liefen noch hin und her. An einer Stelle war das Feuer wieder erloschen. Ja, da war die Mauer so dick, da würden sie wohl noch Mühe haben! Sie schleppten Säcke heran und hantierten daran herum, dann liefen sie alle fort, es gab einen Knall, und die Mauer stürzte ein.

Jens hatte alles mit Interesse verfolgt. Auch mit Mauern wurden sie fertig! Nichts hielt stand; die Balken glühten und brachen zusammen, die Mauern flogen als Staub und Schutt in die Luft.

Er lachte plötzlich auf, und ein grimmiger Zorn gegen den Larsenhof packte ihn.

»So bist du,« rief er, »so! Stehst nicht fest, hältst nicht aus! Ha! Und ich hab' mein Leben verruiniert für dich! Ja, für dich! Du bist an allem schuld, du allein!« Er lachte wieder auf in ohnmächtiger Wut. »Wenn du nicht gewesen wärst, wär' alles anders gekommen. Aber jetzt – jetzt –«

Er sah so aus, als wollte er jetzt noch sein Schicksal meistern. Rasch bückte er sich, hob einen großen Stein auf und warf ihn in die prasselnde Glut. Gespannt verfolgte er ihn mit den Augen, und als er in den Flammen verschwunden war, sammelte er ringsum die Steine und schleuderte einen nach dem andern auf den brennenden Hof. Ein auflodernder Zorn, eine grimmige Wut überkam ihn mit elementarer Gewalt Im Grunde war es wohl der Zorn gegen sich selbst, der sich plötzlich bei ihm Luft machte und den er nun an seinem Hof ausließ.

»Da! So! Du hast schuld!« schrie er. »Du! So! Bautz! Bautz!« Endlich hielt er erschöpft inne und fuhr sich mit dem Ärmel über das erhitzte Gesicht. Dann zog er sich den Rock zurecht, hob seinen Stock vom Boden auf und wandte sich zum Gehen. Hier war er nun fertig, ganz fertig. Der Hof brannte immer noch, aber Jens sah nicht mehr zurück.

Er verfolgte den Weg so, wie er ihn Gesine vorgeschrieben hatte. Von den Wagen war nichts mehr zu sehen, sie hatten ja auch einen großen Vorsprung vor ihm. Seine Gedanken richteten sich nun notgedrungen auf die Zukunft, auf das Nächstliegende. Was sollte eigentlich werden, wie sollte sich alles gestalten, die nächsten Stunden, die Nacht, die Wochen und Monate, die jetzt kamen, das ganze Leben? Er wußte es nicht. Es war immer, als wenn er an einer Mauer stände, durch die er nicht hindurch konnte. Auf der Chaussee war es sehr lebhaft. Truppen in langen Zügen kamen, Wagen mit hohen Offizieren, Bauernfuhrwerke, Reiter. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Jens schritt stetig seinen Weg. Jedem, der ihm entgegenkam, hätte er zurufen mögen: »Wißt Ihr schon? Der Larsenhof brennt! Mein Larsenhof. Da der Feuerschein, das ist der Larsenhof! Die Dänen haben ihn angezündet. Ich bin der reiche Jens Larsen vom Larsenhof, aber ich habe kein Dach über dem Kopfe, und meine kranke Frau irrt im Lande umher und hat kein Unterkommen. Und ich habe mal gedacht, Inge Söderssen wäre nicht gut genug für mich.«

So gingen die Gedanken in seinem Kopf herum. Als er nach Nübel kam, sah er sich nach seinen Wagen um. Er meinte, sie hätten hier vielleicht Rast gemacht, aber er fand sie nicht. Das Dorf war von den Preußen besetzt, viele Bewohner hatten es verlassen, aber viele waren auch geblieben und standen sich gut mit ihrer Einquartierung. Daß Inge und Peter Hansen hier wohnten, hatte er noch gar nicht bedacht, bis er vor ihrem kleinen Hause stand. Da kam Gesine plötzlich aus der Haustür und flog auf ihn zu.

»Vater,« rief sie, »komm, wir sind hier. Mutter wurde so krank, daß wir nicht weiter konnten, und da haben sie uns hier aufgenommen.«

Es war, als wenn Jens jetzt plötzlich von seiner Kraft verlassen würde. Er stützte sich schwer auf seinen Stock.

»Hier?« fragte er. Die Stimme versagte ihm fast.

»Ja, komm. Wir haben eine kleine Kammer, und Peter Hansen und seine Frau wohnen in der Küche.«

Aber Jens rührte sich noch nicht. Seine hohe, kräftige Gestalt war ganz zusammengesunken. Ihm fehlte der Mut, hineinzugehen. Gesine wußte nicht, was sie mit ihm machen sollte. So wie sie ihn jetzt vor sich sah, kannte sie ihren Vater nicht. Da trat Inge Hansen aus dem Hause, streckte die Hand nach ihm aus und sagte: »Komm zu deiner Frau, Jens Larsen.«

Nun trat er ein. Anne Larsen lag in Inge Hansens Bett. Sie fieberte stark und erkannte Jens nicht. Er saß lange in der kleinen Kammer auf einem Brettstuhl und starrte vor sich hin. Gesine kam und erzählte ihm von ihrer Fahrt, und wie Inge Hansen sie bei sich aufgenommen hatte. Schließlich ging er in die Küche zurück. Peter war nun auch da und kraute sich verlegen den Kopf, als er Jens sah. Es war ihm peinlich, daß der reiche Jens Larsen vom Larsenhof nun kein anderes Unterkommen hatte als sein Haus. Er hatte das Gefühl, als müßte er als Hausherr etwas sagen, aber er wußte nicht was. Deshalb nahm er seinen Kaffeetopf, den Inge ihm eben gefüllt hatte, und schob ihn Jens hin.

»Kaffee ist immer gut, wenn's so kalt ist,« meinte er.

Jens trank. Dann sah er Peter an und fragte: »Kann ich wohl auch hier bleiben?«

Peter nickte, aber da fuhr Inge auf und rief mit fester Stimme: »Nein, Jens Larsen, für dich ist hier kein Platz.«

Peter strich sich mit der Linken an der Hosennaht entlang. »Im Holzstall ist noch Platz. Ich will da wohl alles zurechtmachen.«

Inge schüttelte den Kopf. »Nein, Peter, es ist mir zu viel Arbeit.«

»Na so,« sagte Peter ruhig, »ja, dann geht es nicht.«

Damit war für ihn die Sache abgetan, und Jens Larsen wußte, weshalb Inge Hansen mit keiner Frau im Sundewitt tauschte. Sie war für ihren Mann immer und unter allen Umständen das Höchste, und es gab nicht viele, denen das geschah. Zugleich aber schämte er sich, daß er überhaupt daran gedacht hatte, Peter und Inge Hansens Gastfreundschaft anzunehmen. Er hätte doch selbst wissen müssen, daß in ihrem Hause kein Platz für ihn sein durfte.

»Vielleicht findest du bei Fiete Musbeck noch ein Unterkommen,« meinte Inge.

Er nickte. »Ich will es versuchen.«

»Und dann kannst du deine Frau besuchen, so viel du willst.«

»Hm.« Er nickte wieder und ging.

»Für dich ist hier kein Platz,« tönte es ihm in den Ohren, während er im Dorf herumging wie ein Bettler und um ein Unterkommen bat. Schließlich wurde ihm erlaubt, bei Fiete Musbeck, der den kleinen Laden hatte, in dem Raum zu schlafen, in dem die Vorräte aufbewahrt wurden.

Siebentes Kapitel.

In der Nacht, die darauf folgte, war Frau Larsen so krank, daß Inge und Gesine aufblieben, weil sie das Schlimmste befürchteten. Sobald der Morgen graute, lief Gesine ins Dorf, um Hilfe zu holen. Sie dachte nicht mehr daran, daß ihr Vater die Preußen haßte und verboten hatte, einen deutschen Arzt um Rat zu fragen, sie dachte überhaupt nicht an Freund und Feind in ihrer Herzensangst. Im Schulhaus bei der Kirche war ein Johanniterlazarett eingerichtet. Sie ging ohne Zögern hinein und fand dort auch einen Arzt, der sich gleich bereit erklärte mitzukommen. Er untersuchte Frau Larsen lange, machte ein sehr ernstes Gesicht und verordnete allerlei.

Später kam Jens. Gesine fürchtete sich nun doch davor, ihm zu sagen, was geschehen war; deshalb hatte Inge es übernommen. Sie war allein in der Küche, als er hereinkam.

»Guten Morgen,« sagte er.

»Guten Morgen, Jens,« antwortete sie, »es ist gut, daß du kommst. Deine Frau ist sehr krank.«

Er sah sie forschend an. Lag nicht Triumph oder Schadenfreude auf ihrem Gesicht? War es nicht eine Vergeltung für sie, daß er jetzt so vor ihr stehen mußte, – arm und heimatlos, für seine schwerkranke Frau auf ihre Gnade angewiesen? Aber von solchen Gedanken war nichts in ihrer Miene zu lesen. Sie sah gut und mitleidig aus, trat an ihn heran und sagte ihm, daß einer von den preußischen Ärzten dagewesen wäre und die Kranke untersucht hätte.

Er antwortete nicht gleich, denn er mußte den Gedanken erst in seiner ganzen Tragweite erfassen: – man hatte gegen sein Verbot gehandelt, eigenmächtig, ohne ihn zu fragen. Der Zorn lohte in ihm auf. War er nichts mehr, rechnete man ihn nicht mehr, seit der Larsenhof nicht mehr stand? Wollte man ihn nun beiseite schieben? Über ihn weg entscheiden und handeln? Er war dunkelrot geworden und schrie das alles heraus, hob die Faust und wollte dröhnend auf den Tisch schlagen. Aber Inge fiel ihm in den Arm und sagte ruhig in befehlendem Ton: »Sei still, Jens Larsen, stör deine Frau nicht.«

So war lange nicht zu ihm gesprochen, und der Atem verging ihm einen Augenblick fast vor Erstaunen, aber seine innere Erregung legte sich nicht so schnell. Er hatte das Gefühl, als stürzte alles über ihm zusammen, und er packte Inge plötzlich fest am Handgelenk, neigte sein heißes Gesicht dicht zu ihr hin und sagte mit heiserer, gedämpfter Stimme: »Du! Weißt du denn, wie mir zumute ist? Mein Hof ist niedergebrannt, meine Frau stirbt, Gesine wird Thies Matthiessens Frau. Dann hab ich nichts mehr, dann bin ich ganz allein und ganz frei, ich, der reiche Jens Larsen vom Larsenhof. Meinst du, daß ich mich dann noch um irgend etwas oder irgend jemand schere? Du! Inge Süderssen?«

Er umklammerte ihr Handgelenk so fest, daß es sie schmerzte, und aus seinen Augen brach eine heiße Flamme. Da überfiel die Frau eine Angst, denn sie wußte, daß sie sich in einer großen Gefahr befand, nicht nur in diesem Augenblick, sondern in der ganzen Zeit, die jetzt kam. Sie wurde sehr blaß und wich zurück, und bei dieser Bewegung kam Jens zur Besinnung. Er ließ sie los, und sie standen sich noch einen Augenblick gegenüber, schweigend, mit schwerem Atem. Dann wandte er sich um und ging in die Kammer, in der seine Frau lag.

Gesine sah ihn ängstlich an, als er eintrat, denn sie hatte gehört, daß er laut und zornig gesprochen hatte, aber er sagte nichts und achtete überhaupt nicht auf sie, sondern setzte sich mit einer so schweren Bewegung neben das Bett, daß der Stuhl in allen Fugen krachte. Da ging sie leise hinaus, um von Inge Hansen zu hören, wie der Vater die Nachricht aufgenommen hatte.

Inge Hansen war nicht in der Küche. Sie ging sie suchen und fand sie draußen vor der Haustür. Es zogen preußische Truppen durch. Inge hatte einen Krug Milch mit hinausgenommen und ließ ein paar Verschmachtete daraus trinken. Gesine fand, daß sie sehr blaß aussah. Als die Soldaten vorbei waren und sie sie fragte, wie der Vater die Nachricht aufgenommen hätte, bekam sie nicht viel Antwort.

Jens Larsen aber hatte drin in der Kammer bei seiner kranken Frau eine dunkle Stunde. Die bösen Stimmen in seinem Innern hatten Gewalt über ihn, und er wehrte ihnen nicht und kämpfte nicht gegen sie an. So wie gestern der Zorn gegen den Larsenhof über ihn gekommen war, daß er mit Steinen nach ihm geworfen hatte, so empfand er ihn heute gegen seine Frau. Die geballten Fäuste auf die Knie gestemmt, so saß er neben ihrem Bett und starrte auf ihr fieberheißes Gesicht, das sich rot gegen die blaugewürfelten Kissen abhob. Der Groll gegen sie fraß sich immer tiefer in sein Herz ein, indem er daran dachte, was aus ihm und seinem Leben durch ihre Schuld geworden war. Das heißt, was er ihre Schuld nannte, das war ja eigentlich nur ihre Art, die eben mit der seinen nicht zusammenpaßte, das war der Mangel an Liebe und Vertrauen, der sich in ihrem Zusammenleben immer bemerkbar gemacht hatte; und wenn er heute eine große Abrechnung hielt, dann mußte er sich selbst mindestens ebensoviel Schuld beimessen wie ihr. Aber das tat er nicht, sondern in Gedanken häufte er eine große Sündenlast auf das Haupt der kranken Frau. Immer mehr fiel ihm ein: wie sie dieses getan und jenes unterlassen hatte. Es waren im Grunde alles nur Kleinigkeiten, aber sie hatten ihn geärgert, niedergezogen, sie hatten seinem Leben gerade das genommen, was es schön macht, was man nicht mit Worten nennen kann und was Inge Hansen ihrem Manne täglich und stündlich gab – wenn sie ihm an kalten, dunklen Abenden entgegenging, sich den Strick seines Karrens um die Schulter schlang und ihm ziehen half, wenn sie ihm selbst den warmen Schal um den Hals legte, den sie für ihn gestrickt hatte, und wenn sie die Ehre seines Hauses so hoch hielt, daß sie rief: »Jens Larsen, für dich ist hier kein Platz!«

Immer mußte er jetzt Vergleiche ziehen zwischen ihr und Inge, und immer fielen sie zuungunsten der Kranken aus.

»Ja, du – du!« stieß er hervor und kämpfte die Hände so fest zusammen, daß die Nägel ihn ins Fleisch drückten. Dann stand er plötzlich auf und riß das Fenster auf. Ihm war auf einmal zum Ersticken heiß und schwül geworden. Die eisigkalte Winterluft drang in die Kammer und traf die Kranke. Er sah es und meinte, es müßte ihr gut tun, denn sie war ja so heiß. Er selbst empfand es auch als Wohltat.

In dem kleinen Hof waren die Regenpfützen jetzt zu Eis gefroren. Peter hatte sie sorgsam mit Asche bestreut, besonders auf der Strecke von der Küchentür bis zum Holzstall. Dort hantierte er jetzt herum. Wenn er zu Hause war, hatte er immer etwas im Holzstall zu tun. Er hatte sich in der einen Ecke eine kleine Werkstatt eingerichtet, in der er alles, was im Hause entzwei ging, wieder zurecht leimte oder zimmerte. In guten Zeiten hatte der Holzstall auch wohl mal eine Kuh beherbergt und auf kurze Zeit das Pferd und den kleinen Wagen, die Peter sich von seinen Ersparnissen angeschafft hatte. Das war nun durch die Kriegsnot längst alles dahin. Aber seit gestern standen zwei Kühe vom Larsenhof darin, und ein Wagen war unterwegs, das Heu und das Viehfutter zu holen, das man gestern aus der Scheune hinausgetragen hatte, um es vor dem Verbrennen zu retten. Von Peter sah Jens nicht viel, nur ab und zu einen Zipfel seiner wollenen Jacke oder der blauen, vertragenen Hose, und allmählich drang der Geruch seiner Pfeife bis zu ihm. Als er eine Weile so gestanden hatte, mit unklaren, stürmenden Gedanken beschäftigt, kam Gesine von der Küche herein.

»O!« rief sie sofort erschrocken, stürzte auf das geöffnete Fenster zu und schloß es. »Die kalte Luft, Vater! Mutter liegt im Fieber.«

»Ach,« sagte er und wandte sich ärgerlich ab, »dann ist ihr die frische Luft gerade gut.«

Er sah ihr noch eine Weile zu, wie sie sich am Bett der Mutter zu schaffen machte, dann ging er in die Küche. Hier war Inge sehr beschäftigt. Im Herd brannte ein helles Feuer, und die Soldaten, die vorn in der Kammer und auf dem Boden einquartiert waren, kamen und lieferten ihre Portionen ab, die Inge für sie kochte. Sie sangen und pfiffen, bis Inge ihnen sagte, nebenan läge eine Schwerkranke, sie möchten leise sein. Da gingen sie vorsichtig auf ihren nägelbeschlagenen Stiefeln auf den Zehen und sprachen mit gedämpfter Stimme. Und Jens wunderte sich, wie Inge diese Krieger mit einem Wort und einem Blick regierte.

Er ging nun hinaus ins Dorf. Es war ganz überfüllt mit Soldaten; vor allen Häusern standen sie oder lagen in ihre Mäntel gewickelt im Stroh. Die Kirche und der Kirchhof waren zu einer kleinen Festung gemacht; es wurde noch daran gearbeitet. Vom Wenningbund her ertönte das heftige Feuern der schweren Geschütze, die ihre verderbenbringenden Grüße nach den Düppeler Schanzen hinübersandten.

Jens hatte zu tun. Er mußte sich nach seinen Wagen und seinem Vieh umsehen, die vorläufig in verschiedenen Ställen untergebracht waren, und Schritte tun, es zu verkaufen.

Als der Mittag, nahte, drängte sich ihm die Frage auf, wo er wohl etwas zu essen bekommen sollte. Zu Fiete Musbeck konnte er nicht gehen, denn der hatte selbst nichts mehr, kaufen konnte er sich auch nichts, denn es gab nirgends etwas zu kaufen. So irrte er umher mit seinem Hunger, und schließlich stand er doch wieder vor Peter Hansens Haus. Auf der Diele und in der kleinen Stube vorn saßen die Soldaten mit ihren Schüsseln, und in der Küche schöpfte Inge für Peter und Gesine aus einem großen Topf. Als Jens eintrat, reichte sie ihm auch einen Teller, als ob das ganz selbstverständlich wäre. Er sah, daß sie nur einen Topf auf dem Herd hatte, aus dem sie alles Essen schöpfte. Da fragte er erstaunt: »Ist das nicht das Essen von den Soldaten?«

Inge nickte. »Ja, sie bringen es mir, ich koche es ihnen, und dafür dürfen wir mitessen. Wir haben ja nichts mehr.«

Jens fühlte eine Schwäche in den Händen, die den Teller hielten, und er setzte ihn schnell auf den Tisch. Dabei vermied er Gesines Blick. Sie dachten wohl jetzt beide daran, wie er auf dem Larsenhof die Eßvorräte im Keller versteckt hatte, damit die Preußen sie nicht finden sollten. Einen Augenblick überkam ihn der Trotz. Er wollte nichts essen, was von den Preußen kam, und seine Frau und Gesine sollten es auch nicht tun. Aber der Hunger war stärker als der Trotz, und er aß doch.

Soldaten kamen, um sich ihre Schüssel nachfüllen zu lassen, und da es draußen kalt war, blieben sie in der Küche. Sie sprachen von den Schanzen, die fast uneinnehmbar schienen, und von der Belagerung. Die Meinungen waren verschieden. Einige glaubten, daß sie gestürmt werden sollten, und andere, daß der Feind durch eine hartnäckige Belagerung zur Übergabe gezwungen werden würde – eins aber stand bei allen fest: »Wir weichen nicht eher, als bis Schleswig-Holstein frei ist.«

Wenn sie das sagten, dann leuchtete es in Peter Hansens altem Gesicht auf, und er fing an, das Schleswig-Holsteinlied zu brummen. Jens Larsen saß ruhig dabei und hörte zu.

Am Nachmittag, als die Hausarbeit getan war und Gesine und Inge still in der Küche saßen, sprach Gesine plötzlich von ihrer Herzensnot. Sie wußte selbst nicht, wie sie dazu gekommen war. Vor zwei Tagen hatte sie die schöne Inge nur dem Namen nach gekannt, und heute schon öffnete sich ihr Herz der Frau, die sie so einfach und selbstverständlich bei sich aufgenommen hatte und das Letzte mit ihnen teilte, und sie fand ihr gegenüber die Worte, alles zu sagen, was sie bisher still in sich verschlossen hatte.

Inge hörte ruhig zu. Es war also wieder auf dem Larsenhof eine Verlobung ohne Liebe geschlossen, und Jens Larsens Tochter kam zu ihr und klagte ihr ihre Not.

Sie schlang den Arm um Gesines Schultern, als wollte sie sie schützen und sagte: »Sei ohne Sorge, jetzt ist der Krieg, und wir wissen alle noch nicht, was er bringt. Wenn er aber vorüber ist, und dein Vater verlangt etwas von dir, was dir Schmerzen macht, dann sage es mir, dann will ich mit ihm sprechen.«

Da atmete Gesine auf wie befreit. Sie hatte das Gefühl, als ob diese Frau auch über ihren Vater etwas vermöchte.

»Du mußt ja erst die Liebe kennen lernen,« fuhr Inge nach kurzer Pause fort.

Gesine sah fragend auf, und dann erzählte sie allerlei von Thies, weshalb sie ihn nicht lieben könne. Der Mann, den sie einmal heiratete, der müßte besser und edler sein als alle anderen, meinte sie.

Aber Inge schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »das ist gar nicht nötig. Du mußt ihn nur sehr lieb haben, mit all seinen Schwächen und Fehlern, damit du ihm helfen kannst. Und je mehr du ihm hilfst, desto mehr wirst du ihn lieben.«

Gesine verstand sie nicht ganz, sie sah mit weit offenen Augen wie in ein fernes Märchenland. »Dann muß ich mir ja aber ganz groß vorkommen ihm gegenüber,« sagte sie zögernd, »und das ist doch nicht das richtige.«

Da lächelte Inge leise vor sich hin und sah auf ihre gefalteten Hände im Schoß. »Groß! Wenn man liebt! – Frauenliebe ist so demütig.«

Dann stand sie auf und sah nach dem Feuer im Herd. In diesem Augenblick trat Peter in die Küche, und Gesine dachte, ob der es wohl wäre, der Inge Hansen so die Liebe gelehrt hatte?

Achtes Kapitel.

Der nächste Tag war der siebzehnte März. Jens ging früh zu seiner Frau. Ihr Zustand war unverändert. Sie hatte hohes Fieber und erkannte ihn nicht. Inge und Gesine hatten zu tun, und so kam er sich sehr überflüssig vor und ging wieder weg.

Von Stenderup und Rackebüll her tönte Schießen, allem Anschein nach fand dort ein Gefecht statt. Jens ging die Chaussee entlang auf die Schanzen zu. Das Schießen wurde stärker. Das Gefecht mußte in der Nähe des Larsenhofes sein. Wie es dort wohl jetzt aussah? Ob die Trümmer noch rauchten? Ob von den Mauern seines Hofes noch etwas stehen geblieben war? Auf seinen Feldern tobte jetzt vielleicht der Kampf, sie wurden zerstampft und niedergetreten, und das Blut der sterbenden Soldaten tränkte den Boden.

Von den Strandbatterien fielen heute nur einzelne Schüsse, dumpf und schwer, wie ein tiefer Grundton zu dem Kleinfeuer.

Er war weitergegangen bis zur Büffelkoppel, dem großen Buchenwald, der sich rechts von der Chaussee hinzog. Blutige und zerrissene Kleidungsstücke, die auf den Wegen und in den Gräben lagen, gaben Zeugnis von den Gefechten, die hier schon stattgefunden hatten. Es war alles verwüstet ringsum, und dort, wo die Häuser von Wilhoi gestanden hatten, waren nur noch Trümmerstätten. Jens sah hier zum erstenmal die Zerstörungen, die die Geschütze von den Schanzen angerichtet hatten. Alle Häuser waren verbrannt oder zerschossen, die Bewohner längst entflohen. Er hatte sie fast alle gekannt. Nun waren sie fort, und ihre Wohnungen waren zerstört. Wer wußte, wo das Schicksal des Krieges sie hingeführt hatte? Es kam ihm zum erstenmal zum Bewußtsein, daß er sein hartes Geschick mit vielen teilte, daß es ihm vielleicht noch besser gegangen war als diesen hier. Er hatte noch manches von seiner Habe retten können, und Gesine und seine Frau hatten ein schützendes Dach gefunden.

Diesen hier hatte vielleicht eine Granate das Dach über dem Kopf weggerissen oder die Wände zertrümmert, so daß sie fliehen mußten, um das nackte Leben zu retten. Aus diesen schwarzen, öden Mauern schrien die Not und das bittere Elend des Krieges, und neben der Verzweiflung über das eigene Geschick empfand Jens jetzt einen anderen, größeren Schmerz – den Schmerz um seine zerstörte Heimat, die er so unendlich liebte. Mit aufgerissenen Wunden lag sie vor ihm, und sein eigener Schmerz wurde klein bei diesem Anblick.

Er war hinaufgeklettert auf einen Trümmerhaufen und konnte jetzt das zerstörte Land übersehen bis an die Küste, gegen die die Ostsee ihre gleichförmigen grauen Wogen rollte. Ein dumpfer, grollender Ton ging manchmal darüber hin, und ein weißes Wölkchen bezeichnete den Weg, den die verderbenbringende Bombe genommen hatte. Er sah die Schanzen und drüben Sonderburg mit seinem alten Schloß und seinen roten Häusern. Kugeln flogen hin und her, und zwei Völker standen sich gegenüber und rissen Wunden in das Herz seiner alten Heimat. Und plötzlich kam ihm ein Gefühl, das er noch nie gehabt hatte: er besaß eine Heimat, eine schöne, geliebte Heimat, aber er besaß kein Vaterland. Immer war das Land zerrissen gewesen, hier deutsch, hier dänisch. Es war deutsch und hatte einen dänischen Herzog gehabt, und das dänische Element hatte sich breit gemacht mit List und Gewalt, Die deutsche Sprache und das deutsche Recht waren unterdrückt worden, so daß er allmählich angefangen hatte, dänisch zu denken und zu fühlen. Und da er damit auf Widerstand stieß bei seinen Landsleuten, erwachte der Trotz in ihm, und er wurde fanatisch. Dann kam das Jahr 1848. Das schleswig-holsteinische Land erhob sich und wehrte sich gegen das dänische Joch. Die Preußen kamen und kämpften und bluteten für Schleswig-Holstein, aber helfen konnten sie nicht, und alles blieb beim alten. Daher hatte Jens ein Gefühl von Haß und Verachtung für die Preußen, und als sie jetzt wiederkamen und wieder helfen wollten, da hatte er nur darüber gelacht. Aber nun dachte er schon anders über sie – und über alles. Der Krieg hatte auch ihn mit eiserner Hand gepackt, und manches, was an Trotz und Stolz in seinem Herzen gelebt hatte, lag nun zerbrochen am Boden. Und er wußte nicht mehr, für wen er beten sollte, für die Preußen oder für die Dänen.

Er ging weiter nach dem Dorfe Düppel zu, und plötzlich wurde es belebt um ihn. Auf allen Wegen zogen preußische Truppen gegen das Dorf, es war, als ob sie auf einmal alle aus der Erde gewachsen wären. Wie große, schillernde Schlangen wanden sie sich hinter den Knicks entlang, und ein Geräusch, wie das Summen und Durcheinanderkrabbeln unzähliger Maikäfer drang zu ihm hinüber. Sie zogen alle nach Westdüppel.

Bumm – bumm, bumm! – so kam es jetzt von Ostdüppel. Nun setzte Infanteriefeuer ein, ein unaufhörliches Knattern. Und dann begannen sie von den Schanzen und von den Batterien auf Alsen zu schießen, daß der Erdboden zitterte und dröhnte. Feuersäulen stiegen auf, hier eine, dort eine, dicke Rauchmassen legten sich auf alles, graue, dicke Rauchmassen, aus denen nur ab und zu rote oder gelbe Flammen aufzuckten. Der ganze östliche Teil des Dorfes brannte. In der Luft war ein Brüllen und Stöhnen und Knattern, wie das Hüllenkonzert unzähliger böser, wilder Geister.

Jens Larsen hörte und sah mit allen Sinnen.

Wenn er einen Menschen hier gehabt hätte, den er mal hätte packen, dem er hätte zurufen können: »Sieh dort, das Feuer! Da schießen sie von den Schanzen. Jetzt zieht es sich nach Osten.« Aber er hatte niemand, er mußte alles allein durchleben.

Er lief auf eine Anhöhe, um einen besseren Überblick zu bekommen; dann stürzte er weiter vor, über Sturzäcker und Gräben, immer auf den Rauch und den Lärm und die Flammen zu. Mitten auf dem Wege lag plötzlich ein Toter vor ihm, lang hingestreckt, das Gewehr im Arm. Da blieb er einen Augenblick stehen, und er dachte daran, daß da unten in Preußen wohl Herzen bangten um dies junge Blut und Hände sich zum Gebet falteten, – und er beugte sich nieder und deckte die Mütze über das stille Gesicht mit den gebrochenen Augen. Dann ging er weiter und kam an die ersten Häuser. Da lagen ein paar Verwundete am Wege. Er holte ihnen Wasser und ließ sie trinken. Einer lag schon im Sterben. Der griff nach seinen Händen und flehte ihn an, er sollte seine Lieben daheim grüßen. Jens fragte ihn nach den Namen, aber er sagte nur immer: »Vater und Mutter und Lene. – Lene!« wiederholte er träumerisch, und sein Gesicht verklärte sich. Jens versprach es, um ihm das Sterben zu erleichtern. Er sah noch viel Elend an diesem Tage. Er half die Verwundeten aus dem Feuer tragen und gab den Verschmachteten Wasser, er hielt die Hände von Sterbenden in ihrem letzten Augenblick, damit sie nicht ganz verlassen wären, – und er sah nicht hin, ob es Preußen oder Dänen waren.

Gegen Abend kam er zum Umfallen müde und erschöpft nach Nübel zurück. Es war nicht mehr besetzt. Die Truppen hatten an den Gefechten bei Rackebüll und Düppel teilgenommen und waren nicht in ihre Quartiere zurückgekehrt. Er ging nicht zu Fiete Musbeck, bei dem er sein Nachtquartier hatte, sondern zu Hansens. Sie saßen dort in der Küche bei der Abendsuppe. Er wollte von dem, was er gesehen und erlebt, erzählen, aber er konnte nicht, es war zu viel und zu furchtbar. Er brachte keinen zusammenhängenden Satz zustande: er sah immer noch Blut und Wunden und sterbende Menschen, und in den Ohren brauste es ihm, daß er meinte, sie schössen immer noch. Da führte Peter ihn in die kleine Vorderstube, in der die Soldaten gelegen hatten, daß er sich aufs Stroh hinstrecke, und Gesine kam, brachte ihm etwas zu essen und deckte ihn mit einer Decke zu. Aber trotzdem er so müde war, schlief er nicht ein, denn er dachte immer, Inge müßte auch zu ihm kommen, nur einmal, um ihm irgend etwas zu bringen oder zu sagen. Sie sorgte ja doch sonst für alle, die in ihrer Nähe waren. Aber sie kam nicht. Und er fühlte sich grenzenlos verlassen.

Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, fand er dort niemand. Gesine war nebenan bei der Mutter. Er hörte sie hin und her gehen, aber er ging nicht hinein. Er war ja so überflüssig dort; seine Frau, erkannte ihn doch nicht, und helfen konnte er auch nicht. Die Tür nach dem Hof war nur angelehnt. Er trat hinaus und ging nach dem Holzstall, weil er meinte, er müßte Peter dort finden. Er hatte das Bedürfnis, einen Menschen zu sehen und zu sprechen. Aber Peter war nicht dort. Es war ganz still in dem kleinen Raum. Doch da hinten in der Ecke saß Inge auf dem Holzblock. Er sah eigentlich nur ihr weißes Haar leuchten, denn sie hatte den Kopf geneigt und das Gesicht in den Händen vergraben. Und während er regungslos stehen blieb und sie ansah, schien es ihm, als ob ein Zucken durch ihren Körper ginge, wie wenn sie weinte. Da durchfuhr es ihn, und ehe er sich recht besonnen, stand er auch schon neben ihr und griff nach ihren Händen.

»Inge,« sagte er so weich, wie er nur damals zu ihr gesprochen hatte, als sie beide jung waren.

Da ließ sie die Hände sinken und sah ihn an. Ihre Augen waren wirklich feucht. Aber mehr noch als das erschütterte ihn der Ausdruck des Schmerzes, der in ihren Zügen ausgeprägt war.

»Warum weinst du, Inge?« fragte er nun.

Sie fuhr sich über die Augen und stand auf. »Ich weine nicht,« sagte sie abweisend, »laß man.«

Damit wollte sie hinausgehen, aber er ließ sie nicht. Er sagte nichts, doch in der Art, wie er sich ihr in den Weg stellte und sie mit einer Handbewegung zurückhielt, lag etwas so Zwingendes, daß sie stehen blieb. Sie sah einen Augenblick an ihm vorbei nach der Tür mit einem abwesenden Blick, der nichts Wirkliches zu erfassen schien, dann sagte sie mit schwerem Seufzer: »Wir haben ja all die Zeit noch nichts von Hannes gehört.«

Da wußte er, daß sie wie ein wundes Tier mit ihrem Schmerz dort in den Winkel gekrochen war.

»Er ist wohl gut zuwege,« sagte er, um sie zu trösten, aber er fühlte selbst, daß das ein schwacher Trost war.

Inge zuckte auch nur die Achseln.

»Du hast ihn ja gesehen, wie er von Schleswig zurückkam,« sagte sie, »und nun ist er schon viel länger fort, und es ist jetzt so kalt. Er hat gewiß oft kein Dach überm Kopf und nichts zu essen. Und ich hab' hier immer einen Topf auf dem Herd und kann ihm nichts geben.«

Sie biß die Zähne zusammen und starrte wieder an ihm vorbei ins Leere. Da kam Peter über den Hof und sofort verlor sich der Ausdruck von Angst und Sorge in ihrem Gesicht, und sie sah wieder ruhig und gleichmütig aus.

»Sag ihm nichts davon,« warf sie noch halblaut hin. Dann trat sie aus dem Holzstall hinaus und sagte: »Ich wollt' dich suchen, Peter, wo warst du denn?«

Es schien Jens, als ob ein Zug von Verlegenheit über Peters Gesicht ginge.

»Da so'n büschen längs,« sagte er und zeigte mit dem Daumen die Richtung, die die Straße nach der Kirche zu nahm. Dann griff er in die Tasche, holte seine Pfeife heraus und machte sich mit ihr zu schaffen, Inge stand noch einen Augenblick unschlüssig da, ehe sie sich umwandte und zur Küche zurückging.

Als sie fort war, sagte Peter, ohne von seiner Pfeife aufzusehen: »Ich war in'n Hospital.«

Jens sah ihn erstaunt an. »Was wollt'st du denn da?« fragte er.

Peter steckte nun die Pfeife in den Mund und kraute sich den Kopf. »Ick har dacht – nu sünd da doch so veel Dänens, de gestern verwundet sünd. De kamt doch von Alsen. Dat kunn jo doch sien, dat een da wat von unsen Jung wüßt. Jo – aber se kennten em nich.«

Er seufzte und ging in den Holzstall, wo er gleich etwas zu basteln fand. Jens hatte sich an den Türpfosten gelehnt und sah ihm zu.

Und mitten in der Arbeit sagte Peter plötzlich: »Inge braucht das nicht zu wissen, daß ich mich so ängstige – sonst ängstigt sie sich auch.« Weiter war heute nichts aus ihm herauszukriegen.

Neuntes Kapitel.

Jens Larsen litt unter einer großen Unruhe, wie jemand, der vor einer tiefgreifenden Entscheidung steht. Einmal mußte sie kommen, das fühlte er, aber wie, das war ihm nicht klar. Zu seiner Frau ging er kaum mehr hinein, – fast schien es, als fürchte er sich vor ihr, die bewußtlos, mit fieberheißen Wangen in den Kissen lag. Wenn er über den Hof ging, streifte sein Blick scheu das verhängte Kammerfenster. Daß sie gesund werden würde, glaubte er nicht – aber manchmal packte ihn das Entsetzen, und er hatte das Gefühl, als ob er sie langsam hinmorde mit seinen Gedanken, Dann ging er fort und wanderte durch das Land. An zerschossenen und niedergebrannten Wohnstätten kam er vorüber, über zerstampfte Felder und niedergerissene Knicks führte sein Weg. Aber was noch schlimmer war als das: er kam an Wachen und durfte nicht weiter. Es gab jetzt eine Macht im Sundewitt, gegen die sein Wille nichts ausrichten konnte. Und wenn er gerufen hätte: »Ich bin der reiche Jens Larsen vom Larsenhof!« – so hätte ihm das auch nichts genützt. Für den Mann, der mit dem Gewehr im Arm da stand, wäre dieser Name ein leerer Schall gewesen.

Wenn er dann auf eine Anhöhe stieg und um sich sah, wenn er bedachte, wie der Krieg an allem Bestehenden gerüttelt hatte, dann überkam ihn ein wildes Gefühl. Geschah jetzt nicht so viel Ungeheuerliches? Menschen kamen und warfen Brandfackeln in die Dächer, so daß die Wohnstätten der Mitmenschen in Flammen aufgingen, und es fragte niemand danach, wo die Vertriebenen blieben. Granaten flogen von den Schanzen und rafften Männer fort, die eben noch in voller Lebenskraft neben ihren Kameraden gestanden hatten. Sie wurden in eine schmale Grube gelegt, die Fahnen senkten sich an ihrem Grabe, und wenn der Hügel sich wölbte, zog die Musik mit einem Marsch davon, und das Leben ging weiter, als wäre nichts geschehen.

Durfte er dann nicht an dem schwachen, verglimmenden Lebensfünkchen, das ihm noch im Wege stand, vorbeischreiten, durfte er dann nicht das, was noch zwischen ihm und Inge Hansen stand, über den Haufen werfen, niedertreten, zertrümmern, wie jetzt so vieles niedergetreten und zertrümmert wurde, und mit ihr hinauswandern in ein anderes Land, wo Frieden war, unbekümmert um das, was hinter ihnen zurückblieb?

Wenn er das dachte, meinte er auch, er würde sie zwingen, mit ihm zu kommen, ob sie wollte oder nicht. Trat er dann aber in ihr Haus, und sie sah ihn ruhig an und sagte: »Peter ist nicht da, und deine Frau schläft,« dann wußte er, was sie damit sagen wollte, und er ging ganz still wieder hinaus und irrte durch das Dorf als ein Heimatloser.

Am schönsten waren in dieser Zeit die Abende; Jens freute sich jeden Tag darauf. Auf dem Larsenhof hatte er sich eigentlich nie auf den Abend gefreut, höchstens auf die Stunde auf der Hohen Koppel. Aber jetzt zog es ihn wie mit vielen seinen Fäden nach Peter Hansens Haus, wenn die Schatten sich senkten. Dann saßen sie in der kleinen, warmen Küche zusammen, Peter rauchte seine Pfeife und schnitt mit dem Taschenmesser Holz klein fürs Aufsetzen der Abendsuppe. Die Frauen hatten immer etwas zu tun. Sie legten Wäsche zusammen oder nähten; Inge strickte auch oft an dem groben, wollenen Strumpf, der sonst immer auf der Fensterbank zwischen den Blumentöpfen lag.

Später machte sie Feuer im Herd an, so daß plötzlich ein heller Schein durch die Küche ging. Das war für Jens jedesmal etwas Bedeutsames, etwas ganz anderes, als für die anderen, die kaum aufsahen und es hinnahmen als etwas Alltägliches und Natürliches.

Seitdem er in die Flammen gesehen hatte, die vom Dach des Larsenhofes aufgestiegen waren, überfiel ihn ein Zittern, so oft er einen Feuerschein sah. Er wollte es nicht. Jeden Tag nahm er sich vor: heute soll es nicht kommen. Er biß die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten – aber es kam doch. Er dachte, es würde besser werden, wenn er nicht auf den Herd sähe, aber auch das nützte nichts. Er sah dann doch den hellen roten Schein über die dunkle Wand gleiten, hinauf bis an die Decke und wieder hinab und wieder hinauf, er hörte das Knistern des brennenden Holzes, das Prasseln der Flamme, und wenn er die Augen schloß, glaubte er wieder auf der Hohen Koppel zu stehen – der Larsenhof stand in Flammen, das Sundewitt stand in Flammen – und die See und die Kanonen donnerten dazwischen. Da sah er lieber wieder auf den Herd. Und auf einmal hatte er dann doch den Larsenhof vergessen: denn der helle Schein fiel nun auf Inges schönes, stilles, stolzes Gesicht und auf ihr weißes Haar, das jetzt noch ebenso weich und wellig war wie damals, als es noch blond war und manchmal in der Abendsonne rötlich schimmerte. Aber ruhiger wurde er davon auch nicht.

Sie aßen immer Milchsuppe, denn anderes hatten sie nicht, selbst Kartoffeln gab es im Sundewitt nicht mehr. Dann erzählten sie sich, was sie am Tage gesehen und gehört hatten. Gesine ging zur Mutter hinein, gab ihr die Abendsuppe und brachte ihr die Kissen in Ordnung. Von draußen hörte man oft den Schritt marschierender Truppen, den Hufschlag eines Pferdes und das Singen der durchziehenden Soldaten. Peter ging an die Haustür und sah hinaus.

»Es sind die 24er,« sagte er, wenn er zurückkam, oder: »Die 64er ziehen auf Vorposten.«

Dann waren sie einen Augenblick still, lauschten dem verklingenden Ton und folgten den Soldaten mit ihren Gedanken. So ging der Abend hin. Um halb zehn erhob sich Jens und ging fort. Davon, daß er auch in Peter Hansens Haus wohnen könnte, war nicht wieder die Rede gewesen.

Eines Abends, als er kam, war Inge allein. Es war schon ziemlich spät, und er hatte geglaubt, sie würden alle zusammen bei der Abendsuppe sitzen. Aber nun war es ganz still in der Küche, und Inge saß in der Ecke am Herd und strickte. Die Tür zur Kammer stand auf, aber es kam kein Ton von dort. Als Jens eintrat, sah Inge auf, ihre Blicke begegneten sich, und sie sprachen beide nicht, nur schien es, als ob sie beide tief Atem holten. Endlich sagte Inge: »Gesine ist mit Miete Gerten gegangen. Sie wollten sehen, wie von der Strandbatterie geschossen wird. Der alte Gerten ist auch mit und welche von Klüvers und Persens. Gesine war nun all die Zeit nicht fort. Ich hab' ihr gesagt, ich wollte wohl auf deine Frau passen.«

»Und Peter?« fragte Jens statt aller Antwort.

Inge beugte sich vor nach dem Licht der kleinen Lampe, die auf dem Herd stand, und zählte etwas an ihrem Strumpf.

»Peter ist nach Flensburg runter,« sagte sie.

»Was macht er da?«

»Er holt Vorräte für den Marketender in der Büffelkoppel. Heute mittag ist er mit seinem Karren fortgegangen, und es dauert wohl ein paar Tage, bis er wiederkommt.«

Sie wollte wieder anfangen zu stricken, aber nun fiel ihr eine Nadel hin. Sie bückte sich, um sie aufzuheben, doch es war so dunkel, daß sie sie nicht finden konnte. Da nahm Jens die Lampe und leuchtete ihr, und sie bückten sich beide. Es war so still, daß sie ihre Atemzüge hören konnten, und als sie die Nadel gefunden hatten, waren sie beide rot und heiß wie nach einer schweren Anstrengung. Sie hatten wohl beide gedacht, daß Jens gleich wieder gehen würde, aber nun schien es ihnen plötzlich natürlicher, daß er blieb.

»Willst du was essen?« fragte Inge.

Er war sehr hungrig, aber er fragte: »Hast du schon gegessen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich mochte nicht allein. Gesine hat vorhin für sich und deine Frau was gewärmt, als ich beim Melken war. Nun will ich für uns eine Suppe kochen.«

Als sie an den Herd trat, ging er leise zu seiner Frau hinein. Es war kein anderes Licht in der Kammer als der schwache Schein aus der Küche, so daß er nur gerade die großen Umrisse der wenigen Möbel erkennen konnte. Er trat an das Bett, beugte sich darüber und rief leise den Namen seiner Frau, aber sie hörte es nicht. Ihr Atem ging schwer und stoßweise, und ein heißer Dunst stieg von den Kissen auf. Da ging er wieder hinaus und schloß die Tür hinter sich, damit sie von dem Klappern der Teller und dem Sprechen nicht aufwachte.

Inge stand am Herd und rührte die Suppe, Jens setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf schwer in die Hand. Seine Gedanken wanderten.

»Sie schläft wohl?« fragte Inge nach längerem Stillschweigen.

Da fuhr er ganz verstört auf und fragte: »Wer?«

»Deine Frau.«

»Ach so. Ja.«

Nun waren sie wieder still, bis die Suppe fertig war. Inge trat an den Tisch und füllte ihm den Teller. Dann ging sie an den Herd zurück und setzte sich mit ihrem Teller in die Ecke. Sie hatten sonst beim Abendbrot alle um den Tisch herumgesessen, aber heute wäre es ihnen sonderbar vorgekommen, wenn sie sich dort einander gegenübergesetzt hätten.

Sie sprachen vom Wetter, von den Schanzen und von Peters Weg nach Flensburg. Durch das tägliche Beisammensein hatten sie so viel gemeinsame Interessen. Ab und zu fiel draußen ein Schuß; dann horchten sie auf, und Jens erzählte, was er heute gesehen und gehört hatte. Als er mit seiner Suppe fertig war, stand er plötzlich auf und kam zu Inge in die Ecke.

»Das hätten wir auch nicht gedacht, daß ich noch einmal an deinem und Peters Tisch sitzen würde,« sagte er. Inge hörte an seinem Ton, daß die Erinnerungen ihn übermannten, und daß sie ihn heute nicht durch einen Blick oder ein Wort würde zurückweisen können. Heute waren die Erinnerungen zu mächtig; auch sie konnte sich nicht ganz von ihnen befreien.

»Das macht der Krieg,« sagte sie.

»Ja, und weil du nicht Böses mit Bösem vergiltst.«

Sie setzte ihren leeren Teller neben sich auf den Herd und strich sich mit beiden Händen über die Stirn und das Haar. Sie sah jetzt gar nicht stolz aus, sondern wie ein Mensch, der viel gelitten hat.

»Ich hab' es ja überwunden,« sagte sie leise.

Da griff er nach ihren Händen und hielt sie fest, und es brach aus ihm heraus in tiefster Seelenqual: »Inge, du hast es überwunden, aber ich nicht. Ich Narr, ich –«

Nun wußte sie, wie es um ihn stand: daß er die größten Qualen litt, auf ein Leben zurückzublicken, das verfehlt war durch eigene Schuld. Dieser Augenblick hätte eine Vergeltung für sie sein können für das, was er ihr angetan hatte, aber daran dachte sie nicht. Sie empfand nur Mitleid mit ihm und vergaß fast, daß sie selbst eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Als er ihre Hände frei ließ, stand sie auf und strich ihm langsam über die Schultern und den Arm.

»O Jens,« sagte sie dabei leise und bekümmert, und es war ihnen beiden, als wären die Jahre, die zwischen jetzt und damals lagen, versunken und als stände nichts zwischen ihnen. Er kam zu ihr in seiner Not, und sie nahm ihn auf und tröstete ihn. Und weil es so war, vergaß er auch die wilden Gedanken, die in seinem Herzen Platz gegriffen hatten. Es kam eine Ruhe über ihn, wie er sie lange nicht mehr gekannt hatte. Das war ja schon früher so gewesen: wenn ihn etwas geärgert oder bedrückt hatte, und Inge stand dann vor ihm und sah ihn mit ihren klaren Augen an, in denen eine Welt von Güte und Kraft lag, dann erschien ihm alles leicht, und die Wogen in seinem Innern glätteten sich. Und wie das jetzt wieder vor ihm erschien in aller Klarheit, da wuchs auch seine Schuld wieder zu ihrer ganzen Größe an.

»Ich hab' es gebüßt, Inge,« sagte er mit schwerer Stimme, »immer, die ganze Zeit. Und wie ich es gebüßt habe, das ist mir jetzt klar geworden.«

Sie setzte sich wieder auf die Bank am Herd, denn sie fühlte eine Schwäche in den Knien.

»Ich wollte, du wärst glücklich geworden, Jens,« sagte sie.

Das klang wie ein großes Verzeihen.

»Warst du mir nicht böse, Inge?«

Nun schwieg sie eine Weile und sah an ihm vorbei, ein schwerer Seufzer hob ihre Brust, darauf sah sie ihn an und sagte: »Böse? Ich weiß nicht, Jens, ob man es so nennen kann. Es war alles tot in mir, und ich konnte nicht an dich denken, denn dann fühlte ich einen Schmerz –« Sie atmete schwer und schloß einen Augenblick die Augen. Dann fuhr sie fort: »Aber ich habe es niemand gezeigt, keinem Menschen, und wenn sie mich geneckt und gequält haben und mir von Jens Larsen erzählten, daß er die reiche Witwe von Gerd Matthiessen geheiratet hätte, und wie vornehm alles auf dem Larsenhof wäre, dann habe ich still zugehört und gesagt: ›Ich wünsche ihm alles Glück.‹ Da haben sie davon abgelassen, mich zu quälen.«

»Haft du mir wirklich alles Glück gewünscht, damals schon?«

»Zuerst nicht. Da habe ich dir nichts Gutes und nichts Böses gewünscht. Aber dann kam es.« Sie schwieg wieder und sah vor sich hin.

»Was kam?« fragte Jens, als sie lange nichts sagte.

Sie atmete tief auf, und es ging ein heller Schein über ihr Gesicht. »Ruhe kam und Friede, Ich wurde Peter Hansens Frau, und er war so gut zu mir. Ich habe nicht gelogen, Jens Larsen, als ich dir sagte, Peter Hansens Frau tauscht mit keiner Frau im ganzen Sundewitt.« Sie war aufgestanden, und ihre Augen leuchteten. »Er hat mir tausendmal vergolten, was du mir angetan; er hat mich hoch und heilig gehalten.« »Und da hast du mich vergessen?« fragte er, und ein schneidender Schmerz durchzuckte ihn plötzlich.

Sie schüttelte den Kopf. »Vergessen? Nein. Vergessen kann ich dich wohl nie. Aber verziehen habe ich dir. Da konnte ich es auf einmal. Das verdanke ich Peter.«

Jens sah zu Boden und biß sich auf die Unterlippe. Es kämpften so viel Gefühle in ihm, daß er nicht wußte, welchem er zuerst Worte geben sollte.

In Inge aber wurden die Erinnerungen mächtig. Ein weicher, nachdenklicher Zug trat in ihr Gesicht, und sie fuhr mit leiser Stimme fort: »Ich bin dann abends manchmal nach der Nübelmühle gegangen, von wo ich den Larsenhof sehen konnte, und habe gedacht: Ob sie ihm wohl manchmal über die Stirn streicht und über die Augen, wenn ihn etwas ärgert oder drückt, damit er ruhiger wird? Ob sie es wohl weiß, daß er es so gern mag, wenn man ihm mal tüchtig in seine zottigen Haare greift und ihn auslacht und ruft: O, du dummer Jens!«

Sie lachte jetzt selbst, so frisch und glücklich, wie er sie in all der Zeit nicht hatte lachen hören, und er stand vor ihr wie verzaubert. All das berauschende Glück seiner ersten Liebe stand ihm wieder vor Augen, und daneben sah er die trostlose Öde seines Ehelebens, und nun sagte er mit zuckenden Lippen: »Nein, das hat sie nie getan.«

Inge lachte nicht mehr. Sie atmete wieder tief auf und fuhr mit bebender Stimme fort: »Und ich habe immer gedacht, wenn ich so recht mit aller Kraft meines Herzens Euer Bestes wünschte, dann müßte das was helfen, dann müßte sie es fühlen, wie du es liebst Ich habe gedacht, in sie hineindenken könnte ich es, hineinwünschen mit aller Kraft meines Herzens, daß sie dich glücklich macht.«

Weich, zitternd, ganz beherrscht von ihrem starken Gefühl kamen die Worte von ihren Lippen, und wie sie ihn jetzt ansah, lag es unverhüllt in ihren Augen, was sie bis jetzt so stolz in sich verschlossen hatte, es brach hervor ohne ihr Wissen und Wollen.

Da stieg es siedendheiß in ihm auf, und er packte sie und schrie: »Inge, dann hast du mich ja immer und immer noch geliebt!«

Ein einziger, weher Laut kam von ihren Lippen, und sie standen sich gegenüber wie erstarrt, als wäre ein Blitz zwischen ihnen niedergefahren und hätte ihre Augen geblendet.

»Inge!« sagte er mit heiserer Stimme, und noch einmal: »Inge!«

Ihnen war, als wenn graue Nebel durch die kleine Küche wallten und der Boden unter ihren Füßen schwände. Wie aus weiter Ferne klang dies heiße, beschwörende, verzweifelte: »Inge!«

Dann wichen die Nebel auf einmal, und sie standen sich gegenüber, so nah, daß sie ihren Atem fühlten, und sahen sich an, und jeder las in den Augen des andern die grenzenlose Liebe und das grenzenlose Leid. Das war stärker als alle Vorsätze und alle Kämpfe, es war wie ein ehernes Naturgesetz, das über ihnen stand. Es gab keine Welt mehr nm sie her, es gab keine Menschen, außer ihnen, es gab nur noch eins – sie und ihre Liebe. Und sie hielten sich fest, fest umschlungen.


Inge kam zuerst zur Besinnung. »Jens!« rief sie beschwörend, verzweifelt, »laß mich! – Jens!«

Aber er hörte nicht.

»Denk' an deine Frau! Und Peter! Wir dürfen ja nicht –« Ihre Stimme brach.

Sie wollte sich gewaltsam freimachen, ringen mit ihm, aber er hielt sie so fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und heiß, ungestüm kam es jetzt von seinen Lippen: was er alles gedacht und gefühlt und gewollt hatte in dieser Zeit. Inge stand da mit keuchendem Atem, und ihre zitternden Lippen brachten kein Wort hervor. Nur ein Gedanke beherrschte sie, ein Wunsch, so heiß wie ein Gebet: stark bleiben, fest bleiben!

Mit aller inneren Kraft wehrte sie sich gegen ihn. Sie wollte nicht hören, was er da sagte von seiner Liebe zu ihr, die nicht sterben wollte, von all seinen heißen Wünschen, über die er nicht Herr werden könnte, sie wollte seinen Atem nicht fühlen und das wilde Schlagen seines Herzens, den zwingenden Druck seiner Arme, – und es sprach doch alles zu ihr wie mit klingenden Tönen und fand jubelnde Antwort in ihrem Herzen, so daß ihr war, als schwände alle ihre Willenskraft.

»Stark bleiben! Fest bleiben!« schrie es in ihr.

Da hörten sie die Haustür gehen. Nun ließ er sie los, und sie wich zurück bis in die äußerste Ecke am Herd, stützte sich mit beiden Händen auf die Platte, und wandte sich auch nicht um, als Gesine eintrat. Bei dem matten Schein der kleinen Lampe, die nur einen spärlichen Lichtkreis um sich verbreitete, sah Gesine wohl, daß ihr Vater und Inge anwesend waren, aber ihre Gesichtszüge konnte sie nicht erkennen. Sie achtete auch nicht darauf, sondern erzählte eifrig, was sie gesehen hatte. Weder Jens noch Inge sagten etwas dazu, und als sie endete, wandte Jens sich zur Tür.

»Gute Nacht,« sagte er, aber sein Blick suchte nur Inge.

Sie blieb am Herd stehen, das Gesicht über das verglimmende Feuer geneigt, und sagte leise: »Gute Nacht.«

Sie schliefen aber beide in dieser Nacht nicht einen Augenblick. Inge stand auf, sowie der Tag graute, und ging an ihre Beschäftigung. Bei jedem Geräusch fuhr sie zusammen, denn sie dachte immer, Jens käme, und sie fürchtete sich vor einem Wiedersehen mit ihm. Es gingen aber mehrere Stunden hin, ohne daß er sich blicken ließ.

Frau Larsen war heute bei Besinnung, aber sie lag mit geschlossenen Augen da und war fast zu schwach, um zu sprechen. Mittags gab Inge ihr das Essen. Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und die Kranke mit ihren Kissen fest in den Arm genommen. Mit der freien Hand gab sie ihr die Suppe wie einem kleinen Kind. Da trat Jens ein. Als er es sah, blieb er still in der Tür stehen, ohne etwas zu sagen, und Inges Hand zitterte. Aber die Kranke hatte sein kommen gefühlt.

»Bist du da, Jens?« fragte sie und streckte die Hände nach ihm aus. Nun kam er näher. »Ja, Anne, ich bin hier. Geht es dir besser?«

»Ja, Jens, nun bin ich bald ganz gesund, und dann gehen wir nach dem Larsenhof zurück, nicht wahr?«

»Ja,« sagte er mit gepreßter Stimme.

»Ist der Krieg nun zu Ende?«

»Nein, noch nicht. Aber bald. Hier sind jetzt nicht mehr so viel Soldaten, sie sind alle näher an den Schanzen.«

»Du hattest doch so bestimmt gesagt, sie kämen nicht hierher,« sagte sie nun wieder in klagendem Ton. »Nun haben wir sogar vom Larsenhof weg müssen! Wer weiß, wie es da jetzt aussieht! Sie gingen gar nicht gut mit den Tapeten um.«

»Laß man, Anne,« sagte er und strich ihr leise über das Haar, »darum wollen wir uns jetzt keine Sorge machen. Wenn die Tapeten schlecht sind, lassen wir neue machen.«

Sie nickte. »Dann will ich aber in der Wohnstube welche mit blauen Blumen haben – wie Nissens von Petersgaard.«

»Ja, Anne, das sollst du auch,« sagte Jens, und er dachte daran, wie es sein würde, wenn Anne erst das ganze Elend erfuhr. Der Larsenhof in Asche, Petersgaard und viele, viele andere Höfe auch in Asche.

»Sie wird es nie erfahren,« dachte er dann, und es war ihm wie ein Trost und eine Erleichterung. Er glaubte immer noch, daß sie sterben würde.

Sie war nun zufrieden wie ein Kind, das seinen Willen bekommen hat, und ihr Kopf sank müde an Inge Hansens Brust. Die legte sie vorsichtig wieder in ihr Bett zurück, und Jens ging in die Küche.

Inge stellte leise einiges in der Kammer zurecht; sie brauchte absichtlich viel Zeit dazu, denn sie fürchtete sich, zu Jens in die Küche zu gehen. In ihrem Innern dachte sie immer: »So geht es nicht, so darf es nicht sein.« Als sie schließlich in die Küche kam, stand Jens am Fenster und sah auf den Hof. Da nahm sie ihre ganze Kraft zusammen, trat zu ihm und sagte: »Du mußt jetzt gehen, Jens.«

Er sah sie an. »Muß ich, Inge?«

Sie nickte. »Wenn Peter hier ist, darfst du wiederkommen.«

»Kannst du mich fortschicken, wenn meine Frau stirbt?« fragte er nun mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie schüttelte den Kopf. »Sie stirbt nicht. Es geht ihr heute besser.«

»Das, ist ein letztes Aufflackern. Ich weiß, daß sie stirbt.«

Nun schwiegen sie beide lange Zeit. Endlich raffte er sich auf und sagte: »Aber ich gehe, wenn du es willst. Doch wenn ich wiederkomme, Inge –«

Da wich sie vor ihm zurück und sagte: »Dann ist Peter wieder hier.«

Und nun ging er.

Zehntes Kapitel.

Die Entscheidung des Krieges rückte immer näher. Die Augen der ganzen Welt waren auf das Fleckchen Erde gerichtet, auf dem die Düppeler Schanzen als starre große Festungen aufragten, und vor denen das preußische Heer den harten, schweren Belagerungskampf aufgenommen hatte. Das Osterfest war in Kampf und Arbeit vorüber gegangen, die Tage wurden milder, und der herbe, frische Duft des Frühlings lag schon in der Luft.

Jens Larsen hatte die Gegend verlassen und war nach Flensburg gegangen. Er hatte Gesine gesagt, daß er in geschäftlichen Angelegenheiten dorthin müßte und noch nicht sagen könnte, wann er wiederkäme, und sie fühlte sich so sicher in dem Schutz der starken Inge, daß sie sich nicht fürchtete, mit der kranken Mutter bei ihr allein zu bleiben.

Inge war aber in diesen Tagen nicht so stark und fest wie sonst. Sie trug nicht den Kopf hoch und frei und sah jedermann klar ins Auge, sondern sie saß oft lange Zeit still in der Ecke am Herd, das Strickzeug lag in ihrem Schoß, und sie starrte vor sich hin. Ihre Hände waren dann so fest umeinander gekämpft, als hätte sie sie in großer Qual gerungen. Gesine sah es wohl, aber sie wunderte sich nicht darüber. Der Krieg nahm jedem etwas und gab dafür eine Bürde zu tragen an Angst und Sorgen. Da war es kein Wunder, wenn man die Bewohner vom Sundewitt mal mit gerungenen Händen und trüben Augen sah, und wenn selbst eine starke Frau wie Inge Hansen einmal unterlag. Sie wußte ja nicht, daß Inge Hansen den schweren Kampf mit sich selbst kämpfte.

An einem Mittag kam Peter zurück. Inge war gerade im Holzstall und fütterte die Kühe, als er eintrat.

»Komm, nu kann ich das wieder machen,« sagte er ganz ruhig und nahm ihr die Arbeit ab, als wäre er bloß eine halbe Stunde fort gewesen.

»O Peter,« rief sie, als sie ihn sah, »o Peter!«

Sie war ganz blaß geworden und setzte sich auf den Holzblock. Sein faltiges Gesicht hellte sich auf, und er kam zu ihr und strich ihr über die Schulter.

»Da bin ich wieder,« sagte er.

Nun umfaßte sie ihn mit beiden Armen und legte den Kopf an seine Schulter, als ob sie Schutz bei ihm suchte, und sagte: »Ja, wie gut, Peter, wie gut!«

Er wunderte sich über sie, denn so kannte er seine starke, mutige Frau gar nicht. Er meinte, daß sie sich wohl um ihn geängstigt hätte, und bei dem Gedanken wurde er sehr gerührt und drückte ihren Kopf fester an sich, strich ihr über das Haar und sagte: »Ich bin ja wieder da, Lütt, nu bin ich ja wieder da.«

Lütt war sein Zärtlichkeitsausdruck für sie. Er gebrauchte ihn sehr selten, denn es lag so gar nicht in seiner Natur, seinen Empfindungen viel Worte zu geben. Aber gerade dieses »Lütt« hatte für Inge einen eigenen Zauber. Es lag eine große, beschützende Liebe darin, die über sie wachte, und gerade, weil sie eine starke und stolze Natur war, tat es ihr wohl, sich manchmal klein und geschützt und geborgen zu fühlen.

Heute empfand sie es besonders; aber sie gab ihn jetzt frei und stand auf. Peter klopfte die Kuh, die sich nach ihnen umgesehen hatte und mit ihrer Kette klirrte, und schüttete ihr Heu hin.

»Hest nix von Hannes hört?« fragte er während der Arbeit so nebenbei.

Sie schüttelte traurig den Kopf, und sie sprachen nicht weiter davon. Aber bei dem einen Blick, den sie gewechselt hatten, wußte sie, daß sie eine Sorge hatten und eine Hoffnung – ihren Jungen, und das war doch das stärkste Band, das sie verbinden konnte.

Peter ging nun öfter für ein paar Tage weg, um den Marketendern und dem Restaurateur, der sich in der Büffelkoppel niedergelassen hatte, neue Zufuhr zu holen. Von Jens kam keine Nachricht. Seine Frau fragte manchmal nach ihm, aber wenn sie ihr sagten, er hätte nichts von sich hören lassen, dann legte sie beruhigt den Kopf wieder auf die Seite. Es ging ihr besser. Das Fieber hatte nachgelassen, aber die Schwäche war doch noch so groß, daß sie nicht aufstehen konnte. Sie klagte, daß die Augen ihr weh täten und schwarze Schatten ihr den Blick trübten, und Gesine legte ihr ein nasses Tuch darauf, um das Fieber herauszuziehen, denn sie meinte, das säße noch darin, und daher kämen die Schmerzen. Inge sprach nie von Jens, aber sie stand jetzt oft an der Tür ihres kleinen Hauses und spähte die Straße hinauf, und wenn sie lange, lange dort gestanden hatte, ging sie müde wieder in die Küche zurück.

Immer neue Truppen gelangten ins Sundewitt. Sie zogen durch Nübel, müde und abgespannt nach den langen Märschen, denn sie kamen aus Jütland, wo sie erfolgreiche Gefechte gehabt hatten. Ihre Uniformen waren graugrün von Staub und Nässe, die Stiefel beschmutzt, und auch auf den blassen, erschöpften Gesichtern lag der Staub in einer dicken Kruste. Inge holte oft Milch zur Erquickung für die Durchmarschierenden. Es war das einzige, was sie geben konnte, und es wurde von den meisten gern genommen. Sie und Gesine füllten immer wieder die Gläser und reichten sie den Verschmachteten. Die griffen mit beiden Händen zu, ohne hinzusehen, wer ihnen die Erquickung bot, und zogen dann weiter, taumelnd vor Müdigkeit. Eines Tages brach einer auf der Treppe zusammen und lag da wie tot. Er war einer der letzten gewesen, und die andern waren schon weiter gezogen. Inge versuchte, ihn aufzurichten, aber sie konnte es nicht, er fiel immer wieder schlaff zurück. Da setzte Gesine sich auf die Stufen und nahm seinen Kopf in ihren Schoß. Sie machten ihm die Uniform auf, und Inge holte Wasser und bespritzte ihn damit. Gesine saß still da und sah nieder auf das blasse, von Staub und Schmutz entstellte Gesicht, und hatte in diesem Augenblick keinen andern Wunsch und keinen andern Gedanken, als daß sich die fest geschlossenen Augen einmal öffnen möchten und sie ansehen. Als er aber gar keine Anstalten dazu machte, legte Inge ihm nasse Tücher auf die Brust und auf den Kopf. Endlich kam ihm langsam das Leben zurück. Er schlug die Augen auf und sah gerade in Gesines Gesicht, das mit dem Ausdruck der Sorge und des Mitleids über ihn gebeugt war. Sie sahen sich lange stumm an, dann fragte Gesine leise: »Geht es Ihnen jetzt besser?«

Da bedeckte plötzlich ein tiefes Rot sein schmales, junges Gesicht, und er stieß mit etwas atemloser Stimme hervor: »Es ist das erstemal, daß ich schlapp geworden bin. Aber es ist nun gewiß schon vorüber.«

Er richtete sich mit großer Anstrengung hoch, blieb aber auf den Stufen sitzen. Inge brachte ihm ein Glas Milch, das er in durstigen Zügen austrank. Dann stand er langsam auf und knöpfte sich den Rock wieder zu, und Gesine hob den Helm auf, der noch im Staube der Landstraße lag und reichte ihn ihm.

»Wollen Sie sich nicht noch ein bißchen ausruhen?« fragte sie besorgt.

Er schüttelte den Kopf. »Ich muß weiter.«

»Wohin marschieren Sie?«

»Nach der Büffelkoppel und Wilhoi.«

»O,« sagte sie erfreut, »das ist ja hier ganz nah. Es ist ja jetzt auch schon kühler, da marschiert es sich leichter.« Im Sprechen war sie vorwärts gegangen, und er kam mechanisch mit. Sie sprach nun weiter. »Da die Bäume, das ist schon die Büffelkoppel. Hier ist die Kirche, und daneben ist das Hospital.«

Sie sahen jetzt auch die Truppe, die am Hospital wieder zusammentrat. Da blieb sie stehen und sagte: »Ich will nun umkehren.«

Er blieb gleichfalls stehen. Sie sahen sich an, ohne zu sprechen, und über ihre beiden jungen Gesichter ging ein Zug der Verlegenheit.

»Ich sehe, wir bleiben ja nun hier,« sagte er schließlich zögernd. »Wir sehen uns gewiß wieder. Wir müssen uns wiedersehen.«

In ihren Augen leuchtete es auf, und sie nickte mit dem Kopf.

»Wie heißt Ihr Regiment?« fragte sie und sah auf seine Achselklappe mit dem E und der Königskrone.

»Königin Elisabeth,« sagte er stolz; es schien, als ob seine ganze Gestalt sich straffte und neue Kraft bekäme. Dann drückte er ihr die Hand. »Tausend Dank!«

Gesine sah ihm noch einen Augenblick nach, dann ging sie mit klopfendem Herzen nach Hause zurück. Inge stand noch in der Haustür. Sie sagte nichts, als Gesine zu ihr trat, aber sie legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. So standen die beiden lange und sahen in den dämmernden Abend hinein.

»Das ist jetzt eine schwere Zeit,« sagte Gesine endlich, als sie sich losließen und ins Haus zurückgingen. Es war eigentlich das erstemal, daß sie so etwas gegeneinander aussprachen.

Und Inge, die ruhige, starke Inge, warf beide Arme gegen die Wand und sagte: »Man kann es kaum ertragen!« Dann legte sie den Kopf gegen die Arme und blieb lange so stehen.

Sie war nicht mehr die ruhige, starke Inge von früher. Vier-, fünfmal am Tage sprang sie mitten in einer Arbeit auf, lief vor die Haustür und sah die Straße hinunter, die nach Flensburg führte. Dann überfiel sie manchmal ein heißer Schreck, und eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht, wenn ihr plötzlich klar wurde, daß es nicht Peter war, nach dem sie ausschaute, – und gesenkten Hauptes ging sie in ihr Haus zurück. Aber am nächsten Tage stand sie wieder da. In stillen Stunden, wenn sie allein war, ballte sie dann die Hände und preßte sie gegen die Schläfen. »Was ist das? Das soll und darf nicht sein!« Wie einen Befehl rief sie sich das zu.

Sie wußte ja ganz genau, was es war, – die große, unstillbare Sehnsucht nach Jens.

Solange er in Nübel gewesen war, solange sie wußte, er konnte jeden Augenblick eintreten und sich da auf den Stuhl am Herd setzen, er würde abends kommen und von seinen Erlebnissen erzählen, sie würde ihn sehen und seine Stimme hören, da war sie ruhig gewesen, da hatte sie so stolz und stark sein können und ihm die Tür weisen, wenn Peter nicht da war. Aber nun, nachdem er ihr hier ins Gesicht gerufen hatte, sie liebte ihn ja immer noch, nun sie wußte, daß auch seine Liebe nicht erstorben war, – nun, wo er fort war und nicht gesagt hatte, ob er morgen wiederkommen würde oder erst in Wochen oder überhaupt nicht, da war sie ganz schwach.

Ihre ganze Sehnsucht war erwacht, all ihre Gedanken waren bei ihm, und es gab kein Mittel dagegen. Oft meinte sie, sie müßte Gott danken, daß er ihr noch die Kraft gegeben hatte, ihn fortzuschicken, und dann dachte sie wieder, es würde besser sein, wenn er hier wäre, damit sie gegen etwas Wirkliches anzukämpfen hätte, nicht nur gegen das Gefühl. Ihr war, als ob die Liebe, die so lange zurückgedämmt worden war, nun bei dem einen Wort von ihm plötzlich wieder hervorgebrochen wäre und alles überschwemmt hätte. Und sie rang die Hände, und ihr Herz schrie nach Hilfe und Errettung, sie kämpfte einen Kampf, der schwerer, heißer und qualvoller war, als der der Krieger vor Düppel.

Die Tage gingen hin, und die Kanonade zwischen den Schanzen und den preußischen Strandbatterien wurde immer heftiger. Dann kam eine Nacht, da war der Himmel blutigrot, und die Luft zitterte und dröhnte von dem ununterbrochenen Schießen. Die Leute im Sundewitt kamen aus den Häusern und liefen auf die Anhöhen und sahen hinüber über den Alsensund und auf das brennende Sonderburg. Es kam eine Furcht über sie, und sie meinten, dies wäre schlimmer als das Jüngste Gericht. Die Frauen verhüllten ihr Gesicht und jammerten, und die Männer standen beieinander und berieten, wo dieses Feuer wäre und wo jenes, ob der Kornspeicher von Klaus Johns noch stände und ob Gerd Petersen seine alte, gelähmte Mutter wohl schon in Sicherheit gebracht hätte. Sie kannten ja alle die, die da wohnten. Die brennenden Granaten flogen über den Sund, und manchmal vergaß einer alle Not und allen Jammer und rief: »Hüi, is dat schön!« – als wäre er bei einem Feuerwerk. Aber wenn die andern dann still waren, fiel ihm alles wieder ein, und er schämte sich.

Gesine stand an einem Baum auf einer Anhöhe, von der sie alles übersehen konnte. Menschen waren um sie herum, Leute vom Sundewitt und Soldaten, und neben ihr stand der Elisabether. Sie wußte jetzt, daß er Unteroffizier war und Fritz Mahlke hieß. Er sprach zu ihr vom Kriege und erklärte ihr manches, was sie nicht verstand. Alle Anstrengungen waren vergessen, er war jetzt wieder ganz frisch und konnte die Zeit nicht erwarten, wo die Schanzen genommen werden würden. Gesine sah hinüber auf die brennende Stadt und sagte: »Wieviel Schreckliches werden wir noch erleben müssen.«

Dann erzählte sie ihm, was der Krieg ihr schon alles genommen hatte, als ob es notwendig wäre, daß er das alles wußte. Der Larsenhof lag in Schutt und Trümmern, ihre Mutter war krank und konnte keine genügende Pflege bekommen, und von ihrem Vater hatte sie seit langer Zeit nichts mehr gehört. Sie schwiegen dann beide lange. Er dachte zum ersten Male ernstlich nach über die Not, die der Krieg den Landbewohnern brachte, und sie empfand, daß über all dem Jammer etwas stand, was größer war – die befreiende Tat, für die jeder sein Opfer bringen mußte.

Als sie später nach Hause ging, begleitete er sie. Es war sehr dunkel, und es gab keinen rechten Weg, wo sie gehen mußten. Da schritt er voran, nahm ihre Hand und führte sie. Der rote Feuerschein stand noch am Himmel, und die Kanonen donnerten. Sie aber gingen schweigend weiter. Fritz Mahlke dachte daran, wie so manches Mädchen ihm im Arm gelegen hatte in diesen Kriegswochen, wie er gedankenlos genommen hatte, was ihm in den Weg kam. Bei dieser aber wäre es ihm wie Sünde vorgekommen.

Am nächsten Tage kam er zu Hansens, als ob das ganz natürlich wäre und er hier und nirgends anders seinen Ruhetag verbringen müßte. Er saß in der Küche und sah den Frauen bei der Arbeit zu, und als sie im Kuhstall zu tun hatten, half er ihnen. Nachmittags lehnte er in der Haustür, als Gesine mit ihrer Näharbeit auf der Bank vor dem Hause saß. Es war das erstemal in diesem Jahr, daß man draußen sitzen konnte. Da erzählte sie ihm von Thies. Sie sagte alles ganz genau, wie es war. Er hörte ruhig zu, und als er ging, sah er sehr ernst und nachdenklich aus. Sie aber flüchtete über den Hof in den Holzstall. Sie konnte jetzt keinen Menschen sehen oder sprechen, nicht einmal Inge. Ganz hinten in die Ecke verkroch sie sich, warf sich ins Heu und weinte. Aber sie wußte selbst nicht recht warum.

Elftes Kapitel.

Nübel war wieder besetzt. Die Belagerungsarbeiten waren fertig, das große, große Werk war getan.

Was nun?

Man schrieb den 16. April.

»Es wird gestürmt!« Einer sagte es dem andern, leise, wie ein großes Geheimnis, und der andere nickte und tat, als hätte er eine Bemerkung über das Wetter gehört.

Wann würde es sein?

Vielleicht morgen, vielleicht erst in einer Woche, sie wußten es alle nicht. Fürchten taten sie alle aber nur eines: daß die Dänen die Schanzen vor dem Sturm räumen könnten, wie sie das Danewerk geräumt hatten.

In Nübel lagen Elisabether, und die Vorderstube bei Hansens hatte Fritz Mahlke mit ein paar Leuten bezogen. Er war auch in der Zwischenzeit öfter dagewesen und nun fast wie ein alter Bekannter. Aber seit er im Hause war, wichen er und Gesine sich aus. Sie hatte immer etwas bei Peter im Holzstall zu suchen. Der war so ruhig und freundlich, und Gesine fühlte sich so sicher in seiner Nähe. Aber um alles in der Welt hätte sie nicht gewollt, daß es anders wäre, daß kein Krieg wäre und keine Einquartierung in Nübel. Wenn Fritz Mahlke vom Dienst zurückkam, ging er zuerst durch das ganze Haus, bis er Gesine gefunden hatte, aber wenn er sie sah, tat er, als hätte er sich verirrt, und ging eiligst zurück. Es lag Gewitterschwüle auf allen Menschen; etwas Befreiendes, Erlösendes mußte kommen, sie fühlten es alle und sehnten sich danach.

Der Sonntag neigte sich seinem Ende zu, der 17. April.

Es waren weiche, warme Tage jetzt, in denen die Erde still dem Blühen und Treiben entgegenschlummerte. In Nübel lagen die Soldaten vor ihren Quartieren im Stroh oder sie saßen auf den Bänken vor den Häusern, rauchten, spielten Karten oder erzählten sich was. Morgen war der Sturm, jetzt wußten sie es alle, und die dröhnenden Kanonenschüsse erinnerten an den Ernst der Zeit.

Inge Hansen führte Frau Larsen vor die Haustür. Als sie an die Stufen kamen, trat Fritz Mahlke, der an die Hauswand gelehnt gestanden hatte, hinzu, nahm die leichte, kleine Gestalt auf den Arm und trug sie zur Bank. Inge kam mit Kissen und Decken, und so betteten sie Frau Larsen, so bequem es ging. Sie war noch schwach, aber sie konnte doch jetzt schon aufstehen und langsam herumgehen, wenn jemand sie führte. Nur ihre Augen waren krank geblieben. Sie schmerzten, und die schwarzen Schatten wurden immer dichter; deshalb trug sie jetzt immer eine Binde. Inge und Gesine sagten ihr, das wäre noch die Schwäche von der Krankheit, und wenn der Krieg zu Ende wäre und Jens wieder da, dann würde er sie nach Flensburg oder Hamburg zu einem Augenarzt bringen, und alles wäre bald wieder gut. Sie nickte dann und lächelte und glaubte es, aber Inge und Gesine glaubten es im Grunde selbst nicht. Der preußische Militärarzt, der öfter bei Frau Larsen gewesen war, hatte die Augen einmal untersucht und ein sehr bedenkliches Gesicht dazu gemacht. Auch Hanne Knudsen, die weise Frau im Dorfe, war gekommen und hatte sich die Augen angesehen. Sie wußte immer in allen Fällen Rat und konnte gleich sagen, woher es kam und was man tun müßte.

»Das ist bloß vom Zug,« sagte sie, »sie hat Zug bekommen, als sie im Fieber lag. Das geht denn in die Augen. Nu man bloß nich weinen; sie darf nich weinen. Da geht alle Kraft mit weg. Nich weinen, bloß nich weinen!«

Hanne Knudsen war immer ein bißchen eilig, aber noch im Fortgehen von der Straße her rief sie es zurück, und es prägte sich Gesine fest ein. Die Mutter durfte nie mehr weinen, dafür mußten sie jetzt alle sorgen.

Fritz Mahlke stand noch und sprach mit den Frauen, aber sein Blick war auf die Haustür gerichtet. Er meinte, Gesine müßte jetzt auch herauskommen und sich neben die kranke Mutter auf die Bank sehen. Als sie gar nicht kam, ging er schließlich ins Haus. Die Küche war leer, die Kammer daneben auch, und im Holzstall klirrten nur die Kühe mit der Kette und stießen ab und zu einen langgezogenen, melancholischen Ton aus. Er ging nun auf das Feld hinaus und schlug planlos einen schmalen Fußweg ein. Es mußte etwas in ihm zur Ruhe kommen. Morgen war der Sturm! Es war doch ein eigentümliches Gefühl, zu denken, daß man morgen um diese Zeit vielleicht schon mit zerschossener Brust da hinten bei den Schanzen lag, während einem heute noch das ganze schöne Leben gehörte und man gesund und mit einem heißen, unruhigen Herzen durch die Felder schritt.

Er hatte immer den Sturm herbeigewünscht, und bei den Gefechten, die das Regiment schon geliefert hatte, war er einer der Tapfersten gewesen. Aber heute beschlich ihn ein seltsames Gefühl. Es war kein Bangen, nur eine große Wehmut. Er dachte an seine Eltern, an sein Heimatdorf in Schlesien, an manches, was ihm lieb und teuer war, aber er fühlte, daß es das alles nicht war, was ihm das Herz schwer machte und ihn unruhig durch die Felder trieb. Von dem allen hatte er in Gedanken während dieses Feldzuges schon oft Abschied genommen. Jetzt gab es etwas Neues in seinem Leben, etwas, an das er noch gar nicht so recht denken mochte, weil es so zart war.

Er stand jetzt hoch und konnte das Land übersehen, aber er nahm das Bild nicht so recht in sich auf. Es war ja auch immer dasselbe: Hügel und Hecken, niedergebrannte Gehöfte und im Hintergrund das Wasser. Heute flimmerte alles im Sonnenschein, die See war still und tiefblau, und über der Büffelkoppel lag schon ein grüner Schimmer. Fritz Mahlte nahm sein Fernglas vor und sah nach den Schanzen. In Schanze 6 hatte eben eine Bombe von der preußischen Strandbatterie eingeschlagen. Eine kleine Rauchsäule stieg auf. Er sah Leute hin und her laufen. Dann blitzte es dort auf. Sie sandten den Preußen ihre Antwort. So ging es nun schon seit Wochen hin und her, ohne daß es zu einer Entscheidung gekommen wäre.

Morgen würde sie kommen. Mit unzähligen Opfern, mit Strömen von Blut sollte sie erkauft werden.

Er ließ das Fernglas sinken und strich sich über die Augen. Allem, was er vorhin gedacht hatte, zum Trotz überfiel ihn plötzlich ein brennendes Heimweh. Er sah den Vater vor sich, wie er mit seinem kleinen Gespann vom Felde kam und durch das Dorf fuhr. Auf der Chaussee hatte er den Briefträger aufsitzen lassen. Der sprang nun am Schulgebäude ab und ging in das Haus. Dieser und jener fragte im Vorübergehen, ob Fritz nicht geschrieben hätte. Dann nickte der Alte, hielt an und erzählte von dem letzten Brief. Darüber kam er ein bißchen spät nach Haus, so daß die Mutter schon in der Tür stand und nach ihm aussah, denn das Abendbrot war fertig.

In Gedanken sah Fritz Mahlke Vater und Mutter in der Küche am Tisch bei der Mahlzeit sitzen. Es war warm und ein klein bißchen dunkel, denn der Fliederstrauch, der vor dem Fenster stand, hatte schon kleine grüne Blätter. Das hatten ihm die Eltern im letzten Brief geschrieben. Natürlich aßen sie Speckklöße, das ganze Haus, roch danach. Als sie fertig waren, zog Vater Mahlke seine Morgenschuhe an und ging ins Dorf, und Mutter wirtschaftete noch ein bißchen in der Küche herum; dann kam die Nachbarin, und sie setzten sich mit ihren Strickstrümpfen auf die Bank vor der Tür. Heute am Sonntag war es allerdings wohl etwas anders. Da saßen Vater und Mutter wohl zusammen in der Stube und hatten seine Briefe vor, – alle, die er während des Feldzuges geschrieben hatte. Mutter wischte sich öfter mal die Augen, und Vater holte bedächtig seine Schreibsachen und schrieb an ihn. »Halt dich brav und bleib gesund!« stand in jedem Brief. Vielleicht bekam er den Brief gar nicht mehr.

Er nahm die Mütze ab und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. Jetzt wäre er beinah weich geworden. Kreuzschockschwerenot! Das wollte er aber nicht, das war doch sonst nicht seine Art! Er drehte sich scharf auf dem Absatz um und ging weiter. Ein schmaler Fußweg fühlte an einem Knick entlang. Feine, braune Äste mit dicken, grünen Blätterknospen streckten sich ihm entgegen und streiften seinen Ärmel. Überall das Leben, das Werden, die Zukunft! Er brach einen Zweig und legte ihn in seine Brieftasche, dann fiel ihm ein, daß er heute noch an seine Eltern schreiben wollte, und er schlug den Weg nach Hause ein, querfeldein über eine Wiese. Die Nübelmühle stand klar und still vor ihm mit gigantischen, unbeweglichen Flügeln; sie war jetzt die einzige in der Gegend, nachdem die Düppelmühle gefallen war. Und auf dem schmalen Weg von der Mühle her kam ihm jetzt Gesine Larsen entgegen.

Er blieb stehen, als er sie sah, und wartete auf sie. Sie hatte nur ein Tuch um die Schultern genommen, und ihr blondes, unbedecktes Haar wehte in feinen, kleinen Locken um ihr Gesicht, Sie sah sehr ernst aus, und auch als sie neben ihm stand, veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichtes nicht, nur das Rot auf ihren Wangen vertiefte sich etwas.

»Das ist der Larsenhof,« sagte sie und zeigte mit der Hand nach Norden.

Da sah er einen von den niedergebrannten Höfen liegen in all seiner Trostlosigkeit.

»Ich bin noch nicht wieder dagewesen,« fuhr sie fort, »aber hierher muß ich manchmal gehen und hinübersehen.« Es zuckte um ihren Mund, als sie das sagte.

»Das sollten Sie nicht tun,« meinte er, »es macht Sie nur traurig.«

Sie lächelte schmerzlich und schüttelte den Kopf. »Sehen Sie da, – das ist die Hohe Koppel. Da stand Vater jeden Abend und sah ins Land. Das war seine Feierstunde. Ich bin auch oft dort gewesen, mit ihm zusammen oder allein. Es war immer wie eine Andacht. Man kann nicht ganz schlecht sein, wenn man da oben steht, wo es so frisch und frei vom Wasser her weht und wo man bis an den Horizont sehen und die See brausen hören kann. Der Larsenhof lag zu unseren Füßen, und wir hatten das alles so lieb und dachten, es könnte nie anders werden.«

»Der Krieg ist ja bald zu Ende,« sagte er tröstend, »der Hof kann wieder aufgebaut werden –«

»Es wird doch nie wieder so, wie es vorher war,« sagte sie, »wir sind alle andere geworden.«

Er sah sie fragend an, aber sie sprach nicht weiter. Sie gingen über das Feld, dem Hause zu. Er war nicht mehr unruhig; alles in ihm war zum Schweigen gekommen, nun sie an seiner Seite schritt, und es lebte nichts in ihm als seine Liebe. Als sie an der Hoftür standen, blieb er plötzlich stehen, die Hand schon an der Klinke. Verlorene Geräusche aus dem Dorf drangen zu ihnen, ein Kommandoruf, ein Pfiff, das Bellen eines Hundes. Sie achteten nicht darauf.

»Morgen wird gestürmt!« sagte Fritz Mahlke mit tonloser Stimme.

Sie nickte, und er sah, daß sie es schon wußte.

»Wer weiß, ob ich morgen noch –«

Da hob sie in verzweifelter Abwehr die Hände, »Nicht – nicht –!«

Regungslos standen sie beide und sahen sich in die Augen – lange – sie wußten selbst nicht, waren es Minuten oder gingen Ewigkeiten hin. Dann breitete er langsam die Arme aus, und sie ruhte an seinem Herzen; lachend, weinend, in Verzweiflung und Seligkeit. – Es war ein seltsamer Abend. Die Soldaten pfiffen und lachten und waren bei alledem so furchtbar ernst. Einige liefen umher und konnten keine Ruhe finden und gaben sich gegenseitig allerlei Aufträge.

»Du, weißt du, wenn ich – dann ist hier ein Brief, den kannst du dann abschicken, hörst du? Aber nicht vergessen. Und zwei Taler find noch in meiner Hosentasche, die kann Mutter gut brauchen.«

»Ach, Mensch, red doch keinen Unsinn!«

»Na, wieso? Manchmal treffen die Danskes doch auch mal einen, warum soll denn das nicht meinem Vater sein Sohn sein?«

Einer lief durch das Dorf, bis er einen gefunden hatte, der aus seinem Heimatsort war. Den weckte er aus tiefstem Schlaf und gab ihm einen kleinen bunten Bilderrahmen, den er mal unterwegs in einem Dorf gekauft hatte.

»Den nimmst du mit und gibst ihn der Grete und sagst ihr, ich hätte an sie gedacht, immer, bis zuletzt, und es soll ihr gut gehen. Aber sie soll nicht den Bartel heiraten, bei dem wird sie's nicht gut haben, der Kerl sauft.«

Der andere besah sich lachend den Rahmen. »Sie wird ja eine Freude haben über dies Geschenk!« An einer Ecke war schon etwas abgebrochen.

Da wurde er kleinlaut. »Ich hab' doch nichts anderes. Sag ihr, ich hätt' nichts anderes gehabt. Und vergiß nicht das mit dem Bartel, hörst du?«

»Nee doch!«

Der andere wollte wieder schlafen, aber noch hatte er keine Ruhe.

»Hast du mir nichts aufzutragen? Es könnte doch auch sein, daß du –«

»Ach, wo werd ich denn! Warum soll denn gerade ich?«

Nun legte er sich wirklich wieder ins Stroh und schnarchte sofort. Am nächsten Tage schlief er auf den Düppeler Schanzen den ewigen Schlaf.

Viele schliefen an diesem Abend so ruhig, als wäre morgen ein Tag wie alle anderen.

Fritz Mahlke hatte, an seine Eltern geschrieben, einen kurzen, seltsamen Brief; er konnte heute nicht recht schreiben. Gesine nahm den Brief, um ihn zur Post zu geben, für den Fall – – Sie sprachen den Satz nicht aus und sahen sich dabei nicht an. Nun war es schon dunkel. Die Soldaten waren vorn. Frau Larsen lag im Bett und schlief. Es war wohl kein Mensch in Nübel – oder sogar im ganzen Sundewitt, da, wo an diesem Abend Preußen lagen – so ruhig wie sie. Ihr einziges Kind hatte im ganzen Leben noch keinen Abend erlebt wie diesen; aber sie ahnte nichts davon.

Inge saß in der Kammer angekleidet im Dunkeln und rang die Hände. Sie versuchte, ruhig zu sein, konnte es aber nicht. Sie wußte, was nebenan in der Küche geschah, und freute sich darüber. Da saßen Gesine und Fritz Mahlke beisammen auf der Bank am Herd. Sie lag still in seinem Arm mit geschlossenen Augen und sprach nicht und meinte, sie müßte vergehen vor Seligkeit unter seinen Küssen. Dann fiel ihr ein, was morgen für ein Tag war, und sie fuhr empor und klammerte sich an ihn und zitterte am ganzen Körper vor Angst und Verzweiflung. Aber er war jetzt ganz ruhig. Er streichelte ihr Haar und küßte ihre Augen und ihr Gesicht, bis auch sie wieder ruhig wurde. An Thies dachten sie beide mit keinem Gedanken.

Die Zeit ging hin. Manchen schien es, als eilte sie in dieser Nacht mit hörbarem Schwingen und Klingen der Ewigkeit zu, als wäre es keine Nacht wie andere. Fritz Mahlke stand auf. Er nahm keinen Abschied. Er sagte nur, er müßte nach seinen Leuten sehen. Vorn wurde es lebhaft; gedämpfter Lärm drang von dort nach hinten, als wenn viele Menschen durcheinander sprächen und suchten. Es war ein Hin und Her nach draußen, und auf der Straße wurde es laut. Dann kam Fritz Mahlke wieder. Er hatte umgeschnallt und sah marschbereit aus. Er sagte nichts, sondern nahm Gesine nur in seine Arme, als wollte er sie zerdrücken, und küßte sie wie ein Verzweifelter. Ihr war, als müßte sie schreien vor Schmerz – laut, gellend, aber sie konnte ja nicht, weil er sie küßte. Und als er sie losließ und wegstürzte, stand sie da wie betäubt und brachte keinen Ton aus der Kehle. Dann lief sie hinaus auf die Straße.

Es war noch dunkle Nacht.

Zwischen den Reihen der kleinen, niedrigen Häuser zogen Soldaten hin, ununterbrochen, immer mehr, immer neue, im gleichförmigen Schritt. Ab und zu klang ein gedämpfter Kommandoruf durch die Nacht. Gesine saß jetzt auf den Steinstufen und sah auf die Soldaten – oder vielmehr ins Leere. Sie hatte das Gefühl, als müßte es so fortgehen in alle Ewigkeit, daß hier in langer Kette Menschen vorbeizogen, die da hinten aus dem Dunkel kamen und unaufhaltsam vorwärts drängten auf einen tiefen Abgrund zu, der da vorn gähnte. Fritz Mahlke war schon dort, und alle diese würden nachstürzen, – und das alles war unabwendbar wie das Schicksal.

Inge kam und setzte sich zu ihr. Sie legte ihr ein Tuch um die Schultern, zitterte aber selbst vor Kälte und Erregung.

Endlich kamen keine Soldaten mehr, sie hörten nur noch den gleichförmigen Schritt der weitermarschierenden Truppen.

»Komm ins Haus, es ist kalt,« sagte Inge. Sie hockten dann zusammen am Herd, um sich zu erwärmen. Der Morgen graute fahl, gespenstisch.

»Ich hab' ihn so lieb – ich hab' ihn so lieb!« flüsterte Gesine ein paarmal mit zitternden Lippen, schlang die Arme um Inges Hals und preßte den Kopf an ihre Brust. Inge streichelte und küßte sie, und ihre Tränen tropften nieder auf Gesines Haar.

»Warum weinst du, Inge?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weine nicht,« sagte sie. Dann glitt sie nieder auf die Knie, legte den Kopf auf Gesines Schoß und schluchzte verzweifelt.

Es war jetzt vier Uhr morgens, und sie begannen von den Strandbatterien zu schießen, so, wie noch niemals geschossen worden war. Die ganze Luft bestand nur noch aus Dröhnen und Krachen; die Fensterscheiben klirrten, der Erdboden zitterte, vielleicht schwankten auch die Häuser, man wußte es nicht genau, es war ja auch gleich, nichts stand mehr fest, alles schwankte und zitterte und stürzte. Man ging wieder vor die Tür. Im grauen Morgenlicht zogen Wagen und Reiter und Munitionskolonnen vorbei, und alles nahm denselben Weg, den schon Tausende von Menschen genommen hatten, in den Abgrund hinein. Die Sonne stieg aus dem Meere auf und warf ihren ersten Goldschimmer über das Land, als sollte dies ein Tag werden wie alle anderen. Das Dröhnen und Krachen hörte nicht auf, sondern wurde immer stärker, und man dachte doch jeden Augenblick, schlimmer könnte es nicht werden.

Langsam, mühsam marschierten die Truppen durch die Laufgräben auf die Schanzen zu, bis die Ausfallstufen erreicht waren. Dort standen sie Mann bei Mann, um auf den entscheidenden Augenblick zu warten. Noch graute kaum der Morgen, und um zehn Uhr erst sollte der Sturm beginnen. Nun schlich die Zeit dahin, als hätte sie Blei an den Schwingen. Im fahlen, ersten Morgenlicht ragten die Schanzen auf, und der Schritt der auf- und abgehenden Postens klang hell von dort herüber.

Das Schießen der Strandbatterien begann, betäubend, jedes andere Geräusch ertötend.

Die Sonne ging auf, es wurde wärmer. Das bleierne, entsetzliche, abspannende Warten wurde immer unerträglicher.

Fritz Mahlke stand an den Grabenrand gelehnt und schloß die Augen. Er schlief nicht, jeder Nerv war noch angespannt; aber wie im Traum zog alles an ihm vorüber, was er in den letzten Stunden erlebt hatte. Es war ein so großes, unfaßbares Glück. Er möchte leben, mit allen Fasern hängt er jetzt am Leben, und vor ihm liegt der Todesweg; dreihundert Schritt nur bis zu den Schanzen, aber auf jedem Schritt kann ihn eine Dänenkugel treffen.

Um ihn herum schlafen viele, stehend, oder an die Grabenränder gelehnt, aber allmählich wird es lebendiger, es wird gesprochen und gelacht und allerlei Scherz getrieben. Dies entsetzliche Warten muß nach Möglichkeit verkürzt werden.

Die Kanonen verstummen plötzlich, doch es ist noch nicht ganz still. Liegt das Dröhnen noch in der Luft oder tönt es nur im Ohr weiter? Allmählich verklingt es – und die Stille ist fast furchtbarer als der betäubende Lärm. Das Scherzen und Lachen hört auf, ein großer Ernst liegt plötzlich über allen. »Zum Gebet,« geht es die Reihen entlang, und Tausende von Menschen entblößen das Haupt und beten still, während die Geistlichen segnend die Hände ausbreiten.

Noch ist die Zeit nicht da. Die Führer stehen mit den Uhren in der Hand. Jede Minute geht bleischwer hin wie eine Ewigkeit – und in rasender Schnelligkeit drängen sich die Gedanken in dem Hirn der Krieger, als würde noch einmal alles lebendig, was ihnen das Leben bedeutet hat, kleines und großes. Die Eltern und das Vaterhaus und kleine, dumme Geschichten aus der Kinderzeit, Pläne, die noch nicht ausgeführt sind, ein Glück, das noch nicht ausgekostet wurde, und Sünde, die noch nicht gesühnt ist, das alles steigt auf und steht da und lockt oder droht. Vorsätze werden gefaßt, heiße, ernste Vorsätze, und mancher faltet noch einmal die Hände und will beten, aber es fallen ihm keine Worte ein, weil das Herz so übervoll ist. Da stammelt er das kleine Kindergebet, das seine Mutter ihn gelehrt hat, als er noch ein kleiner, kleiner Junge war.

Nun ist die Zeit um! Die Führer springen auf, und ringsum in den Gräben wird es lebendig. Die Musikchöre spielen einen neuen Marsch, aber niemand hört hin. Alles ist vergessen, Glück, Leid, Sünde, es gibt nur noch einen Gedanken und ein Ziel: – und Tausende von jungen, blühenden Leben stürmen mit brausendem Hurraruf den verderbenbringenden Schanzen entgegen.

Zwölftes Kapitel.

Auf allen Anhöhen standen Menschen und erlebten das alles mit. Sie beteten und zitterten und jubelten auf, als sie die ersten preußischen Fahnen von den Schanzen wehen sahen. Gesine war unter denen, die am weitesten vorgedrungen waren. Sie hielt ein Fernglas in der Hand – wußte aber selbst nicht, wo sie es her hatte. Unverwandt sah sie nach Schanze 6 hinüber, die von den Elisabethern gestürmt wurde, alles andere kümmerte sie nicht. Sie dachte nicht an Sieg oder Niederlage, sie sah nicht die Fahnen von den Schanzen wehen, sie dachte nur an einen und betete für einen und suchte ihn im Schlachtgewühl und fand ihn nicht. Die Sinne wollten ihr schwinden, aber sie raffte sich wieder auf und stürzte weiter vor; dann fiel sie auf die Knie und dachte, wenn es noch lange so fort ginge, müßte sie den Verstand verlieren.

Die Krankenträger mit den ersten Verwundeten kamen. Sie hörte sie ächzen und stöhnen. Und da kam plötzlich eine furchtbare Ruhe über sie, die starre Ruhe eines Menschen, der vor der Entscheidung steht. Sie ging von Bahre zu Bahre und sah in die schmerzentstellten Gesichter, ohne das gesuchte zu finden. Immer mehr kamen, und es war furchtbares, was sie sehen mußte. Das große, menschliche Elend schrie zu ihr und ließ sie das eigene Leid vergessen. Sie lief und half und packte mit an, wo sie konnte, als hätten ihre Kräfte sich verdoppelt. Sterbende griffen nach ihren Händen, und sie blieb bei ihnen, betete mit ihnen und harrte aus, bis sie ihren letzten Atemzug getan hatten. Verwundeten sprach sie Trost zu.

Dann sah sie auf einer Bahre einen liegen, der die Uniform des Elisabethregiments trug. Sie ging hin und sah in ein blasses Gesicht mit geschlossenen Augen, auf einen Rock, der an der Brust von Blut durchtränkt war. Einen Augenblick wankten ihr jetzt die Knie, und es wurde ihr schwarz vor den Augen, aber sie raffte sich gleich wieder auf. Jetzt war sie ja eigentlich erst am richtigen Platz. Sie legte ihr Ohr an seinen Mund und fühlte seine matten Atemzüge. Da küßte sie das blasse, mit Staub und Schmutz bedeckte Gesicht, als könnte sie ihr junges, frisches Leben dadurch auf ihn übertragen. Krankenträger kamen und brachten ihn auf einen Wagen, der die Verwundeten nach Nübel ins Johanniterhospital bringen sollte. Sie lief nebenher und wartete stundenlang dort vor der Tür. Ihre Kräfte verließen sie erst, als sie hörte, daß Fritz Mahlkes Wunde nicht lebensgefährlich wäre.

Inge war nicht in aller Frühe hinausgelaufen wie die andern. Sie hatte ihr Haus besorgt und Frau Larsen beim Anziehen geholfen. Die Kranke wußte nichts vom Sturm.

»Was schießen sie heute doll,« sagte sie, aber es beunruhigte sie nicht. Sie saß still in der Küche, da, wo Inge sie hingeführt hatte, während Inge nebenan die Kammer in Ordnung brachte.

»Nun muß Jens bald wieder kommen,« sagte Frau Larsen plötzlich nach längerem Stillschweigen.

Inge hielt mit einem Ruck in ihrer Arbeit inne. »Warum?« fragte sie. Sie hatte gar keinen Ton in der Stimme.

»Er ist doch schon so lange weg.«

»Ja.« Inge arbeitete nicht gleich weiter, sondern setzte sich auf den Bettrand und preßte die Hände ineinander. Sie hatte ein so furchtbares Schuldgefühl der Kranken gegenüber, und sie dachte wieder, es wäre besser gewesen, sie hätte Jens nicht fortgeschickt. Nun hatte seine Frau ihn so lange entbehren müssen, gerade jetzt, wo sie krank und hilfsbedürftig war. Und was hatte ihr selbst die Trennung genützt? War sie stark und fest geworden?

»Wenn Jens kommt, wollen wir wieder nach Hause,« sagte Frau Larsen, »Der Krieg ist ja nun bald zu Ende. Mal müssen wir doch wieder hin. Ich freu' mich eigentlich nicht darauf. Denken Sie, ich freu' mich darauf?«

»Ja,« sagte Inge, »Sie entbehren hier doch so viel, und Ihr Mann ist schon so lange fort.«

Frau Larsen schüttelte den Kopf. »Dann fängt all die Sorge wieder an mit den Leuten und der großen Wirtschaft, und Jens wird böse, wenn ich klage. Ich hab' es oft nicht leicht mit ihm, das können Sie mir glauben. Wenn ich das alles so vorher gewußt hätte, hätt' ich doch lieber Michel Thorreson genommen, der drüben auf Alsen den großen Hof hat, wissen Sie? Thorregaard bei Ulkebüll. Der wollt' mich damals auch, aber ich dachte, der Larsenhof wäre doch schöner, und sie hatten da auch nicht solche große Milchwirtschaft wie auf Thorregaard, und das macht immer so viel Arbeit für die Frau. Jens sagt, Michel wär' ein Tranpeter und dumm wie Bohnenstroh, aber er ist viel bequemer zu nehmen, und seine Frau hat's viel leichter. Ja, wenn man das alles so vorher wüßte, nicht?«

Inge saß immer noch auf der Bettkante. Sie hatte ein würgendes Gefühl in der Kehle und konnte keinen Ton herausbringen. Frau Larsen erwartete wohl auch keine Antwort. Sie schien froh zu sein, sich einmal aussprechen zu können.

»Er ist so heftig und jähzornig,« fuhr sie fort, »und immerzu ist er im Streit mit irgend jemand. Ich geb' ihm dann schon immer recht, damit er sich beruhigt, aber jetzt ist es mir langweilig geworden, ich mag nichts mehr davon hören, und nun sagt er mir's auch nicht mehr. Das geht mich ja doch nichts an, das mag er allein abmachen.«

Inge hatte die Hände gegen die Schläfen gepreßt. Sie hätte aufschreien mögen, die Frau packen und schütteln und zur Besinnung bringen. Ach, alles, alles, was früher ihr höchstes Glück gewesen war, das verstand diese nicht, das ließ sie achtlos aus den Händen gleiten. Ihm helfen, ihn leiten und dann lieben, grenzenlos lieben und sich von ihm lieben lassen – ihn verstehen in seinen großen Eigenschaften und in seinen Schwächen! Und diese Frau war blind neben ihm hergegangen! Ihr wurde heiß und schwindlig, sie hielt es nicht länger aus. Das Schießen draußen wurde immer stärker. Die Uhr ging auf zehn. Sie stand auf und ging in die Küche.

»Wollen Sie hier sitzen bleiben?« »Wo gehen Sie hin?«

Sie konnte ihr nicht sagen, daß sie nur vor sich selber die Flucht ergriff. »Ich komm' wohl bald wieder. Die Tür zur Kammer steht auf, und Ihr Bett ist zurecht gemacht, wenn Sie sich wieder hinlegen wollen. Der Stuhl steht am Fenster.«

Frau Larsen sagte noch irgend etwas, aber Inge achtete nicht darauf. Ihre Kraft war erschöpft. Sie ging durch die Hoftür hinaus auf das Feld. An den Sturm dachte sie nicht, dorthin, wo all die andern Menschen waren, wollte sie nicht. Am liebsten wäre sie immer so weitergegangen, ohne Weg und Steg über Wiesen und Felder und Äcker, bis sie nicht mehr konnte, um dann liegen zu bleiben am Wege, wo niemand sie kannte. Endlich blieb sie heiß, atemlos, erschöpft stehen. Zu ihren Füßen lag ein niedergebranntes Gehöft, und sie erkannte, daß es der Larsenhof war. Sie setzte sich auf einen Stein, stützte den Kopf in beide Hände und sah hinunter auf die kahlen, schwarzen Mauern, die so düster gen Himmel starrten. Von den Schanzen her erscholl das furchtbare Schießen und Geschrei und Musik, alles in wirrem Durcheinander. Inge Hansen hatte gejubelt, als sie hörte, daß es Krieg geben würde und die Preußen kommen wollten, um Schleswig-Holstein von der Tyrannei der Dänen zu befreien; aber in dieser Stunde, als die Entscheidung fiel, dachte sie gar nicht daran. Ihr eigenes Geschick nahm sie ganz in Anspruch. Sie sah hinunter auf die Stätte, die Jens Larsens Heim gewesen war, das sie nicht hatte mit ihm teilen dürfen, und dachte an seine Frau. So wenig hatte sie ihn verstanden, so wenig war sie ihm gewesen!

Der Schmerz, der jetzt in Inge Hansen schrie, galt nicht in erster Linie ihrem verlorenen Liebesglück. Sie stand schon da im Leben, wo der Mensch zurückschaut und sein Leben als Ganzes betrachtet, und sie erkannte nun, daß sie um eine große, wundervolle Lebensaufgabe gekommen war. Es gab einen Menschen, den sie liebte und verstand, dem sie immer die Hand hätte geben können, um ihm über sich selbst hinaus zu helfen. Sie wäre die einzige gewesen, die es gekonnt hätte – aber sie hatte es nicht gedurft. Wie hätte sie all ihre Kräfte entfalten können bei diesem Leben! Peter brauchte sie nicht so nötig; der stand selbst so fest in seiner ruhigen Güte. Aber dieser, der immer im Kampf lag mit seiner Natur – –

»Inge!« sagte jemand hinter ihr.

Sie sah sich nicht um; sie zitterte nur bis ins innerste Mark. Jens war wieder da!

Er beugte sich über sie. »Was machst du – hier?«

Da stand sie auf und sah ihn an. »Ich denke an dich und mich – und wie alles gekommen ist.«

»So ist es gekommen,« sagte er und zeigte auf die Brandstätte, »alles liegt in Schutt und Trümmern, alles. Nur eins besteht noch – das ist unsere Liebe Inge rührte sich nicht, sie senkte nur tief den Kopf und wußte selbst nicht, war es vor dem Übermaß des Glückes oder des Leides. Für Jens aber lag in dieser Bewegung das große Zugeständnis ihrer Schwäche.

»Komm,« sagte er und griff nach ihrer Hand, »hilf mir! Ich war nicht hier, seitdem mein Hof abgebrannt wurde.«

Sie wäre vielleicht nicht mitgegangen, wenn er nicht gesagt hätte: »Hilf mir!« Aber das war ein Zauberwort. Wenn jemand Inges Hand nahm und bat: »Hilf mir,« dann hatte er sie gewonnen. Und nun erst Jens Larsen!

Sie gingen hinunter auf den Larsenhof. Die Mauern standen größtenteils noch, aber innen war alles ausgebrannt. Schutt und Geröll und verkohlte Balken versperrten ihnen oft den Weg. Jens ging mit blassem Gesicht umher. Er sprach nicht. Endlich setzte er sich müde auf einen Balken. Er hatte Inges Hand losgelassen und beide Fäuste auf die Knie gestemmt.

»Das ist mein Larsenhof, Inge,« sagte er, »weißt du, mein Larsenhof, auf den ich so stolz war, dem ich dich geopfert habe, weißt du? Verstehst du? So sieht er jetzt aus, so! Das ist davon übrig geblieben!« Er stieß ein paarmal mit dem Fuß in den Schutt. »Da sieh!« In ohnmächtiger Verzweiflung biß er die Zähne zusammen, daß es knirschte. »Da!«

»Ja, Jens,« sagte sie und legte ihm leicht eine Hand auf die Schulter. »Aber nimm es nicht so schwer. Ein Haus kann man wieder aufbauen.«

Er nickte langsam mit dem Kopf. »Was liegt im Grunde auch daran. Aber ein verpfuschtes Leben ist nicht wieder gut zu machen.«

»Nein,« sagte sie. »Darum nützt es auch nichts, darüber zu klagen, Jens. Du mußt nicht hier sitzen und in den Schutt starren. Komm mit zu deiner Frau. Du hast noch Pflichten.«

Er lachte grimmig auf. »Zu meiner Frau, damit sie mir was vorklöhnt! Jetzt werde ich sehen, was ich an ihr habe! Sie hat ja immer was zu klagen, aber wenn sie dies erst sieht – du, Inge, wenn sie den Larsenhof sehen wird, wie er jetzt ist –« er lachte noch wilder – »meinst du, daß sie ein Wort zu mir sagen wird, ein Wort des Mitleids über das, was ich verloren habe? Glaubst du, sie wird einen Augenblick daran denken, was mir das bedeutet? Jammern wird sie, daß sie die unglücklichste Frau unter der Sonne ist, Vorwürfe wird sie mir machen, als hätte ich ihr das Dach über dem Kopfe angesteckt. Und was ist ihr im Grunde der Larsenhof! Nichts als eine Last. Sie hatte keine Liebe dafür und kein Auge für all das Schöne. In der ersten Zeit, da dachte ich ja noch, es könnte noch werden, weißt du, wir könnten uns noch miteinander einleben, so ähnlich – ach Gott – bloß ein klein bißchen so, wie es mit uns beiden gewesen war. Weißt du, Inge?«

Er sah sie fragend an, und sie nickte stumm.

Da fuhr er mit weicher, leiser Stimme fort: »Was der eine lieb hatte, das hatte auch der andere lieb, und was der eine fühlte, das fühlte auch der andere. Aber so ist es nie mit mir und ihr geworden. Ich hatte den besten Willen, ich hab' mir alle Mühe gegeben, aber wenn die rechte Liebe fehlt – wenn man sich überhaupt erst Mühe geben muß – und wenn der andere gar kein Verständnis hat für das, was man will. – Manchmal habe ich sie abends gebeten, mit auf die Hohe Koppel zu kommen. Da hinauf, siehst du? Dann lag der Hof zu unsern Füßen, das Haus, alles was unser war, und wir konnten über das Land sehen, so weit, so weit, bis zur See. Das waren meine schönsten Stunden, Inge. Da war ich ein anderer Mensch, da war ich gut. Wenn sie mich da ein bißchen verstanden hätte! – Sie kam ja mit und stand neben mir und sah doch all das Schöne nicht. Sie langweilte sich. ›Es ist gräßlich hier oben, hier zieht es immer,‹ sagte sie nur. Da habe ich nicht mehr gesagt, daß sie mitkommen sollte. Sie störte mich ja nur. Nicht wahr, Inge, du hättest das nicht gesagt?«

»Nein,« sagte sie leise, und sie sahen sich in die Augen und wurden beide etwas weich. »Du hättest mich aber auch so fest in den Arm genommen, Jens, daß ich nicht frieren konnte,« fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Hast du das bei deiner Frau auch getan?«

»Nein –« sagte er zögernd und nachdenklich, »nein, so war das nicht mit uns.«

»Siehst du, daher kommt das alles. Hättest du sie lieb gehabt, dann hätte sie sich nicht über den Zug beklagt. Du mußt nicht ihr allein die Schuld geben.«

Er stand auf und ging hin und her, von einer der kahlen, schwarzen Mauern zur andern. »Nein, nein, ich will ihr ja auch keine Schuld geben. Schuld! Es ist ja einerlei, wer schuld hat. Was ist überhaupt Schuld! Jeder macht mal was Verkehrtes, und bei dem läuft's gut ab und schadet's nicht, und bei dem andern ist der Teufel im Spiel, und das ganze Leben ist verpfuscht, um eine Dummheit – um eine Dummheit!«

Beide Arme warf er gegen die geschwärzte Mauer und legte den Kopf darauf. So blieb er lange stehen.

»Du bist schuld, Inge,« sagte er endlich.

»Ich?«

»Du hättest nicht so still fortgehen dürfen, als ich es dir sagte. Du kanntest mich ja doch besser als alle andern, besser als ich selbst. Du mußtest wissen, daß ich in mein Unglück ging. Inge, warum hast du mich da nicht festgehalten!« Er stand vor ihr und packte sie an beiden Armen.

»Ich war zu stolz dazu,« sagte sie leise mit zuckenden Lippen, als ob sie ihm das Bekenntnis eines großen Unrechts ablegte.

Er hielt sie noch immer an den Armen. Jetzt zog er sie an sich, nicht stürmisch, aber mit großer Willenskraft, in der etwas so Zwingendes lag, daß Inges Widerstand davon gebrochen wurde. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter, und er sprach auf sie ein, leise, abgebrochen, beschwörend: »Komm mit, Inge, laß uns alles vergessen. Hier ist der Sturm, hier ist alles durcheinander – viele Menschen sterben heute da drüben. Wir können ja auch gestorben sein. Viele Menschen werden in diesen Tagen weinen, weil ihnen etwas Liebes genommen ist. Laß Peter auch weinen. Warum soll er es besser haben als die andern? Er ist alt. Er hat dich lange genug gehabt. Wenn ich damals nicht solch ein Tor gewesen wäre, hätte er dich nie bekommen. Jetzt fordere ich dich zurück. Er muß dankbar sein für die lange Zeit, die er dich gehabt hat.«

Inge zitterte und war ganz schwach. Es kam eine große Versuchung über sie. Sie litt es, daß er ihr Gesicht zu sich emporhob und mit verzehrenden Küssen bedeckte. Ihr war, als wäre sie losgelöst von allem, was ihr Leben bis jetzt ausgemacht hatte.

»Wir fangen ganz von vorn an, wir beide,« fuhr Jens fort, »es wird alles wieder, wie es damals war. Inge – Inge – sag ein Wort! Komm, laß uns gehen. Jetzt gleich!«

Sie stand noch und rührte sich nicht. Alle Fasern ihres Herzens zogen sie zu ihm, und doch wurzelten ihre Füße fest am Boden. Sie dachte an die Frau, die da unten in Nübel saß und ihn nicht verstand und sich nicht freute, wenn er wiederkam, und die doch ein Recht an ihn hatte.

»Denk' an deine Frau,« sagte sie endlich leise.

Er machte ein finsteres Gesicht. »Meine Frau braucht mich nicht.«

Da fuhr sie zusammen. Es war, als hätte dies Wort ihr einen Schleier von den Augen genommen.

»Doch, Jens,« rief sie, »doch, sie braucht dich, auf Schritt und Tritt –!«

Er sah sie erstaunt an. Da packte sie ihn am Arm und schrie: »Sie ist ja blind!«

»Blind?«

»Ja, sie kann nicht sehen und hat Schmerz in den Augen. Wir haben ihr gesagt, wenn du wiederkämst, würdest du sie nach Hamburg oder Flensburg zum Augenarzt bringen, und dann würde es bald ganz gut sein. Darauf wartet sie, darauf hofft sie. Aber ich glaube nicht, daß es gut wird. Sie bleibt blind, und dann braucht sie einen Menschen, der sie führt –«

Sie sprach atemlos, eindringlich, sie wollte ja nicht nur ihn mit ihren Worten überzeugen, sondern auch sich selbst. Jens sah sie immer noch ungläubig und fassungslos an.

»Blind!« stammelte er, »blind!«

Es schien, als würde ihm erst langsam klar, was das hieß. Er wurde ganz blaß und griff sich an den Kopf. Seine beiden Hände krampften sich fest in sein Haar. Und Inge sah seine abgrundtiefe Verzweiflung und fühlte, daß sie jetzt an seiner Seite stehen und ihm helfen müßte. Sie griff nach seinen Händen, daß der Krampf sich löste, strich ihm über das Haar und sagte: »Du hast einen Menschen, der dich braucht, Jens. Bedenke, einen Menschen, der dich auf Schritt und Tritt braucht. Das ist etwas Großes.«

Er wurde nicht ruhig. Sie sah seine starken Schultern beben unter der großen Erregung, die ihn schüttelte; und plötzlich stürzte er in die Knie, griff mit den Händen in ihr Kleid und preßte den Kopf in die Falten. Sie strich ihm mit zitternden Händen über das Haar, sprechen konnte sie nicht. Was sollte sie auch sagen? Sie wußten ja beide, welchen Weg sie jetzt gehen mußten.

In Jens bäumte sich noch einmal die Verzweiflung auf. Er sprang auf und schrie: »Ich bin zurückgekommen, weil ich gedacht hab', sie wär' tot, – und dann wollt' ich dich mit mir nehmen, Inge, irgendwohin, weit fort! Geraubt hält' ich dich, wenn du nicht mit mir gekommen wärst! Aber du wärst ja mit mir gegangen, Inge –«

Er stand vor ihr und sah sie an und las die Antwort in ihren Augen. Da riß er sie noch einmal in seine Arme und küßte sie mit der ganzen Glut seiner Leidenschaft und seiner verzweifelten Liebe, als wollte er ihr Leben und ihre Seele von ihren Lippen trinken. Als er sie endlich mit einem stöhnenden Laut freiließ, setzte sie sich auf einen Balken, weil ihre zitternden Füße sie nicht mehr tragen wollten, und er warf sich vor ihr nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. Da neigte sie sich zu ihm, schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn fester an sich. So saßen sie lange zwischen den Mauern des niedergebrannten Larsenhofes und fühlten beide, daß dies vielleicht in ihrem Leben der größte Augenblick war: da sie sich selbst überwanden.

Nachher sagte Inge mit leiser Stimme noch vieles, was ihn ruhiger machte und ihm Kraft gab, und dann gingen sie zusammen nach Nübel zurück.

Am Johanniterhospital neben der Kirche waren eben die ersten Verwundeten angekommen, und es gab nicht Hände genug, sie in das Haus zu tragen; weithin hörte man ihr Schreien und Wimmern. Wagen und Reiter zogen durch das Dorf. Die Bewohner waren noch fast alle draußen. Jens und Inge kamen über das Feld und gingen durch das Hoftor. Es war derselbe Weg, den Gesine am Abend vorher mit Fritz Mahlke gegangen war. Von dem Treiben im Dorfe merkten sie nichts. Inge ging voran ins Haus. Die Küche war leer, und auch in der Kammer nebenan war Frau Larsen nicht. Nun überfiel sie eine Angst. Wo war sie geblieben? Sie hatte sie allein gelassen, und wenn ihr etwas zugestoßen war, trug sie die Schuld. Sie suchten das ganze Haus ab, ohne sie zu finden, und sahen sich mit angsterfüllten Augen an.

»Vielleicht ist sie auf die Straße gegangen,« sagte Jens endlich.

Inge lief hinaus. Menschen kamen und riefen schon von weitem: »Die Schanzen sind gestürmt, die Dänen sind nach Alsen zurückgeschlagen. Schleswig-Holstein ist frei!«

Inge hörte kaum darauf, sondern fragte, ob sie Frau Larsen nicht gesehen hätten. Nein, sie hatten auch nicht darauf geachtet. Hunderte von Toten und Verwundeten lagen da draußen auf dem Schlachtfeld, da sah man nicht nach einer blinden Frau. Sie stürmten weiter, trunken vor Freude, und riefen die Siegesnachricht in die Häuser.

Ein Depeschenreiter jagte vorbei; Munitions- und Proviantwagen rasselten vorüber. Dann kam von Düppel her ein langer Zug gefangener Dänen, von preußischen Husaren eskortiert. Sie sperrten die Straße, so daß Jens und Inge zur Seite treten mußten, um sie vorbeizulassen. Da vergaßen sie einen Augenblick ihre Angst und Sorge. Es war etwas so Erschütterndes, was sie sahen. Gefangene Dänen! Blasse Menschen, die müde dahinzogen, nicht einmal verzweifelt oder unglücklich, nur müde, ermattet, stumpf. Ein Husarenpferd scheute und sprang zur Seite, ein paar andere wurden unruhig. Inge kam die Angst wieder. Wenn Frau Larsen nun allein unterwegs war, wenn sie im Durcheinander unter Pferdehufe geriet!

Sie lief nun doch die Straße hinauf, an den Häusern entlang; manchmal mußte sie sich an die Wand drücken, um die Truppe vorbeizulassen. Jens folgte ihr; er fühlte, was sie dachte, und teilte ihre Unruhe. Endlich war der Zug der Soldaten vorüber und die Straße wieder frei. Da blieben sie beide auf einmal stehen. Peter kam ihnen entgegen, und an seiner Seite ging, von ihm sorgsam geführt und gestützt, Frau Larsen.

»Peter und deine Frau, sagte Inge leise.

Jens atmete schwer.

Nun sah Peter das Paar, er sagte es Frau Larsen, und sein altes freundliches Gesicht hellte sich auf. Sie hob den Kopf mit den verbundenen Augen und machte schnellere Schritte.

»Geh ihr entgegen,« bat Inge. Da er nicht folgte, sondern neben ihr stehen blieb, so daß sie jeden seiner Atemzüge wie ein qualvolles Stöhnen hörte, bat sie noch einmal: »Geh ihr entgegen, Jens.«

Da tat er es, aber sie sah, daß er Schritte machte, wie einer, der seine Füße nicht in der Gewalt hat. Sie wußte aus ihrem eigenen Gefühl heraus, was dieser Gang von ihr zu seiner Frau zurück ihn kostete, und sie stand noch immer auf demselben Fleck, und ihre Seele schrie zu Gott um Hilfe und Kraft für sich und für ihn.

Jens hatte seine Frau erreicht. Sie streckte die Hände nach ihm aus, und er nahm sie. Als Inge zu ihnen kam, sprach Frau Larsen schon eifrig auf ihn ein.

»Ich hab' auf dich gewartet, Jens, schon lange. Ich kann nicht sehen, das Fieber ist in meinen Augen geblieben, und du mußt mit mir zum Augenarzt, daß der es raustreibt. So kann ich ja gar nichts tun, immer muß ich warten, daß jemand kommt und mich führt und mir hilft«

Jens nickte, aber dann dachte er daran, daß sie das ja nicht sehen konnte, und so sagte er: »Ja,« mit einer gepreßten, gequälten Stimme, die man kaum hörte.

»Heute war ich so lange allein, und draußen war so viel Lärm,« fuhr sie fort, »da bin ich zuletzt rausgegangen und hab' mich an den Häusern entlang getastet. Es kamen so viel Wagen und Menschen, und sie riefen alle durcheinander und es wurde soviel geschossen –«

»Die Schanzen sind gestürmt!« fiel Jens ein. Er sagte es, wie man von einem großen, erschütternden Ereignis spricht.

»Ja,« sagte Frau Larsen gleichgültig nickend, »da bin ich zuletzt über einen Stein gefallen, und mein Kleid hatte sich irgendwo festgehakt, so daß ich nicht wieder allein aufkommen konnte. Endlich kam Peter Hansen und half mir.« Wo Jens in der langen Zeit seiner Abwesenheit gewesen war und wie es ihm ging, danach fragte sie nicht.

Als sie Inge hörte, sagte sie in vorwurfsvollem Ton: »Sie haben mich so lange allein gelassen, daher ist es gekommen. Wo waren Sie denn?«

Inge senkte den Kopf und schwieg, denn sie wußte nicht, was sie antworten sollte. Jens aber sagte: »Du mußt Inge Hansen danken, denn sie hat mich zu dir zurückgebracht.«

Er sagte es sehr ernst, aber was für eine tiefe Bedeutung in dem Worte lag, erfuhr Frau Larsen nie. Sie gingen nun weiter. Jens Larsen führte seine Frau, und Inge und Peter Hansen folgten.

Es war ein stiller Weg, und der einzige, der froh aussah, war Peter. Er dachte an den Sturm, und ohne daß er es selbst merkte, brummte er wieder das Schleswig-Holsteinlied vor sich hin.

Dreizehntes Kapitel.

Sie saßen noch alle in der Küche beisammen und warteten auf die Suppe, die Inge kochte, als die Tür aufging und Gesine eintrat. Sie war totenblaß, das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, und sie sah mit einem leeren Blick um sich. Es schien ihr nicht einmal aufzufallen, daß ihr Vater wieder da war.

»Fritz Mahlke ist schwer verwundet,« sagte sie mit tonloser Stimme, »aber er kann am Leben bleiben, vielleicht, wenn – wenn alles gut geht.«

Inge konnte noch gerade zur rechten Zeit zustürzen, um die schwankende Gestalt in ihren Armen aufzufangen. Müdigkeit, Schwäche und Erregung hatten Gesine übermannt, und sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

»Was ist da?« fragte Frau Larsen. Sie hatte nicht einmal Gesines Stimme erkannt, so verändert war sie gewesen. Aber sie bekam vorläufig keine Antwort. Inge führte die Weinende in die Kammer, legte sie aufs Bett und machte die Tür zu. Dann setzte sie sich zu ihr, und Gesine schlang die Arme um sie und legte den Kopf auf ihren Schoß. So wurde sie allmählich ruhiger und konnte in leisen, abgebrochenen Sätzen erzählen, was sie erlebt hatte. Nach einiger Zeit kam Jens herein. Da klammerte Gesine sich ängstlich noch fester an Inge an, und diese legte den Arm um sie, als wollte sie sie schützen. Aber Jens fragte nicht und schalt nicht. Er stand still und sah auf die beiden. Sein Kind hatte hilfe- und trostsuchend Inge Hansens Knie umfaßt und den Kopf in ihren Schoß gelegt, gerade so, wie er es heute zwischen den Mauern seines abgebrannten Hauses getan hatte. Da strich er ihr leise über das Haar und ging wieder hinaus. Nun wurde Gesine ruhig, und Inge kehrte in die Küche zurück.

»Sie hat den Sturm mit angesehen und ist nun müde,« sagte sie zur Erklärung und trat an den Herd, wo Peter inzwischen eifrig die Suppe gerührt hatte. Beim Essen war Frau Larsen die einzige, die ab und zu etwas sagte. Dann ward sie auch müde und legte sich auf das zweite Bett in der Kammer. Gesine war eingeschlafen, aber sie lag unruhig und fuhr öfters empor. Es war nur der völlig erschöpfte Körper, der seine Ruhe verlangte, der Geist quälte sich noch mit wilden, schrecklichen Bildern ab.

Peter ging fort; er mußte sehen und hören, was sich noch alles ereignet hatte.

Sobald Jens mit Inge allein in der Küche war, fragte er: »Was ist mit Gesine?«

Da sagte sie ihm alles, was sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte und was Gesine ihr von sich und Thies erzählt hatte. Sie hatte erwartet, daß er zornig werden würde und sie viel sagen müßte, um ihn zu beruhigen und umzustimmen. Er blieb aber stumm und ging nur in der Küche mit großen, wuchtigen Schritten auf und ab. Endlich lachte er auf, bitter, grimmig.

»Das mußte ja noch kommen, damit mein Maß voll wurde – das! Sonst war' mir ja auch noch was geblieben, wenn Gesine Thies geheiratet hätte, daran hätte ich mich ja doch aufrichten können. Aber nun – nun – ja – das mußte kommen! Nun ist alles, alles hin! Das ist so einfach – nichts ist übrig. Mein Hof ist niedergebrannt, meine Frau ist blind, Gesine geht weit weg und heiratet einen Preußen, – einen Preußen, Inge! Und du–« Den Satz vollendete er nicht.

Er hatte ganz ruhig gesprochen, so ruhig, daß es Inge beängstigte; nun setzte er sich schwer auf einen Stuhl, legte beide Arme auf den Tisch und drückte das Gesicht darauf. So blieb er lange sitzen, wie gebrochen. Inge hatte zum erstenmal kein Trosteswort für ihn, sie wußte keinen Trost mehr. Sie lehnte an der Wand und faltete die Hände, aber sie hätte selbst nicht sagen können, ob sie eigentlich betete. Ihr war, als löste ihr ganzes Sein sich auf in dem Wunsche, ihm zu helfen, und in dem Schmerze, es nicht zu können.

»Aber du wirst sie nicht zwingen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt, nicht wahr?« bat sie endlich eindringlich.

Er hob den Kopf und sah sie erstaunt an, als wunderte er sich, daß sie das fragen könnte. »Nein,« sagte er mit ernster Betonung, »sie soll ihrer Liebe folgen.«

Da atmete sie wie erlöst auf, trat zu ihm und umfaßte seine Hände, die noch geballt auf dem Tisch lagen, mit ihren Fingern wie zum Dank. Ihre Gedanken begegneten sich in einem langen, langen Blick. In dieser letzten Stunde, die ihnen beiden allein gehörte, hatten sie über das Geschick seines Kindes entschieden. Sie hatte es ihm gebracht und ans Herz gelegt, wie eine Mutter ihr Jüngstes dem Vater in die Arme legt, zart und vorsichtig, ganz in dem Gefühl, daß es das Kostbarste ist, was sie ihm geben kann – und er hatte es genommen und hatte nicht daran gezerrt und hatte es nicht nach seinem Willen umzuformen versucht, – er nahm es, wie sie es ihm gab.

Am nächsten Tage fuhr Jens mit seiner Frau und Gesine nach Flensburg. Wie lange sie bleiben würden und was aus ihnen werden sollte, konnte er selbst noch nicht sagen. Vor allen Dingen wollte er mit seiner Frau zum Augenarzt gehen. Darauf, daß Gesine mitkam, hatte er trotz ihrer Bitten und Tränen eisenfest bestanden. Fritz Mahlke mochte sie suchen, wenn er sie haben wollte; wo sie zu finden wäre, konnte er ja immer von Inge erfahren. Gesine ergab sich auch bald; nach dem ersten Schrecken bei dem Gedanken an die Trennung wurde ihr doch klar, daß sie den Vater jetzt nicht mit der blinden Mutter allein lassen durfte. Aber eine lange Unterredung hatte sie mit Inge im Holzstall, und sie weinten beide und küßten sich.

Als der Wagen zur Abfahrt vor der Tür stand, ging Jens still von den anderen fort und suchte Inge. Er meinte, er müßte sie irgendwo in einem Winkel finden wie damals, als sie sich mit ihrem Schmerz um ihren Jungen verkrochen hatte. Sogar aus der Hoftür sah er hinaus auf das Feld. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er sie dort gefunden hätte in fassungsloser Verzweiflung gegen die Mauer gedrückt oder im Grase liegend, mit dem Gesicht nach unten. Ihm war danach zumute, und er wußte nicht, wie er dann sich wieder von ihr fort finden sollte. Sie war aber nicht da, und als er ins Haus zurückkam, stand sie mit den andern vor der Tür am Wagen. Ihr Gesicht war so ruhig, als wäre es aus Stein gemeißelt, und auf einmal war es ihm unbegreiflich, daß er sich Inge in dieser Stunde hatte anders denken können als stolz und stark.

Frau Larsen saß schon oben.

»Wo ist denn Jens?« rief sie gerade. »Kommt er immer noch nicht?«

Da trat er zu ihnen, drückte Peter und Inge die Hand und sagte kein Wort des Dankes für alles, was sie an ihm, seiner Frau und Gesine getan hatten. Sie wußten aber beide, daß er es unterließ, weil er nicht sprechen konnte. Dann stieg er schnell auf den Wagen, ließ das Pferd antreiben und sah sich nicht mehr um. Gesine aber nickte und winkte zurück und wandte ihre Augen erst ab, als der Kirchturm von Nübel, neben dem das Johanniterhospital lag, ihren Blicken entschwand.

Als Peter und Inge in ihr Haus zurückgingen, kam es ihnen sehr leer vor. Peter stand eine Weile in der Küche, kraulte sich den Kopf und tat ein paar lange Züge an seiner Pfeife. »Nu kommt woll Hannes bald wieder?« sagte er.

Inge nickte und fing an, die Kammer zurechtzumachen. Peter blieb in der Tür stehen und sah ihr zu. Das peinigte sie, denn sie konnte seinen Blick nicht ertragen, und sie dachte immer: »Wie soll es werden? So kann es doch nicht bleiben.«

Sollte sie fortgehen, ihm aus den Augen, und nie wiederkommen, oder sich ihm zu Füßen werfen und ihm alles sagen? Da sah sie in sein gutes, freundliches Gesicht und dachte daran, wie er ihr in langen Jahren immer ein treuer Freund und Berater gewesen war, und wie sie immer nur Liebes und Gutes von ihm erfahren hatte, und sie fühlte, daß sie ihm alles sagen mußte; mochte er dann entscheiden, ob sie fortgehen sollte oder bei ihm bleiben.

Draußen fingen die Glocken an zu läuten.

»Sie begraben die Toten,« sagte Peter.

»Laß uns hingehen,« bat Inge.

Er legte seine Pfeife weg, und sie gingen hinaus.

An das Grab konnten sie nicht heran, denn es war von Soldaten umgeben; aber da, wo schon andere Dorfbewohner standen, blieben sie und hörten einzelne Worte der Grabrede und das Läuten der Glocken vom Kirchturm. Dann gingen die Soldaten weg. An der Kirchhofsmauer lagen noch dreißig Tote, die heute noch beerdigt werden sollten. Sie schliefen den ewigen Schlaf, während draußen ihre Kameraden vorbeizogen und »Heil dir im Siegerkranz« spielten und der letzte verklingende Glockenton noch in der Luft nachzitterte.

Inge blieb lange da. Immer wieder ging sie an der Reihe der Toten entlang und sah in die stillen Gesichter.

»Komm doch,« sagte Peter. Aber sie schüttelte den Kopf.

»Alles Söhne,« sagte sie leise, und dann blieb sie wieder bei dem letzten in der Reihe stehen. Es war ein ganz Junger. »Ob seine Mutter es wohl schon weiß? Was sie darum gäbe, wenn sie hier stehen könnte, nicht?« Sie kniete neben der Leiche nieder und strich mit leiser Hand erst über den Ärmel, dann zart und scheu über das kalte, blasse Gesicht. »Arm lütt Jung!«

Peter ging schließlich weiter, aber Inge blieb noch und stand dabei, als die Toten beerdigt wurden. Sie war nicht zurückgegangen, als die Soldaten kamen, und sie ließen sie in ihrer Mitte stehen, als gehörte sie dazu. So sah sie zu, wie einer nach dem andern hineingelegt wurde in die kühle Erde, und sie hatte das Gefühl, als stände sie hier an Stelle der vielen, vielen Mütter, die fern waren und es vielleicht gar nicht wußten, daß man ihnen ihre Söhne hier begrub, die vielleicht nie hier stehen würden, nie die Stelle finden, die ihr Liebstes barg. Ihr war, als legte sich der Schmerz all dieser Mütter auf ihr Herz, aber er drückte sie nicht nieder, sondern erhob sie, und als sie den Kirchhof verließ, meinte sie, daß sie jetzt nichts weiter mehr auf der Welt wäre, als Mutter. Sie war erstarkt in dieser Stunde. Alle Schwäche und Unruhe war begraben, sie lagen in jenem Massengrab bei den dreißig Toten, die alle Söhne waren und an deren Grab sie als einzige Mutter gestanden hatte. Am Abend, als sie mit Peter allein in der Küche war, sagte sie es ihm. Er saß auf der Bank am Herd, still und friedlich, und sah in die Glut. Sie stand vor ihm mit gesenktem Kopf und sagte leise: »Peter, ich muß dir etwas sagen. Ich habe – unrecht getan –«

Er nahm die Pfeife aus dem Mund und sah sie halb erstaunt, halb erschrocken an.

»Ich habe Jens Larsen einmal sehr lieb gehabt –«

Peter nickte. »Ja, ich weiß, als ihr jung wart –«

Ihr Kopf sank noch tiefer vornüber, und sie schloß die Augen. »Es ist wiedergekommen, – jetzt – wo wir so viel zusammen waren. Ganz tot war es wohl nie.«

Sie sagte es so leise, daß es nur wie ein Hauch über ihre Lippen kam, und wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. Peter rührte sich nicht und sagte kein Wort. Endlich strich er sich mit dem Handrücken über die Stirn und sagte nur: »Lütt!«

In dem einen Wort lag alles – sein Schmerz, seine Mahnung und seine große, verzeihende und verstehende Liebe. Da glitt sie nieder auf den Boden und umklammerte seine Knie.

»Ich wollte stolz und stark sein und bin doch schwach geworden und habe es nicht zurückhalten können, wie es alles wiederkam,« sagte sie. Dann hob sie den Kopf und sah in sein Gesicht und schrie: »Peter, ich hätte dich heute verlassen und wäre mit ihm gegangen, wenn seine Frau nicht blind würde und ihn brauchte! – Das allein hat mich gehalten, so weit ist es mit mir gekommen.«

Nun machte Peter mit harten Händen seine Knie frei, stand auf und ging bis an die Hoftür und von dort wieder zurück bis zu der Holzbank, vor der Inge noch immer am Boden lag.

»Komm, steh auf,« sagte er und berührte ihre Schulter.

Sie wagte nicht, ihn anzusehen, als sie neben ihm stand.

Er strich ihr über das Haar; sie hatte den Kopf so tief gesenkt, daß er es leicht konnte, trotzdem er etwas kleiner war als sie. »Komm, Lütt,« sagte er ruhig, »wir müssen sehen, daß wir es unterkriegen.«

Da griff sie nach seiner Hand wie nach einem Halt. »Ja, Peter, hilf mir,« bat sie. »Ich habe es alles begraben. In dem Grab bei den dreißig Toten liegt es. Da habe ich wieder gefühlt, daß ich Mutter bin. Nun bin ich wohl stark, aber hilf mir, daß ich auch stark bleibe.«

»Hannes kommt ja bald, nun muß er ja bald kommen,« sagte Peter tröstend.

»Ja, jetzt muß er bald wiederkommen! Peter, wie wird er wohl wiederkommen?«

All ihre Angst und ihre qualvolle Sorge lagen in den Worten. Peter antwortete nicht, er sah sie nur an, und als er langsam mit dem Kopf nickte und ein schwerer Seufzer seine Brust hob, fühlte sie, wie auch ihn die Angst und Sorge bedrückten und wie sie eins waren in der Liebe zu ihrem Kinde.

Sie setzte sich nun an den Tisch und nahm ihr Strickzeug vor, aus Gewohnheit, stricken konnte sie noch nicht, ihre Hände zitterten, und ihre Gedanken waren weit, weit draußen. Sie war noch nicht fertig mit ihrer Beichte; Peter sollte alles wissen, wie es gewesen war und wie es gekommen war. Er hatte seine Pfeife wieder aufgenommen, zog daran und klopfte sie ein bißchen, hielt dann einen Papierstreifen in das Herdfeuer und zündete sie wieder an. Dann setzte er sich auf die Herdbank.

»Wir haben nicht von früher gesprochen, Jens und ich, die ganze Zeit nicht, Peter,« sagte Inge nun und ließ ihr Strickzeug sinken. »Ich habe gearbeitet und seine Frau gepflegt und nicht daran denken wollen.« Sie hielt einen Augenblick inne und atmete schwer, ehe sie fortfuhr, immer mit derselben tonlosen Stimme, ohne ihn anzusehen. »Dann den Abend, als du zum erstenmal nach Flensburg runter warst, da blieben wir allein. Gesine war gegangen, um nach dem Schießen zu sehen, und Frau Larsen schlief. Da haben wir von früher gesprochen. Einmal mußten wir es tun, Peter, und da kam es doch alles wieder.« Ihre Stimme zitterte jetzt so, daß sie kaum weiter sprechen konnte, und sie kämpfte die Hände so fest um das Strickzeug in ihrem Schoß, daß die Nadeln sich in ihr Fleisch drückten. »Er ist nicht glücklich geworden mit seiner Frau,« fuhr sie fort, »das sagte er mir. Und ich war traurig und sagte ihm, daß ich ihm längst verziehen hätte. Weil du gut zu mir gewesen bist, darum habe ich ihm verzeihen können, Peter. Das habe ich ihm alles gesagt – und er hat gefühlt, daß ich – ihn –« Sie brach ab. Es war so schwer, alles zu sagen. Im Grunde war es so wenig, was sie zu sagen hatte, und ihr schien doch, als gäbe es nicht Worte genug dafür.

Peter stand auf. »Das mußt du nicht alles sagen.«

Sie sah ihn erstaunt an. »Du mußt es doch alles wissen.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, laß man, Inge. Ich weiß genug. Alles muß man nicht wissen. Da ist so viel zwischen zwei Menschen, die sich lieb haben, was sie nie sagen können, was kein anderer jemals sieht. Wenn du bis morgen früh zu mir sprichst und denkst, du hast alles, alles gesagt, dann hast du das Feinste und Tiefste doch nicht sagen können. – Das bleibt euer Geheimnis.«

Er stand jetzt neben ihr und strich ihr leise über die Schulter. Da drückte Inge ihr Gesicht gegen seinen rauhen Rockärmel und weinte lange, aber sie dachte nicht an Jens dabei, sondern an Peter und ihre Schuld gegen ihn.

Endlich machte Peter sich frei und sagte: »Ich habe noch draußen zu tun. Geh zu Bett, ich komme wohl bald.«

Er ging zur Hoftür hinaus, und sie sah ihn im Mondlicht draußen bei der Pumpe stehen, lange, lange, unbeweglich. Sie blieb auf ihrem Stuhl sitzen, hatte die Hände im Schoß gefaltet und ängstigte sich, daß die kalte Nachtluft ihm schaden könnte. Aber sie wagte nicht, zu ihm zu gehen und ihn zu bitten, hereinzukommen.

Als er dann wiederkam, sah er sie nicht, da es in der Küche jetzt ganz dunkel war. Er glaubte, sie wäre schon zu Bett gegangen. Mit seinen steifen Knien ging er umher, stellte einen Stuhl gerade an die Wand, fühlte nach, ob die Erde in den Geranientöpfen auf der Fensterbank noch feucht wäre, und goß etwas Wasser darauf. Dann stapfte er hinaus, die Diele entlang, sah in die Vorderstube hinein und riegelte die Haustür ab. Inge hatte ganz still in ihrer Ecke gesessen und ihm zugesehen. Als er wieder in die Küche zurückkam, stand sie auf. Er hielt erstaunt inne.

»Gott,« sagte er, »du bist noch auf? Warum bist du nicht zu Bett gegangen?«

»Ich weiß nicht,« sagte sie niedergeschlagen.

Da nahm er ihre Hand und sagte: »Komm, Lütt, sei doch man still. Ich weiß ja, wie du bist. In Kampf und Not kann jeder mal kommen. Nu mußt du dich an mir festhalten, dann kriegen wir es wohl unter.«

Inge nickte ernst. Sie fühlte, daß sie zu dem treuesten Freund gegangen war, den sie auf der Welt besaß.

In der ganzen nächsten Zeit, die nun kam, war Peter ein anderer als sonst. Er ging wenig aus. Wenn er nicht zu tun hatte, saß er bei Inge in der Küche und war recht redselig. Zuerst machte es ihm Mühe, aber mit der Zeit ging es ganz gut, und er merkte zu seinem Erstaunen, daß man eigentlich eine große Menge sagen kann, wenn man ernstlich will. Dabei tat er ganz unbefangen, als wäre es nie anders gewesen, und Inge erkannte sein rührendes Bemühen, ihr zu helfen, und griff nach seiner Hand, um sich daran aufzurichten. So »kriegten sie es unter«, langsam, in heißem, stillem Ringen.

Von Hannes hörten sie nichts. Noch war Alsen von den Dänen besetzt, und wenn jetzt auch Waffenstillstand war, so gab es doch keine Verbindung mit der Insel.

Vierzehntes Kapitel.

Larsens waren in Hamburg. In Flensburg hatten sie kein Unterkommen gefunden, als sie es nach der langen, unendlich beschwerlichen Fahrt auf der von Truppen und Wagen vollständig überfüllten Chaussee endlich erreicht hatten. Jedes Winkelchen in der Stadt war besetzt, denn es strömten nun auch schon unzählige Fremde nach dem Sundewitt, die den Schauplatz der Ruhmestat der preußischen Armee mit eigenen Augen sehen wollten. So waren sie denn weiter gefahren, um in Hamburg Hilfe für die Blinde zu suchen.

Aber es gab keine. Der Arzt sagte es Jens, nachdem er eine eingehende Untersuchung vorgenommen hatte. Die Erblindung war eine Folge der Krankheit, die Frau Larsen durchgemacht hatte, und die der Arzt mit einem lateinischen Namen benannte, den Jens nicht behalten konnte.

Frau Larsen war während der Besprechung im Wartezimmer geblieben. Als Jens zu ihr zurückkam, wollte sie natürlich wissen, was der Arzt gesagt hatte.

»Mit der Zeit, Anne –« sagte er mit schwerem Atem. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, eine Hoffnung sollte sie noch behalten.

Sie gingen dann fort, um nach Hause zu fahren. Er mußte sie führen wie ein Kind.

»Wie lange wird es dauern?« fragte sie auf der Treppe.

»Das konnte der Arzt nicht so genau sagen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Ärzte verstehen nichts. Hanne Knudsen weiß alles viel besser.«

Sie wohnten in einem kleinen Gasthof. Als sie ankamen, sah Gesine den Vater angstvoll fragend an. Sie wußte, daß heute die Entscheidung fallen würde. Er schüttelte bekümmert den Kopf. Da schlich sie sich leise hinaus.

Sie hatte ja immer gefürchtet, daß der Mutter nicht zu helfen wäre, aber nun es zur Gewißheit geworden war, überkam es sie doch. Sie lief die Treppe hinunter. Sie mußte allein sein, weinen, mit dem Gedanken ringen, um mit ihm fertig zu werden. Es war etwas so Furchtbares – die Mutter blind für alle Zeiten. Sie konnte nie mehr all das Schöne sehen, was die Welt bot, die Sonne, den Himmel, die See, die Menschen, die sie lieb hatte! Sie würde nie wissen, wie Fritz Mahlke aussah, der kommen wollte und sie Mutter nennen. Ihr junges Herz bäumte sich dagegen auf. Das war nicht zu ertragen, so etwas durfte es nicht geben!

Den ganzen Nachmittag saßen sie trübselig beisammen in ihrem ungemütlichen Gastzimmer. Es war ein grauer Regentag. Die seinen Tropfen schlugen gegen die Fenster und rieselten in kleinen Bächen an den Scheiben hinunter. In Jens Hirn bohrte eine Frage, unaufhörlich, quälend: »Was soll nun werden?« Und er konnte sie nicht einmal aussprechen, sie nicht mit den andern erwägen, denn noch wußte seine Frau nicht, daß der Larsenhof nicht mehr stand. Er fürchtete sich nur davor, daß sie selbst fragen würde. Sie tat es aber nicht. Nach dem Essen setzte sie sich in die Sofaecke und ließ sich von Gesine etwas vorlesen.

Gegen Abend hörte der Regen auf, und Jens ging aus. Wie befreit atmete er auf, als er in die frische Luft kam. Er lief durch die Straßen bis an den Hafen. Alles glänzte vor Nässe, die Quadersteine des Kais, die Pfähle, an denen die Schiffe festgemacht wurden. Diese selbst sahen aus wie abgewaschen. Die Segel waren zum Trocknen hochgezogen. Die Sonne stand rotgolden am Horizont und spiegelte sich in jeder Pfütze. Ein großer Dampfer ging langsam aus dem Hafen, gerade in das Sonnenlicht hinein.

»Wer mitkönnte!« dachte Jens. »Alles hinter sich zurücklassen!« Er lief weiter, bis die Sonne ganz fort war und die Laternen angezündet wurden.

Am nächsten Tage wollte er mit den beiden Frauen etwas unternehmen, Dampfschiff fahren und draußen essen. Frau Larsen hatte keine Lust. »Ich seh' ja nichts,« sagte sie. Aber er redete ihr zu.

»Komm man mit, Anne, die Luft ist so schön, die tut dir gut, und auf'm Schiff fahren ist auch schön.«

Sie fuhren mit einem Dampfschiff durch den Hafen bis an eine kleine Ortschaft an der Elbe. Kleine Häuser lagen am Wasser, Gärten dazwischen und Restaurants. Es war nun beinah Mittag. Sie gingen in eine Gartenwirtschaft und suchten sich einen geschützten Platz auf der Veranda. Von da konnten sie in den Garten sehen und weiterhin auf die Elbe, die hier schon so breit war wie ein See. Ab und zu kam ein Schiff vorüber, und Segelboote kreuzten. Frau Larsen war auch gern hier. Es war so frische, milde Luft. Sie hörte die Dampfschiffe vorüberfahren und ließ sich von den andern erzählen, was sie sahen. Nach dem Essen war sie müde. Das Lokal war noch wenig besucht. Jens sprach mit dem Wirt, der ihm bereitwillig ein leeres Gastzimmer für seine Frau zur Verfügung stellte, und als sie wohlversorgt auf dem schwarzen Wachstuchsofa lag, während Gesine es sich in dem Korbstuhl am Fenster bequem machte, ging er fort, um sich den Ort anzusehen.

Er gefiel ihm sehr. Die kleinen Häuser lagen so frisch und sauber eins neben dem andern an der Straße mit dem Blick auf das Wasser. In den Vorgärten blühten die eisten Frühlingsblumen, und in den Gemüsegärten hinter den Häusern gruben und säten die Leute. Ja, jetzt mußte man fleißig im Garten sein, um alles zu bestellen. Er war früher oft ärgerlich geworden, wenn Anne die Knechte, die er auf dem Felde brauchte, für den Garten beansprucht hatte. Na, das war jetzt alles vorbei!

Nun stand wieder die Frage vor ihm: »Was soll werden?« In Hamburg hatten sie nichts mehr zu suchen, nachdem der Arzt Anne endgültig aus seiner Behandlung entlassen hatte. Wohin nun? In die alte Gegend zurück, die mit tausend Erinnerungen auf ihn einstürmte? Den Hof wieder aufbauen, von vorn anfangen, allein mit der blinden Frau, wenn Gesine heiratete?

Als er zurückkam, saßen die Frauen ausgeruht auf der Veranda. Eben war wieder ein Schiff aus Hamburg angekommen, und die Plätze im Garten und auf der Veranda begannen sich zu füllen. Es sollte heute das erste Konzert in diesem Jahre stattfinden. Die Musiker fanden sich in dem kleinen Musikpavillon ein. Gesine verfolgte alle Vorgänge mit gespanntem Interesse; es war ja alles neu für sie. Sie sprach lebhaft von dem, was sie sah, erzählte es der Mutter und machte den Vater auf dies und jenes aufmerksam.

Als dann die Musik begann, waren sie still und hörten zu. Das erste war ein Marsch. Frau Larsen wiegte leise im Takt den Kopf hin und her. Ihr Gesicht hellte sich auf. Das war etwas, das sie beschäftigte, das sie noch ganz und ungetrübt genießen konnte. Traurige und heitere Weisen wurden gespielt. Sie hörte mit vorgeneigtem Kopf und halbgeöffneten Lippen zu und war traurig oder heiter, je nachdem die Töne zu ihr sprachen. Gesine hatte ihr eine Tasse Kaffee zurecht gemacht und redete ihr zu, zu trinken, aber sie wehrte ungeduldig ab. Erst in der Pause ließ sie sich bewegen, etwas zu genießen. Sie hatte so wenig Musik in ihrem Leben gehört, und nie hatte sie sie so ungestört von Äußerlichkeiten genossen wie jetzt. Als wenn ein großes, neues Leben sich vor ihr auftäte, so war ihr zumute. Sie hatte ja gar nicht gewußt, daß es so etwas gab. Man konnte still dasitzen in Frieden und Ruhe und hatte keine Sorgen, daß in der großen Wirtschaft etwas nicht in Ordnung war; man brauchte nur dem zu lauschen, was in Tönen zu einem sprach. Und die Gedanken kamen und führten sie zurück zu den kleinen und großen Ereignissen ihres Lebens, die ihr ans Herz gegriffen hatten.

Als das Konzert zu Ende war und man aufbrechen mußte, um das Schiff nach Hamburg zu erreichen, ging sie wie im Traum mit, von Jens geführt.

»War das schön! Ach, war das schön!« sagte sie immer wieder.

Jens und Gesine waren auch den Nachmittag über still gewesen. Jedes mit dem beschäftigt, was ihm am meisten am Herzen lag. Gesines Gedanken wanderten nach Nübel, nach dem Lazarett neben der Kirche, dahin, Wo Fritz Mahlke krank lag. Inge hatte ihr geschrieben, daß es ihm gut ginge, und von ihm hatte sie ein paar Bleistiftzeilen, die ihr sagten, daß er kommen würde, sowie er reisefähig wäre.

Jens dachte daran, wie doch jetzt so vieles anders geworden war. Gesine würde fortgehen und eine preußische Soldatenfrau werden. Thies war bei der Belagerung der Schanzen verwundet worden und lag in Augustenburg im Lazarett. Er wußte nun schon, daß er jede Hoffnung auf Gesine aufgeben mußte, und hatte geschrieben, es wäre wohl auch gut so, da sie ihn ja doch nicht liebte. Wenn er wieder gesund wäre und der Krieg beendet, wollte er sich in Jütland einen kleinen Hof kaufen, und es würde da ja wohl auch hübsche Mädchen geben. Auch von Karstensens war jetzt endlich Nachricht gekommen. Sie hatten schwere Zeiten durchgemacht: ihr Haus war bei der Beschießung von Sonderburg in Brand geraten. Das Dach war vollständig zerstört. Sie hatten so viel wie möglich gerettet und waren in das Innere der Insel geflohen. In einem Dorfe hatten sie im Pastorenhause Unterkunft gefunden und warteten nun das Ende der Feindseligkeiten ab, um nach Sonderburg zurückzukehren.

»Wir haben viel verloren,« schrieb Frau Karstensen. »Unser niedliches, kleines Haus, wie sieht es aus! Aber ich sag' immer: Karsten, da kommen wir schon über weg. Verhungern tun wir wohl noch nicht. Wir sind ja alle gesund und können arbeiten, und wir werden nun freie Schleswig-Holsteiner. Dafür geb' ich das gerne hin. Ja, Jens, oll lütt Jung, du magst dich noch so gräsig anstellen mit deinen Dänen und so tun, als ob du alle Preußen fressen wolltest, ich bleib' dabei, und alle vernünftigen Leute denken hier ebenso. Wir haben gelacht und geweint vor Freude, als wir hörten, die Preußen hätten die Schanzen genommen.«

Während Jens alles dies durch den Sinn ging, wurde langsam ein Gedanke in ihm wach, der ihm wie eine Rettung erschien. Wenn er in dem kleinen Ort an der Elbe ein Häuschen mit Garten mietete oder kaufte und in Ruhe und Frieden dort mit Anne zu leben versuchte? Es mußte ja doch ein neues Leben jetzt für ihn werden in neuer Umgebung; die Äcker und Felder des Larsenhofes konnte er ja verpachten und vielleicht bei günstiger Gelegenheit einmal verkaufen. Seine Zeit würde wohl ausgefüllt werden mit der Sorge für die blinde Frau, die ihn auf Schritt und Tritt brauchte, mit den vielen kleinen Pflichten, die jetzt neu an ihn herantraten, und dem Bestellen des Gartens. Anne würde eine kleine Wirtschaft haben, in der sie sich mit der Zeit wohl zurechtfinden konnte, im Sommer konnte sie jeden Tag Musik hören – alles war so günstig wie möglich. Seltsamerweise kam ihm gar nicht der Gedanke, nach Dänemark zu ziehen. Er war im Grunde seines Herzens doch deutsch geblieben.

Als Anne abends wieder von der schönen Musik sprach, sagte er: »Wollen wir immer da wohnen, Anne? Dann kannst du oft Musik hören.«

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Er sah ein ungläubiges Erstaunen sich auf ihren Zügen malen.

»Immer? Wir müssen doch wieder nach dem Larsenhof.«

Das klang nicht so, als ob große Sehnsucht sie dorthin zöge. Einen Augenblick war es ganz still in dem kleinen Zimmer. Gesine hielt unwillkürlich den Atem an. Würde ihr Vater nun sagen, daß der Hof abgebrannt war?

»Möchtest du wieder hin?« fragte Jens endlich.

Anne tat einen tiefen Atemzug. »Ich fürchte mich davor,« kam es endlich gepreßt über ihre Lippen. »Der Hof hat mich immer bedrückt. Da ist so viel zu bedenken. Wenn man auch den ganzen Tag gearbeitet hat, ist doch immer noch was in Unordnung. Und wenn ich nun noch krank bin und nicht ordentlich sehen kann, dann weiß ich nicht, wie es werden soll.« Das klang ganz mutlos.

»Dann bleiben wir hier, Anne. Wir kaufen oder mieten ein kleines Haus mit Garten an der Elbe, da haben wir nur eine kleine Wirtschaft, ich besorge den Garten, und du kannst Musik hören, so oft du willst.«

Anne Larsen strich sich mit den mageren, blassen Händen das Haar vom Scheitel aus glatt. Es lag etwas Hilfloses in ihrem Gesichtsausdruck. Sie konnte es noch nicht recht fassen.

»Ich weiß nicht, Jens – das geht doch nicht – der Hof –« sagte sie zaghaft.

»Ja, es geht,« sagte er kurz, stand auf und trat ans Fenster. »Wenn du es möchtest –«

Sie streckte die zitternden Hände nach ihm aus. »Ach, Jens, wie wär' es schön!«

Er bemerkte ihre Bewegung nicht, weil er noch immer starr aus dem Fenster sah. Es war doch nicht so leicht zu verarbeiten, diese neue Wendung seines Lebens und die Erkenntnis, daß sein Hof seinem Weibe so gar nichts gewesen war, nur eine Quelle von Sorge und Ärger.

»Vater steht am Fenster,« sagte Gesine mit halblauter Stimme, als sie sah, wie die Mutter ins Leere griff. Dann nahm sie ihre Hand und führte sie dorthin.

Anne tastete mit den Händen an Jens' Arm hinauf bis zu seinem Halse und umschlang ihn. »Jens,« sagte sie leise, »ich danke dir.«

Er strich ihr über das Haar. »Laß man, Anne, laß man. Das ist alles nicht so – so schwer. Ich mag auch gern Ruhe haben, ich werd' nun wohl alt; was sollen wir denn so allein auf dem großen Hof, wenn Gesine nun auch noch weg geht –«

»Mutter darf nie mehr weinen,« hatte Gesine ihm oft gesagt, das war ihnen wie ein Evangelium geworden, an das sie sich halten mußten. Und obgleich sie ja vorhin gar kein Hehl daraus gemacht hatte, daß ihr der Larsenhof nur eine Last gewesen war, meinte er doch, sie müßte bitterlich weinen, wenn sie erfuhr, daß er nicht mehr stand.

Jens fuhr schon am nächsten Tage hinaus und am folgenden wieder, diesmal mit Gesine, und nach kurzer Zeit war er Besitzer eines kleinen Hauses, wie er sich's geträumt hatte. Er suchte in Hamburg mit Gesine zusammen Möbel aus, und die Einrichtung wurde sofort in Angriff genommen. Frau Larsen fand sich merkwürdig gut in ihre jetzige Rolle. Sie konnte nicht mehr selbst alles mitbestimmen und aussuchen, dafür taten es nun die anderen und erstatteten ihr Bericht, und sie fühlte, wie sie hauptsächlich darauf bedacht waren, daß für sie alles zweckmäßig und bequem wäre. Sie war auf einmal eine Art Hauptperson geworden, und während sie früher immer bei allem, was sie tat, davor gezittert hatte, ob es Jens wohl gerade so recht wäre – meistens war es ihm nicht recht gewesen und er war ärgerlich geworden –, so kam er jetzt mit allem zu ihr und fragte sie nach ihrer Meinung und ihren Wünschen. Er war überhaupt wie umgewandelt, ruhig und freundlich, nie mehr aufbrausend oder jähzornig.

Ende Juni war alles fertig, und sie zogen ein.

In den letzten Tagen vorher war Anne viel allein gewesen, da Jens und Gesine von früh bis spät draußen zu tun gehabt hatten. Nun führten sie die blinde Frau ins Haus. Sie hatten das Gefühl, als wäre jeder Hammerschlag nur für sie getan. An Jens' Hand ging sie durch die Räume. Er erklärte ihr alles, und sie strich mit den Händen über die Möbel und an den Wänden entlang. Am Fenster beschrieb er ihr, wie der Garten sich davor entlang zog, wie die Büsche und Beete angelegt waren, wie vorn der Vorgarten mit seinen Blumen bis an die Straße ging und der Blick auf die Elbe frei war, wie hier große Schiffe vorüberzogen, ganz große, auch solche nach Amerika. Und wieder fühlte sie überall das Bestreben, ihr die Dunkelheit zu erhellen, alles herauszusuchen, was ihr das Leben noch schön machen konnte. Als sie im ganzen Hause herumgekommen waren, führte Jens sie ins Wohnzimmer zurück ans Sofa. Sie setzte sich, streckte tastend die Arme aus und rief: »Wie schön ist es hier! Viel schöner als auf dem Larsenhof!«

Später stand Jens in der Tür seines neuen Hauses und sah in den dämmernden Abend hinein. Die Elbe floß breit und träge vorüber. Ein kleiner Dampfer kam mit roten und grünen Lichtern, die sich im Wasser spiegelten. Nun gingen in schräger Linie breite, große Wellen darüber hin und liefen spielend an der steinernen Böschung hinauf, die das Flußbett eindämmte. Der Dampfer fuhr schnell dem Hafen zu, als hätte er es eilig, nach Hause zu kommen, und vor Jens' Haus wurde das Wasser wieder ruhig. Von weiterher klangen die Töne einer Ziehharmonika durch den stillen Abend. Da wanderten seine Gedanken ins Sundewitt. Und er wußte, daß er noch manchen Abend hier stehen würde und der sehnenden Stimme seines Herzens lauschen, die immer nur den einen Namen rief: »Inge«. Daß er die Augen schließen würde und meinen, er stände auf der Hohen Koppel und der Larsenhof läge zu seinen Füßen in aller seiner stattlichen Behaglichkeit, der Wind, der ihm die Stirne kühlte, käme von der See herauf und hätte den Weg über sein schönes Heimatland genommen. Aber dann würde seine blinde Frau kommen und tastend die Hände nach ihm ausstrecken, und er würde sie nehmen und sie führen und wissen, daß er den rechten Weg gegangen war, indem er sich selbst bezwang und zu ihr zurückkehrte.

... Im Sundewitt stand Inge Hansen an diesem Abend auf einer Anhöhe und sah nach Alsen hinüber. Dort hatte heute der Kampf getobt. In aller Morgenfrühe waren die Preußen in Booten über den Alsensund gefahren und hatten zum Teil schon im Wasser angefangen zu kämpfen. Dann war es ein heißes Ringen auf der Insel gewesen. Man hatte das Schießen bis ins Sundewitt gehört und die hellodernden Flammen von Sonderburg gesehen. Jetzt war es still geworden. Alsen war in den Händen der Preußen, man wußte es im Sundewitt schon. Die Dänen waren nach Augustenburg zurückgeschlagen und schifften sich dort ein. Viele Bewohner vom Sundewitt waren bis an den Sund gegangen, um möglichst nah zu sein und alles beobachten zu können. Peter war auch darunter.

Inge war zurückgeblieben und stand nun allein auf dem Hügel, den zwei majestätische Buchen krönten. Der Abendwind strich leise über das Kornfeld zu ihren Füßen, so daß die goldenen Halme sich vor ihr neigten wie vor einer Königin, und mit weicher Hand fuhr er ihr über das Haar und legte ihr silberne Fäden über das stille, stolze Gesicht. Sie duldete es ohne Abwehr, vielleicht merkte sie es gar nicht. Es gab so viel heut' zu denken, zu danken und zu beten.

Schleswig-Holstein war frei.

Dies lachende, blühende Land, wie es jetzt vor ihr lag, war heute von jahrzehntelanger Knechtschaft erlöst. Als die Schanzen gestürmt wurden, hatte Inge Hansen zu sehr in eigener Not und Bedrängnis gestanden, um die große Tat ganz miterleben und mitempfinden zu können. Heut war sie eine andere.

Das leidenschaftliche Herz war ruhig geworden, sie hatte sich zurückgefunden zu Pflicht und Recht. Sie wußte jetzt, daß es das Rechte war, was sie getan hatte. Etwas, das außer ihr selbst lag, hatte sie dazu bewogen. Aber auch, wenn Frau Larsen nicht blind geworden wäre, hätte sie nicht anders handeln können. Sie war nicht der Mensch, der sich ein Glück aufbauen konnte auf einer Schuld und einer verlassenen Pflicht. Und auch Jens hätte nicht die Kraft gehabt, alles Vergangene über Bord zu werfen und das Leben von vorn anzufangen. Es hätte an ihm genagt wie an ihr, zu der Erkenntnis war sie jetzt gekommen.

Und nun stand sie hier und sah auf das befreite Land und fühlte sich so eins damit, als wäre sie aus dem Boden des Heimatlandes herausgewachsen wie die Buchen, die ihre Zweige über ihr ausbreiteten. Aber all ihre Gedanken gingen hinüber nach Alsen, wo sie ihr Kind wußte.

Ob nun endlich die lange, bange Zeit der Ungewißheit vorüber war und Hannes wiederkam?

Am nächsten Tage ging Peter nach Alsen hinüber, um Hannes zu suchen. Inge blieb zurück. Es konnte ja sein, daß Peter ihn verfehlte, und eines mußte doch zu Hause sein, wenn er allein kommen sollte. Die Haustür stand Tag und Nacht auf, sein Bett in der Vorderstube war zurecht gemacht, und Inge hatte immer einen Topf mit warmem Essen auf dem Herd. Sie selbst saß den ganzen Tag auf der Bank vor ihrem Hause und sah die Straße hinauf.

Es kamen jetzt viele Leute von Alsen nach dem Sundewitt; sie waren alle mürbe und matt von der langen, schweren Kriegszeit und erzählten, wie die Dänen auf der Insel gehaust hatten.

Wenn Inge sie nach ihrem Jungen fragte, sahen sie sie mitleidig an. Ihr Sohn war dabei, bei diesen unglücklichen Schleswigern, die mit ihren Fuhrwerken im Dienste der Dänen standen, die wochenlang im Freien kampiert hatten, Hunger, Kälte und Nässe wehrlos ausgesetzt! Inges Herz wurde immer schwerer.

Am dritten Tage nach Peters Fortgang, spät abends, als sie schon ins Haus gegangen war, kam ein Wagen langsam in müdem Schritt die Straße herauf und hielt vor der Tür. Sie wollte hinauslaufen, wie sie es in diesen Tagen schon hundertmal getan hatte, aber die Füße Versagten ihr plötzlich den Dienst. Sie mußte sich setzen und hörte nun, wie Peter langsam die Steinstufen heraufkam, mit schwerem Schritt, als schleppte er eine Last.

Dann kam er herein. Er trug eine dunkle Gestalt in den Armen. Nun sprang sie auf und stürzte ihm entgegen. Beim matten Schein der Lampe sah sie einen blassen, elenden, verkommenen Menschen, dem die Kleidung in Lumpen vom Leibe hing, starrend von Schmutz. Da kämpfte sich etwas in ihrem Herzen zusammen, und sie wollte aufschreien: »Das ist er nicht! Nein, das ist er nicht!«

Aber nun schlug er die Augen auf, und über das blasse Gesicht flog ein matter Freudenschimmer.

»O, Hannes, lütt Jung!« Sie hatte gar keinen Ton in der Stimme, und doch lag alles, was ihre Seele in diesem Augenblick bis ins Innerste erschütterte, in ihrem Ausruf. Ihre zitternden Hände streckten sich nach ihm aus, und sie fühlte, es hatte alles so kommen müssen, wie es gekommen war, damit sie in diesem Augenblick hier stehen konnte – um ihrem Kinde Mutter zu sein.


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